Oelmannstockhausen masterarbeit

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Hochschule für Musik Basel Schriftliche Arbeit im Fach MASP Zeitgenössische Musik Dozent: Mike Svoboda

Protokoll einer Ausarbeitung von Karlheinz Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung

Karolina Öhman

Hammerstrasse 142 4057 Basel

Basel, 19. April 2012


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Inhalt Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung

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Stockhausen und die Elektronische Musik

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Soloinstrument und Polyphonie

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Ausarbeiten einer Version - Wo beginnen?

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Tempi ausrechnen

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Tonhöhe transponieren

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Die vier Klangfarben aussuchen

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Geräuschhaft, etwas geräuschhaft und sehr geräuschhaft

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Reihenfolge der Seiten wählen

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Rückkopplung und Wiedergabe

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Perforationen

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Notation

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Aufführung mit Elektronik koordinieren; Verstärkung

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Schlusswort

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Dank

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Bibliographie

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Anhang: Notenausgabe von Stockhausen inklusive Vorwort und Formschema für Version II1, Routingschema, ausgearbeitete eigene Partitur(Ausschnitt), Zusatzpartitur mit Rückkoppelungen (Ausschnitt)

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Karlheinz Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung (1965/66), London: Universal Edition 1969.


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Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung „SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung“ wurde im März und April 1966 im Auftrag des Japanischen Rundfunks „Nippon Hoso Kyokai“ komponiert. Die Uraufführung fand am 25. April 1966 in einem öffentlichen Konzert von NHK in Tokyo statt, in einer Version für Posaune und einer für Flöte. Stockhausen und die Elektronische Musik Die Live-Elektronik spielt bei vielen Werken von Stockhausen in den 1960er Jahren eine fundamentale Rolle. Stockhausen hatte bereits 1952 die Tonbandkomposition ETUDE komponiert. Sie basiert auf Klaviersaitenklängen, die durch Geschwindigkeitsmanipulationen und Zerschneiden der Bänder in kleine Stücke fast völlig unkenntlich gemacht wurden. Bei ETUDE handelt es sich nicht um Elektronische Musik im eigentlichen Sinne, sondern um „Musique concrète“ („Konkrete Musik“): eine Musikrichtung, bei der Klänge aus Natur, Technik und Umwelt mit dem Mikrophon aufgenommen und durch Montage, Bandschnitt, Veränderung der Bandgeschwindigkeit und Tape-Loops elektro-akustisch verfremdet werden. Die Arbeit mit Elektronischer Musik im Sinne von Klangerzeugung synthetischer Klänge begann für Stockhausen im selben Jahr 1952 mit der Arbeit am Kölner Studio für Elektronische Musik. Dort entstandenen die beiden STUDIEN für Elektronische Musik. 2 In den Werken der 1960er Jahre mussten die Werke nicht immer auf Tonband vorproduziert werden: Es gab immer mehr Möglichkeiten, Instrumentalklänge mittels Live-Elektronik zu verfremden, zum Beispiel durch Ringmodulatoren, Klangfilter und Verzerrer. Die Personen, die die Regler bedienten (oft Stockhausen selbst), wurden als Interpreten in die Kompositionen einbezogen. SOLO steht in engem Zusammenhang mit den Kompositionen PLUS-MINUS, MOMENTE und MIKROPHONIE I. Bei MIKROPHONIE I (1965) geht es um die Verfremdung realer Metallklänge (eines Tamtams) durch Bewegung der Mikrophone und Steuerung der Klangregler, in MIXTUR (1964) um die Mischung des unverfremdeten Instrumentalklanges mit seiner verfremdeten Version.3

Soloinstrument und Polyphonie Stockhausen ist immer wieder von Solisten verschiedener Instrumente gebeten worden, Solostücke für sie zu schreiben. Dabei suchte er eine Möglichkeit, wie ein einzelner Spieler eines monodischen Instrumentes polyphone Musik spielen könnte. Stockhausen hat 1955/56 im elektroakustischen Stück GESANG DER JÜNGLINGE eine Stimme durch Montage-Verfahren zu vielschichtigen Chorpartien komponiert. In SOLO sollte dieser Prozess aber während der Aufführung selbst stattfinden, gesteuert

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Vgl. Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik, Band 3: 1963-1970, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1971, S. 86. 3 Vgl. Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik, Band 3: 1963-1970, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1971, S. 86.


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vom Solisten, eventuell mit Hilfe einiger Assistenten. Der Solist soll bewusst musikalische Strukturen aus dem von Stockhausen geschriebenen Material bilden und dabei auf Vorausgegangenes und Nachfolgendes seines eigenen Spiels hörbar reagieren können.4 Es stellte sich jedoch schon bei der Vorbereitung der beiden ersten Versionen in Tokyo heraus, dass dieser Prozess für die Musiker viel zu kompliziert war, um während der Aufführung selbst realisiert zu werden. Diese beide Musiker und vermutlich der Grossteil aller anderen, die seitdem SOLO gespielt haben, bereiteten sich in der Regel eine geschriebene Version vor, indem sie das Material vorordneten. Dieses Ausarbeiten und Aufschreiben einer Version habe auch ich gemacht. Es gibt sechs verschiedene Formschemata für SOLO, mit verschiedenen Vorgaben für den Solisten und seine Rückkopplungen. Ich habe mir das Formschema 2 ausgewählt, weil es mir von der Länge her (12 Minuten 49 Sekunden) am besten gepasst hat.

Ausarbeiten einer Version - Wo beginnen? Viele Kompositionen von Stockhausen müssen vom Interpreten ausgearbeitet werden, um sie aufführen zu können (z.B Tierkreis). Bei SOLO gibt es viele Bedingungen und Regeln von Stockhausen im Vorwort „Erläuterungen der Partitur“, die befolgt werden müssen (siehe Anhang). Dort ist beschrieben, wie man die Notenseiten interpretiert: wann man polyphonische, blockartige oder akkordische Strukturen bildet, wann man Strukturen aus Elementen, Teilen oder ganzen Systemen bildet, wann man ähnliches, verschiedenes oder gegensätzlich artikuliertes Material wählt und von welchen Notenseiten man dabei das Material aussucht, z.B. nur in Bezug auf die betreffende Notenseite selbst oder im Vergleich zu den vorausgegangenen resp. nachfolgenden Seiten. Alle diese Begriffe (Elemente, Teile usw.), was sie im Stück bedeuten und was man damit machen soll, all dies wird von Stockhausen im Vorwort beschrieben. Es ist schwierig zu wissen, wo und wie man mit der Ausarbeitung einer Version beginnen soll. Man muss die ganze Zeit viele Bedingungen beachten und immer wieder auf frühere Entscheidungen zurückkommen. Viele Komponenten muss man sich gleichzeitig überlegen, weil sie voneinander abhängig sind und weil sie einen grossen Einfluss aufeinander haben. Ein Beispiel: Ich hatte zuerst die Notenseite 3 ausgewählt für Zyklus F; der Notenseite 3 hat am meisten Notensysteme zur Verfügung (12 Systeme, während die anderen nur 6 aufweisen), und es hat viele Klangfarbenwechsel. Ich dachte, dies passte gut, weil ich das Stück sehr intensiv und abwechslungsreich beenden und daher viel Material mit vielen Klangfarben zur Verfügung haben wollte. Dann habe ich bemerkt, dass diese Seite 3 als Dynamik nur pp hat, und fand es schwierig, nur mit leiser Dynamik einen effektvollen Schluss zu machen. So habe ich diese Notenseite mit Zyklus C vertauscht; der Zyklus C hat am meisten Perioden (11) von allen. Ich dachte, das passt gut, weil diese Notenseite eben auch am meisten Systeme hat von allen. Hier habe ich aber bemerkt, dass das Material bei Zyklus C alles „gegensätzlich“ sein soll: schon wieder habe ich dabei das Problem, dass auf dieser Seite alles pp ist. Die 4

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Seite soll auch nur für sich selbst interpretiert werden, ohne Material von anderen Sektionen zu nehmen. Somit könnten keine dynamischen „Gegensätze“ stattfinden. Als ich mit der Ausarbeitung fast fertig war, habe ich begonnen, mit der Elektronik zu proben. Dies hat wieder neue Ideen, aber auch Komplikationen eingeführt. Ich wollte z.B. Klangfarbe I mit elektronischen Hilfsmitteln realisieren. Im Zyklus A hatte ich sehr rasche Wechsel zwischen den Klangfarben I und Normal ausgearbeitet, weil dieser Zyklus ja gegensätzliche und verschiedene Elemente beinhalten sollte, mit nur kurzen oder mittellangen Pausen. Wir haben dann aber bemerkt, dass diese schnellen Klangfarbenwechsel mit dem Audiodesigner fast unmöglich zu koordinieren waren. Eine andere Schwierigkeit für mich als Cellistin - und das gilt sicher auch für andere Instrumente - ist, dass das Stück gar nicht für Cello geschrieben wurde. Vieles (z.B. Intervalle) ist gar nicht „cellistisch“ geschrieben und daher spieltechnisch schwierig zu spielen. Diese Beispiele zeigen, was auch Stockhausen selber bemerkt hat: Es ist fast unmöglich, diesen Prozess spontan zu realisieren. Bevor man beginnt, soll man auf jedem Fall das von Stockhausen geschriebene Vorwort „Erläuterungen der Partitur“ lesen (siehe Anhang). Ich empfehle, die Erarbeitung und musikalischen Überlegungen ungefähr in der Reihenfolge zu machen, wie ich sie im Folgenden beschreibe. Diese Masterarbeit ist ein Bericht und Protokoll darüber, wie eine Ausarbeitung geschehen kann. Für den Zweck dieser Masterarbeit habe ich die unpaginierten Notenseiten von Stockhausen mit 1-6 nummeriert, in der Reihenfolge, wie ich sie benutzt habe.

Tempi ausrechnen Das Erste, was ich gemacht habe, war auszurechnen, wie schnell die Tempi sind. Das ist wichtig zu wissen, weil man sich sonst nicht vorstellen kann, wie die Musik genau klingen könnte. Es gibt sechs verschiedene Sektionen, die zu jeder Seite passen könnten. Ich habe alle 36 möglichen Tempi für Formschema 2 ausgerechnet und in den verschiedenen Tempi ausprobiert. Dies ist wichtig zu wissen, wenn man die Reihenfolge der Seiten auswählt. In meiner Version sind die Tempi so geworden: A 1 Viertel = 90 B 1 Viertel = 30 C 1 Viertel = 60 D

1 Viertel = 84.706

E 1 Viertel = 29.6


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F 1 Viertel = 42.1 Der Rhythmus ist entweder mensuriert notiert oder massstäblich („space notation“) oder beides zugleich. Alle Systeme auf einer Seite sind immer gleich mensuriert, also mit gleich vielen Schlägen pro System, nach dem man sich zu orientieren hat. Manchmal (z.B. Sektion C) habe ich die Mensur von Stockhausen untergeteilt, weil es so verständlicher wird zu lesen und auszurechnen. Die Dauer der Systeme und Perioden ist von Stockhausen vorgeschrieben. Ich habe die Tempi wie folgt ausgerechnet: Beispiel: Auf Seite 5 hat jedes System 15 Schläge. In der Sektion E ist ein System 30.4 Sekunden lang. 30.4 : 15

= 2.027

Jeder Schlag auf dieser Seite dauert also 2.027 Sekunden. Um das richtige Tempo zu errechnen, muss man 60 Sekunden durch 2.027 dividieren. 60 (Sekunden) : 2.027

= 29.6 Unser Tempo ist also Viertel = 29.6.

Wenn ich dieselbe Notenseite (5) aber für Sektion D benutze, erfordert dies ein anderes Tempo: Dauer des Systems: 8.5 Sekunden 8.5 : 15

= 0.5667

60 : 0.5667

= 105.88 also ein schnelleres Tempo.

Man hält sich immer an dieses Tempo, wenn das Material hinsichtlich sich selbst interpretiert wird. Wenn aber ganze Systeme aus der vorausgegangenen oder nachfolgenden Seite interpretiert werden sollen, übernehmen sie das Tempo von der betreffenden Sektion. Dies habe ich gemacht in der Sektion B, wo ich Systeme von Seite C genommen habe. Teile und Elemente aus der vorausgegangenen oder nachfolgenden Seite behalten das Tempo, das sie dort haben, wenn sie in der aktuellen Sektion vorkommen. Das heisst, sie bleiben nicht im ursprünglichen Takt, wenn sie in einer anderen Sektion vorkommen. Also muss man nochmals rechnen: das Tempo der Teile oder Elemente aus einer anderen Sektion, im Vergleich zum Tempo der aktuellen Sektion. Z. B. ein Element aus Sektion B (Tempo = 30), das in der Sektion A (Tempo = 90) gespielt wird, muss einen drei Mal so langen Notenwert haben, um die richtige Dauer zu bekommen.


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Dieses Element aus Zyklus B ist zwei Schläge lang und dauert vier Sekunden:

Wenn es als Element im Sektion A in meiner Version vorkommt ist es sechs Schläge lang und dauert trotzdem vier Sekunden:

So wird es auch möglich, einen Ton während der ganzen Periode und über den Beginn der folgenden hinaus auszuhalten, was wenigstens zweimal pro Version geschehen soll. Die Tempi haben wir im Computer vorprogrammiert, und die Tempowechsel zwischen jedem Zyklus sind automatisch geschehen. Ich hatte einen Bildschirm vor mir, der mir die Schläge gezeigt hat, z.B. Zyklus C= 1-6. Diese Taktzahlen, wo jede Zeile wieder von 1 beginnt, habe ich mir in den Noten reingeschrieben, damit ich dem Computer einfacher folgen konnte (siehe Anhang).

Tonhöhe transponieren Das Stück besteht aus Tonhöhen in einem Umfang von nur drei Oktaven – wahrscheinlich, damit man das auf möglichst vielen Instrumenten spielen kann. Es ist in einer sehr hohen Lage notiert; also muss man für Cello transponieren. Im Vorwort schreibt Stockhausen, dass alle Noten um das gleiche Intervall transponiert werden sollen. Der tiefste vorkommende Ton ist ein C (ausser manchmal H, aber dort schreibt er immer eine Alternativ-Oktave). Insofern war die Entscheidung des Transponierens für mich am Cello einfach: der tiefste Ton ist die tiefe C-Saite. Ich transponiere also alles zwei Oktaven nach unten. Stockhausen schreibt allerdings, wenn man ein Instrument mit 4 oder 5 Oktaven Umfang verwende wie z.B. das Cello, so könnten alle Tonhöhen der oberen Oktave um 1 oder 2 Oktaven aufwärts und/oder alle Tonhöhen der unteren Oktave um 1 oder 2 Oktaven abwärts transponiert werden. Nun gibt es aber ein Problem: Wenn man so vorgehen würde, fehlten eine oder zwei Oktaven zwischen der transponierten


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und der normalen Oktave. Das stört besonders, wenn z.B. eine Tonleiter oder ein Glissando über diese „Grenze“ hinweg geht. Das führt zu sehr unnatürlichen Sprünge in der Musik. Trotzdem wäre es schade, sich nur innerhalb der vorgeschriebenen 3 Oktaven zu bewegen, da ich natürlich das ganze Celloregister benutzten wollte. Ich habe das Problem gelöst durch eine der „Klangfarben“ (siehe folgender Abschnitt). So kam ich auch zu der Entscheidung, welches die Klangfarbe III sein soll: Die Klangfarbe III ist in meiner Version ein Quart-Flageolett, das heisst, es klingt 2 Oktaven höher als geschrieben.

Die vier Klangfarben aussuchen „Solisten schickten mir Tabellen mit neuen Möglichkeiten ihrer Instrumente: Klarinettisten und Oboisten boten akkordische Passagen, Obertoneffekte, vokalisiertes Blasen, neue Glissandomöglichkeiten usw. an.“5 In SOLO überlässt es Stockhausen dem Interpreten, eigene Klangfarben zu entwickeln. Alle Spielartvarianten sind so notiert, dass der Spieler selbst die ihm möglichen Varianten der Klangerzeugung und Spieltechnik einsetzen kann. In SOLO soll man 4 verschiedene Klangfarben aussuchen: N (normal), I, II und III. Da Stockhausen schreibt, man müsse alle 4 Farben aussuchen, braucht das „N“ nicht unbedingt das „normale“ Ordinario-Spiel zu sein, sondern „N“ ist einfach die Klangfarbe, die am meisten benutzt wird im Stück. Welche Klangfarbe am meisten vorkommt bei der Aufführung, kann man aber selber bestimmen, da man bei den „Teilen“ und „Elementen“ jeweils selber entscheidet, welche man nimmt. Ich habe dabei verschiedene Klangfarben ausprobiert:

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col legno (tratto und/oder batutto, gettato)

pizzicato

nur linke Hand drücken, ohne Bogen

mit Dämpfer oder Hoteldämpfer

Präparationen am Cello benutzen wie z.B. Büroklammern auf die Saiten

Flageolett

Spiel mit verschiedenen elektronischen Hilfsmitteln

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Bei der Entscheidung versuchte ich folgendes zu beachten: 

Dynamik: Eine Klangfarbe, die oft mit ff bezeichnet ist, soll lieber nicht die Klangfarbe „Hoteldämpfer“ sein.

Das Notenmaterial: Welches Notenmaterial passt zu welcher Spielweise?

Manche Klangfarbenwechsel brauchen Zeit, z.B. einen Hoteldämpfer aufsetzen oder einen Effekt mit der Elektronik zusammen koordinieren. Bei Perioden, wo die Pausen kurz sein sollen wie z.B. bei Periode F, ist es nicht empfehlenswert, Klangfarben oft ändern zu müssen. Dies ist also ein Punkt, wo die Entscheidung der Seitenwahl zusammen mit der Entscheidung für die Klangfarbenwahl erfolgen muss.

Oft muss man von einer Klangfarbe allmählich in die andere übergehen. Dies passiert bei jeder Klangfarbe ausser Nr. 1. Dies ist bei fast jeder Klangfarbe schwierig, bei einer con sordinoKlangfarbe z.B. geht das nur während einer leeren Saite. Daher habe ich mich gegen Sordino-Klangfarben oder Präparationen entschieden. Von arco zu pizzicato allmählich überzugehen geht einfacher: Ich beginne mit der linken Hand zu zupfen, während die Rechte noch spielt, und dann beginne ich „richtig“ pizzicato.

Ich habe mich für folgende Klangfarben entschieden: 

N = Ordinario

I = mit elektroakustischen Hilfsmitteln. Eine Farbe wollte ich auf jedem Fall mit der Elektronik machen, da die Elektronik ein grosser Teil des Stücks betrifft. Diese Farbe hat der Audiodesigner mitgestaltet.

II = Pizzicato (oder Pizzicato der linken Hand). Ich habe pizzicato als Klangfarbe ausgewählt, weil ich denke, mit pizz. kann man grössere Unterschiede in Dynamik und Ausdruck schaffen, als z.B. mit col legno. Bei sehr langen pizzicato-Tönen habe ich ein pizzicato-Tremolo gemacht.

III = Quart-Flageolett d.h. 2 Oktaven höher klingend als geschrieben. Dort wo es spieltechnisch schlecht möglich ist, Flageolette zu realisieren, spiele ich natürliche Töne, 2 Oktaven nach oben transponiert. Hier ist es vielleicht fraglich, ob ich mich genau an die Regeln gehalten habe, aber ich denke, wenn es zwei Oktaven höher gespielt wird, gibt es auf jedem Fall eine andere Klangfarbe.


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Geräuschhaft, etwas geräuschhaft und sehr geräuschhaft Die geräuschhaft-Klänge gibt es bei allen 4 verschiedenen Klangfarben. Sie können, müssen aber nicht jedes Mal gleich sein, in meiner Ausarbeitung muss z.B arco geräuschhaft anders sein als pizzicato geräuschhaft. Ich realisiere sie mit Ponticello-Klängen, Überdruck des Bogens oder Vertikalziehen des Bogens. Bei Pizzicato mache ich geräuschhaft sehr nah am Steg.

Reihenfolge der Seiten wählen Man kann die 6 Seiten in irgendeiner Reihenfolge interpretieren, aber folgende Dinge waren mir bei der Reihenfolge-Entscheidung wichtig zu beachten: 

Der Form des Stückes und sein Aufbau. Ich wollte das Stück z.B. sehr laut und ausdrucksvoll beenden und habe deshalb Seite 6 als F ausgewählt, weil dort alles fortissimo ist.

Das Interpretations-Schema. Manche Notenseiten haben sehr ähnliches Material und wenig Dynamikunterschiede und nur einen kleinen Tonumfang. Dort, wo die Interpretation gemäss Formschema „gegensätzlich“ sein soll wie bei Periode C, ist es gut, eine Seite auszusuchen, die viel gegensätzliches Material hat mit grossen dynamischen Unterschieden und die alle Register benutzt.

Tempi vergleichen. Welches Notenmaterial passt am besten zu welchem Tempo? Musikalisch, und auch spieltechnisch: Manches Material ist in einem schnellen Tempo fast nicht spielbar.

Die Häufigkeit der Klangfarbenwechsel. Falls eine der „Klangfarben“ von der Elektronik gemacht wird und daher schwierig zu koordinieren ist, soll man versuchen, diese nicht zu oft wechseln zu müssen. Zum Beispiel: Meine Klangfarbe I wird mit elektronischen Hilfsmitteln realisiert, deshalb habe ich Seite 4 für Periode D ausgesucht, denn die ganze Seite hat die gleiche Klangfarbe (I) und Periode D wird nur bezüglich sich selbst interpretiert.

Ich habe versucht, so auszuwählen, dass die Seiten mit dem meisten Notenmaterial die längeren Perioden werden. Z.B. die Periode E ist sehr lang und Seite 5 hat viel unterschiedliches Notenmaterial, mit dem man arbeiten kann.


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Rückkopplung und Wiedergabe Stockhausen schreibt, man brauche 4 Assistenten, um die Elektronik zu bedienen. Bei der Uraufführung in Tokyo wurde ein Tisch mit verstellbaren Umlenk-Rollen gebaut, mit denen man die Verzögerungszeiten der Tonbandwiedergabe ändern konnte. Bei weiteren Aufführungen wurden 7 Magnetophone, durch die dasselbe Tonband lief, benutzt. Die erste und speziell für SOLO gebaute Rückkopplungsapparatur wurde im Studio für Elektronische Musik in Utrecht entwickelt.6 1994 erarbeiteten Dietmar Wiesner (Flöte) und Stockhausens Sohn Simon eine Version von SOLO. Sie haben die ausgearbeitete Flötenstimme aufgenommen und mit Hilfe eines Sequenzers und eines Samplers transformiert auf ein digitales Mehrspur-Tonband aufgenommen. Diese Aufnahme hat die im Partiturvorwort beschriebene Apparatur ersetzt. Heutzutage brauchen wir für SOLO nur noch einen Assistenten, und für eine Aufführung kann man die Rückkopplung und Wiedergabe im Computer vorprogrammieren. Bei der Ausarbeitung einer Version ist es für den Interpreten wichtig zu wissen, was mit der Rückkopplung und Wiedergabe passiert, während man spielt. Es ist sehr zu empfehlen, ein zusätzliches Routingschema zu machen (siehe Beilage), damit man die Version bewusster ausarbeiten kann. Auf diesem Routingschema kann man deutlich sehen, was, wann und aus welchem Kanal das Cello zurückgespielt wird. Grüne Farbe bedeutet Kanal 1, blaue Farbe Kanal 2. Es ist beispielsweise wichtig zu wissen, dass beim letzten System vom Zyklus B alle bisherigen Systeme aus Zyklus B in der Rückkopplung gespielt werden. So konnte ich auch Akkorde oder Polyphonie mit mir selber zusammenkriegen und über die dynamischen Unterschiede und Balance zwischen Cello und Rückkopplung informiert sein. Es ist aber aus dem Formschema nicht sofort verständlich für den Interpreten, wie man zum Routingschema kommt. Wir haben das Formschema so gedeutet:

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Unter 1. Assistent, Mikrophonaufnahme: Dort wo eine Klammer steht, wird es aufgenommen (Kanal 1, 2 oder beide). Die Zahlen unter den Klammern bedeuten Anzahl Perforationen in der Aufnahme (habe ich gemacht mit einem Pedal).

Unter 2. Assistent, Rückkopplung: Wo es eine Klammer gibt, ist der Kanal für die Rückkopplung offen, jeweils mit dem Material von der Periode davor. Wenn Mikrophon und Rückkopplung beide lange offen sind, werden immer mehrere Schichten aufeinander montiert (z.B. Periode B). Die Zahlen bedeuten die Anzahl Perforationen in der Rückkopplung (hat der Audio-Designer gemacht).

Unter 3. Assistent, Wiedergabe: Wo Stockhausen eine Klammer schreibt, heisst dies, der Kanal ist offen. Hier wird auch gezeigt, wie viele Schichten gleichzeitig wiedergeben werden und wann genau es wiedergegeben wird. Es beginnt nicht immer am Anfang einer Periode und es werden

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nicht immer ganze Systeme wiedergegeben (z.B. Sektion C). Die Dynamik, die bei diesen Klammern steht, kontrolliert der Audiodesigner.

So sind wir zu diesem Routingschema für Zyklus A gekommen. Die Ziffern oben sind die Perioden die ich spiele, grüner Farbe ist Wiedergabe Kanal 1, blaue Farbe ist Wiedergabe Kanal 2:

Perforationen Die Perforationen sind mehr oder weniger kurzer Unterbrechungen, welche im Verlauf der Periode frei verteilbar sind. Man kann z.B. Löcher in gehaltene Töne machen, oder Einzeltöne auslassen. Die Anzahl der Perforationen ist auf dem Formschema mit Ziffern vorgeschrieben, wie oben erläutert. Die Perforationen bei „1. Assistent“ habe ich mit einem Pedal gemacht, die Perforationen unter „2. Assistent“ hat der Audiodesigner gemacht. Auf dem Formschema steht auch, bei welchem Kanal perforiert werden soll. Meistens (ausser bei Zyklus 2) wird das Cello nur von einem Kanal aufgenommen und zurückgespielt. Das heisst, wenn der Interpret etwas perforiert, wird es nie irgendwo zurückgespielt. Mehrmals bei der Rückkopplung sowie bei Periode B beim Interpreten sind beide Kanäle offen. Hier sollen die Perforationen links oder rechts oder aber gleichzeitig geschehen. Die Perforationen sind so


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vorprogrammiert, dass der Computer jeweils „weiss“, aus welchem Kanal er perforieren soll und in welcher Reihenfolge. Beispiel: Zyklus B, erste Periode, hat 4 Perforationen im Kanal 1 und eine im Kanal 2. Wir haben uns entschieden, die ersten zwei Perforationen aus Kanal 1 zu machen, die nächste Perforation aus beiden gleichzeitig und die letzte nochmals aus Kanal 1. Falls ich eine Perforation zuwenig oder zuviel machen sollte, springt der Computer automatisch zur richtigen Programmierung am Anfang jedes System. Es kann sehr effektvoll sein, nur rechts oder links zu perforieren: Dies gibt den Zuhörern das Gefühl, der Klang bewege sich im Raum. Man könnte auch alle Perforationen vollständig vorprogrammieren. Dann müsste man kein Pedal benutzten, sondern im Voraus ausrechnen, nach wie vielen Sekunden der Computer perforieren soll. Wir haben uns dagegen entschieden, weil es mit einem Pedal flexibler ist. Falls ich beim Spielen nicht genau im Tempo bleiben sollte, können ich und der Audiodesigner darauf reagieren. Neben den Perforationen des Interpreten muss auch der Audiodesigner zusätzliche Perforationen machen. Die Perforationen helfen mit, die Dichte zu verändern. Dies ist besonders relevant bei Sektion D, wo das erste System sehr oft wiedergegeben wird. Mit Perforationen kann der Audiodesigner spielen, sodass es Variationen ergibt und nicht acht Mal genau das Gleiche wiederholt. Die Perforationen können auch sehr hilfreich sein, die Akkorde oder Blöcke zu gestalten. Man kann z.B. eine Perforation loslassen, genau in dem Moment, wo ein Ton in der Rückkopplung beginnt. Beispiel:

Für meinen Geschmack gibt es fast ein bisschen zu viele Perforationen, vor allem bei Perioden mit langen Pausen (wie z.B. D), wo schon wenig Material da ist. Wir sind zu der Lösung gekommen, für die Perforationen statt eines Switch-Pedals ein MIDI-Volumenpedal zu benutzen. Dieses Pedal hat nicht nur „ein“- und „aus“- Schalter, sondern kann die Übergänge auch ein- und aus-blenden. So habe ich manche Perforationen nur mit einem „Diminuendo“ oder „Crescendo“ des Volumenpedals gemacht.


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Notation Ich habe alles von Hand ausgeschrieben. Wenn man nicht transponiert (was für eher wenige Instrumente der Fall ist) könnte man auch die Noten von Stockhausen mehrmals kopieren, schneiden und kleben. Ich habe die Perforationen jeweils so notiert, dass ich eine Klammer um die Töne notiert habe, die perforiert werden sollen. Dort, wo ich mit dem Volumenpedal ein Fade-in oder Fade-out mache, habe ich diese als Dynamiken oberhalb der Noten geschrieben (Dynamiken von Stockhausen sind jeweils unterhalb der Noten gesetzt). Nach dem ich das Stück fertig ausarbeitet und notiert habe, haben wir eine zusätzliche Partitur hergestellt (siehe Anhang), wo alle Rückkopplungen als Noten stehen. Kanal 1 nochmals in grüner Farbe, und Kanal 2 in blaue Farbe. Bei dieser Partitur sieht man ganz deutlich, welche Musik zurückgespielt wird und aus welchem Kanal. Diese Partitur ist eher für den Audiodesigner als für den Interpreten wichtig. Somit kann man die Musik besser verfolgen, kontrollieren und Fehler korrigieren.

Aufführung mit Elektronik koordinieren; Verstärkung Ich habe einen Computer gehabt, der mir die Tempi angezeigt hat, um mit meinem eigenen Rückkoppelungen synchron spielen zu können. Der Computer war so programmiert, dass er die Tempowechsel automatisch gemacht hat. Zuerst haben wir ohne Computersynchronization versucht, aber es war sehr schwierig, die Akkorde zusammenzuspielen, weil ich die Rückkopplung nicht immer gut hören konnte. Wir haben auch ausprobiert, ein „Clicktrack“ mit Kopfhörer zu benutzen; mit diesem ist es aber sehr unangenehm zu spielen. Wir haben entschieden das Cello ein wenig zu verstärken, um die Klangmischung mit der Rückkopplung zu optimieren. Der Audiodesigner hat die Balance von Livecello und Rückkopplungen kontrolliert. Für das Cello haben wir ein DPA-Mikrophon benutzt, welches man an die Seiten daran befestigt zwischen Steg und Saitenhalter. Wir haben uns für dieses Mikrophon entschieden, um die Problematik mit Schattierungen zu minimieren. Da alles, was im Raum gespielt wird, vom Mikrophon aufgenommen wird, wird bei lauten Stellen auch der Rückkopplung aufgenommen. Man könnte dies ganz vermeiden, so wie bei der im 1994 erarbeiteten Version für Flöte. Damals hat man, wie oben auch erwähnt, die Flöte auf ein Tonband aufgenommen, was eigentlich nicht der Sinn des Stückes ist. Da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, gehe ich hier nicht weiter auf die technische Details zur Elektronik oder Computerprogrammierung ein.


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Schlusswort Stockhausen fand, dass in der Musik für Soloinstrumente damals immer ein Ton nach dem anderen folgte; der zeitliche Ablauf wurde immer als eine Linie konzipiert und gehört. Er spürte jedes Mal, dass sich in der Grundkonzeption der Komposition für einen Solisten nichts Wesentliches verändert hatte. So stellte er sich in SOLO eine Musik vor, bei der man spürt, dass der Spieler „laut denkt“; eine Musik, die sich in alle Richtungen bewegen kann. Er wollte das vielschichtige räumliche Bewusstsein erlebbar machen.7 Schlussendlich habe ich genau das bei der Ausarbeitung am Schwierigsten gefunden: alle komplizierten Instruktionen genau zu befolgen und trotzdem einen Eindruck geben von der Spontaneität des Stücks. Die Aufführung des Werkes soll nicht wie eine Aneinanderreihung von Teile und Element ohne Zusammenhang klingen. Das Werk sollte ein kammermusikalischer Dialog zwischen Interpret und Elektronik sein mit Spannung, einem grossen Formverlauf und Aufbau. Ich bin in dieser Masterarbeit ziemlich wenig darauf eingegangen, welches Notenmaterial genau ich benutzt habe und warum. Die komplizierte Aufgabe ist: alle Bestimmungen zu beachten. Wenn man das macht und noch spieltechnische Einschränkungen dazukommen, ist das Aussuchen des Notenmaterials ziemlich einfach, weil man ziemlich wenig Freiheit hat. Die Noten, die man bei der Ausarbeitung schreibt, ist „nur“ einen Teil der Interpretation des Werkes und dürfen aus Copyright-Gründen nicht als Komposition veröffentlicht werden. Daher ist es schwierig, für jemand, der vor dieser Aufgabe steht, zu sehen, was andere Interpreten mit diesem Stück gemacht haben. Dies kann man nur aus Aufnahmen hören; aber es ist bei Aufnahmen schwierig zu merken, wie genau das Stück ausgearbeitet wurde. Ich habe im Februar 2012 meine Ausarbeitung fertig geschrieben, das erste Konzert hat im März 2012 stattgefunden. Seitdem habe ich kleine Änderungen gemacht: bei manchen Stellen fand ich z.B. die Pausen zu lang, bei anderen Stellen war es zu laut oder leise. Dies habe ich bei SOLO im Gegensatz zu schon fixierten Kompositionen interessant und auch wie befreiend erlebt: dass ich die Musik zwischen jeder Aufführung an Stellen ändern kann, wo ich nicht überzeugt war - oder einfach je nach Lust und Laune. Das Schöne daran ist, dass SOLO von Interpret zu Interpret und von Mal zu Mal ganz verschieden klingen kann, aber trotzdem das gleiche Stück bleibt: SOLO!

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Ebd., S. 86.


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Dank An José Navarro für die Organisation der Konzerte, elektronische Geräte, Computerprogrammierung und Herstellung des Routingschemas. Ulrike Meyer-Spohn und Robert Torche für die Arbeit als Audio-Designer. Mike Svoboda für die Betreuung und interessanten Beiträge zu Stockhausen als Person und zu seiner Musik.

Bibliographie Karlheinz Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung (1965/66), London: Universal Edition 1969. Ders.: Texte zur Musik, Band 3: 1963-1970, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1971 Michael Kurtz: Stockhausen – Eine Biographie, Kassel und Basel: Bärenreiter, 1988


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Selbständigkeitserklärung Hiermit bestätige ich, dass ich diese Masterarbeit: Protokoll einer Ausarbeitung von Karlheinz Stockhausen: SOLO für Melodieinstrument mit Rückkopplung selbständig geschrieben habe.

Basel, 19. April 2012

Karolina Öhman


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