Das ist Schweden

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Schwedens Lage auf der Erde

Da s i s t S c h w e d e n

Wurzeln in Ehren hält und neue Trends trotzdem schneller als die meisten anderen Länder auf­ greift. Wir behalten das Ausland immer im Blick – schließlich wollen wir nichts Neues verpassen; trotzdem sind wir voller Stolz über unsere hei­ mischen Innovationen. Wir fahren zwar in ferne Länder, um dort sonnenzubaden, lassen aber nichts auf den schwedischen Sommer kommen. Wir sind ausländischen Einflüssen gegenüber offen; dennoch sehen wir es gern, dass andere Länder bei wichtigen Themen wie Gleichstellung, Menschenrechte und Nachhaltigkeit unserem

R i k a rd L ag e r b e rg & E m m a R a n d e c k e r

Schweden ist eine Nation, die ihre historischen

Das ist

Schweden

Beispiel folgen. Das ist Schweden ordnet die Besonderheiten ein, die Schweden heute prägen, und kommt zum Schluss, dass die Nation zuwei­ len Übserraschungen bereithält, zuweilen aber auch genau den Erwartungen entspricht.

Rikard Lagerberg & Emma Randecker


Das Schwedische Institut (SI) ist eine staatliche Behörde, die damit betraut ist, im Ausland das Interesse an und das Vertrauen zu Schweden zu erhöhen. Durch strategische Kommunikation und Austausch in den Bereichen Kultur, Ausbildung, Wissenschaft und Wirtschaft fördert das SI internationale Kooperationen und dauerhafte Beziehungen zu anderen Ländern. Das SI arbeitet eng mit schwedischen Botschaften und Konsula­ ten auf der ganzen Welt zusammen. Für weitere Informationen über das SI und Schweden besuchen Sie bitte Si.se, Sharingsweden.se und Sweden.se. Bestellen Sie weitere Exemplare dieser Publikation auf order@si.se; dort finden Sie auch vielfältiges anderes schwedenbezogenes Material, das vom Schwedischen Institut produziert wird. Was meinen Sie zu dieser SI-Veröffentlichung? Kontaktieren Sie uns gern unter order@si.se.

Die Verfasser Rikard Lagerberg ist Autor und Redakteur. Er hat den Großteil seines Erwachsenenlebens in den USA und in Irland verbracht. Als er nach Schweden zurückkam, verspürte er ein neues Interesse für sein Geburtsland. Die Redakteurin und Auto­ rin Emma Randecker hat, mit Ausnahme von ein paar längeren Aufenthalten in Frankreich und Großbritannien, ihr Leben in Schweden verbracht. Vor allem die Sehnsucht nach dem Wechsel der Jahres­ zeiten, wie er für Schweden typisch ist, trieb sie nach ein paar Jahren zurück in die Heimat.

© 2011, 2015  Rikard Lagerberg, Emma Randecker und das Schwedische Institut Für die in dieser Publikation geäußerten Meinungen sind allein die Autoren verant­ wortlich. Fotos: Umschlag Kerstin Jonsson/Azote, S. 1 Lotten Pålsson/Folio, S. 2 Ulf Huett Nilsson, S. 4–5 Tomas Utsi, S. 6 Håkan Hjort/Johnér, S. 7 Lola Akinmade, S. 8: Doris Beling/Folio, S. 9 Berndt Joel Gunnarsson/Nordicphotos, S. 11 Kenneth Hellman/Johnér, S. 12–13 Adam Ihse/TT, S. 14 Ulf Huett Nilsson, S. 16 Lena Granefelt/Johnèr, S. 17 Johan Alp/Johnér, S. 18 Mikael Dubois/Johnér, Susanne Walström/Johnér, S. 19 Felix Odell/Linkimage, Ester Sorri/Folio, S. 20 Leif R Jansson/TT, S. 21 Matton Collection, S. 22 SIPA USA/TT, S. 23 Wer­ ner Nystrand/Folio, S. 24 H&M, S. 25 Jessica Gow/TT, S. 26 Koenigsegg, MyFC, Solvatten, Hannes Söderlund/imagebank.sweden.se, Matton Collection, S. 27 Ulf Huett Nilsson, S. 28–29 Jesper Frisk/Rockfoto, S. 30 Anders Wiklund/TT, S. 31 Pija Lindenbaum, S. 32 Emma Svensson/Rockfoto, Masquerade, S. 33 Carl Thorborg, S. 34 Sofia Sabel/image­ bank.sweden.se, Front Design, Alexander Landergren, S. 36 Acne, S. 37 Sergei Grits/TT, S. 38 Jann Lipka/Nordicphotos, S. 39 Michael Jönsson/Folio, S. 40 Jonas Ingerstedt/ Johnér, S. 41 Michael Engman/Nordicphotos, S. 42 Göran Assner/Johnér, S. 43 Santa Maria, S. 44 Werner Nystrand/Folio, S. 45 Peter Gerdehag/Folio, S. 46 Bengt Jansson/TT, S. 47 Andreas Bylund/Folio, Arne Jönsson/TT, S. 48 Anders Ekholm/Folio, Umschlag­ innenseite Ylva Sundgren Übersetzung: Stefanie Busam Golay Grafische Gestaltung: Typisk Form designbyrå Typografie: Stag, Stag Stencil und Minion Papier: Invercote Creato und Arctic Volume High White Druckerei: Ineko, Stockholm, 2015 ISBN: 978-91-86995-65-2


Das ist Schweden



Eine sich ständig verändernde Gesellschaft

InhaltSverzeIchnIS

Wir Schweden sind es gewohnt, dass unser Land bei internationalen Untersuchungen regelmäßig sehr gut abschneidet – sei es nun bei Erhebungen zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Qualität des Breitbandnetzes oder zur verantwortungsvollen Wettbewerbsfähigkeit. Verallgemeinerungen bei der Beschreibung eines Landes und seiner Einwohner sind natürlich immer heikel. Aber in dieser Broschüre wollen wir Schweden als das moderne Land beschreiben, das es heute darstellt. Den Lesern soll ein Bild eines Landes vermittelt werden, das viel mehr zu bieten hat als Olof Palme, ABBA und Björn Borg. Die Verwandlung von einer armen Agrargesellschaft zum hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat von heute begann vor nicht einmal hundert Jahren, und in mancher Hinsicht ist die schwedische Mentalität noch tief mit der agrarischen Vergangenheit verwurzelt. Wir Schweden sind auf unsere Traditionen genau so stolz wie auf un­seren modernen Lebensstil. Der Wandel der schwedischen Gesellschaft hält unvermindert an. Im internationalen Vergleich stellen sich die Schweden außergewöhnlich schnell auf neue Trends und Ideen ein. Wir sind ein neugieriges und kreatives Volk mit Veränderungspotenzial – kein Wunder, dass wir uns nicht immer in Etiketten wie „blond“, „ruhig“ und „homo­gen“ wiedererkennen, mit denen uns die Welt versieht. Wir sind genauso wenig alle blond, wie wir alle InternetPiraten sind. In den vergangenen rund fünfzig Jahren hat Schweden viele demografische Veränderungen erfahren, und so hat heute ein Fünftel der Bevölkerung ausländische Wurzeln. Nach wie vor findet sowohl Ein- als auch Auswanderung statt. Über Liebesbeziehungen, Gegebenheiten in der Arbeitswelt und politische Aktivitäten werden immer mehr ethnische Grenzen eingerissen. Da Schweden sich ständig weiterentwickelt, treffen zwangsläufig immer wieder neue Einflüsse auf alte Traditionen. Aber es spricht vieles dafür, dass Schweden bei Themen von globaler Bedeutung wie Nachhaltigkeit, Gleichstellung und Menschenrechte auch in absehbarer Zukunft führend bleibt.

Natur 4 Geografie 6 Wetter und Klima 7 Tiere und Pflanzen 7 Zugang zur Natur 9 Nachhaltige Stadtplanung 10 Gesellschaft 12 Wir stellen vor: die Anderssons 15 Bildung 15 Gesundheit und soziale Sicherung 16 Arbeitsmarkt 17 Gleichstellung 19 Demokratie 20 Regierung 21 Monarchie 22 Schweden in der Welt 22 Innovationen 24 Kultur und Freizeit 28 Film und Bühne 30 Literatur 30 Kunst 32 Musik 33 Design und Kunstgewerbe 35 Mode 35 Sport 36 Traditionen 39 Sprache 42 Gastronomie 43 Geschichte 44


Natur Die Natur ist unser kulturelles Erbe Die große Mehrheit von uns Schweden lebt in städtischen Räumen, wie sie sich vor allem in der südlichen Hälfte des Landes finden. Hier können wir ein pulsierendes Kulturleben genießen und uns in Sachen Mode und Trends auf dem Laufenden halten. Doch wenn Sie eine Schwedin oder einen Schweden nach ihrer oder seiner Lebensumwelt fragen, bekommen Sie wahrscheinlich Schilderungen von malerischen Aussichten, tiefen Wäldern oder einer ruhigen Schäreninsel zu hören. Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: Schon in unserer Kindheit lernen wir Wertschätzung für die wunderbare Landschaft, die uns umgibt und die selbst in einer Metropolregion wie Stockholm nur einen Katzensprung entfernt ist. Uns Schweden zieht es geradezu vor die Tür – sei es, um uns fit zu halten, um frische Luft zu schnappen oder um die Natur zu erkunden. In Anbetracht der freien und oft spektakulären Natur des Landes ist es kein Wunder, dass Schweden nachhaltige Lösungen vorantreibt. Wir Schweden treten beharrlich dafür ein: Auch künftigen Generationen soll der Luxus von Wildnis, reiner Luft und klarem Wasser zukommen.



Die Wintersonne macht eine Stippvisite am Kebnekaise, dem höchsten Berg Schwedens

Geografie Schweden umfasst einige der letzten und größten europäischen Wildnisgebiete und zeichnet sich durch starke kleinräumige Wechsel in der Landschaft aus. Man könnte sagen, dass die ein­zige Konstante der Untergrund ist, denn Schweden liegt auf einem geologisch stabilen Bereich der eurasischen Landmasse. Ein großer Teil der schwedischen Landschaft ist von Nadelwald dominiert. Wenn das Blätterkleid sich vor dem Abfallen verfärbt, sorgen die Laubbaumanteile der Wälder für herrliche Herbstimpressionen. Das ganz im Süden Schwedens gelegene Schonen umfasst das fruchtbarste Ackerland. Etwas weiter nördlich wird die Kulturlandschaft von der bewaldeten Hochlandregion Smålands abgelöst, die von einer abwechslungsreichen idyllischen Gegend mit Feldern und Seen umgeben ist. In der Ostsee liegen Öland und Gotland; die Inseln warten mit einigen der ältesten und faszinierendsten historischen ­Stätten Schwedens auf. Wegen des Kalksteinuntergrundes und des günstigen Klimas gedeihen hier Orchideen und andere außergewöhnliche Pflanzen. Öland und Gotland sind beliebte Ferien­ziele; hierhin zieht es auch und gerade viele Festlandschweden. Auch die Schärengebiete ziehen Touristen ma6 Das ist Schweden

gisch an. Die Schweden der Ost- und der Westküste nehmen gleichermaßen für sich in Anspruch, dass „ihre“ Schären die schönsten seien. Aber in Wahrheit bezaubern beide Küsten mit ihrem je eigenen Charme. In Mittelschweden befindet sich Bergslagen. Das Vorhandensein von Eisenerz und andere Erzvorkommen machten die Gegend einst zur ersten Industrieregion Schwedens. Bergslagen liegt nicht weit von Stockholm entfernt. Die überwältigend schöne Hauptstadt Schwedens dehnt sich über vierzehn Inseln des Sees Mälaren aus. Im Nordwesten erstreckt sich das Skandinavische Gebirge einem urzeitlichen Bollwerk gleich auf der Grenze zwischen Norwegen und Schweden. Seine Gipfel erreichen eine Höhe von 1 000 bis 2 000 Meter über dem Meeresspiegel. Folgt man dem Gebirge, gelangt man schließlich nach Lappland (Sápmi), das die Heimat der Samen ist, einem der letzten indigenen Völker Europas. Lappland ist atemberaubend majestätisch, eine riesige Wildnis, die sich friedvoll, dramatisch und ungezähmt zugleich gibt. Die größten Flüsse Schwedens entspringen in den Bergen. Auf ihrem Weg zur Ostsee strömen sie durch weitläufige Polarlandschaften, Wiesen, Nadel- und Birkenwälder sowie Feucht-


gebiete: blaue Bänder, die die erhaben wirkende arkti­sche Landschaft mit der von Inseln und Inselchen gesprenkelten Küste verbinden.

Wetter und Klima Eigentlich müssten die Schweden sich jeden Tag beim Golfstrom bedanken. Denn schließlich könnte sich ohne die warme Meeresströmung im Atlantik schnell das Vorurteil bewahrheiten: Durch die schwedische Natur streifen Eisbären. Außerdem schützen die Berge im Westen Schweden vor besonders kalten und feuchten Windströmen. Gleichwohl können die Winter in Schweden, das vier klar voneinander abgrenzbare Jahreszeiten hat, sehr kalt werden. Das bekommen Sie besonders dann zu spüren, wenn Sie sich im nördlichen Drittel des Landes aufhalten (oder wenn Sie einen im wahrsten Sinne des Wortes unverfrorenen Schweden nach dem Saunieren beim Sprung in ein Wasserloch in einem ­zugefrorenen See begleiten). Viel extremer als das legendenumwobene schwedische Wetter ist allerdings die jahreszeitliche Veränderung der Tageslichtlänge in Schweden. Die Tageslichtlänge nimmt mit Fortschreiten des Frühlings bis Mittsommer zu, wobei dieses Phänomen im Norden des Landes besonders ausgeprägt ist. (Vor allem im Juni und Juli erweisen sich in Nordschweden dicke Vorhänge oder Schlafmasken als nützlich.) In den Landesteilen nördlich des Polarkreises geht die Sonne in den Wochen um die Sommersonnenwende gar nicht unter. Weiter im Süden ist die Dunkelheit auch nicht wirklich dunkel, sondern wirkt eher wie Abendrot. Im Winter sind die Verhältnisse umgekehrt. Natürlich versucht man die Dunkelheit im hohen Norden mit zahllosen Lampen und Lichtern zu erhellen. Aber auch die Reflexionen im Schnee und das zuweilen am Himmel spielende Nordlicht mildern die Finsternis. Die Aurora borealis gehört zu den schönsten und erstaunlichsten Sehenswürdigkeiten des Nordens. Die Natur komponiert diese Lichtsinfonie, wenn elektrisch geladene Teilchen, von Sonnenwinden angetrieben, mit hoher Geschwindigkeit in das Magnetfeld der Erde gedrängt werden.

Tiere und Pflanzen Als Folge langer gezielter Bemühungen, gefährdete und seltene Tiere zu schützen, bekamen unsere Weidegänger, Vögel und Raubtiere nach Jahrzehnten uneingeschränkter Bejagung eine zweite Chance. Ergänzend zur Bewahrung im Rahmen von ­Nationalparks und Naturschutzgebieten kann das Schwedische

DaS vOlK Der SaMen Die Samen stellen eines der kleinsten indigenen Völker der Welt dar. Rund 70 000 Samen leben in Sápmi, dem Siedlungsgebiet der Samen, das sich über Teile der heutigen Länder Schweden, Norwegen, Finnland und Russland erstreckt. In Schweden leben etwa 20 000 Samen – mit eigenem kulturellen Erbe, eigener Sprache, eigener Flagge und eigenem Parlament. Ursprünglich waren die Samen nomadische Sammler und Jäger, die den Wanderzügen der wilden Rene folgten. Doch im 17. Jahrhundert hielten die Samen vermehrt domestizierte Rentiere, die sie zwischen verschiedenen Weideflächen hin- und hertrieben. Neben der Rentierhaltung und der Fleischproduktion retteten die Samen auch das traditionelle Kunsthandwerk in die moderne Zeit. Gleichwohl gehen die meisten Samen einer Arbeit nach, die nichts mit der traditionellen Lebensweise zu tun hat. Das im Jahr 1993 gegründete Parlament der schwedischen Samen ist sowohl ein öffentlich gewähltes Organ als auch eine Landesbehörde. Dem samischen Parlament kommt die Aufgabe zu, die samische Kultur zu fördern. Das samische Parlament ist keine Selbstverwaltungsbehörde, und die Samen haben keine politische Vertretung im schwedischen Parlament. In der alten samischen Mythologie spielen Naturelemente eine zentrale Rolle, so auch die Sonnengottheit (Biejvve), die Mutter der Samen, und die Windgottheit (Bieggaålmaj), die das Fangen der Rene ermöglichte. Entsprechend dem schamanischen samischen Glauben ist die Natur beseelt. Die Samen bezeichnen sich bis heute als „Das Volk von Sonne und Wind“.

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Amt für Umweltschutz jedes vom Aussterben bedrohte Lebe­ wesen unter Schutz stellen. Der Elch ist nicht nur ein stattliches Tier, das in fast allen bewaldeten Teilen Schwedens lebt. Er gibt auch ein beliebtes Souvenir­motiv ab, stellt eine Verkehrsgefährdung dar, ist ein beliebter Fleischlieferant für den Menschen und Nahrungsquelle für die häufigsten schwedischen Raubtiere – Braunbär, Vielfraß, Wolf und Luchs. Im Gegensatz zu den anderen Tieren, die man unter dem Schlagwort „Schwedens fünf Große“ zusammenfassen könnte, ist der Elch kein Raubtier. Trotzdem ist es wohl der Elch, der dem Menschen gegenüber am aggressivsten (oder am wenigen ängstlich) auftritt. Was das Wildtiermanagement in

Schweden betrifft, wird das Thema Wolf nach wie vor besonders kontrovers und emotional diskutiert. Im Jahr 2010 fand nach 45 Jahren erstmals wieder eine Lizenzjagd auf den Wolf statt – begleitet von einer grimmigen Debatte. Zur Wintervogelfauna Schwedens gehören nur ein paar wenige Arten, aber im Frühling und Sommer gesellen sich viele Zugvögel aus dem Süden zu den Jahresvögeln. Mit seiner großen Küstenlänge und seinen vielen Seen weist Schweden – von Fischen bis Robben – eine reiche Vielfalt an Wasserlebewesen auf. Löwenzahn und Orchideen: Auch die schwedische Fauna ist recht vielfältig, besonders in den Bergen und auf den Ostsee­ inseln Gotland und Öland. Wohl bekannter als die schwedische

DurchSchnIttSteMperaturen unD DurchSchnIttlIche anzahl an tageSlIchtStunDen Januar Juli

21. Dezember Wintersonnenwende

21. Juni Sommersonnenwende

Malmö

–0,2°C

+16,8°C

7 Tageslichtstunden

17 Tageslichtstunden

Stockholm

–2,8°C

+17,2°C

6 Tageslichtstunden

18 Tageslichtstunden

Kiruna

–16,0°C

+12,8°C

0 Tageslichtstunden

24 Tageslichtstunden

8 Das ist Schweden


Lage auf der Erde

Kiruna

Nördlicher Polarkreis

Luleå Piteå

Schweden Umeå

Hudiksvall

Norwegen

FINnLANd

Uppsala Västerås Örebro Linköping Göteborg

Einer der wohl 350 bis 400 Wölfe, die 2014 in Schweden wild herumstreiften

Pflanzenwelt ist aber Carl von Linné. Der schwedische Arzt und Botaniker, der im 18. Jahrhundert wirkte und in Systema Naturae das erste biologische Klassifizierungssystem schuf, gilt als einer der wichtigsten Vorgänger von Charles Darwin.

Zugang zur Natur Uns Schweden steht so viel großartige Natur zur Verfügung, dass wir dumm wären, sie nicht zu genießen. Und das tun wir auch – bei Regen, Schnee oder Wind genauso wie bei schönem Wetter. Denn wie es so schön heißt: Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Und wie genießt man die Natur schon besser als bei Aktivitäten (womit, je nach Vor­ liebe, genauso Pilzesammeln gemeint sein kann wie Wasser­ fallklettern)? Wir leben nicht nur in einem dünn besiedelten, landschaft-

Jönköping Växjö

Helsingborg

Dänemark

Stockholm Norrköping

Gotland Öland

Malmö

KleIne BevÖlKerung – grOSSeS lanD Einwohnerzahl: 9,8 Millonen Zahl der nicht in Schweden geborenen Einwohner: 1,5 Millionen (rund 200 Nationalitäten sind represäntiert) Bevölkerungsdichte: durchschnittlich 23 Einwohner/km 2 ; aber 90 % der Einwohner leben in der Südhälfte des Landes Hauptstadt: Stockholm (gut 2 Millionen Einwohner in der Metropol­region) Landfläche: 407 000 km 2 (fünftgrößtes Land Europas) Größte Nord-Süd-Erstreckung: 1 600 km Größte Ost-West-Erstreckung: 500 km Wälder: 53 % Berge: 12 % Flüsse und Seen: 9 % Kulturland: 8 % Höchster Berg: Kebnekaise (2 100 m ü. d. M.)

NATUR 9


lich reizvollen Teil der Erde. Seit 1892 haben wir eine nationale Organisation, die Aktivitäten im Freien fördert; wir sind ziemlich gesundheitsbewusst; und wahrscheinlich übersteigt unser Umweltbewusstsein noch unser Gesundheitsbewusstsein. Die Natur zugänglich zu machen, geht damit einher, über ihre Verletzlichkeit zu informieren. Das allemansrätten, das einzigartige schwedische Jedermannsrecht, geht auf das Mittelalter zurück und ist ein Teil unseres kulturellen Erbes. Es erlaubt den Menschen, sich fast unbeschränkt in der Natur zu bewegen und unterwegs die meisten wild vorkommenden Nahrungsmittel zu sammeln. Mit diesem Recht ist aber eine große Verantwortung verbunden: der acht­ same Umgang mit der Natur und den wild lebenden Tieren sowie das rücksichtsvolle Auftreten gegenüber den Grundeigentümern und anderen Menschen. Vereinfacht gesagt, können wir draußen umherstreifen, sofern wir nicht stören und nichts zerstören. Schweden ist ein Wintersportparadies. Eis- und Langläufer nehmen mit Winterbeginn zugefrorene Seen, öffentliche Eislaufbahnen und Wälder in Beschlag. Abfahrtsskifahrer mieten sich in Berghütten ein. Und immer mehr Menschen entdecken den Adrenalin­rausch für sich, den sie beim Kitewing-Fahren, Eissegeln oder Eisklettern erleben können. In Schweden sind die Wintersportaktivitäten im Grunde nicht auf den Winter beschränkt: Nördlich des Polarkreises ist das mittsommerliche Abfahrtsskifahren beliebt. Eine fantastische Erfahrung, schließlich versinkt in dieser Jahreszeit die Sonne nie hinter den Bergen! Aber es geht nur eine Minderheit im Sommer Skifahren. Die meisten Menschen zieht es zum Beeren- oder Pilzesammeln in die Wälder, mit dem Rucksack zum Wandern in die Berge, zum Segeln oder Kajakfahren in die Schären oder zum Wildwasser-Rafting auf einen der vielen erstklassigen schwedischen Flüsse. Sie werden inzwischen selbst darauf gekommen sein: Auch wenn der Großstadt-Tourismus das am schnellsten wachsende Segment darstellt, ist Schweden ein wichtiges Zentrum für den Ökotourismus. Und unsere herrliche Natur ist die Haupt­ attraktion für ausländische Gäste, die in dichter besiedelten Teilen der Welt leben.

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Nachhaltige Stadtplanung Schweden hat den Ruf, in Umweltfragen führend zu sein. Und Nachhaltigkeit ist uns tatsächlich eine Herzensangelegenheit. Trotzdem wird in fast keinem anderen Land der Welt so viel elektrische Energie pro Kopf verbraucht wie in Schweden. Zu unserer Verteidigung dürfen wir sagen, dass wir informierte Konsumenten sind und uns engagiert bemühen, unseren ökologischen Fußabdruck zu verringern. Schweden ist eines der wenigen industrialisierten Länder der Welt, das in den letzten Jahrzehnten die Kohlendioxid-Emissionen senken konnte, und zielt darauf ab, beim Betrieb seiner Fahrzeuge bis zum Jahr 2030 komplett unabhängig von fossilen Brennstoffen zu sein. Auch die nachhaltige Stadtplanung rechtfertigt die weltweite Aufmerksamkeit, die der schwedischen Umweltarbeit zukommt. In Hammarby Sjöstad wurden bei der Planung der Strom-, ­Wasser-, Abwasser- und Abfallbeseitigungsinfrastruktur Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt. Das Stockholmer Stadtgebiet ist auch mit offenen Flächen und ökologischen Einkaufs­möglich­ keiten ausgestattet. Im Nordosten Stockholms entsteht ein neues umweltfreundliches Areal: Die Gebäude im Stadtteil Norra Djurgårdsstaden sollen über intelligente Stromleitungen versorgt werden. Diese liefern zuverlässig umweltfreundlichen Strom, indem sie Energie sparen, auf vor Ort produzierten „grünen“ Strom zurückgreifen und Spitzenlastzeiten berücksichtigen (Programmierung von Haushaltsgeräten wie Spülmaschinen auf Betrieb außerhalb der Spitzenlastzeiten). Solche umfassenden Konzepte zugunsten einer ökologisch ­gesunden Umwelt finden sich überall in Schweden. Die Stadt Växjö zum Beispiel setzt auf den Passivhausbau, also auf besonders gut isolierte Gebäude in Holzrahmenbauweise, die ohne klassische Heizung auskommen, weil der Wärmebedarf über die Abwärme der Bewohner und Geräte gedeckt wird.


Das Stockholmer Stadtgebiet Hammarby SjĂśstad ist in Sachen nachhaltiger Stadtplanung eine Inspirationsquelle fĂźr Fachleute aus aller Welt


Gesellschaft Demokratie als Basis, Gleichstellung und Toleranz als Ziel Das moderne Schweden hat ein stabiles demokratisches Fundament. Demokratische Grundsätze bestimmen nicht nur darüber, wie Schweden regiert wird, sondern über alle gesellschaftlichen Ebenen – von der Vorschule bis hin zum Arbeitsplatz. Wir zeigen auch Flagge für Gleichstellung und Transparenz. Jeder hat dieselben Rechte und die Chance auf Meinungsfreiheit, und wir alle dürfen die Herrschaftsaus übung durch Politiker und Regierungsbehörden kritisch prüfen. Das schwedische Wirtschafts- und Sozialsystem, oft mit dem Label „Schwedisches Modell“ versehen, verhalf dem Land zu einem der höchs­ ten Lebensstandards der Welt. Zwar erfuhr das Wohlfahrtssystem im Laufe der Jahre eine Umgestaltung, bei der zum Beispiel immer mehr Dienstleistungen des öffentlichen Sektors privatisiert wurden. Trotzdem betrachtet man das aus Steuermitteln finanzierte Bildungssystem und das ebenfalls steuerfinanzierte Gesundheitswesen als Grundrechte und als Voraussetzungen für das effektive Funktionieren der schwedischen Gesellschaft.


Eine Gรถteborger Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit


Hausarbeit ist in Schweden eine Familienangelegenheit


Wir stellen vor: die Anderssons Um das Schwedische Modell zu veranschaulichen, möchten wir Ihnen die schwedische Durchschnittsfamilie vorstellen, die Anderssons. Anna Maria, 42, Lars Erik, 39, Emma, 15, und Simon, 12 Jahre alt. Diese Familienmitglieder, ihre Namen und ihre Leben sind eine fiktive Konstruktion, die sich unter anderem auf Angaben des Statistischen Zentralamts gründet. Zum Beispiel ist Andersson der häufigste schwedische Nachname: 245 208 Schweden heißen so. Die Anderssons leben in der kleinen Stadt Växjö (450 Kilometer südwestlich von Stockholm) in einem Haus mit einem Besteuerungswert von 1 470 000 SEK. Dieser Wert entspricht rund 75 Prozent des Marktwertes. Die Anderssons entschieden sich vor allem deshalb für Växjö, weil die Stadt sich stark um Nachhaltigkeit bemüht und weil es hier nicht weit in die Natur ist. Über vier Fünftel der Schweden leben in Städten; zwei Drittel wohnen in Häusern, ein Drittel lebt in Wohnungen. Wie die Hälfte der 35- bis 44-Jährigen haben auch die Anderssons ein Ferienhaus auf dem Land. Dorthin fahren sie in ihrem silber­farbenen Volvo. Mit ihren beiden Kindern liegen die Anderssons knapp über dem Durchschnitt von 1,9 Kindern pro Frau. Die Mehrheit der 39-jährigen schwedischen Männer ist ledig. Doch Lars ist seit 14 Jahren mit Anna verheiratet. In Schweden leben viele Menschen unverheiratet mit ihrem Lebensgefährten/ihrer Lebensgefährtin (sambo) zusammen. Und wussten Sie, dass fast die Hälfte der schwedischen Haushalte Single-Haushalte sind? Weil Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer, ist bei unserem Durchschnittspaar Anna älter als Lars. Im „echten Leben“ ist der Mann meistens ein, zwei Jahre älter als seine Frau. Die im Gesundheitswesen tätige Anna verdient 24 800 SEK im Monat. Lars arbeitet im produzierenden Gewerbe und verdient 29 900 SEK im Monat. Nach Abzug der Steuern beträgt Annas und Lars’ gemeinsames monatliches Einkommen 41 200 SEK. Pro Kind unter 16 Jahren kommen jeden Monat steuerfrei 1 050 SEK Kindergeld hinzu. Emma und Simon wiederum bekommen von ihren Eltern ein monatliches Taschengeld von 600 bzw. 220 SEK. Als Simon und Emma Babys waren, nutzten sowohl Anna als auch Lars ihr Recht auf Elternurlaub. Schwedischen Eltern werden für jedes Kind ganze 480 Tage bezahlter Elternurlaub gewährt. Die Mutter und der Vater können diese 16 Monate beliebig untereinander aufteilen – mit einer Ausnahme: 60 Tage davon sind nicht von einem auf den anderen Elternteil über­ tragbar. Das Signal ist eindeutig: Es ist für beide Elternteile wichtig, Karriere und Kinder vereinbaren zu können. Und das hat die schwedische Gesellschaft durch großzügige Regeln und

Leistungen möglich gemacht. Wenn ein männlicher Angestellter ankündigt, dass er Elternurlaub nehmen will, werden nur noch selten die Augenbrauen hochgezogen; eher erntet er finstere ­Blicke, wenn er sich entschließt, sein Recht auf Elternurlaub nicht geltend zu machen. Im Jahr 2014 beanspruchten schwedische Väter rund 25 Prozent des gesamten Elternurlaubs.

Bildung Das gleiche Recht auf eine gebührenfreie Schulbildung ab einem Alter von 6 Jahren ist einer der Pfeiler des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Und vom allerersten Schultag an werden wir zu unabhängigem und kritischem Denken ermuntert. Als Emma und Simon im Alter von 18 Monaten mit der Vorschule begannen, gewährleisteten staatliche Zuschüsse, dass Anna und Lars dafür nur begrenzte Kosten aufwenden mussten. Nach gegenwärtigem Stand bedeutet dies, dass Eltern nie mehr als 3 Prozent ihres Einkommens (oder maximal 1 260 SEK) für den Vorschulbesuch zahlen müssen, unabhängig davon, ob es sich um eine öffentliche oder eine private Institution handelt. Das ist für alle Eltern erschwinglich. Außerdem kommen die Kinder so in den Genuss früher Förderung und Bildung, während die Eltern die Möglichkeit haben, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder zu studieren. Im Alter von 6 Jahren beginnen die meisten Kinder ihre Schullaufbahn mit dem Besuch der freiwilligen Vorschulklasse. Emma und Simon begannen ihre Schullaufbahn im Alter von 7 Jahren, als sie in eine der 9-jährigen gebührenfreien kommunalen Pflichtschulen Växjös aufgenommen wurden. Es gibt sowohl auf dem Pflichtschulniveau als auch auf dem Niveau der weiterführenden Schule neben kommunalen auch Vertragsschulen, also mit öffentlichen Mitteln finanzierte Bildungsstätten in freier Trägerschaft. Sie bieten ähnliche Grundausbildungen wie die kommunalen Schulen, setzen aber oft einen anderen Fokus, so zum Beispiel auf Sprachen, Religion oder eine besondere Pädagogik. Ab einem Alter von 6 Jahren gingen Emma und Simon von der Vorschule bzw. Schule direkt in den Hort. Diese Dienstleistung wird für Kinder bis zu 12 Jahren angeboten und nimmt Vollzeit erwerbstätigen Eltern eine riesige Last von den Schultern. Für diese Art der Kindertagespflege werden Gebühren in Höhe von maximal 2 Prozent des Elterneinkommens erhoben. Emma geht in die 9. Klasse. Im Herbst wird sie sich um die Aufnahme in das sozialwissenschaftliche gymnasiale Ausbildungsprogramm bewerben. Ungefähr 98 Prozent der Schüler, die die Pflichtschule beendet haben, wechseln auf die weiterführende 1 SEK (Schwedische Krone) = 0,11 EUR (August 2015)

Gesellschaft 15


Schule, deren Besuch freiwillig und gebührenfrei ist. Für Jugendliche ab 16 Jahren, die die weiterführende Schule besuchen, wird das Kindergeld durch eine monatlich ausgezahlte Studienbeihilfe ersetzt. Emma weiß noch nicht genau, was sie nach Abschluss der weiterführenden Schule machen möchte. Vielleicht setzt sie ein Jahr aus, bevor sie wie Hunderttausende ihrer Altersgenossen ihr Glück bei einem Universitätsstudium versucht. Warum auch nicht? Schließlich ist für sie auch die Hochschulbildung komplett steuerfinanziert. Und nicht nur das: Wenn Emma sich für ein Universitätsstudium entscheidet, hat sie Anspruch auf eine

Ausbildungsförderung, die teils als Zuschuss, teils als Darlehen gewährt wird. Schweden hat eine stolze Geschichte akademischer Exzellenz, die mit der Gründung der Universität Uppsala im Jahr 1477 begonnen hat. Heute sind die schwedischen Universitäten von einer locke­ren Atmosphäre sowie offenen und informellen Beziehungen zwischen Studierenden und Lehrenden geprägt. Aber nicht, dass Sie einen falschen Eindruck gewinnen: Schweden ist bekannt für seine hohen Bildungsstandards. Die Lehrenden ermutigen die Studierenden zu Eigeninitiative, statt ihnen genau zu sagen, was sie zu tun haben. Vermutlich hat uns nicht zuletzt der prestigeträchtige Nobelpreis davon überzeugt, dass es Innovationen sind, die die Weichen für die Zukunft stellen.

Gesundheit und soziale Sicherung Das schwedische Gesundheitswesen ist eng mit der Sozialver­ sicherung verknüpft, und so haben alle, die in Schweden leben oder arbeiten, Zugang zu den stark subventionierten Gesund­ heitsleistungen. Wenn Anna oder Lars krank werden, ist das natürlich äußerst unerfreulich, aber keine finanzielle Katastrophe für die Familie. Die Höhe der Fortzahlung von Seiten des Arbeitgebers entspricht in der Regel 80 Prozent des Arbeitsentgeltes; der erste Krankheitstag ist ein Karenztag. Ist die Entgeltfortzahlung nach 14 ­Tagen abgelaufen, erhält man ein geringeres Krankengeld von Seiten des Sozialversicherungsamts. Bei einer Langzeiterkrankung wird der Leistungsanspruch regelmäßig evaluiert. Wenn Anna und Lars zum Arzt gehen, zahlen sie nur 150 bis 200 SEK; die Gebühr wird vom jeweiligen Provinziallandtag fest­gelegt. Ein Besuch beim Facharzt kostet maximal 350 SEK. Pro Krankenhaustag wird eine Gebühr von 100 SEK erhoben. Die obere Kostengrenze für ärztliche Behandlungen liegt bei 1 100 SEK pro Jahr, die für verschreibungspflichtige Medikamente bei 2 200 SEK. Der Großteil der medizinischen Versorgung wird in Gesundheitszentren geleistet, wo ärztliches, pflegerisches und therapeutisches Fachpersonal zusammenarbeitet. Die gesamte Familie

BIlDungSStanD Der 25- BIS 64-jährIgen eInwOhner SchweDenS (2012) Geschlecht

Bevölkerungszahl

Bildungsstand (in %) Pflichtschule Weiterführende Schule (7–16 Jahre)

Hochschule: kürzer als 3 Jahre

Hochschule: 3 Jahre oder länger

Frauen

2 409 000

11 %

43 %

16 %

29 %

Männer

2 475 000

15 %

48 %

15 %

21 %

Insgesamt

4 884 000

13 %

45 %

15 %

25 %

16 Das ist Schweden


Andersson ist bei einem Gesundheitszentrum in Växjö eingeschrieben, das in der Nähe ihres Hauses gelegen ist. In Schweden ist die Verantwortung für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung dezentralisiert und wurde den Provinzen und – in einigen Fällen – den Gemeinden übergeben. Inzwischen konkurrieren immer mehr private Erbringer medizinischer Dienstleistungen mit den öffentlichen Gesundheitsinstitutionen. Gut, dass die Sozialversicherung für alle Dienstleister gilt, sodass die Kosten für die Patienten überall dieselben sind. Die zahnärztliche Versorgung ist nicht so stark subventioniert wie die allgemeinmedizinische Versorgung, und die Zahnärzte legen die Behandlungskosten selbst fest. Aber die Sozialversiche­ rung zahlt Simons und Emmas Kontrolluntersuchungen und Behandlungen bis in das Jahr ihres 20. Geburtstags. Ab dann erhalten sie einen Zuschuss für ihre zahnmedizinische Ver-

sorgung und sind durch eine obere Kostengrenze geschützt. Sollten Anna oder Lars ihre Arbeit verlieren, bekommen sie als Arbeitslosenversicherungsnehmer ein Arbeitslosengeld, das sich nach dem zuvor erzielten Arbeitsentgelt bemisst. Ohne Versiche­ rung hätten sie Anspruch auf einen Aktivitätszuschuss des Sozialversicherungsamtes, der allerdings geringer ausfällt als das Arbeits­losengeld. Eine Leistung mit Sozialhilfecharakter kommt denjenigen zu­ gute, die weder Anrecht auf Arbeitslosengeld noch auf Aktivitätszuschuss oder auf Krankengeld haben. Er ist als Überbrückungshilfe gedacht, um dem Betroffenen wieder auf die Beine zu helfen. Familien mit geringem Einkommen können außerdem Wohngeld beantragen. Auch wenn es noch ein paar Jährchen hin sind, besprechen Lars und Anna von Zeit zu Zeit die finanziellen Konsequenzen des Ruhestandes. Sie sind froh, dass den Senioren in Schweden ein größerer Anteil des Bruttoinlandsprodukts zugutekommt als in jedem anderen Land der Welt. Alle schwedischen Bürger haben ab der Regelaltersgrenze von 65 Jahren Anspruch auf eine staatlich finanzierte garantierte Mindestrente. Da Lars und Anna beide erwerbstätig sind, werden sie stattdessen automatisch eine Einkommensrente bekommen sowie eine Angestelltenrente, an der sich der Arbeitgeber während der Beschäftigungsdauer mit Zahlungen beteiligt. Um ihren relativ hohen Lebensstandard auch im Alter zu sichern, ergänzen Lars und Anna diese Renten mit einer privaten Altersvorsorge. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Schweden – weltweit eine der höchsten – beträgt etwa 84 Jahre für Frauen und 80 Jahre für Männer. Annas Eltern werden bald 75 Jahre alt, und die Anderssons haben bereits begonnen, sich über die Möglichkeiten der Altenfürsorge zu informieren. Die Schweden sind sehr an ihre Unabhängigkeit gewöhnt. Es gilt also, die beste Lösung zu finden, damit die Eltern auch im hohen Alter noch ein aktives Leben führen können. Annas Eltern werden vermutlich in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben können. Dort haben sie die Möglichkeit, auf staatliche Unterstützung zurückzugreifen, die ihnen in Form von Essenszustellung, Unterstützung beim Putzen und Einkaufen, Fahrdiensten, sozialer Betreuung und Gesundheitsleistungen angeboten wird. Sollte ihre Gesundheit mit zunehmendem Alter nachlassen, stehen ihnen Wohneinrich­tungen mit Pflegepersonal zur Verfügung, das rund um die Uhr im Einsatz ist. Der Großteil der Altenfürsorge wird in kommunaler Regie geleistet, es gibt aber auch private Akteure.

Arbeitsmarkt Ein aktives Leben auch im Ruhestand

Das Arbeitsklima in Schweden ist im Allgemeinen offen und locker. Wir sprechen auch die Vorgesetzten mit dem Vornamen an, fördern die Teamarbeit, haben flexible Arbeitszeiten, kleiden Gesellschaft 17


uns leger und streben nach Geschlechtergleichstellung. Die aktive Arbeitsmarktpolitik und das Engagement einflussreicher Gewerkschaften, wie es für Schweden seit langem typisch ist, resultierten in einem starken Schutz der Arbeitnehmerrechte und etlichen Leistungen zugunsten der Arbeitnehmer. Die Geschichte der schwedischen Gewerkschaften geht bis auf das späte 18. Jahrhundert zurück, und fast 70 Prozent der Arbeitnehmer in Schweden sind Gewerkschaftsmitglieder – so auch der in der Privatwirtschaft beschäftigte Lars und die im öffentlichen Dienst tätige Anna. Zu den Hauptaufgaben der Gewerkschaften gehören tarifrechtliche Angelegenheiten. Bei Tarifverhandlungen versuchen sich die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern im Hinblick auf ein Bündel von Rechten zu einigen, die für alle Arbeitnehmer eines Betriebs gelten. Dabei geht es genauso um Vergütungs- und Urlaubsfragen wie um das Recht, sich an einem Streik zu beteiligen. Als von der Provinz Kronoberg im Gesundheitswesen Angestellte genießt Anna seit ihrem 40. Geburtstag einen bezahlten Jahresurlaub von 31 Tagen. Für Lars, der im produzierenden Gewerbe tätig ist, gilt der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch von 25 Tagen. Anna und Lars haben mindestens zweimal jährlich die Möglichkeit, einen Kurs zu besuchen. Das gehört zu einem fortschrittlichen Weiterbildungssystem, das es allen Arbeitnehmern ermöglichen soll, sich sowohl in beruflicher als auch persönlicher Hinsicht weiterzuentwickeln. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Ausrüster sind gemeinschaftlich verantwortlich für die Sicherheit am Arbeitsplatz; die ent­ sprechenden Regelungen sind im Gesetz über das Arbeitsumfeld festgeschrieben. Schwedische Arbeitsplätze sind nicht nur für ihre Sicherheit bekannt, sondern auch dafür, dass dort Fairness, Ehrlichkeit und Transparenz herrschen. Dass Corporate Social Responsibility (CSR) im schwedischen Geschäftsleben ein zentraler Aspekt ist, zeigt das allgemeine Bewusstsein für Umwelt- und Menschenrechtsfragen sowie die Antikorruptionshaltung. Sie haben es sicherlich selbst bemerkt: Zwar ist ihr monatliches

DIe fünf Berufe MIt DeM hÖchSten frauenanteIl (2013) Beruf

Anzahl Frauen

Gesundheits- und Krakenpflegehelfer/-in

162 800

93

7

Pflegende in der häuslichen Pflege

123 400

80

20

Kinderpfleger/-in

83 100

85

15

Vorschullehrkraft

81 700

92

8

Fachverkäufer/-in

65 200

62

38

18 Das ist Schweden

Anteil (in %) Frauen Männer


Einkommen im Vergleich mit einigen anderen industrialisierten Ländern relativ gering. Aber dank der vielen steuerfinanzierten öffentlichen Dienstleistungen ist es den Anderssons gelungen, einen ziemlich hohen Lebensstandard zu erzielen.

Gleichstellung Gemäß dem Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums zählt Schweden zu den führenden Nationen in Sachen Geschlechtergleichstellung. Frauen und Männer haben Anspruch auf Elternurlaub, das Arbeitseinkommen der Frauen beläuft sich auf ungefähr 93 Prozent dessen der Männer, und viele Paare teilen sich die Verantwortung der Haus- und Familienarbeit. Die Erwerbsquote der Frauen im Alter von 20 bis 64 Jahren beträgt rund 80 Prozent (Männererwerbsquote: 88 Prozent), was im internationalen Vergleich außergewöhnlich hoch ist. Es ist wohl unumstritten, dass familienfreundliche und flexibilitätsfördernde Maßnahmen wie die verfügbare und erschwingliche Kinderbetreuung zur relativ hohen schwedischen Fertilitätsrate von 1,9 Kinder pro Frau (europäischer Durchschnitt: 1,5 Kinder) beigetragen haben. Frauen wie Anna müssen sich nicht zwischen Karriere und Kindern entscheiden; die öffentliche Hand sorgt dafür, dass Beruf und Familie vereinbar sind. Im Gleichstellungsparadies steht also alles zum Besten? Nein, nicht ganz. Zwar kommt Frauen in der Privatwirtschaft immer mehr Einfluss zu. In den Vorständen und auf den Management­ etagen sind sie aber immer noch in der Minderheit, und die Unternehmen werden dafür kritisiert, zu wenig zur Verbesserung des Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern beizutragen. Auf der anderen Seite haben Frauen über die Hälfte der Chefpositionen in Gemeinden, Provinziallandtagen und Staat inne, und fast die Hälfte der Mitglieder von Regierung und Parlament sind weiblich. Natürlich geht es beim Thema Gleichstellung um mehr als die Geschlechterkluft; zur Gleichstellung gehört auch, jedem Men-

MeIlenSteIne Der SchweDISchen geSchlechtergleIchStellung 1845: Frauen und Männer bekommen dieselben Erbrechte. 1921: Frauen erhalten das aktive und passive Wahlrecht. 1938: Die Schwangerschaftsverhütung wird legalisiert. 1965: Ein Gesetz wird verabschiedet, das die Vergewaltigung in der Ehe verbietet. 1974: Die Elternversicherung wird eingeführt; sie gewährt beiden Eltern das Recht auf Elternurlaub. 1975: Ein neues Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch tritt in Kraft: Eine Frau kann sich während der ersten 18 Wochen der Schwangerschaft frei für einen Abbruch entscheiden. 1980: Die Thronfolge wird geschlechtsunabhängig. 1998: Das Gesetz gegen die Verletzung der Integrität von Frauen tritt in Kraft. 1999: Ein neues Gesetz verbietet den käuflichen Erwerb sexueller Dienstleistungen. 2002: Der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung wird kriminalisiert. 2009: Die geschlechtsneutrale Ehegesetzgebung tritt in Kraft.

DIe fünf Berufe MIt DeM hÖchSten MänneranteIl (2013) Beruf Mitarbeiter im Außendienst und im technischen Vertrieb

Anzahl Männer

Anteil (in %) Männer Frauen

68 100

71

29

Computertechniker/-in, Computreranalyst/-in und Programmierer/-in 64 300

80

20

Lkw-Fahrer/-in

53 800

95

5

Bauarbeiter/-in und Zimmerer/-in

47 500

99

1

Lagerverwalter/-in und Lagerarbeiter/-in

43 800

79

21

Gesellschaft 19


schen ungeachtet seines Geschlechts, seiner ethnischen Herkunft, seiner Religion oder seines Glaubens, seiner etwaigen Behinde­ rung, seiner sexuellen Neigung oder seines Alter dieselben Chancen einzuräumen. Schweden hat eine lange Tradition der Förderung gleicher Rechte für alle – über die Gesetzgebung und die öffentliche Stellungnahme gegen jegliche Art von Diskriminierung. Im Jahr 2009 machte Schweden einen wichtigen Schritt in Richtung einer egalitäreren Gesellschaft: Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde zugelassen – mit Unterstützung der Schwedischen ­Kirche. Die eingetragene Partnerschaft war bereits 1995 eingeführt worden. Aber der geschlechtsneutrale Blick auf die Ehe geht damit einher, dass homosexuelle Paare, die heiraten, nun den­ selben Rechtstatus haben wie heterosexuelle Ehepaare. In Schweden gibt es auch Gesetze zum Schutz der Rechte von Kindern in der Gesellschaft und im privaten Bereich. Im Jahr 1979 wurde Schweden von vielen anderen Ländern als radikal – oder vielleicht sogar verrückt – betrachtet. Damals verbot Schweden als erstes Land der Welt den Eltern, ihre Kinder zu schlagen.

Demokratie Wir Schweden mögen im Hinblick auf Regeln etwas übereifrig wirken. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass wir die meisten Richtlinien zugunsten einer gleichberechtigten und gerechten Gesellschaft für notwendig halten. Wie sich gezeigt hat, sind wir mindestens genauso eifrig, wenn es darum geht, unsere Freiheiten zu verteidigen. In Schweden genießen wir Pressefreiheit, Demonstrationsrecht,

Redefreiheit und das Recht, die Herrschaftsausübung der Inhaber der ausführenden Gewalt zu überprüfen. Als Schweden 1776 als erstes Land der Welt die Pressefreiheit einführte, war das ein radikaler Schritt. Das schwedische Gesetz zur Informationsfreiheit und besonders das Gesetz zur öffentlichen Transparenz rufen interna­tional immer noch das ein oder andere Kopfschütteln hervor. Transparenz vermindert das Risiko des Machtmissbrauchs. Dass Schweden seit Jahren als eine der am wenigsten korrupten Natio­ nen eingeordnet wird, lässt auf die Stichhaltigkeit dieser These schließen. In Schweden hat Transparenz einen hohenStellenwert: Gesetze gewähren der Öffentlichkeit und den Medien Zugang zu amtlichen Unterlagen bis hin zum E-Mail-Verkehr innerhalb einer Behörde; dabei muss die entsprechende Information leicht verständlich und kostenlos zur Verfügung stehen. Natürlich gibt es Einschränkungen im Zusammenhang mit der Gewährleistung der nationalen Sicherheit. Aber im Großen und Ganzen gilt: Wenn etwas offiziell ist, ist es jedem zugänglich, der danach verlangt. Das Prinzip des öffentlichen Zugangs besagt außerdem, dass es Staatsbediensteten freisteht, die Medien aus eigener Initiative zu benachrichtigen. Zur weiteren Stärkung der öffentlichen Transparenz kennt die schwedische Regierung seit 1809 das Ombudssystem, in dessen Rahmen staatlich Beauftragte die Interessen von Individuen oder Gruppen vertreten. Die Ombudspersonen des Reichstags befassen sich mit Beschwerden gegen Behörden oder öffentlich Bedienstete. Die Ombudsperson für Diskriminierungsfragen setzt sich für gleiche Rechte und Chancen für alle ein und kämpft gegen jegliche Form der Diskriminierung aufgrund von ethnischem Hintergrund, Geschlecht, sexueller Neigung oder Behinderung. Menschen, die sich durch eine Werbekampagne irregeführt fühlen,

DaS geSpenSt DeS SOzIalISMuS In Anspielung auf den bedrohlichen kommunistischen Osten im Kalten Krieg wird oft behauptet, dass Schweden ein sozialistisches Land sei. Natürlich stimmt es, dass Schweden während fast des gesamten 20. Jahrhunderts von der Sozialdemokratischen Partei regiert wurde. Aber Schweden ist seit Langem eine Marktwirtschaft, und die große Mehrheit der schwedischen Unternehmen werden privatwirtschaftlich betrieben. Öffentlich-privatwirtschaftliche Kooperationen werden immer häufiger geschlossen, und in Schweden gibt es keine Erbschafts- und keine Vermögenssteuer mehr. Außerdem ist die schwedische Grundsteuer im internationalen Vergleich niedrig. Auf der anderen Seite zahlen wir immer noch so viele Steuern, dass wir zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur Zugang zu etlichen kostenlosen und subventionierten öffentlichen Dienstleistungen haben.

20 Das ist Schweden

In Schweden ist die Wahlbeteiligung hoch


haben eine Ombudsperson, an die sie sich wenden können, und es gibt auch eine Kinderombuds- und Presseombudsstelle.

Regierung Alle Macht geht vom Volke aus. Auf dieser Prämisse basiert die parlamentarische Demokratie in Schweden, auch wenn das Land formell durch eine Regierung geleitet wird. Die 349 Mitglieder des schwedischen Parlaments (riksdag) repräsentieren das Volk, und die Regierung legt dem Parlament gegenüber Rechenschaft ab. Das Parlament ist die gesetzgebende Gewalt, die Regierung die ausführende. Alle vier Jahre finden in Schweden allgemeine und gleiche Wahlen statt, in denen wir unsere bevorzugten Vertreter in die nationale, regionale und kommunale Regierung wählen. Im internationalen Vergleich gehen viele Wahlberechtigte an die Urne; in den vergangenen Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung allerdings auf rund 80 Prozent gesunken. Wahlberechtigt ist man erst, wenn man das 18. Lebensjahr vollendet hat. Bürger eines EU-Staates und norwegische oder isländische Staatsangehörige haben das Recht, in der Gemeinde und Provinz zu wählen, in der sie angemeldet sind. Dasselbe gilt für Ausländer, die seit mindestens drei Jahren in Schweden angemeldet sind. Wer seine Stimme bei Parlamentswahlen abgeben möchte, muss die schwedische Staatsbürgerschaft besitzen. Auch die meisten im Ausland lebenden Schweden sind wahlberechtigt. Im Anschluss an die Parlamentswahlen schlägt der Reichstagspräsident einen neuen Ministerpräsidenten vor; dabei geht er von der stärksten politischen Unterstützung im neuen Parlament aus. Das Parlament beruft dann formell den Ministerpräsidenten; dieser seinerseits ernennt die Minister der neuen Regierung. Schweden wurde während fast des ganzen 20. Jahrhunderts von den Sozialdemokraten regiert. Aber in den letzten Jahrzehnten wechselte die Macht zwischen der Sozialdemokratischen Partei und den vier nichtsozialistischen oppositionellen Parteien – der Moderaten Sammlungspartei, der Liberalen Partei, der Zentrumspartei und der Christdemokraten. Schweden wird dezentral regiert. Auf lokaler und regionaler Ebene sind Gemeindevertretungen und Provinziallandtage selbstständige politische Gremien mit klar definierten Verantwortungsbereichen. Zu den Aufgaben der Gemeindevertretungen gehören zum Beispiel die Stadtplanung und das Schulwesen, wohingegen die Provinziallandtage unter anderem für das Gesundheitswesen und für Infrastrukturfragen zuständig sind. Seit 1995 ist Schweden Mitglied der Europäischen Union, weshalb viele neue Gesetze, die im Land erlassen werden, auf EU-Direktiven zurückgehen. In den letzten Jahren legten die Schweden ihre anfängliche Skepsis gegenüber der EU immer

parlaMent unD regIerung Die Reichstagswahl im Jahr 2014 brachte eine Ablösung der Mitte-rechts-Allianz zugunsten einer rot-grünen Minderheitsregierung. Stefan Löfven, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, wurde für die kommende Vierjahresperiode zum Ministerpräsidenten ernannt. Die extrem rechtsgerichtete, ausländerfeindliche Partei der Schwedendemokraten legte bei der Wahl deutlich zu und konnte fast 13 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Ihre Rolle des „Züngleins an der Waage“ im Reichstag verkompliziert die parlamentarische Situation. Parlamentswahl, September 2014: Stimmenanteil und anzahl der Parteisitze (Sperrklausel, die zur Berücksichtigung bei der Mandatsverteilung im Riksdag übersprungen werden muss: 4 %) Moderate Sammlungspartei Zentrumspartei Liberale Partei Christdemokraten

23,33 % 6,11 % 5,42 % 4,57 %

Sozialdemokratische Partei Die Grünen Linkspartei

31,01 % 6,89 % 5,72 %

Schwedendemokraten

12,86 % Schwedendemokraten 49

Christdemokraten 16 Zentrumspartei 22

Die Grünen 25 Linkspartei 21

Liberale Partei 19

Moderate Samlungspartei 84

Sozialdemokratische Partei 113

Regierungs- und Parlamentsgebäude in Stockholm

Gesellschaft 21


mehr ab. Beim Einkaufen zahlen sie aber immer noch mit der Krone (krona).

Monarchie Angesichts der ausgeprägten Modernität unserer Nation mag es paradox wirken: Schweden ist auch eine konstitutionelle Monarchie. Doch obwohl König Carl XVI. Gustaf unser formelles Staatsoberhaupt ist, hat die königliche Familie seit Langem nur repräsentative und zeremonielle Funktionen. Die Menschen scheinen aber den Glamour zu mögen, der die Königsfamilie umgibt, und die Monarchie stößt immer noch auf breite Unterstützung. Auch wenn mehrere Parteien Schweden in eine Republik verwandeln möchten: Die Abschaffung der Monarchie steht nicht wirklich an. Bei seinen Aufgaben wird der König von Königin Silvia und den drei Kindern – Kronprinzessin Victoria, Prinz Carl Philip und Prinzessin Madeleine – unterstützt. Königin Silvia wurde in Deutschland in die deutsch-brasilianische Familie Sommerlath geboren. Es heißt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sich der schwedische König und die künftige Königin 1972 in München zum ersten Mal begegneten. Das Paar heiratete 1976.

Schweden ist seit 1544, der Zeit Gustav Wasas, ein Erbkönig­ tum: Aktuell steht Kronprinzessin Victoria ganz oben auf der Thronfolgerliste. Drei Jahre nach Victorias Geburt, im Jahr 1980, war Schweden das erste Land, das das Thronfolgegesetz geschlechtsunabhängig ausgestaltete: Die Thronnachfolge tritt jeweils das erstgeborene Kind des Königspaares an – gleichgültig, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Im Hinblick auf die Repräsentation Schwedens ist Kronprinzessin Victoria eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes. Das hängt nicht zuletzt mit der Aufmerksamkeit zusammen, die ihre Vermählung mit dem bürgerlichen Daniel Westling im Jahr 2010 weckte. Zu den Aufgaben der Kronprinzessin gehören die Unterstützung und die Vertretung des Königs, wenn es diesem nicht möglich ist, offizielle Verpflichtungen und Staatsbesuche selbst wahrzunehmen. Kronprinzessin Victoria ist nicht nur international in Entwicklungs- und Friedensfragen engagiert, sondern wirkt über den Kronprinzessin-Victoria-Fonds, der Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen finanziert, auch wohltätig. Trotz ihrer royalen Erziehung gilt Kronprinzessin Victoria als bodenständig; sie geht gern „normalen“ Beschäftigungen nach wie dem Golfspielen, dem Skifahren und dem Krafttraining. So lernte sie Daniel Westling auch in einem Fitnessstudio kennen – er war ihr persönlicher Trainer.

Schweden in der Welt

Kronprinzessin Victoria

22 Das ist Schweden

Auf der Skandinavischen Halbinsel lokalisiert und kaum mit dem europäischen Festland verbunden, hätten wir uns im Hintergrund halten können. Aber schwedische Unternehmen haben sich fast immer ins Ausland und zu einem größeren Markt hin orientiert. Auf schwedische Touristen stößt man in allen Gebieten der Welt. Wir haben uns auch einen Namen gemacht, indem wir uns bei globalen Fragen aktiv einbringen. Wir stecken den Kopf nicht in den Sand und ignorieren globale Probleme wie Armut, Instabilität oder Umweltzerstörung nicht. Schweden landet im Rahmen des Commitment to Development Index (CDI) regelmäßig auf einem Spitzenplatz. Das erklärt sich teilweise dadurch, dass wir 1 Prozent unseres Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungshilfe aufwenden – und zwar ohne die Empfängernationen dafür zum Kauf von schwedischen Gütern und Dienstleistungen zu verpflichten. Schweden beteiligt sich auch intensiv an Friedensverhandlungen und an internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen. Auch die ökologische Einstellung, die die schwedische Regierung auf dem internationalen Parkett an den Tag legt, ist eine deutliche Botschaft im Hinblick auf unser Engagement für eine stabile und friedliche Welt. Schweden ist weithin für seine Neutralität bekannt und hat seit


1814 keinen Krieg mehr erlebt. Zur Wahrung seiner Neutralität im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung war Schweden während des Kalten Krieges bündnisfrei. Entsprechend der schwedischen Sicherheitspolitik nehmen wir weiterhin nicht an Militärbündnissen teil, aber wir beteiligen uns an friedens- und sicherheitserhaltenden Missionen. Unsere Neutralität ist offiziell intakt, doch es lässt sich nicht bestreiten, dass wir uns an die Ver­ änderungen in der Welt angepasst haben. Als Mitglied der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft beteiligen wir uns bereits seit Längerem mit Truppen an friedenserhaltenden Missionen. Wenn Sie ansonsten nicht mit Schweden in Kontakt kommen, sind die Chancen doch groß, dass Sie mit schwedischen Marken wie IKEA, H&M oder Ericsson zu tun haben. Auf Gebieten wie der Telekommunikation und der Biotechnologie kommt schwedischen Unternehmen ein überproportional hoher Anteil am globalen Markt zu. Schon früh drängte die geringe Einwohnerzahl schwedische Unternehmen und Produzenten zur Erschließung neuer Konsumentenkreise und eines größeren Marktes ins Ausland. Im Grunde hatten sie so einen Vorsprung in Sachen Globalisierung. Natürlich finden in der internationalen Wirtschaft ständig Fusionen und Übernahmen statt; Firmen werden gehandelt, Unternehmen werden verkauft. Aber der schwedische Innovationsgeist signalisiert: Wie viele schwedische Marken auch abgestoßen werden, es werden immer neue nachrücken. Skype und Spotify sind Beispiele für junge schwedische Marken, denen es kürzlich gelang, den internationalen Markt im Sturm zu erobern. Corporate Social Responsibility (CSR) und Umwelt-Knowhow sind zwei der Stärken, mit denen schwedische Marken gewöhnlich assoziiert werden. Viele schwedische Firmen haben CSR zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur gemacht – und liegen damit heute total im Trend. Schweden wissen, wie man ohne Korruption erfolgreich unternehmerisch tätig ist und dabei gleichzeitig den Klimawandel, die Gleichstellung und die Menschenrechte berücksichtigt. Schwedische Kulturerlebnisse wie Musik, Film, Design, Mode und Speisen vermarkten sich mit ständig wachsendem Erfolg international. Aber es sind vor allem die Menschenbewegungen, die Schweden zu einem Teil einer wirklich globalen Welt machen. Schweden reisen viel, sowohl aus Urlaubs- als auch aus geschäftlichen Gründen. Während Phasen extremer Armut im 19. und 20. Jahrhundert wanderte rund ein Drittel der schwedischen Bevölkerung – 1,3 Millionen Menschen – aus existenziellen Gründen nach Nordamerika aus. Heute leben in den USA und in Kanada nahezu 5 Millionen Menschen mit schwedischen Wurzeln. 16 Prozent der heutigen schwedischen Bevölkerung wiederum wurden außerhalb Schwedens geboren. In Schweden gebürtige Menschen ziehen ins Ausland, einige von ihnen kehren nach einer Weile zurück; im Ausland geborene Menschen ziehen nach Schwe-

Der Turning Torso in Malmö


den, einige von ihnen ziehen nach ein paar Jahren wieder weg. Alles in allem fühlt sich Schweden in der Welt heimisch, und wir sind froh über die Öresundbrücke, die Schweden augenfällig mit dem europäischen Festland verbindet.

Innovationen Wegen seiner ausgeprägten Innovationskultur hat Schweden eine Vorreiterrolle in der technologischen Entwicklung errungen. Dank eines reichen Rohstoffvorkommens und bahnbrechender Erfindungen wie der Dampfturbine, dem Kugellager, dem gasbetriebenen Leuchtfeuer und dem Rollgabelschlüssel nahm die Verwandlung von einer armen Agrarnation in ein hoch entwickeltes Land nur ein paar Jahrzehnte in Anspruch. Unsere lange Geschichte ehrgeiziger Forschungs- und Entwicklungsprogramme scheint ein Hinweis auf einen nicht zu stillenden Wissensdurst zu sein. Und vielen schwedischen Unternehmen gelingt es auch vorbildlich, die cleveren Ideen in wirtschaftlichen Erfolg umzumünzen. Der Gründer des Telekommunikationsunternehmens Ericsson, Lars Magnus Ericsson, setzte seine Geschäftsidee der Telegrafen­ entwicklung in einer kleinen Maschinenbauwerkstatt um. Schließ­ lich trug er dazu bei, dass Stockholm im ausgehenden 19. Jahrhundert die Stadt mit der weltweit höchsten Telefondichte war. Die Überzeugung, dass Kommunikation ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist, kurbelte die Entwicklung der Firma Ericsson zum heutigen weltweit agierenden Riesenunternehmen an. Die Geschichte von IKEA nahm 1931 ihren Lauf, als der 5-jährige Ingvar Kamprad seinen Nachbarn – Profit bringend – Streichhölzer verkaufte. Nur gut ein Jahrzehnt später gründete Kamprad das Unternehmen IKEA, benannt nach den Anfangsbuchstaben seines Namens sowie des Namens des elterlichen Bauernhofs und seines Heimatdorfs (Elmtaryd und Agunnaryd). Innerhalb von sechs Jahrzehnten sollte Kamprad das Unternehmenskonzept, das er in den Wäldern Südschwedens erarbeitet hatte, in einem riesigen, in 40 Ländern der Welt agierenden Einrichtungskonzern verwirklichen.

BruttOInlanDSauSgaBen für f & e alS prOzentualer anteIl aM BIp (2012)

Prominentes Schwedentum in Las Vegas: ein H&M-Laden

24 Das ist Schweden

Süd-Korea Israel Finnland Schweden Japan

4,36 4,20 3,55 3,4 1 3,34

USA OECD China EU-28 Russland

2,79 2,40 1,98 1,97 1,1 2


Im Rahmen der alljährlichen Nobel­woche findet am 10. Dezember im Stockholmer Rathaus ein Bankett statt

nOBelS letzter wIlle

In seinem Testament verfügte der schwedische Erfinder, Unternehmer und Industrielle Alfred Nobel (1833–1896), dass der Großteil seines durch die Anmeldung von 355 Patenten und die Gründung von 90 Fabriken in 20 Ländern angehäuften Vermögens für den Nobelpreis reserviert werden solle – einen jährlich verliehenen Preis in verschiedenen Kategorien, der denjenigen zugesprochen wird, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Diese Preisstiftung ließ Nobels Erfindung des Dynamits in den 1860er Jahren im Laufe der Zeit in den Hintergrund treten. Seit 1901 wird der Preis für bedeutende Leistungen auf den Gebieten Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und Friedensbemühungen verliehen. Der Sveriges- Riksbank-Preis für Wirtschaftswissenschaften

entspringt nicht Nobels Testament, sondern wurde 1968 von der schwedischen Nationalbank in Gedenken an Alfred Nobel gestiftet. Die Nobelpreisverleihung findet am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in der schwedischen Hauptstadt Stockholm statt. Der Friedensnobelpreis wird allerdings in der norwegischen Hauptstadt Oslo verliehen. Nobel selbst wollte, dass der Friedensnobelpreis durch ein norwegisches Komitee verliehen wird. Dieser Wunsch ist besonders verständlich vor dem Hintergrund, dass Schweden und Norwegen von 1814 bis 1905 einer Union angehörten. Nobels ursprüngliches Vermögen von 31 Millionen SEK wuchs im Laufe der Jahre, und seit 2012 beträgt das Preisgeld 8 Millionen SEK je Kategorie. Bisher wurden 30 Schweden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Gesellschaft 25


Koenigseggs „Flower Power“-Auto Der schwedische Supersportwagen-Hersteller Koenigsegg lancierte 2007 sein Modell CCXR. Den Beinamen Flower Power bekam das Auto wegen seines Ethanolmotors. Es handelt sich um den ersten umweltfreundlichen Supersportwagen der Welt.

Kraftfahrzeugsicherheit Der Dreipunktgurt wurde von Vattenfall erfunden und von VolvoIngenieur Nils Bohlin entwickelt. Seit seiner Markteinführung 1959 rettete der Gurt schätzungsweise alle sechs Minuten ein Menschenleben. Der Dreipunktgurt gilt als eine der wichtigsten Innovationen in Sachen Verkehrssicherheit. Zu jüngeren von Autoliv entwickelten Innovationen zählen eine neue Generation von Alkoholsperren und ein Sensor, der Autofahrer nachts warnt, falls sich vor ihrem Gefährt Menschen aufhalten.

Skype PowerTrekk ist ein tragbares Brennstoffzellen-Ladegerät

Im Jahr 2003 revolutionierte der schwedische Unternehmer Niklas Zennström die telefonische Kommunikation: Gemeinsam mit Janus Friis erfand er die kostenlose Internet-Telefonie-Dienstleistung Skype. Seither entwickelte sich Skype zu einem führenden internationalen IT-Kommunikationsunternehmen mit sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen als Kunden.

Der Behälter Solvatten bereitet Wasser mit Hilfe von Sonnenenergie auf

Gideon Sundbäck a conçu la fermeture à glissière moderne en 1913.

Der Fahrradhelm Hövding entfaltet sich wie ein Airbag

26 Das ist Schweden

Gideon Sundbäck designte 1913 den modernen Reißverschluss


SpOtIfY – eIne frIeDlIche MuSIK-revOlutIOn In einem kulturellen Klima, in dem das illegale Downloaden von Musik und Filmen weit verbreitet ist, hatte eine Gruppe von Schweden eine wegweisende Idee. Das Team entwickelte einen Webservice, bei dem Musik legal und kostenlos gestreamt wird – und gründete so das schwedische Jungunternehmen Spotify. Die Geschäftsidee, Musik kostenlos online zu streamen, mag nicht ganz neu gewesen sein. Aber die Technologie ist einzigartig und die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Musik kaum zu übertreffen. Heute bietet das Unternehmen seine Dienste in einer Vielzahl an Ländern an. Die Expansion dauert fort, und die Lobgesänge reißen nicht ab: „Es schlägt alles andere auf dem Markt und stellt eine Bedrohung für mehrere um Aufmerksamkeit ringende Musikdienstleistungen dar“, kommentierte die Los Angeles Times die Lancierung von Spotify in den USA.

Kopfhörer von WeSC


Kultur und Freizeit Sprühend vor Inspiration Die schwedischen kulturellen Ausdrucksformen sind von explosiver Kreativität und Dynamik geprägt. Einfache Formeln wie „schwedische Musik = Pop“ und „schwedisches Design = Funktionalität“ lassen sich heute nicht mehr aufstellen. Schwedische Bands fassen Fuß bei so unterschiedlichen Musikstilen wie Gothic Metal und Hip-Hop. Unsere Filmemacher können mehr als „nur“ Psychogramme. Die schwedische Kunst öffnet sich Richtung Gesellschaftskritik und Privates. Mode und Design mögen dem Funktionalen immer noch verhaftet sein, zeigen sich aber auch dem Emotionalen gegenüber aufgeschlossen. Vielleicht sind die schwedischen Kulturschaffenden ganz einfach mutiger geworden. Oder suchen sie vermehrt im Ausland nach Inspiration? Oder wird als Folge der multikultureller werdenden Gesellschaft auch unsere Kultur immer bunter? Die Zusammenhänge sind schwer auszumachen, doch es ist unverkennbar, dass sich seit den Tagen von Bergman und ABBA viel verändert hat.


Singer Songwriterin Robyn erzielte mit ihrem eigenen Platten-Label Erfolg bei einem breiten Publikum


Film und Bühne Auch wenn eines unserer besonders interessanten Filmproduktionszentren den Übernamen „Trollywood“ bekommen hat, kann und will Schweden nicht mit Hollywood konkurrieren. Gleichwohl: Der schwedische Film ist im In- und Ausland beliebt, und im Jahr 2013 gewannen schwedische Filme rund 100 internationale Preise. Die Welt des Films verändert sich. Etliche ehrgeizige neue schwedische Filmemacher lieben es, Experimente mit ungewöhnlichen Techniken zu machen, und wünschen sich nichts sehnlicher, als Genres und Märkte zu erobern, die lange außerhalb der schwedischen Sphäre lagen. Heutigen schwedischen Filmemachern liegt nicht weniger an der Betrachtung menschlicher Befindlichkeiten als einst Ingmar Bergman und seinen Zeitgenossen. Allerdings haben sich inzwischen die Perspektiven verändert. Dass nicht einmal 10 Millionen Menschen Schwedisch sprechen, wiegt schwer bei der Geldbeschaffung für schwedische Filme. Doch in den letzten Jahren hatten schwedische Filme Budgets von bis zu 200 Millionen SEK, was als Beweis des Vertrauens in die Wettbewerbsfähigkeit des schwedischen Kinos gewertet werden kann. Der schwedische Film konnte sich auch in den Bereichen Dokumentar- und Kurzfilmproduktion einen Namen machen. Es lohnt sich, Filmschaffende wie Jesper Ganslandt und Ruben Östlund sowie das Duo Åsa Blanck und Johan Palmgren im Auge zu behalten, die alle aus dem Genre Kurz- und/oder Doku­ mentar­film kommen. Während schwedische Produktionen inzwischen HollywoodStars anlocken, zieht es etliche schwedische Schauspieler nach Hollywood. Zu ihnen gehören beispielsweise Noomi Rapace, Alicia Vikander und Alexander Skarsgård, die auf dem besten Weg dazu sind, internationale Stars zu werden. Natürlich haben Schweden auch auf der Bühne etwas zu melden. So schenkt das schwedische Publikum der Tanzkunst immer mehr Aufmerksamkeit, und die Ballettkompanie Cullbergbaletten zum Beispiel genießt Weltruf. In Stockholm drängt sich ein Theater an das nächste; hier findet man neben dem eindrucksvollen Nationaltheater Dramaten viele kleine unabhängige Bühnen, von denen einige speziell auf ein junges Publikum ausgerichtet sind.

Literatur Malik Bendjelloul (1977–2014) gewann 2013 einen Oscar für seinen Dokumentarfilm Searching for Sugar Man

30 Das ist Schweden

Selbst wer kein einziges Werk der schwedischen Literatur gelesen hat, wird zumindest eine schwedische Literaturauszeichnung kennen: den von der Schwedischen Akademie verliehenen Literaturnobelpreis. In Anbetracht einer so prestigevollen Institution könnte man davon ausgehen, dass Schweden auch über mehrere


literarische Größen verfügte und verfügt. Und tatsächlich ist das auch der Fall. Aber in der schwedischen Literaturszene dreht sich natürlich nicht alles um Preise für Intellektuelle; hier entstehen – nicht selten mit großem internationalen Erfolg – auch viele ­Bücher für junge Leser. Dass sich schwedische Kinderbücher Tabu-Themen annehmen, ist wohl weniger ein Trend als vielmehr eine Fortführung eines literarischen Erbes. Dieses wurzelt in den 1940er Jahren, als Astrid Lindgren erstmals über die rebellische, elternlos aufwachsende 9-Jährige namens Pippi Langstrumpf schrieb. Bücher wie Bitte Havstads Unfreiwillige Geschwister (Ofrivilliga syskon) übernehmen eine wichtige Rolle: Kinder wissen zwar, dass es viele Eltern gibt, die sich trennen; dass nicht alle Kinder, die zusammenleben, miteinander verwandt sind; und dass nicht alle Kinder zwei Elternteile oder zwei Elternteile unterschiedlichen Geschlechts haben. Aber ebenso wie sich die schwedische Gesellschaft mit der „Geburt“ von Pippi Langstrumpf der Idee alternativer Familienformen öffnete, müssen junge Leser die Möglichkeit haben, über Fragen aus diesem Themenkreis zu lesen. Moralische Dilemmata, Gruppendruck und Respekt für die Umwelt sind andere beliebte Inhalte. Pija Lindenbaums sowie Olof und Lena Landströms Werke sind Beispiele für Bilderbücher, die sich diesen Themen mit viel Humor und Sensibilität annähern. Temporeiche Bücher, denen es wie Martin Widmarks Detektivgeschichten gelingt, mit Videospielen, Fernsehen und Internet zu konkurrieren, florieren ebenfalls. Aber natürlich handelt es sich bei den meisten Krimis um Literatur für Erwachsene. Nach Stieg Larssons Tod eroberte seine Millennium-Trilogie die Welt im Sturm. Die Bücher wurden nach kürzester Zeit in über 40 Sprachen übersetzt; die Trilogie wurde verfilmt; und internationale Filmverleiher und Verleger reisten nach Schweden, um andere Autoren dieses Kalibers ausfindig zu machen. Wie die Werke des preisgekrönten Schriftstellers Henning Mankell kommen auch die Bücher Stieg Larssons ohne Superschurken und Superhelden aus; sie sind glaubhafte Schilderungen, die ihre Leser in eine brutale Welt versetzen, wie sie im wahren Leben nur wenige Menschen kennenlernen. Aber natürlich geht es in der schwedischen Erwachsenenliteratur nicht nur um Mord und Totschlag. So handeln Jonas Hassen Khemiris Bücher und Theaterstücke zum Beispiel oft von Identitäts-, Rassen- und Sprachfragen. Von den klassischen schwedischen Schriftstellern ist vielleicht nur August Strindberg im Ausland weithin bekannt; seine Werke prägen selbst das moderne Theater noch nachhaltig. Doch Schweden bringt auch heute großartige Autoren hervor – in den strikt literarischen Gattungen (2011 wurde Tomas Tranströmer der Nobelpreis für Literatur zugesprochen) und im Bereich der Popliteratur. Dabei hat die schwedische Literatur einzigartige Stärken im Bereich Kinderbuch und Krimi sowie – wenn man vom Erfolg der Bücher von Johan

Pija Lindenbaum schuf viele erfolgreiche Kinderbücher

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Ajvide Lindqvist ausgeht – bei Horrorschockern mit humanen Anklängen. Schwedische Bücher schlagen sich offenbar beängstigend gut.

Kunst Schwedische Kunst ist ein weites Feld. In einer Sphäre, in der nichts heilig ist und in der eine Vielzahl neuer Medien zur Verfügung steht, hat Sozialkritik genauso Platz wie Persönliches und Poetisches. Immer mehr Künstler nutzen die Kunst als Treff- und Ausgangspunkt. Musik, Choreografie sowie alte und neue Medien begegnen einander und kreieren gemeinsam Neues. Nathalie Djurberg zum Beispiel schuf ihre Installation The Experiment, indem sie ihre Claymation-Kurzfilme (Knetanimationskurzfilme) mit Musik und riesigen, skulpturierten Lehmblumen kombinierte. Djurberg hinterfragt die gesellschaftlichen Konventionen mit Hilfe von Filmen,

die auf den ersten Blick naiv wirken mögen, tatsächlich aber sehr gewalttätig, erotisch und mit ironischem Humor gewürzt sind. Das Video ist in Schweden ein dominierendes Medium, und bemerkenswert viele Videokunstschaffende sind Frauen. Ann-Sofi Sidén erforscht die menschliche Psyche seit Anfang der 1990er Jahre mit Hilfe einer Mixtur aus Journalismus, Spielfilmen und wissenschaftlichen Studien. Dass die Liebe zur Natur in der schwedischen Kunst ein traditionelles Thema ist, wird besonders in den Werken von Anders Zorn, Carl Larsson und Bruno Liljefors sowie anderen Künstlern des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich. Heute, im 21. Jahrhundert, widmet sich Henrik Håkansson der Natur mit forschendem Blick. Unter Rückgriff auf Technologie und Musik schafft er eine Art „Bio-Ästhetik“, bei der die Interaktion zwischen Kultur und Natur im Zentrum steht. Gilt die gegenständliche Kunst in Schweden also überhaupt noch als zeitgemäß? Ja, das scheinen zumindest von der Kritik gefeierte Künstlerinnen wie Cecilia Edefalk und Gunnel Wåhlstrand

ÖffentlIche KunSt? Neben den Kunstinstitutionen agiert eine kreative Kraft im Untergrund. Gemälde an Tunnelwänden, Laternenpfähle mit Stricküberzug, Vogelhäuschen an unerwarteten Stellen … Der städtische Raum wird zur Bühne für eine provokative, fröhliche und poetische Straßenkunst, die die Emotionen hochkochen lässt und Diskussionen auf den Weg bringt. Handelt es sich hier um eine Art Rebellion, oder geht es darum, den öffentlichen Raum zu verändern und zu dekorieren? Während das Stockholmer Stadtmuseum Straßenkunst-Führungen anbietet, zeigen sich viele Behör-den skeptisch gegenüber dieser ohne Auftrag entstandenen Kunst im öffentlichen Raum.

Indie Pop-Star Lykke Li


zu beweisen. Edefalk basiert ihre Gemälde oft auf fotografische Originale, um inspirierende Kunstwerke zu schaffen, in denen Gegenwart und Vergangenheit aufeinandertreffen. Wåhlstrand gibt alte Familienfotos mit akribischer Genauigkeit in riesigen, extrem realistisch wirkenden Tuschezeichnungen wieder.

Musik In Schweden ist Musik ein wichtiger Bestandteil des Alltags. Wir singen – so einfach ist das. Schweden ist auch eine der weltweit größten Musikexportnationen – pro Kopf umgerechnet sogar die weitaus größte. Wer tanzt, Radio hört, eine Fernsehwerbung sieht oder Musik im Internet herunterlädt, weiß nicht unbedingt, wie viele der vernommenen Musikstücke von Schweden komponiert wurden. Selbst die meisten Schweden haben – verständlicherweise – den Überblick verloren. Es gibt ausländische Blogger, die ausschließlich über schwedi-

sche Musik schreiben – und damit eine Ganztagsbeschäftigung haben. Neben den international erfolgreichen Nummern gibt es schwedische Produzenten und Komponisten hinter Weltstars und schwedische Regisseure hinter deren Musikvideos. Wenn Sie sich über unseren Erfolg wundern, finden Sie vielleicht hier die Erklärung: Kein anderes Land hat so viele Chöre pro Einwohner wie Schweden; wir haben eine traditionsreiche Mitsing-Kultur; und wir singen gemeinsam anlässlich Festlichkeiten wie Mittsommer, Krebsfest oder Weihnachten. Zu Zeiten von ABBA hatte Schweden eine Band, eine Identität – zumindest war das die internationale Auffassung. Die Musiker der Gruppe waren blond, hübsch und ein bisschen schräg. Sie verkörperten Schweden. Heute, da Schweden in fast allen Stilrichtungen von Jazz bis Doom Metal mit erfolgreichen Interpreten und Bands aufwartet, ist alles ein bisschen komplizierter – und umso aufregender. Die tiefen Wurzeln des schwedischen Jazz dringen bis in die amerikanische Jazz- und in die schwedische Volksmusik. Der

Die Ballettkompanie Cullbergbaletten in High heels too aus dem Jahr 2013


Kuggen, Chalmers, Göteborg, von Architekt Gert Wingårdh

Fredrik Färgs Möbelkreation Successions

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Eine Vase der Designgruppe Front


tragische Tod des Frontmanns des Esbjörn Svenson Trios (E.S.T.) im Jahr 2008 bedeutete keineswegs das Ende des schwedischen Jazz. Schweden ist auch seit Langem eine Brutstätte für das Heavy Metal und seine Spielarten; in unserem Land begannen einige der innovativsten Metal-Bands ihre Karriere. Auch im Hinblick auf andere Stilrichtungen – darunter die klassische Musik, der Reggae und der Hip-Hop – können Erfolgsgeschichten erzählt werden. Aber der Pop und der Indie-Bereich wecken wohl besonders viel Aufmerksamkeit, und hier können auch eindeutig schwedische Klänge vernommen werden – falls eine solche Typisierung überhaupt möglich ist. Robyn, Lykke Li, Radio Dept., Peter, Bjorn and John ... Haben wir jemanden vergessen? Natürlich! Immer mehr Musiker, die von ihrer Kunst leben wollen, stellen fest, dass das schwedische Publikum dafür nicht groß genug ist. Andere finden sich hingegen im internationalen Rampenlicht wieder und wundern sich, wie sie dort gelandet sind.

Design und Kunstgewerbe Vielfalt und diffuse Grenzen. Mit diesen Stichwörtern lässt sich die aktuelle schwedische Designszene recht gut charakterisieren. Die heutige Designergeneration will durch ihre Werke kommunizieren, nicht „nur einfach“ nützliche Dinge schaffen. Durch die Verquickung von Funktion und Emotion wächst die kreative Bandbreite; der Stil des Reinen und Einfachen, wie er für IKEA typisch ist, bekommt Konkurrenz. Etliche Designer arbeiten disziplinübergreifend; das Rezept besteht oft darin, die Grenzen zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Design aufzuheben. Indem sie für ihre minimalistischen Möbel und Objekte unerwartete Materialien verwendet und auf neue Techniken zurückgreift, spielt Monica Förster mit bekannten Formen. Dabei lässt sie sich gleichermaßen beim Kunsthandwerk der Samen und beim Stadtleben inspirieren. Förster ist davon überzeugt, dass das Gestalten qualitativ hochwertigen Designs eine wirksame Gegenmaßnahme gegen die Konsum­kultur darstellt. Das Schaffen der Designgruppe Front ist von einem investiga­ tiven Ansatz geprägt. Bei Front ist von der ersten Idee bis zum Endprodukt Gemeinschaftsarbeit angesagt, und die einander eng verbundenen Mitglieder des Kollektivs lassen oft externe Faktoren über die Form entscheiden. Für die Design-by-AnimalsKollektion nagten Ratten Muster in Tapeten, und die Surface Tension Lamp verändert ihre Form mit jeder neu entstehenden Seifenblase. Vielleicht vom Kreativitätssturm in der Designszene beflügelt, hat man auch bei der traditionellen schwedischen Glashütte Kosta Boda Neuland betreten. Durch die Kooperation mit der Glaskünstlerin Åsa Jungnelius – unter anderem bekannt für überdimensionale Kelchgläser und riesige gläserne Lippen-

stifte – verleibte sich Kosta Boda einen Stil ein, der stärker von Freude und Expressivität geprägt ist als von Funktionalität und Exklusivität. Aber die wahre Meisterin im Mischen von Stilen ist wohl die Kunsthandwerkerin und Designerin Zandra Ahl. Sie lässt die klassische Kunst mit der Populärkultur und dem modernen Konsumismus interagieren und kreiert so einen überwältigend „kitschigen“ Stil, der mit der traditionellen Ästhetik kokettiert. Ahls Arbeiten haben kaum mehr etwas mit dem einst vorherrschenden Funktionalismus zu tun. Seit dem Durchbruch des Funktionalismus auf der Stockholm Exhibition des Jahres 1930 diktierte beim schwedischen Design weitgehend die Funktion die Form. Allgemein wird schwedisches Design immer noch mit reinen Linien, hellem Holz und Benutzerfreundlichkeit gleichgesetzt. Das hat sicherlich auch mit IKEA zu tun, aber im Grunde begann alles mit dem Pamphlet Schönere Alltags­gegenstände. Darin sprach sich der schwedische Kunsthistoriker Gregor Paulsson 1919 nachdrücklich dafür aus, ästhetische Objekte der breiten Masse zugänglich zu machen – und beeinflusste damit das schwedische Design fast des ganzen 20. Jahrhunderts. Paulssons Konzept eines demokratischen, unelitären Designs ist bis heute aktuell. Und es ist bemerkenswert, wie wichtig Design im Alltagsleben der Schweden ist. Möbeldesigner und Architekt Bruno Mathssons Modernismus der 1930- und 1940er Jahre war bahnbrechend. Mathssons Stil machte Schweden seinerzeit in Sachen Design international bekannt und leistet bis heute einen Beitrag zum Renommee des schwedischen Designs. Doch inzwischen hat Mathssons „schwedisch moderne“ Ästhetik Konkurrenz von einem emotionaleren Stil bekommen, bei dem Design als Statement fungiert und bei dem der Schönheitsbegriff neu evaluiert wird.

Mode Die schwedische Mode wandelt sich. Wie in der schwedischen Designszene insgesamt zu beobachten ist, messen endlich auch viele Modedesigner dem lange vorherrschenden Attribut der Funktion weniger Bedeutung bei. Während der Einzelhandelsriese H&M weiterhin weltweit Schwedenästhetik für fast jeden Geldbeutel vertreibt, weisen etliche innovative Modedesigner den Weg zu einem individuelleren kreativen Ausdruck. Mit echter Handwerkskunst hat sich Sandra Backlund auf den internationalen Catwalk gestrickt. Backlund pflegt einen Stil, der kaum mehr etwas mit dem traditionellen pragmatischen schwedischen Ansatz zu tun hat, und ihre dicken, üppigen Wollkreationen präsentieren sich extravagant und expressiv. Während die schwedische Modeszene vor Kreativität sprüht, kämpfen viele Designer damit, ihr Talent in klingende Münze zu verwandeln. Aber die drei Schwestern hinter der Marke House of Kultur und Freizeit 35


folgenden Marken, Cheap Monday, sich auch einen Namen und wurde schnell von H&M aufgekauft. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts steigerte sich das Modeinteresse der Schweden. Die preiswerte und trotzdem schicke Kleidung von H&M kann dies teilweise erklären. Ein anderer Grund hierfür mag sein, dass sich die wirtschaftliche Lage der meisten Schweden verbessert hat. Der wachsende Second-Hand-Markt für Mode ist hingegen eine Reaktion auf die Auswüchse der Konsumgesellschaft. Was dieses Jahr Haute Couture ist, kann nächstes Jahr Straßenkleidung sein.

Sport

Acne, Teil des „schwedischen Modewunders“

Dagmar haben ihr Erfolgsrezept bereits gefunden. Ihre ausgeklügelten und unkonventionellen Kollektionen werden in Läden weltweit verkauft. Auch in der Welt der Haute Couture wird man allmählich umweltbewusster. Marken wie Nudie, Julian Red und Uniforms for the Dedicated bemühen sich um ein wachsendes ökologisches und ethisches Bewusstsein in der Modeszene und zeigen, dass „öko“ und „chic“ keine Gegensätze sind. Was als „schwedisches Modewunder“ bezeichnet wurde, begann in der Welt der Jeans-Mode: mit Marken wie Acne, Nudie und WeSC, die alle weltweit erfolgreich sind. Auch eine der nach-

Schweden wird weithin als Nation wahrgenommen, die sich von der Wiege bis zum Grab um ihre Bürger kümmert. Aber wir sind auch als Individuen um unser Wohlergehen bemüht. Schweden sind bedacht auf ihre Gesundheit und gehören zu den weltweit gesündesten und am längsten lebenden Menschen. Wir sind eine Nation von Hobbysportlern und Bewegungsfanatikern. Sport ist in Schweden gewissermaßen eine soziale Bewegung. Eine diesem Phänomen zugrunde liegende Ursache findet man in unserer langen Geschichte des politischen Engagements „normaler“ Menschen im Rahmen von Volksbewegungen wie den Gewerkschaften, der Frauenbewegung und der Abstinenzbewegung. (Die andere Ursache ist die uns umgebende Natur, die uns aus dem Haus lockt.) In solchen Gruppierungen setzte und setzt sich die Bürgerschaft für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Partizipation ein. Sportorganisationen in dieser Tradition ziehen immer noch viele Leute aus allen sozialen Klassen und aus allen Altersgruppen an, auch wenn immer mehr Menschen sich auf loser organisierte Sportarten wie Abenteuersportarten verlegen oder einfach ins Fitnessstudio gehen. Die schwedische Sportbewegung ist von einer großen Breite und einem starken Rückhalt in der Bevölkerung gekennzeichnet. Dies macht auch den im Verhältnis zur Bevölkerungszahl überproportional großen schwedischen Erfolg bei internationalen Sportveranstaltungen verständlicher. Irgendwie sind wir siegreich, ohne besonders wettbewerbsorientiert zu sein. Wie ausgeprägt schwedisch von uns! Im Moment lassen wir Zlatan Ibrahimovic (Fußball), Charlotte Kalla (Skilanglauf), Sarah Sjöström (Schwimmen) und mehrere junge Eishockeyspieler nicht aus den Augen. Schweden hat nichts für Doping übrig. Wie sollte es auch anders sein in einer Gesellschaft, in der breiter Widerstand gegen Freizeitdrogen vorherrscht? Ein größerer Dopingskandal im schwedischen Sport ist zwar nicht ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich. Schwedische Wissenschaftler haben eine führende Stellung in der Forschung inne, bei der es zum Beispiel um die Aufdeckung von Blutdoping und Missbrauch von Testosteron geht.


Zlatan Ibrahimovic ist Kapitän der schwedischen FuĂ&#x;ballnationalmannschaft


Tanz um den Mittsommerbaum


Traditionen Heute ist die schwedische Gesellschaft säkularisiert. Trotzdem kommt der Religion in Schweden immer noch eine wichtige Rolle zu, denn viele unserer Traditionen haben religiöse Wurzeln. Weil wir Schweden gern feiern, bewahren wir viele Bräuche – auch wenn der Grund für ihre Entstehung vielleicht in Vergessenheit geraten ist. Religionen und Traditionen aus anderen Teilen der Welt bereichern unser Land ebenfalls. Angesichts der wachsenden Zahl muslimischer Mitbürger bleibt zum Beispiel deren Fastenmonat Ramadan in der schwedischen Gesellschaft nicht unbemerkt. Aber so wie verschiedene Traditionen sich treffen und vermischen, halten die Schweden auch an alten Bräuchen fest. Vielleicht sorgen wir mit diesem Geschichtsbezug ja für das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Beständigkeit und Zusammengehörigkeit. Viele schwedische Traditionen hängen eng mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen. Während bei den Feierlichkeiten im Winter ein riesiger Vorrat an Kerzen verbraucht wird, sind im Sommer Aktivitäten im Freien ein Muss. Werfen wir einen Blick auf ein paar traditionelle Feiern, die uns Schweden am Herzen liegen: Mittsommer, Krebsfest, Lucia und Weihnachten.

Mittsommer Juni: Die Kinder haben Schulferien, und die Natur ist voller Saft und Kraft. Die Sonne scheint nie unterzugehen. (Was im Norden Schwedens tatsächlich der Fall ist; weiter im Süden sinkt die Sonne allerdings ein, zwei Stunden unter den Horizont.) Wenn das kein Grund zum Feiern ist?! Lasst uns Freunde und Verwandte für die schwedischste aller Traditionen zusammentrommeln: Mittsommer. Der Grund für die Mittsommerfeier ist die Sommersonnenwende. Seit heidnischen Zeiten können es die Schweden nicht lassen, am längsten Tag des Jahres – am oder um den 21. Juni – durchzufeiern. Aus praktischen Gründen feiern wir Mittsommer seit den 1950er Jahren am Mitt­ sommerabend, der immer auf den Freitag zwischen dem 19. und dem 25. Juni fällt. Wenn Sie zu Mittsommer Ihre Ruhe haben wollen, sollten Sie in der Stadt bleiben. Am Mittsommerwochen­ ende setzt ein Exodus aufs Land

ein, wo sich Feiernde mit ihren Freunden und Verwandten treffen. Der Schlacht am Mittsommerbüfett gehen mehr oder weniger obligatorische Rituale voraus: das Pflücken wilder Blumen (für den Kopfschmuck in Form von Kränzen und für den Mai- bzw. Mittsommerbaum); das Schmücken des Mittsommerbaums mit Blattwerk und Blumen sowie das Aufstellen des Baums mitten auf einem Platz, auf dem getanzt werden kann. Doch dann ist endlich Essenszeit! In der Regel wird draußen ein Tisch aufgestellt und mit einem hübschen Tischtuch und mit Blumen dekoriert. Und in der Regel muss dieser Tisch wegen plötzlicher Regenschauer ins Haus getragen. Das Essen ist ziemlich frugal: verschiedene Sorten eingelegten Herings mit Frühkartoffeln und saurer Sahne, oft gefolgt von Erdbeeren mit Schlagsahne. Die meisten Erwachsenen wässern den Hering gern mit Hochprozentigem; jedem „Spülgang“ geht

Obligatorisches Duo: Hering und Hochprozentiges

gewöhnlich ein etwas albernes Schnapslied voraus, von denen es Unmengen gibt und die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Die schwedischen Spirituosen sind durch Destillation aus Getreide oder Kartoffeln gewonnen und oft aromatisiert, aber nie süß. Wenn die Feiernden satt und zufrieden sind, wird getanzt. Erwachsene und Kinder bilden einen Kreis um den Mittsommerbaum und tanzen zu traditionellen Liedern. Das „Tanzen“ ist keine besonders komplizierte Angelegenheit,

eigentlich geht es nur darum, sich in die gleiche Richtung zu bewegen. In vielen schwedischen Städten und Dörfern werden zu Mittsommer öffentliche Tanzveranstaltungen arrangiert, bei denen eine Volksmusikgruppe aufspielt. Und weil es an Mittsommer nie richtig dunkel wird, kann das Fest stundenlang weitergehen. Wenn aber irgendwann auch der Nebel über die Felder tanzt, zieht es die meisten dann doch ins Bett.

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die Gewinnerkrebse – und ehrlich gesagt: auch Krebse mit einer schlechteren Lobby – ausverkauft sind.

Lucia und Weihnachten Dezember: Wenn wir Glück haben, liegt Schnee. Er erhellt die langen Nächte und sorgt für diese unbeschreibliche Weihnachtsstimmung. Weihnachten ist in Schweden sicherlich genauso kommerziell wie überall sonst, aber es ist auch die Zeit, in der wir unsere handgemachten Dekorationen hervorholen, in der wir unsere Wohnungen mit Kerzenlicht verzaubern und in der wir nach Großmutters Rezepten Plätzchen und Safranhefegebäck zubereiten. Der Feiermonat Dezember wird vier Sonntage vor Weihnachten mit dem ersten Advent eröffnet. Freunde und Nachbarn laden einander zu einem Glas Glühwein ein, und am Arbeitsplatz werden Weihnachtsfeiern veranstaltet. So säkularisiert wir Schweden sind – auch uns ist die Weihnachtszeit mit all ihren Traditionen heilig. Am 13. Dezember ist LuciaTag. In den schwedischen Vor-

Fröhliches Krebsfest im August

Krebsfest August: Im Idealfall sind die Nächte noch lau, und die Tische biegen sich unter der Last gekochter Krebse. Diese ehemals exklusive Delikatesse kann man inzwischen das ganze Jahr über kaufen. Aber die meisten Schweden gedulden sich bis zur traditionellen Premiere im August. Ähnlich wie die Mittsommerfeierlichkeiten sollte auch das Krebsfest im Freien stattfinden. Das hat nicht zuletzt ganz praktische Gründe: Beim Krebsessen wird ordentlich gekleckert, und in geschlossenen Räumen hätte das noch recht lange ein unangenehmes olfaktorisches Nachspiel.

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Tischtücher, Teller, Servietten und Laternen sind meistens aus Papier bzw. Pappe – auch das aus praktischen Gründen. Orthodoxe Krebsfestbegeher verzichten natürlich nicht auf das etwas alberne Lätzchen und Hütchen … Beim Aufräumen verschwinden alle Requisiten dann ganz einfach mit einem Wisch im Müllsack. Die Krebse werden in Seen und Flüssen oder im Meer gefischt. Je nach Wohnort ziehen die einen Schweden Süßwasser-, die anderen Meereskrebse vor. Die kleinen Tiere werden in Wasser gekocht, das mit viel Dill und manchmal mit einem Spritzer Bier aromatisiert wird.

Sind sie dann auf den Tellern gelandet, werden die Krebse geschält und schmatzend verputzt. Wie zu Mittsommer sorgen die zum Essen servierten Spirituosen schnell für gesangliche Untermalung. Meistens kaufen wir vorgekochte, abgepackte und gekühlte oder tiefgefrorene Krebse im Supermarkt. Um uns die Wahl einfach zu machen, veröffentlichen viele Zeitungen rechtzeitig Tests, bei denen die diversen Marken miteinander verglichen werden. Die Beurteilung schwankt zwischen „schmeckt wie Morast“ bis „perfekte Salzigkeit und Dillmenge“, und es dauert nicht lange, bis


Lucia erhellt die Dunkelheit auf klassische Weise

schulen ist dann das Schlurfen kleiner Füße zu hören; flatternde weiße Nachthemden bringen die Kerzen zum Flackern. Die Kinder des Lucia-Zuges singen vor wahnsinnig stolzen Eltern bekannte traditionelle Luciaund Weihnachtslieder. Die meisten Mädchen – und ein paar Jungs – träumen davon, einmal die Rolle der Lucia übernehmen zu dürfen, die den Zug anführt. Und in der Vorschule bekommt diesen Part auch jeder, der will. Lucia trägt einen Kranz mit elektrischen Kerzen auf dem Kopf und ein rotes Band um die Taille. Die anderen Mädchen sind der Tra-

dition nach Lucias Gehilfinnen; sie tragen Kerzen in der Hand. Die meisten Jungs stellen kleine Weihnachtsmänner in roter Kleidung, Sternenknaben mit weißem Umhang, spitzem Hut und Sternenstab oder Lebkuchenmänner dar. Wenn die Kinder älter werden, kann es nur noch eine Lucia geben – und die Konkurrenz um diese Rolle ist hart. Gleichzeitig wollen immer weniger Jungen Sternenknaben werden: Es widerstrebt ihnen zunehmend, mädchenhafte Nachtkleidung zu tragen. Nur 11 Tage nach Lucia ist Weihnachten. Für uns Schwe-

den ist der 24. Dezember der große Tag des Weihnachtsmannes und der Geschenke. Die meisten Schweden feiern ihn mit ihren Angehörigen. Die beiden Weihnachtsfeiertage sind gesetzliche Feiertage, und nach Möglichkeit nehmen wir auch die Tage zwischen den Jahren frei, sodass wir lange und entspannende Ferien genießen können. An Heiligabend wird oft zur Mittagszeit ein Büfett mit eingelegten Heringen, Fleischbällchen, Weihnachtsschinken und vielen anderen Köstlichkeiten serviert. Um 15 Uhr wird der geschmückte Tannenbaum

dann erst einmal keines weiteren Blickes gewürdigt: Es ist Donald-Duck-Zeit. So komisch es klingen mag – Jung und Alt versammeln sich dann vor dem Fernseher, um zusammen weihnachtliche DisneyZeichentrickfilme anzuschauen. Dieses Ritual vollzieht sich seit den 1960ern jedes Jahr in den schwedischen Wohnzimmern! Und dann plötzlich: Es klopft an der Tür – der Weihnachtsmann ist da. Die Kinder öffnen eifrig ihre Geschenke und können sich endlich mit ihren neuen Spielsachen beschäftigen. Wie war das nochmal mit der Geburt Jesu?

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Sprache Schwedisch ist eine nordgermanische Sprache und wird innerhalb und außerhalb Schwedens von fast 10 Millionen Menschen gesprochen. In Finnland hat die schwedische Sprache offiziellen Status; dort haben fast 300 000 Menschen Schwedisch bzw. Finnlandschwedisch als Muttersprache. Schwedisch entwickelte sich aus der Altnordischen Sprache, die in Skandinavien in der Wikingerzeit gesprochen wurde. Norweger, Dänen und Schweden können sich untereinander verständigen; aber Finnisch wurzelt in den uralischen Sprachen und hat keine Ähnlichkeit mit den anderen nordischen Sprachen. Das schwedische Alphabet besteht aus 29 Buchstaben; zu den 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets kommen die drei Buchstaben Å/å, Ä/ä und Ö/ö. Das Schwedische umfasst viele Wörter deutschen, französischen und – seit kürzerer Zeit – englischen Ursprungs; allerdings werden diese Wörter oft in die schwedische Schreibweise übertragen. Schwedisch ist erst seit dem Inkrafttreten eines neuen Sprachgesetzes am 1. Juli 2009 offiziell die Hauptsprache Schwedens. Zuvor hatte die schwedische Sprache merkwürdigerweise keinen offiziellen Rechtsstatus, obwohl sie auf kommunaler und nationaler Ebene in der Verwaltung sowie fast im gesamten Bildungssystem benutzt wird. Das neue Gesetz gibt zum Beispiel vor, dass Sicherheitshinweise und Produktinformationen in schwedischer Sprache verfügbar sein müssen und dass die in Schulen benutzte Sprache im Normalfall Schwedisch sein sollte. Das neue Gesetz fördert und schützt auch die fünf Minderheitensprachen Schwedens: Finnisch, alle samischen Dialekte, Meänkieli (Tornedal-Finnisch), Romanes und Jiddisch. Kinder, deren Eltern einer nationalen Minderheit angehören, sind berechtigt, die entsprechende Sprache zu erlernen, auch wenn es sich dabei nicht um ihre Muttersprache handelt. Die schwedische Gebärdensprache hat im Sprachgesetz den gleichen Status wie die Minderheitensprachen, und taube oder hörbehinderte Kinder und ihre Familien haben das Recht, die Gebärdensprache zu erlernen. Das schwedische Sprachgesetz thematisiert auch alle anderen – fast 200 – in Schweden gesprochenen Sprachen. Es legt fest, dass jeder berechtigt ist, seine Muttersprache zu benutzen, so zum Beispiel auch am Arbeitsplatz. Das schwedische Schulgesetz hält fest, dass Kinder zugewanderter Eltern Anrecht auf das Schulfach Muttersprachunterricht haben. Natürlich geht den meisten Schweden ihre Muttersprache besser über die Lippen als Englisch, aber wir Schweden können sehr gut Englisch und sprechen diese Sprache auch gern.

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Gastronomie Die kulinarische Landschaft Schwedens hat sich im vergangenen Jahrzehnt verändert. Der schwedische Koch, einst nur als Figur in der Muppet Show bekannt, ist keine Witzfigur mehr. Durch Kochkunst der Spitzenklasse und den innovativen Einsatz von Zutaten haben sich schwedische Köche internationale Anerkennung erarbeitet: Sie gewannen Goldmedaillen bei der IKA/ Olympiade der Köche und mehrere Medaillen bei der inoffiziellen Koch-Weltmeisterschaft, dem Wettbewerb Bocuse d’Or. Und seit es im ganzen Land Gourmetrestaurants gibt, ist auch Schweden eine europäische „Muss“-Destination für Liebhaber der Haute Cuisine. Aber seien wir ehrlich: Nicht nur die Köche sind für die Speisen verantwortlich. Auch unsere Zutaten tragen ihren Teil zum kulinarischen Erfolg Schwedens bei. Seen, Wälder, Berge und Wiesen: Frische Fänge und Ernten beflügeln die Kreativität und garantieren köstliche, ökologische Gerichte. Und das gilt für Restaurants und die heimische Küche gleichermaßen. Unser einzigartiges Jedermannsrecht erlaubt es uns, Walderdbeeren, Pfifferlinge und andere Köstlichkeiten aus der Natur zu sammeln. Es ist also fast ein Kinderspiel – und dazu noch kostenlos –, zu Hause ein Gourmetgericht zuzubereiten. In historischer Perspektive gründet sich die schwedische Esskultur auf der Notwendigkeit, dass die Lebensmittel haltbar gemacht werden mussten. Deshalb wurde aus Beeren Kompott und Marmelade gekocht, wurde Gemüse eingelegt, wurden Pilze getrocknet sowie Fisch und Fleisch geräuchert, gesalzen, gesäuert, mariniert … Viele junge schwedische Köche gehen von traditionellen Rezepten aus und schaffen mit ein paar Prisen Raffinesse neue gastronomische Kreationen.

MARCUS SAMUELSSON Marcus Samuelsson kam 1970 in Addis Abeba, Äthiopien, zur Welt und wurde als 3-Jähriger von schwedischen Eltern adoptiert. Es zeichnete sich schon früh ab, dass Samuelsson Koch werden sollte, und Mitte der 1990er Jahre gelang ihm mit seiner skandinavischen Kochkunst der Durchbruch als Küchenchef des renommierten New Yorker Restaurants Aquavit. Samuelsson ist Gastprofessor an der Restauranthochschule der Universität Umeå und Verfasser mehrerer Kochbücher. Er wurde auch als Gastchefkoch für das erste offizielle Staatsdinner von US-Präsident Barack Obama ausgewählt. Ende 2010 eröffnete Samuelsson in New York sein Restaurant Red Rooster Harlem.

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Geschichte Von der Eiszeit zur IT-Ära 110 000 v. Chr.: In Schweden ist es sehr, sehr kalt, und das Land ist von Eis bedeckt. Mit Beginn der Steinzeit (12000–1700 v. Chr.) ist das Eis so weit zurückgegangen, dass die ersten Menschen nach Schweden einwandern und sich hier niederlassen können. Sie sind in Felle gekleidet und nutzen ihre Steinwaffen, um zu jagen; ihre Beute besteht hauptsächlich aus Renen. Zu Beginn der Bronzezeit (1700–500 v. Chr.) ist das Klima wärmer als heute. Wer es sich leisten kann, benutzt Werkzeuge und Waffen aus Bronze; die Bronzegeräte vereinfachen den Menschen das Leben bedeutend. Die Eisenzeit (500 v. Chr.–1050 n. Chr.) bringt die erste geschriebene Sprache hervor: die Runenschrift, eine Adaptation griechischer und römischer Buchstaben. Die Menschen erkennen, dass sich aus Eisen bessere und billigere Werkzeuge und Waffen herstellen lassen als aus Bronze. Die Wikinger betreten die Bühne: Die Zeit von 700 bis 1050 n. Chr. ist geprägt vom Vordringen der Wikinger in Europa, vor allem in östliche Richtung. Infolge problematischer Bedingungen im Mittelmeerraum verschiebt sich der Handel Richtung Norden, und die Schweden beginnen, aus ihren Schiffsbaukenntnissen Nutzen zu ziehen. Im Gegensatz zu den Sklaven und zu denjenigen, die vor Ort Land bewirtschaften, sind die Wikinger freie Leute. Dies erleichtert vermutlich die Rekrutierung von Menschen für die Wikingerfahrten, bei denen es sich teilweise um friedliche Handelsreisen, teilweise aber auch um brutale Raubzüge handelte. Auf den nächsten Seiten werden einige wichtige Ereignisse der folgenden tausend Jahre bis heute angeführt.

Die im Jahr 2000 eröffnete Öresundbrücke verbindet Schweden augenfällig mit dem europäischen Festland


Ales stenar in Südschweden – megalithisches Monument oder eisenzeitliche Schiffssetzung?

Um 1008: Olof Skötkonung wird der erste christliche König Schwedens und der erste Herrscher über das Gebilde, das die erste Variante des schwedischen Königreichs darstellt (Svea Rike, später Sverige). 1155: Als Folge eines Kreuzzugs wird Finnland dem schwedischen Reich einverleibt. 1248–1266: Reichsverweser Birger Jarl erlässt die ersten für das gesamte schwedische Reich geltenden Gesetze – zum Frauen-, Haus-, Kirchen- und Things­ frieden.

14. Jahrhundert 1349: Der Schwarze Tod rafft ein Drittel der schwedisch-finnischen Bevölkerung dahin. Es folgt eine lange Phase wirtschaftlichen Verfalls. Ende des 14. Jahrhunderts: Schweden-Finnland hat rund 650 000 Einwohner. 1391: Birgitta Birgersdotter, Gründerin des Birgittenordens, wird

in Rom heiliggesprochen. Die für ihre Zeit ungewöhnlich mächtige Frau verschafft sich bei Königen und Geistlichen Gehör.

16. Jahrhundert 1520: Stockholmer Blutbad. Christian II. „der Tyrann“ lässt 100 Menschen hinrichten. 1523: Gustav Wasa wird König. Er führt die Machtzentralisierung fort, und Schweden wird ein Einheitsstaat. Die Bevölkerung wächst. ab 1527: Die Reformation – Schweden bricht mit dem Papst. Die katholische Kirche verliert ihre säkulare Macht in Schweden. 1544: Die Erblichkeit der Königsmacht wird eingeführt. Um 1550: In Schweden-Finnland leben 1,3 Millionen Menschen. Schwedische Exportgüter: Eisen und Kupfer. 1593: Die Schwedische Kirche wird offiziell evangelisch-lutherisch.

17. Jahrhundert 1611: König Gustav II. Adolf regiert das Land zusammen mit Kanzler Graf Axel Oxenstierna, der die Administration Schwedens organisiert und sich in Europa einen Namen macht. 1617–1658: Schweden expandiert an der Ostsee. Nach dem Frieden von Roskilde im Jahr 1658 hat Schweden seine größte Ausdehnung. Schweden brauchte weniger als ein Jahrhundert, um sich von einem armen, rückständigen, unbekannten Staat in eine europäische Großmacht zu verwandeln. 1628: Unmittelbar nach Verlassen des Stockholmer Hafens sinkt das Kriegsschiff Vasa auf seiner Jungfernfahrt. 1645: Mit Ordinari Post Tijdender, später Post- och Inrikes Tidningar genannt, erscheint die erste schwedische Wochenzeitung. (Es handelt sich um die älteste, noch erscheinende Zeitung der Welt (inzwischen nur noch online verfügbar).)

Um 1650: Im schwedischen Herrschaftsgebiet leben 3 Millionen Menschen. 1668: Die älteste noch existierende Nationalbank, heute Sveriges Riksbank genannt, wird gegründet. Ende des 17. Jahrhunderts: Die Flagge ist jetzt ein Symbol für den König und das Land.

18. Jahrhundert 1709: Seit 1700 in den Großen Nordischen Krieg verwickelt, verliert Karl XII. die Schlacht bei Poltawa gegen Russland unter Peter I. Dies ist der Anfang des Endes von Schweden als Großmacht. 1710–1713: Die Pest tötet rund ein Drittel der Einwohner der Städte Stockholm, Göteborg und Malmö. 1719: Eine neue Verfassung, die die Rolle des Königs schwächt und die Rolle von Regierung und Parlament darlegt, macht die schwedische Regierung zur weltweit demokratischsten.

Geschichte 45


Das geborgene Kriegsschiff im Stockholmer Vasa-Museum

 1721: Die baltischen Provinzen

fallen durch die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Nystad an Russland. Dies bedeutet das Ende der schwedischen Großmachtzeit.

Um 1750: Die florierende Eisenproduktion und die blühende Textilindustrie bringen eine Arbeitsimmigration aus Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich mit sich: Für den Betrieb von Fabriken und Maschinen sind neue Kompetenzen gefragt. 1766: Schweden führt das weltweit erste Pressefreiheits­ gesetz ein. 1786: Die Schwedische Akademie wird gegründet. Ihre Aufgabe ist es, die „Reinheit, Stärke und Erhabenheit“ der schwedischen Sprache zu fördern. Der Schriftstellerberuf genießt höchste gesellschaftliche Anerkennung.

46 Das ist Schweden

1789: Sechs Monate vor der Französischen Revolution werden in Schweden erstmals die Stände – Klerus, Adel, Bürgertum und Bauernstand – aneinander angeglichen. Dadurch erzielen nichtadlige Stände neue Vorteile und Vergünstigungen. Der Bauernstand erlebt seinen politischen und wirtschaftlichen Aufbruch.

19. Jahrhundert 1809: Finnland wird nach der russischen Invasion von 1808 unabhängig von Schweden. 1809: Schweden wird eine konstitutionelle Monarchie, bei der sich die Macht auf den König, den Staatsrat und das Parlament verteilt. König und Stände teilen sich die gesetzgebende Gewalt. Der Ombudsmann des Reichstags wird Schwedens erste Ombudsperson im modernen Sinne des Wortes.

1814: Norwegen wird in eine Union mit Schweden unter Karl XIII. gezwungen. Die Union wird 1905 aufgelöst. 1842: Die allgemeine Schulpflicht (für 7- bis 13-Jährige) wird eingeführt. Um 1850: Die Lebenserwartung für Männer ist 41, die Lebenserwartung für Frauen 44 Jahre; Männer erreichen eine mittlere Körpergröße von 165 cm (heute: 183 cm). 1850–1930: 1,3 Millionen Schweden wandern aus, vor allem nach Nordamerika. 1862: Die schwedische Haupteisenbahnlinie zwischen Stockholm und Göteborg wird eröffnet. 1864: Die Gewerbefreiheit wird eingeführt. Dies bereitet den Boden für die schwedische Marktwirtschaft.

1876: Lars Magnus Ericsson eröffnet eine Reparaturwerkstatt; er dient als Namenspatron für das aufstrebende Telekommunikationsunternehmen.

20. Jahrhundert Frühes 20. Jahrhundert: Die Lebenserwartung für Männer ist 39 (wohnhaft in Stockholm) bzw. 53 Jahre (wohnhaft auf dem Land), für Frauen 53 bzw. 54 Jahre. Trotz der starken Auswanderung hat Schweden 5 Millionen Einwohner. 1906: In der Hauptfabrik des Telekommunikationsunternehmens Ericsson sind fast 1 500 Menschen beschäftigt. 1918–1921: Zuerst wird das Wahlrecht für Männer, dann das für Frauen eingeführt. 1932: Per Albin Hansson wird Ministerpräsident, und beginnend mit ihm haben dieses Amt 40 Jahre lang ausschließ-


lich Sozialdemokraten inne. Das Konzept des folkhemmet (wörtlich: Volksheim) weist die Richtung für den schwedischen Wohlfahrtsstaat und das sog. Schwedische Modell. 1939–1945: Schweden bleibt während des Zweiten Weltkriegs neutral, aber die schwedische Presse wird zensiert und der Transport von Deutschen und deutschen Waffen in das besetzte Norwegen gestattet. Lebensmittel werden rationiert, und Ersatzprodukte kommen auf den Markt. 1944: Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg rettet im ungarischen Budapest viele Juden vor den Nazis. Kurz vor Kriegsende verhandelt Folke Bernadotte, Mitglied der königlichen Familie, erfolgreich über die Freilassung von 21 700 Menschen aus deutschen Konzentrationslagern.

1946: Schweden tritt den Vereinten Nationen bei. Der Schwede Dag Hammarskjöld ist von 1953 bis 1961 Generalsekretär der Vereinten Nationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelt sich Schweden zu einer führenden europäischen Industrienation. 1979: Schweden verbietet als erstes Land der Welt die körperliche Bestrafung von Kindern. 1980: Das Thronfolgegesetz wird geändert und die Erbfolge auf weibliche Nachkommen erweitert. 1986: Der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme wird in Stockholm ermordet. Frühe 1990er Jahre: Das Platzen einer Immobilienblase führt in Kombination mit einer internationalen Rezession zu einer Finanzkrise.

Olof Palme war von 1969 bis 1976 und von 1982 bis zu seiner Ermordung im Jahr 1986 Ministerpräsident

1995: Schweden tritt der Europäischen Union bei. 1999: Ein neues Gesetz kriminalisiert den Kauf sexueller Dienstleistungen.

21. Jahrhundert 2001 (und 2009): Schweden übernimmt die EU-Präsidentschaft. 2003: Außenministerin Anna Lindh wird in Stockholm ermordet. 2003: Die Schweden stimmen in einem Referendum gegen die Einführung des Euro.

Im Jahr 2009 wurde die gleich­ geschlechtliche Ehe zugelassen

2008: Die neue Arbeitsmigrationspolitik macht es Bürgern von Nicht-EU-/Nicht-EWR- und nichtnordischen Ländern leichter, für Erwerbszwecke nach Schweden zu ziehen. 2009: 89 Prozent aller Schweden im Alter von 16 bis 74 Jahren haben zu Hause Zugang zum Internet, und 86 Prozent nutzen das Internet mindestens einmal pro Woche. 2020: Entsprechend der staatlichen Internet-Politik sollen 99 Prozent aller schwedischen Haushalte und Unternehmen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 100MB/Sekunden kommunizieren können.

2008: Das schwedische Parla­ ment verabschiedet das sog. FRA-Gesetz, das die Radioanstalt der Landesverteidigung berechtigt, als Anti-TerrorMaßnahme sämtlichen Telefon- und Internetverkehr mit dem Ausland zu überwachen.

Geschichte 47


Aurora borealis im Norden Schwedens


Das Schwedische Institut (SI) ist eine staatliche Behörde, die damit betraut ist, im Ausland das Interesse an und das Vertrauen zu Schweden zu erhöhen. Durch strategische Kommunikation und Austausch in den Bereichen Kultur, Ausbildung, Wissenschaft und Wirtschaft fördert das SI internationale Kooperationen und dauerhafte Beziehungen zu anderen Ländern. Das SI arbeitet eng mit schwedischen Botschaften und Konsula­ ten auf der ganzen Welt zusammen. Für weitere Informationen über das SI und Schweden besuchen Sie bitte Si.se, Sharingsweden.se und Sweden.se. Bestellen Sie weitere Exemplare dieser Publikation auf order@si.se; dort finden Sie auch vielfältiges anderes schwedenbezogenes Material, das vom Schwedischen Institut produziert wird. Was meinen Sie zu dieser SI-Veröffentlichung? Kontaktieren Sie uns gern unter order@si.se.

Die Verfasser Rikard Lagerberg ist Autor und Redakteur. Er hat den Großteil seines Erwachsenenlebens in den USA und in Irland verbracht. Als er nach Schweden zurückkam, verspürte er ein neues Interesse für sein Geburtsland. Die Redakteurin und Auto­ rin Emma Randecker hat, mit Ausnahme von ein paar längeren Aufenthalten in Frankreich und Großbritannien, ihr Leben in Schweden verbracht. Vor allem die Sehnsucht nach dem Wechsel der Jahres­ zeiten, wie er für Schweden typisch ist, trieb sie nach ein paar Jahren zurück in die Heimat.

© 2011, 2015  Rikard Lagerberg, Emma Randecker und das Schwedische Institut Für die in dieser Publikation geäußerten Meinungen sind allein die Autoren verant­ wortlich. Fotos: Umschlag Kerstin Jonsson/Azote, S. 1 Lotten Pålsson/Folio, S. 2 Ulf Huett Nilsson, S. 4–5 Tomas Utsi, S. 6 Håkan Hjort/Johnér, S. 7 Lola Akinmade, S. 8: Doris Beling/Folio, S. 9 Berndt Joel Gunnarsson/Nordicphotos, S. 11 Kenneth Hellman/Johnér, S. 12–13 Adam Ihse/TT, S. 14 Ulf Huett Nilsson, S. 16 Lena Granefelt/Johnèr, S. 17 Johan Alp/Johnér, S. 18 Mikael Dubois/Johnér, Susanne Walström/Johnér, S. 19 Felix Odell/Linkimage, Ester Sorri/Folio, S. 20 Leif R Jansson/TT, S. 21 Matton Collection, S. 22 SIPA USA/TT, S. 23 Wer­ ner Nystrand/Folio, S. 24 H&M, S. 25 Jessica Gow/TT, S. 26 Koenigsegg, MyFC, Solvatten, Hannes Söderlund/imagebank.sweden.se, Matton Collection, S. 27 Ulf Huett Nilsson, S. 28–29 Jesper Frisk/Rockfoto, S. 30 Anders Wiklund/TT, S. 31 Pija Lindenbaum, S. 32 Emma Svensson/Rockfoto, Masquerade, S. 33 Carl Thorborg, S. 34 Sofia Sabel/image­ bank.sweden.se, Front Design, Alexander Landergren, S. 36 Acne, S. 37 Sergei Grits/TT, S. 38 Jann Lipka/Nordicphotos, S. 39 Michael Jönsson/Folio, S. 40 Jonas Ingerstedt/ Johnér, S. 41 Michael Engman/Nordicphotos, S. 42 Göran Assner/Johnér, S. 43 Santa Maria, S. 44 Werner Nystrand/Folio, S. 45 Peter Gerdehag/Folio, S. 46 Bengt Jansson/TT, S. 47 Andreas Bylund/Folio, Arne Jönsson/TT, S. 48 Anders Ekholm/Folio, Umschlag­ innenseite Ylva Sundgren Übersetzung: Stefanie Busam Golay Grafische Gestaltung: Typisk Form designbyrå Typografie: Stag, Stag Stencil und Minion Papier: Invercote Creato und Arctic Volume High White Druckerei: Ineko, Stockholm, 2015 ISBN: 978-91-86995-65-2


Schwedens Lage auf der Erde

Da s i s t S c h w e d e n

Wurzeln in Ehren hält und neue Trends trotzdem schneller als die meisten anderen Länder aufgreift. Wir behalten das Ausland immer im Blick – schließlich wollen wir nichts Neues verpassen; trotzdem sind wir voller Stolz über unsere heimischen Innovationen. Wir fahren zwar in ferne Länder, um dort sonnenzubaden, lassen aber nichts auf den schwedischen Sommer kommen. Wir sind ausländischen Einflüssen gegenüber offen; dennoch sehen wir es gern, dass andere Länder bei wichtigen Themen wie Gleichstellung, Menschenrechte und Nachhaltigkeit unserem

R i k a rd L ag e r b e rg & E m m a R a n d e c k e r

Schweden ist eine Nation, die ihre historischen

Das ist

Schweden

Beispiel folgen. Das ist Schweden ordnet die Besonderheiten ein, die Schweden heute prägen, und kommt zum Schluss, dass die Nation zuweilen Übserraschungen bereithält, zuweilen aber auch genau den Erwartungen entspricht.

Rikard Lagerberg & Emma Randecker


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