Klee für Kinder

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Klee

Sylvia Rüttimann

K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R

für Kinder

Mit Illustr ationen von L aurence Sartin

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Der Held mit dem Flügel

Ups! Was bin ich doch für ein Tollpatsch. Nun wollte ich Herrn Klee zu seinem sechzigsten Geburtstag eine Botschaft überbringen und wäre dabei fast abgestürzt. Es ist nicht zu glauben, aber wenn der Wind so plötzlich dreht, kann es schon einmal passieren, dass ich die Kontrolle über meine Flügel verliere, obwohl ich beileibe kein kleiner Junge mehr bin. Peinlich. Wie hätte mein Vater früher gesagt: »Einen ungeschickteren Engel muss man lange suchen! Man könnte wirklich meinen, Herr Klee hätte an dich als Vorbild für seinen geflügelten Helden gedacht.«

Ach ja, der Held mit dem Flügel. Ich habe Herrn Klee damals lange über die Schulter geschaut, als er ihn mit viel Geduld in eine mit einer Asphaltschicht überzogenen Zinkplatte ritzte, diese in ein Säurebad legte, bis sich die gezeichneten Punkte und Linien eingegraben hatten, sie dann schwarz einfärbte und das Resultat auf schönes, dickes Papier druckte. Danach stand er da, dieser große, muskulöse, ein wenig mürrisch blickende Mann, der auf dem Kopf einen Helm trägt und aus dessen rechter Schulter ein Flügel wächst. Ich dachte zuerst: »Was ist das doch für ein stattlicher Engel!« Aber dann musste ich erkennen, dass er gar nicht fliegen kann. Das linke Bein ist aus Holz und am Boden angewachsen. Und sein linker, offensichtlich gebrochener Arm steckt in einer Schlinge. Und dieser Flügel. Ein Flügelchen! Damit kann man keine zehn Zentimeter vom Boden abheben. Das könnte wirklich ich sein.

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Der Held mit dem Flügel, 1905 Privatsammlung Kornfeld, Bern 4


In Gedanken fliegen

Herr Klee hat natürlich nicht wirklich an mich, seinen linkischen Schutzengel, gedacht. Erfunden hat er den flugunfähigen Helden, weil er Lust hatte, etwas Komisches zu zeichnen. Herr Klee nimmt nämlich nicht immer alles ganz so ernst. Wenigstens versucht er es, auch wenn er manchmal in traurige Stimmung verfällt. Dann sitzt er da und träumt, den Kopf in die Hand gestützt. Soll ich dir etwas verraten? Wenn er so in Gedanken versunken ist, wünscht er sich zuweilen, dass ihm Flügel wachsen und er einfach davonfliegen könnte. Aber er kann machen, was er will, ihm wachsen keine Flügel. Er ist ja kein Engel. Eines Tages jedoch, als er so träumte – er war damals noch ein ganz junger Mann – dachte er bei sich, dass man auch ohne Flügel fliegen könne. »Meine Gedanken können doch fliegen! In meiner Vorstellung kann ich hin, wo ich will, ohne mich von der Stelle zu rühren. Ich kann an Orte fliegen und Dinge sehen, die anderen verschlossen bleiben. Und das, was ich erblicke, zeichne ich. Meine Fantasie und mein Zeichenstift, das sind meine Flügel.«

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Dann hat er sich so gezeichnet: den Kopf in die Hand gestützt und mit den Gedanken weit weg, so als wären sie mit ihm davongeflogen. Soll ich dir noch etwas verraten? Vor sehr langer Zeit gab es einen Künstler, der hieß Dürer. Und der hat einen Engel gezeichnet, der genau in dieser Haltung sitzt. Ich könnte schwören, dass Herr Klee an diese Zeichnung dachte, als er sich so zeichnete. Irgendwie ist er halt doch ein Engel, genau wie ich. Aber natürlich viel geschickter!

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Selbstbildnis, 1911 o. O.


Tunesien

Seitdem fliegen Herrn Klees Gedanken. Wenn er sie einfangen kann, zeichnet er sie. Kurioses, Witziges, Poetisches und Fantastisches entsteht dabei. Blatt für Blatt. Lange Zeit habe ich mich jedoch gewundert, warum er immer alles nur Schwarz-Weiß sieht. Da begab sich Herr Klee eines Tages auf eine Reise. Zwei Wochen war er unterwegs. Danach war plötzlich alles farbig. Am 1. April 1914 fuhren Herr Klee und seine Reisegefährten Louis Moilliet und August Macke, zwei Maler, die Herr Klee einige Jahre zuvor kennen gelernt hatte und mit denen er sich sehr gut verstand, nach Marseille. Dort bestiegen sie das Schiff nach Tunesien. Als sie ausstiegen, war es um sie geschehen: Welch Unterschied zu den düsteren, trüben Tagen in ihrer nördlichen Heimat!

Plötzlich war alles in heißes, gleißendes Licht getaucht. Überall umgaben sie die strahlendsten Farben. Die Welt bestand nicht mehr aus Häusern, Straßen und Menschen, sondern aus grünen, gelben, beigen, orangen, braunen, blauen, roten, türkisen und violetten Farbflecken. Setzte man diese luftig als Quadrate und Dreiecke aufs Papier, zusammen mit einigen Punkten, die Fenster und Ziegel andeuten, hatte man schon eine ganze tunesische Stadt gemalt. Herr Klee war begeistert.

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Motiv aus Hammamet, 1914 Kunstmuseum, Basel

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Eine gemalte Oper

Dank dieser Reise zeichnet und malt Herr Klee. Künstler sein ist großartig! Wie toll, wenn man wie er zudem auch noch so wunderbar Geige spielen kann. Früher, als er noch in Bern bei seinen Eltern wohnte, trat er sogar vor Publikum auf. Wenn er heute für sich zu Hause spielt, begleitet ihn seine Frau Lily, die Pianistin ist, auf dem Klavier. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Herr Klee Farben benutzt wie Töne, um damit Farbgedichte zu komponieren. Das funktioniert dann zum Beispiel so: Er nimmt ein Stück Papier, öffnet den Farbkasten und zückt seinen Pinsel – zuerst setzt er den Grundton, der ist gelb. Dazu gesellt sich der Rhythmus: Das Blatt wird unterteilt in drei Streifen, die Streifen in Vierecke, die großen Vierecke in kleine Vierecke. Jetzt fehlen nur noch die stimmlichen Akzente: rote Dreiecke, grüne Dreiecke und noch ein wenig Lila. Fertig ist das gemalte Lied!

Nicht ganz. Als Herr Klee das Resultat betrachtete, fiel ihm auf, dass die Vierecke, Dreiecke und Kreuze wie Fenster aussahen: »Wenn ich jetzt eine Leiter hinzufüge und einen Mann mit grünem Hut und Gamsbart, dann ist das ein Bayer, der an die Fenster einer seiner vielen Geliebten klopft. Fensterln nennt man das hier in München, wo ich wohne. Die Namen der Frauen male ich auch gleich dazu.« Dann erinnerte er sich an die Oper »Don Giovanni« seines Lieblingskomponisten Mozart, die von einem solchen Liebhaber handelt. So nannte er sein Blatt »Der bayrische Don Giovanni«. Und hatte, schwups, eine ganze Oper kreiert.

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Der bayrische Don Giovanni, 1919 Solomon R. Guggenheim Museum, New York

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Das Maschinenzeitalter bricht an

Es ist schon erstaunlich. Da hatte Herr Klee anfänglich nur davon geträumt, als Zeichner seine Gedanken mit dem Bleistift einfangen zu können, und plötzlich war er noch viel mehr: Maler, Musiker, ja sogar Architekt, der aus Farbfeldern Häuser und Städte baut. Aber dass er auch immer wieder als Ingenieur Maschinen und Apparate erfindet, davon habe ich ja noch gar nicht erzählt. Natürlich meine ich keine echten Maschinen – nein, auch die sind nur gezeichnet und gemalt.

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Es sind Entwürfe für Maschinen, wie der »Plan einer Maschinenanlage«, den Herr Klee 1920 zeichnete. 1920, lange ist es her. Technik und Maschinen waren damals noch ziemlich neue Errungenschaften – es gab fast keine Autos auf den Straßen und die Leute waren mächtig angetan von den ratternden, lärmenden Ungetümen, die ein eigenes Leben zu haben schienen. Herr Klee war mit seinen gemalten Apparaturen ganz auf der Höhe seiner Zeit. Das Maschinenzeitalter war angebrochen! Doch Herr Klee ist ein reichlich ungeschickter Ingenieur. Oder kann mir, irgendjemand erklären, wie diese Maschinenanlage funktionieren soll? Zwar gibt es eine Menge Objekte, die mit Bändern und Drähten über Zahnräder verbunden sind, und irgendwo ist bestimmt ein Schalter versteckt, der das ganze in Betrieb setzten könnte, aber wozu? Und sieh doch mal: Da steht eine Lampe. Und das daneben, ich glaube, das ist eine Blume. Und was hat sich Herr Klee hier wohl gedacht? Oder hier? Plan einer Maschinenanlage, 1920 Privatsammlung, o. O. 12


Kater mit Herz

Das hier ist eine Katze. Nein, es ist nicht Herrn Klees Katze. Obwohl er eine Katze besitzt. Sie heißt Bimbo und schleicht, wenn sie nicht gerade im Garten Vögel fängt, durch sein gemütliches aber kleines Atelier. Früher, als Herr Klee in Weimar am Bauhaus Lehrer war, da hatte er zwei Ateliers. Er war überglücklich. Schnell waren sie vergessen, die Zeiten, als er in der Münchner Wohnung in der Küche arbeiten musste. Hier in Bern arbeitet er zwar auch wieder nur in einem Raum, der ist jedoch groß genug, um die Gedanken schweifen zu lassen. Bei seinen Gedankenflügen darf ihn niemand stören. Nur ich sehe ihm dabei über die Schulter und auch die Katzen dürfen sich breitmachen. In Weimar war das Fripouille, die war frech wie Oskar. Wollte sie gestreichelt werden, schaute sie Herrn Klee lange an und versuchte, ihn in den Finger zu beißen.

»Sie braucht einen Gefährten, eine Beschäftigung, etwas zum Anschauen«, dachte sich Herr Klee und schuf im Nu ein Bild, das ihr zum Zeitvertreib dienen sollte. Aus hellbraunem Papier, ein wenig Farbe und einem Stück Vorhangstoff entstand ein Kater mit riesigen, mandelförmigen Augen, einer langen, dünnen Bleistiftnase und einem Herz, das er als Mund im Gesicht trägt. Herrn Klees Hoffnung, dass das Bild seine Katze hypnotisieren würde, erfüllte sich allerdings nicht: Fripouille schlenderte geflissentlich daran vorbei und ließ ihn links liegen, den Kater mit Herz.

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Götzenbild für Hauskatzen, 1924 Norton Simon Foundation, Pasadena

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Der Seefahrer

Fripouille war frech, aber auch sehr geschickt. Wollte sie in den Garten, sprang sie auf das Fensterbrett, balancierte dort kurz, ließ sich elegant aus dem Fenster fallen, landete auf allen Vieren und fort war sie. Welchen Gleichgewichtssinn Katzen doch haben! Wenn ich da an meinen verunglückten Landeversuch von heute Morgen denke, werde ich rot vor Scham. Herr Klee ist ja auch nicht sehr sportlich, aber bei ihm reicht es, wenn er solche Kunststücke malen kann. Einmal hat er einen Seiltänzer gezeichnet, der über einem Abgrund balanciert.

Am besten gefällt mir aber sein balancierender Seefahrer. Er ist der Held einer von Herrn Klees gemalten Opern und kämpft gegen drei zähnefletschende, aber sonst ziemlich drollig aussehende, gemusterte Seeungeheuer. Dazu steht er, leicht nach rechts geneigt, in der Mitte seines kleinen Nussschalenbootes. Er hält eine Lanze waagerecht mit beiden Händen in die die Höhe und wehrt damit nicht nur die Monster ab, sondern versucht auf diese Weise auch sein Gleichgewicht zu halten. Wie er so dasteht erinnert er mich ein wenig an den Seiltänzer mit seiner Balancierstange. Oder auch – jetzt erst sehe ich das – an ein Kreuz! Als wollte er diese Ähnlichkeit unterstreichen, hat Herr Klee ein Kreuz in das Meer von Farbfeldern, vor denen diese tollkühne Seeschlacht aufgeführt wird, gemalt. Wenn der Seefahrer nur nicht in die Farbe fällt!

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Kampfszene aus „Der Seefahrer“, 1925 Sammlung Trix Duerst-Haass, Basel

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Zauberkunststück

Mit dieser verflixten Schwerkraft ist es so eine Sache; sie holt einen immer wieder auf den Boden. Noch nicht einmal Engel sind, wie man weiß, davor gefeit. Man kann aber versuchen, ihr ein Schnippchen zu schlagen. Darin ist Herr Klee ziemlich gut. Wie leicht ist es für ihn, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben und in seinen Bildern Figuren schweben zu lassen, als wären sie Seifenblasen in der Luft. Ich habe ihn einige Male Schiffe malen sehen, die nicht auf dem Meer segeln, sondern ganz unbekümmert über eine einfarbige Fläche gleiten, bei der man nicht sagen könnte, wo oben und wo unten ist. Wie von Geisterhand.

Einmal ließ Herr Klee ein kleines rundes Tischchen vor einer weißen Nebelschwade auf rotem Grund schweben, und daneben etwas, das aussah wie eine Treppe. Das Tischchen hatte keinen Fuß, sondern einen kuriosen länglichen Fortsatz, an dem eine Kugel und sechs Halbkugeln befestigt waren.

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Auf der rechten Seite des Bildes schwebten eine größere Kugel und ein langes Stück Holz. Ganz oben befand sich etwas, das mich an einen Kopf mit Hut erinnerte. Komischerweise war an der Nase dieses Kopfes eine Art Fahnenstange mitsamt Fahnentuch befestigt – oder war es doch eine Tür? Oder vielleicht ein Fenster? Schließlich schien aus dem Nebel auch noch eine Gestalt aufzutauchen, die ihren Arm nach einem Becher ausstreckte. »Zauberkunststück« nannte Herr Klee dieses Bild. Dann ist die Gestalt also ein Magier?

Zauberkunststück, 1927 Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 18


Experimente

Einige Leute nennen auch Herrn Klee einen Zauberer, weil er aus Farben und Formen ganze Märchen, Opern und Theateraufführungen entstehen lässt. Am Bauhaus hat man ihn dafür sehr bewundert. Herr Klee war an dieser damals ganz neuen und modernen Kunstschule zehn Jahre lang Lehrer. In seinem Unterricht war ihm vor allem eines wichtig: dass seine Schüler ausprobieren, was man mit einfachsten Formen alles machen kann. Zum Beispiel mit kurzen, langen, gewellten, geraden, dicken und dünnen Linien. Oder mit geometrischen Formen wie Vierecken, Dreiecken, Kreisen, Rhomben, Trapezen und Quadraten.

In seinem Atelier hat er selbst mit verschiedenfarbigen Farbflächen experimentiert. Manchmal setzte er sie einfach nebeneinander. Aber er fand auch heraus, dass man, wenn man die Farbe nur ganz dünn aufträgt, die Flächen übereinander malen kann, so dass die untere Farbe durchschimmert. Das hatte er schon bei seinem Seefahrer ausprobiert. Einmal gruppierte er mehrere Farbflächen um eine unbemalte weiße Fläche. So entstand ein Aquarell, dem er den Titel »polyphon gefasst« gab. Polyphon ist ein Ausdruck aus der Musik und bedeutet vielstimmig. Herr Klee hatte also ein Lied gemalt. Ich erkenne darin aber noch etwas ganz anderes, nämlich eine von oben betrachtete Stufenpyramide, wie ich sie damals auf unserer Ägyptenreise gesehen habe, als ich darüber flog. Ich weiß noch, wie erstaunt ich bei ihrem Anblick war, weil ich nicht wusste, dass es auch Pyramiden gibt, die aussehen, als hätte man verschieden große Quader aufeinander gelegt.

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Polyphon gefasstes Weiss, 1930 Zentrum Paul Klee, Bern

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Ägypten

Herr Klee hat die Pyramiden natürlich nicht von oben gesehen, weil er ja nicht fliegen kann. Vielmehr ist er um sie herumspaziert und hat sie von der Seite betrachtet. Wo man das durfte, ist er auch hineingegangen. Besonders beeindruckt haben ihn die überwältigende Größe und die ganz einfache Form der ägyptischen Pyramiden. Davon hat er auch einige Skizzen gemacht.

Vielleicht sind Herrn Klees angeblich afrikanische Vorfahren der Grund, dass er sich von diesem Kontinent so angezogen fühlt. Zweimal ist er nach Afrika gereist, zuerst nach Tunesien und 1928 nach Ägypten. Vier Wochen ist er geblieben und hat Kairo, Luxor, Assuan und Alexandria besucht. Auch von dieser Reise kam er voller neuer Eindrücke und Ideen für seine Kunst nach Hause. Er fing an Pyramiden zu malen und die lustigen Schiffe, die er auf dem Nil gesehen hatte. Und die ägyptische Sonne, rot und heiß in der Mitte eines verwunschenen Gartens, in dem lustige Pflanzen wachsen, die man so nie zu Gesicht bekommt, weil sie Herrn Klees Fantasie entstammen. Sie wachsen am unteren linken und rechten Rand des Bildes. In diesem Garten lebt auch ein Vogel. Er spaziert am oberen Rand des Bildes entlang und steht auf dem Kopf. Man muss das Bild drehen, um die Dinge richtig sehen zu können. Vielleicht hat Herr Klee das den ägyptischen Malern vor 4000 Jahren abgeschaut, die haben nämlich so gemalt.

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Ad Marginem – To the brim, 1930 Kunstmuseum, Basel

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Zeit zu gehen

Als Herr Klee aus Ägypten zurückkam, gefiel es ihm am Bauhaus immer weniger. Die Malerei wurde dort kaum mehr geschätzt. »Unnützes Zeug. Gebrauchsgegenstände muss man herstellen«, hieß es. Aber Herr Klee wollte weiterhin mit Bleistift und Farbe zaubern und keine Tassen und Teller herstellen. »Zeit zu gehen«, dachte er sich.

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1931 war es so weit. Er verließ das Bauhaus, ging nach Düsseldorf und wurde dort Professor an der Kunstakademie. Nach dem Unterricht hatte er viel Zeit, eigene Bilder zu malen. Herr Klee fühlte sich wieder voller Tatendrang. Sofort begann er zu experimentieren. Dieses Mal nicht mit Farbflächen, sondern mit Punkten, die er einen neben den anderen setzte, bis alles damit übersät war. Es war ein mühsames Verfahren, doch das Resultat gefiel Herrn Klee. Manchmal waren die Punkte ganz klein und eng nebeneinander und ließen keine freie Stelle übrig. Ein anderes Mal setzte er große, grobe Punkte eher lose, damit der farbige Untergrund sichtbar blieb, wie bei dem Bild eines Knaben, der an einem Tisch sitzt. Den hatte er zuerst mit dicken schwarzen Pinselstrichen gezeichnet – fast wie eine Kinderzeichnung. Genau das war Herrn Klees Absicht: Er liebt nämlich Kinderzeichnungen und versucht immer ein wenig so zu zeichnen, als wäre er selbst noch ein Kind.

Knabe am Tisch, 1932 Norton Simon Foundation, Pasadena 24


Doppeltes Unheil

Striche, Punkte, ein bisschen Farbe und Menschen, die seine Kunst mögen: mehr braucht Herr Klee nicht, um glücklich zu sein. Doch unerwartete Umstände veränderten sein Leben und nahmen ihm einiges von seinem Glück. 1933 verlor er seine Stelle an der Kunstakademie. Adolf Hitler war an die Macht gekommen und verwandelte Deutschland in eine Diktatur. Seine Anhänger, die Nationalsozialisten, hassten moderne Künstler und warfen ihnen vor, gar nicht malen zu können. »Das ist Kunst von Geisteskranken!«, schrien sie. Wie viele seiner Freunde verließ Herr Klee Deutschland. Lily und er wohnen jetzt in der Schweiz, wo man vor Hitler sicher ist. Zudem ist Herr Klee hier aufgewachsen. Sie haben sich eine kleine Wohnung in seiner Geburtsstadt Bern gemietet.

Da kam auch schon das nächste Unheil. Vor etwa fünf Jahren wurde Herr Klee schwer krank und lag fast ein ganzes Jahr im Bett. Wie leid mir das alles tat! Ich musste zusehen und konnte ihm nicht helfen; ich kann ihm nur beistehen. Wie unendlich glücklich war ich, als er sich nach einer Kur wieder besser fühlte.

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Jetzt malt er so viel wie nie zuvor. Ungewohnt große Bilder entstehen, mit klaren Formen und hellen Farben. Häufig bedeckt er die Bildfläche mit tiefschwarzen, dicken Strichen, die manchmal wie geheime Schriftzeichen aussehen, manchmal aber auch wie Gesichter, Tiere oder Gegenstände. So stellt er auch die Pflanzen in seinem Bild »Park bei Luzern« dar. Ist es nicht ein wunderbar fröhliches Bild?

Park bei Lu, 1938 Zentrum Paul Klee, Bern

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Engel

Richtig erholt hat sich Herr Klee von seiner Krankheit allerdings nicht. Er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit zum Malen bleibt. Natürlich gibt es Tage, an denen er niedergeschlagen ist. Aber Herr Klee weiß, wie er sich selbst aufmuntern kann: indem er sich mit seiner Katze Bimbo auf dem Schoß vor seine Staffelei setzt, Bimbo gedankenverloren hinter den Ohren krault, seine Werke ansieht und überlegt, was er als nächstes zeichnen soll. »Ich wurde geboren, um zu zeichnen und zu malen, und das werde ich nun auch tun«, sagt er dann und zeichnet ein neues Blatt. Und noch eins. Und noch eins.

Und diese Blätter und Gemälde sind fabelhaft. Noch nie hat er so hinreißend komische, liebenswürdige Gestalten gezeichnet. Es ehrt mich sehr, dass auch Engel dazugehören – obwohl wir linkische Gesellen sind! Viele denken, wir seien hehre, göttliche, unfehlbare Wesen. Herr Klee weiß, dass das nicht stimmt. Darum gibt es bei ihm auch einen unfertigen Engel, einen hässlichen Engel, einen unerzogenen Engel und sogar einen vergesslichen Engel. Auf einem großen, farbigen Bild jedoch ist auch ein großer, kämpferischer Engel zu sehen, der stolz und majestätisch einherschreitet. Er bläst in ein Horn und wird gleich etwas verkünden. Ach ja, da fällt mir ein: Ich wollte doch Herrn Klee zum Geburtstag eine Nachricht überbringen. Aber was wollte ich ihm eigentlich sagen? Jetzt habe ich es vergessen.

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Angelus Militans, 1940 Sammlung Steegmann, o. O.

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Paul KLee – Sein Leben

PC 1879 1898 1901 1902 1906 1906 1912 1914 1916 1920 1928 1931 1933 1935 1937 1940

Paul Klee wird in Münchenbuchsee als zweites Kind des deutschen Musiklehrers Hans Klee und der Schweizerin Ida Frick geboren. Ein Jahr später zieht die Familie nach Bern. Klee schließt in Bern das Literaturgymnasium mit dem Abitur ab und zieht im Oktober nach München, um an der Kunstakademie zu studieren und bildender Künstler zu werden. Nachdem er aufgrund fehlender Kenntnisse in Zeichnen nicht zum Studium zugelassen wird, besucht er die private Zeichenschule des Malers Heinrich Knirr. verlässt Klee München und reist er mit seinem Freund Hermann Haller sechs Monate durch Italien. lebt Klee bei seinen Eltern in Bern. Er bildet sich künstlerisch autodidaktisch weiter und ist als Geiger für die Bernische Musikgesellschaft tätig. Klee arbeitet während dieser Zeit an seinem elfteiligen Radierzyklus »Inventionen«, mit dem er erstmals als Künstler an die Öffentlichkeit tritt. Heirat mit der deutschen Pianistin Lily Stumpf und Übersiedlung nach München, wo ein Jahr später Sohn Felix geboren wird. Klee betätigt sich neben seiner künstlerischen Tätigkeit als Hausmann, seine Frau verdient das Geld mit Klavierunterricht. Beteiligung an der zweiten Ausstellung des »Blauen Reiters«, einer Künstlervereinigung um Wassily Kandinsky und Franz Marc, die Klee ein Jahr zuvor kennen gelernt hatte. Klee verbringt mit Louis Moilliet und August Macke zwei Wochen in Tunesien und findet dort zur Farbe. Klee wird zur deutschen Armee einberufen. Er muss nicht an die Front und ist in Landshut, Schleißheim und Gersthofen u. a. als Schreiber tätig. Am 4. Februar 1919 wird er aus dem Wehr- dienst entlassen. Erster Höhepunkt in Klees künstlerischer Karriere mit der Berufung an das Bauhaus durch dessen Direktor Walter Gropius. Klee tritt die Stelle 1921 an und übersiedelt im Herbst mit Lily und Felix von München nach Weimar. Als das Bauhaus 1925 nach Dessau. zieht geht er mit. Paul Klee reist im Dezember für vier Wochen nach Ägypten. Klee verlässt das Bauhaus und wechselt an die Kunstakademie Düsseldorf. wird Klee von seinem Amt an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf beurlaubt und 1934 entlassen. Im Herbst übersiedelt die Familie nach Bern. Klee erkrankt an der Bindegewebskrankheit Sklerodermie. Seine Arbeit kann er nur langsam wieder aufnehmen. werden Werke von Klee in der Ausstellung Entartete Kunst in München gezeigt. Die National- sozialisten beschlagnahmen 102 seiner Arbeiten aus öffentlichen deutschen Sammlungen. stirbt Paul Klee nach einem längeren Kuraufenthalt in Locarno am 29. Juni an einer Herzlähmung.

Auf der CD-Rom findest du

B P

eine Galerie der Bilder Klees mit Zoomfunktion

eine Zeitleiste mit Daten zu Stationen in Klees Leben

Spiele

Puzzle und Verschiebepuzzle, Pairs, Suchbild und Fehlersuche

C

ein Quiz mit Fragen zu Klees und seinen Bildern

K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R . K l e e F Ü R K IN D E R

Bildnachweis: AKG Images, Berlin: Coverbild, alle Bilder aus dem Innenteil, Rückseite. ISBN 978-3-219-11475-1 Alle Rechte vorbehalten Illustrationen von Laurence Sartin Gesetzt nach der derzeit gültigen Rechtschreibung Copyright © 2011 by Annette Betz Verlag im Verlag Carl Ueberreuter, Wien – München Gedruckt in Österreich 7654321 Annette Betz im Internet: www.annettebetz.de Produktion der CD-ROM: NONX.de

Issum 2011 © + P Verlag Carl Ueberreuter GmbH 30

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