Tanz im August Special Edition 2020 – Magazin im August DE

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Eine*r und Viele Die finnische Tänzerin und Choreografin Milla Koistinen über die lebhafte Energie der Masse. Interview: Beatrix Joyce Milla Koistinen hat sich mit Kinderträumen befasst (“A Cloud of Milk”) und – in Zusammenarbeit mit dem Musiker Paul Valikosi – mit der Widererfindung des Lebens durch die Liebe (“Constructing Love”). In ihrer letzten Arbeit, “One Next To Me”, erforschen zwanzig Darsteller*innen unterschiedlichen Alters mit diversen Hintergründen Gruppendynamiken und wie sich unterschiedliche Stadien der Zärtlichkeit und der Gewalt im Körper manifestieren. Nach der Lockerung der Kontaktsperre in Berlin im Mai traf Beatrix Joyce Milla Koistinen für einen Spaziergang.

Beatrix Joyce: Was hat dein Interesse an den Themen der Zärtlichkeit und der Gewalt geweckt? Milla Koistinen: Vor ein paar Jahren, als ich anfing, an dem Stück zu arbeiten, fühlte ich mich von Gewalt und Terror umgeben. Viele Ereignisse, wie die Anschläge in Paris, Brüssel, Nizza und Berlin, gingen durch die Nachrichten und die große Aufmerksamkeit, die sie in den Medien bekamen, im Vergleich zu den Ereignissen außerhalb Europas, hat mich beschäftigt. Ich begann mich zu fragen, was meine Beziehung zu Gewalt ist. Wir alle tragen Schichten von Gewalt und Zärtlichkeit in uns; indem man die Schichten nacheinander abblättert, kommt man von einer zur anderen... Und diese Schichten sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie koexistieren. BJ: Wie hast du diesen verschiedenen Schichten in der Choreografie Ausdruck verliehen? MK: Wir haben Bilder gesammelt aus Nach­richtenberichten, politischen Reden und Dokumentarberichten, somit haben wir eine Bewegungspalette geschaffen.

Ich habe meinen Darsteller*innen die Aufgabe gegeben, die Bilder zu performen, nicht indem sie sie nachspielen, sondern indem sie sie rekonstruieren. Es war mir wichtig, eine Bewegungsform zu finden, die Gewalt und Zärtlichkeit darstellt ohne zu illustrativ zu sein. Elias Cannettis Aus­ einandersetzung mit Massendynamiken und der Verbreitung von Verhaltensweisen innerhalb einer Menschenmasse hat mich inspiriert. Wir haben das anhand von Bewegungen erforscht, die wir in der Gruppe haben zirkulieren lassen, und kurzen Begegnungsmomenten, sowie bei Kinderspielen. BJ: Für diese Arbeit hast du mit hauptberuflichen Tänzer*innen gearbeitet und mit Laien. War es eine Herausforderung mit solch einer diversen Gruppe mit unterschiedlicher Bühnenerfahrung zu arbeiten? MK: Wir mussten einen Weg finden, damit die Laien den Tänzer*innen auf Augenhöhe begegnen können. Das haben wir geschafft indem wir es einfach gehalten haben: die Bewegungspartitur ist teils festgelegt, teils improvisiert, damit konnten wir Spontaneität und Form ei-


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