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Eine*r und viele
Die finnische Tänzerin und Choreografin Milla Koistinen über die lebhafte Energie der Masse.
Milla Koistinen hat sich mit Kinderträumen befasst (“A Cloud of Milk”) und – in Zusammenarbeit mit dem Musiker Paul Valikosi – mit der Widererfindung des Lebens durch die Liebe (“Constructing Love”). In ihrer letzten Arbeit, “One Next To Me”, erforschen zwanzig Darsteller*innen unterschiedlichen Alters mit diversen Hintergründen Gruppendynamiken und wie sich unterschiedliche Stadien der Zärtlichkeit und der Gewalt im Körper manifestieren. Nach der Lockerung der Kontaktsperre in Berlin im Mai traf Beatrix Joyce Milla Koistinen für einen Spaziergang.
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Interview: Beatrix Joyce
Beatrix Joyce: Was hat dein Interesse an den Themen der Zärtlichkeit und der Gewalt geweckt?
Milla Koistinen: Vor ein paar Jahren, als ich anfing, an dem Stück zu arbeiten, fühlte ich mich von Gewalt und Terror umgeben. Viele Ereignisse, wie die Anschläge in Paris, Brüssel, Nizza und Berlin, gingen durch die Nachrichten und die große Aufmerksamkeit, die sie in den Medien bekamen, im Vergleich zu den Ereignissen außerhalb Europas, hat mich beschäftigt. Ich begann mich zu fragen, was meine Beziehung zu Gewalt ist. Wir alle tragen Schichten von Gewalt und Zärtlichkeit in uns; indem man die Schichten nacheinander abblättert, kommt man von einer zur anderen... Und diese Schichten sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie koexistieren.
BJ: Wie hast du diesen verschiedenen Schichten in der Choreografie Ausdruck verliehen?
MK: Wir haben Bilder gesammelt aus Nachrichtenberichten, politischen Reden und Dokumentarberichten, somit haben wir eine Bewegungspalette geschaffen. Ich habe meinen Darsteller*innen die Aufgabe gegeben, die Bilder zu performen, nicht indem sie sie nachspielen, sondern indem sie sie rekonstruieren. Es war mir wichtig, eine Bewegungsform zu finden, die Gewalt und Zärtlichkeit darstellt ohne zu illustrativ zu sein. Elias Cannettis Auseinandersetzung mit Massendynamiken und der Verbreitung von Verhaltensweisen innerhalb einer Menschenmasse hat mich inspiriert. Wir haben das anhand von Bewegungen erforscht, die wir in der Gruppe haben zirkulieren lassen, und kurzen Begegnungsmomenten, sowie bei Kinderspielen.
BJ: Für diese Arbeit hast du mit hauptberuflichen Tänzer*innen gearbeitet und mit Laien. War es eine Herausforderung mit solch einer diversen Gruppe mit unterschiedlicher Bühnenerfahrung zu arbeiten?
MK: Wir mussten einen Weg finden, damit die Laien den Tänzer*innen auf Augenhöhe begegnen können. Das haben wir geschafft indem wir es einfach gehalten haben: die Bewegungspartitur ist teils festgelegt, teils improvisiert, damit konnten wir Spontaneität und Form ei-
nen Raum geben. Die Laien bekamen relative klare, strenge Anweisungen, die Tänzer*innen hatten mehr Freiraum. Die größte Herausforderung war ihre Bühnenpräsenz: die Laien waren vor allem sie selbst, insbesondere die Kinder. Die Tänzer*innen mussten von ihrem angelernten Performance-Modus Abstand nehmen und etwas Alltägliches annehmen. Durch diese Änderungen wurden Darsteller*innen eins und haben dem Publikum ermöglicht ihnen allen auf die gleiche Art und Weise zu begegnen.
BJ: Ich fand die Momente der Stille, in denen die Darsteller*innen einfach anderen Darsteller*innen zugucken sehr beeindruckend. Es schien als wäre die ganze Arbeit aus dem Akt des Zusehens entstanden.
MK: Mit dem Blick kann man die Aufmerksamkeit des Publikums von innen lenken: Indem sie sich auf etwas konzentrieren, laden die Darsteller*innen das Publikum dazu ein, sich auch darauf zu konzentrieren. Das schafft Raum. Weil so viele Menschen auf der Bühne sind, müssen die Darsteller*innen in dieser Arbeit ihre Aufmerksamkeit aktiv aufeinander lenken. Für die Tänzer*innen
war das eine Herausforderung, weil sie dem Bedürfnis sich zu bewegen widerstehen mussten. Sie mussten lernen im Fluss zu bleiben, selbst wenn sie nicht mehr in Bewegung waren. Die Ungewissheit, die dadurch entstand, dass sie sich zurückhielten, schafft Spannung im Bild. Und dann gab es die Momente, in denen sie loslassen konnten, aber nur kurz.
BJ: Die gleichen Bewegungen tauchen immer wieder in verschiedenen Konstellationen auf, dadurch entstehen neue Deutungsmöglichkeiten. Wie hast du Impulse für diese Variationen gegeben?
MK: Wir haben Bilder geschaffen, ihnen Zeit gegeben sich aufzulösen und uns dann auf die Details konzentriert. Wir haben die Gesten kontinuierlich erforscht, immer neue, kleine Veränderungen unternommen, zum Beispiel einen leichten Richtungswechsel oder ein Drehen des Kopfes. Eine winzige Änderung kann das ganze Bild verändern! Und ein neues Bild, eine neue Situation erzählt eine ganz andere Geschichte. Das ist so vielschichtig! Es hat sich auch herausgestellt, dass es für die Darsteller* innen sehr intensiv war, diese Variationen auszuführen, auch wenn es nur minimalistische Bewegungen waren. Ihre Handlungen waren dadurch emotional aufgeladen, insbesondere da ich sie gebeten habe, zwischen Zuständen der Gewalt und der Zärtlichkeit zu wechseln. Zu jedem Zeitpunkt konnten sie auf etwas anderes anspielen und zeigen, dass das, was sie taten, sich sehr schnell grundlegend verändern konnte. Das ermöglichte eine Ambiguität, die dem Publikum Zugang zu verschiedenen Lesarten gab.
BJ: Wie bist du mit der Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv umgegangen?
MK: Jede Handlung, sei sie individuell oder kollektiv, hatte eine Auswirkung auf die Gruppe. Was auch immer die Darsteller *innen taten hatte eine Auswirkung auf die Anderen. Das durften sie nicht vergessen, sowie dass alle für die Gruppe mitverantwortlich sind. Niemand konnte sein eigenes Ding machen.
BJ: Ich finde die Konzepte individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung zur Zeit besonders relevant, da wir auf Abstand gehen. Hat diese Arbeit in dem Kontext unserer aktuellen Situation eine neue Bedeutung für dich?
MK: Wenn ich an unsere Proben zurückdenke, bin ich immer noch beeindruckt davon, wie schnell die Darsteller*innen miteinander warm geworden sind. Anfangs waren sie einander fremd und ich war gerührt von ihrer Bereitschaft mit einander in Kontakt zu kommen. Innerhalb von zwei Wochen, oder gar vier Tagen manchmal, haben sie ein wahres Vertrauensgefühl zu einander entwickelt und sind ohne zu zögern zusammen aufgetreten. Jetzt würde ich mich nicht trauen, sie zu bitten sich zu versammeln, rumzutollen, sich zu umarmen und all das zu tun, was sie getan haben. Einander anzufassen ist gefährlich geworden. Was einst schön war, ist nun angstbehaftet. Ich habe begonnen, mich zu fragen: Was gilt heutzutage als sicher? Werden wir das jemals wieder ändern können? T