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Undoing Hierarchies of Knowledge
Die originale Besetzung des Matlachines besteht aus dem Monarca (dem letzten Aztekenherrscher Montezuma), der Malinche (der Übersetzerin und aztekischen Geliebten des Konquistadors Herman Cortéz, wiederholt uminterpretiert in Frau / Tochter des Montezuma), einem Abuelo (einem Ahnen), einem Stier (als Repräsentation von Cortés und Europa) und zehn bis vierzehn Danzantes (Tänzer:innen). Sie werden in zwei konkurrierenden Gruppen aufgestellt, aztekische ‘Ungläubige’ und katholische Christen, und tragen Kostüme aus einer Vielzahl von bunten Bändern, einem mit Adlerfedern geschmückten Kopfputz, Kürbisrasseln und dreizackigem Holzfächer. In einem letzten Kampf mit dem Stier, in dem schließlich das ‘Gute’ über das ‘Böse’ siegt, konvertieren Montezuma und sein Gefolge schließlich zum Christentum. Der Matlachines als ‘danza de conquista’ wird sowohl von hispanischen als auch indigenen Communitys noch heute zu Festivitäten aufgeführt. Warum? Populäre indigene Varianten eignen sich den Matlachines an und laden ihn mit einer eigenen Erzählung auf: Montezuma ersteht hier als lang ersehnter Krieger mit seinen Gefährten wieder auf und befreit mit der als seine Gefährtin umcodierten Malinche die Americas aus den Fesseln der kolonisierenden Mächte.
Com-Possession: Figuren als Intensität von Welterfahrung
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Amanda Piñas Inszenierung des Matlachines ist durch ihre ganz eigene künstlerische und performative Handschrift bestimmt. Zwei Aspekte werden hier miteinander verflochten: erstens eine sehr präzise choreografische Struktur, durchdekliniert und ausbuchstabiert, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Entrée-Format des französischen Ballet de Cour hat, welches vergleichbar Auftritte von Figuren in verschiedenen Formationen dramaturgisch nacheinander aufreiht. Diese choreografische Setzung ermöglicht zweitens das Herausbilden von Figuren, die indigene Denk- und Vorstellungswelten gegen ein in Europa seit der Aufklärung etabliertes Repräsentationsmodell von vermenschlichten Charakteren auf der Bühne stellen. Amanda Piña nennt dieses Erscheinen von Figuren und diese Weise zu choreografieren ‘Com-Possession’ und schließt damit an Rolando Vásquez “Vistas of Modernity. Decolonial Aesthesis And The End Of The Contempary”(2020) an.
Das Ensemble von einem Dutzend Akteur:innen verkörpert 48 Figuren, denen je nach Erscheinungsform partikuläre Namen gegeben werden: el mordido por la serpiente (der von der Schlange Gebissene), la muerte (der Tod), las queervoras (die transfemininen Queeren), la serpiente con dos lenguas (die Schlange mit zwei Zungen / Sprachen), la cabra (die Ziege), el éscorpion (der Skorpion), el conquistador (der Eroberer). Die Habsburger treten ebenso auf wie Jesus oder die mexikanisch-US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Gloria Anzaldúa, das Pferd oder der große Fluss. Diese Figuren haben wahrnehmbare Kontur, geben aber keinesfalls eine Rolle wieder. Sie sind vielmehr direkt mit Sinneseindrücken verbunden und erzeugen mehrdeutige Erfahrungen. Man kann hier an Deleuze anschließen, der im Kontext von Francis Bacons Figuren formuliert hat: “Während die Abstraktion direkt das Gehirn adressiert, wirkt die Figur direkt auf das Nervensystem.” (Gilles Deleuze, “Logik der Sensation”, 1995, S. 27). Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine auf die Choreografie abgestimmte Klanglandschaft von Christian Müller. Klangmotiven folgend
gehen die Figuren nacheinander, einzeln und in Gruppen, in sich stetig wiederholenden Bewegungen frontal auf das Publikum zu, bevor sie abtreten und wieder in anderen Formationen erscheinen. Allmählich steigert sich das Tempo und die zunächst realitätsnahen Figuren mit Punk-Attitüde und in Gangsta-Fashion werden unheimlich, erst unmerklich, dann in einer gesteigerten Intensität. Die Grenze zwischen Theater und Welt verläuft sich im doppelten Wortsinn.
Choreografie als Grenzüberschreitung
“Frontera | Border – A Living Monument” schließt mit einer Choreografie von Rodrigo de la Torres ab, die in der mexikanischen Grenzstadt Matamoros entstanden ist und dort als soziokultureller Audruck von Widerstand wöchentlich praktiziert wird. Matamoros ist nicht nur als Zwillingsstadt von Brownsville, Texas, bekannt, sondern gilt als eine der gefährlichsten Drogenumschlagplätze der Welt. Wöchentlich proben 40 junge Männer eine zeitgenössische und popkulturell wiederangeeignete Version des Matlachines, des ‘danza de conquista’, im öffentlichen Raum. In diesem Tanz spiegeln sich indigene Praktiken, koloniale Narrative, Hip-Hop, Pop-Kultur und Spiritualität wider. Er ist als Geste für eine temporäre Gemeinschaft jenseits der hierarchisierten Ordnungen von Drogenkartellen und der Sehnsucht nach der US-amerikanischen Greencard, nach mehr Sicherheit und Zukunftsperspektive zu verstehen: “They don’t hold a weapon – just a shaker in their hand – Green, white, red, the colors of my land” (Zitat eines Hip-Hop-Songs aus Matamoros, Autor:in unbekannt). Der Tanz eignet sich eine Körperlichkeit mit maskulinen Attributen an, die sich deutlich von der toxischen Körperpolitik der militärisch und patriarchal organisierten Kultur der Drogenkartelle unterscheidet. Die Körper der Tänzer:innen dienen als eine Art symbolisches Schild im Kontext der gewaltgeladenen Grenzregion. Die Choreografie stellt jeweils drei- bis vierminütige Phrasen zusammen, in denen, so erklärt es Rodrigo de la Torre, “wie in einem Videospiel die Energie stetig und bis zum körperlichen Limit gesteigert wird, bis es zum ‘Break’ kommt, der den jeweils eine Minute andauerndern ‘Walk’ einleitet”. In den öffentlichen Auftritten tragen die Akteur:innen selbst gefertigte Rockschürzen aus Plastikbändern, Pailletten und ikonischen katholischen Heiligenbildern. Drei Aspekte werden in “Frontera | Border – A Living Monument” auf Akteur:innen aus verschiedenen soziokulturellen Kontexten und unterschiedlichen körperlichen Prägungen übertragen und stetig gequeert: der Tanz in seiner Funktion als Schutzschild, die hochenergetisch angelegte Assemblage von Bewegungsphrasen und Walks sowie die nach dem Prinzip des Upcyclings kreierten gemeinschafts- und identitätsstiftenden Kostüme. Im versteckten Score des historischen Matlachines zeigt sich so ein bereits angelegtes subversives Potenzial jenseits von eindeutigen Zuschreibungen, sei es Geschlecht, Herkunft oder Tanztechnik.
Man kann Amanda Piñas Inszenierung als ein performatives Manifest zur unabgeschlossenen Dekolonisierung im Tanz verstehen. Hier öffnen sich existenzielle Fragen: Wer ist mir freundschaftlich gesinnt? Wer ist bereit, mich zu verraten? Wer ist mir nahe, wer fern? Stets werden Ein- und Ausschlussprinzipien politisch wie ästhetisch neu austariert, systemische Ungleichheiten durch den Bezug auf Gegenwartskrisen freigelegt. Die Inszenierung zeichnet sich durch stetige Grenzüberschreitung aus: Als strukturelles und ästhetisches Prinzip werden verschiedene Stränge verflochten, die Hierarchien und Dichotomien von Tanzkulturen auflösen, ohne dabei partikuläre Kontexte, konfliktreiche Szenarien und Mythen einer globalisierten, neoliberalen und -kolonialen Welt auszulöschen. T
Amanda Piña Frontera | Border – A Living Monument
Amanda Piña Endangered Human Movements Vol. 4, Danza y Frontera
Undoing Hierarchies of Knowledge
Radouan Mriziga on indigenous teachings
In 2019 Moroccan choreographer Radouan Mriziga started working on a trilogy of performances inspired by the culture and history of the Imazighen*, the indigenous people of North Africa. He will be bringing the second part of the trilogy “Ayur” to Tanz im August. Gurur Ertem converses with him about the trilogy and his personal ties to the Imazighen people.
Gurur Ertem: Radouan, what are the departure points for your creations?
Radouan Mriziga: All my work deals with the knowledge that the body and dance can hold. Our societies are built around specific ways of perceiving knowledge. I start with the question of how dance can be at the centre and not at the periphery of knowledge. In my earlier pieces I was creating spaces using my body and relating dance and choreography to architecture. Now I am delving into what I call Amazigh studies, and linking my previous enquiries to another kind of knowledge; not only in space, but in time-space. I am Amazigh myself.
GE: What does it mean to be an Amazigh for you, and when and how did you find out you were one?
RM: I did not find out. I was always an Amazigh.
GE: So you grew up in that cultural community.
RM: We grew up as a people who know they are Amazigh because our parents are Amazigh. I spent my childhood in the countryside in Morocco, and my grandparents only speak the Amazigh language. Some of us, like my grandmother, don’t even speak Arabic. But in Morocco, it’s very complex. We cannot project Europe’s situation on to Morocco. There is no such a thing as each community onto itself, and there is no separation of origin.
GE: Is the Amazigh language a recognised language?
RM: Yes, now it’s recognised as an official language. In my case, I don’t even question that I am an Amazigh. I never had to either claim it or refuse it.
GE: I was asking this question because I was seeking a comparison with Turkey, where I’m from. It too is very complex. People have been adopting or have been forced to adopt the language of the sovereign. Because what’s a Turk anyway? It’s neither an ethnic group nor a race. It’s more of a language group. People adopt the official language, just as they adopt a passport and the nationstate. So I was curious about how the Amazigh communities were not forced to assimilate into a particular nationstate or adopt an official language.
RM: Well, in a way, they were not actively but passively forced to assimilate into Arabic culture. For a long time the official language was Arabic, and Amazigh history was completely absent from the history books. You could not give your children an Amazigh name … But conversely you also find Amazigh people in positions of political power. It’s interesting; they can keep their identity and speak their language, they’re committed to their cities, but at the same time they collaborate with the general status quo. With my work I seek to not only focus on the story of North Africa but also to question something universal: how certain groups of indigenous people and a specific kind of knowledge is denied or pushed away. It’s a global problem, and it’s a question of knowledge in general. Here, in my trilogy, I take the Amazigh perspective as a way of looking at how these indigenous people survived throughout history. They kept their identity and they hold their knowledge in non-traditional mediums. It’s not like academic knowledge; they are not writing about their history. Rather, they keep their stories in their bodies, in their art, in their crafts and performances, and in their storytelling. For me it’s more about taking them as an example of survival rather than an example of victimhood.
GE: So it’s an excellent example of the nonperishability and resilience of nonacademic, immaterial knowledge. It gives hope about how nonmaterial knowledge, like movements and gestures, can survive
© Pol Guillard