Erinnerungen

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Erinnerungen

AndrĂŠ Klein / Sommer 2003 / Berlin


I. Rahmen II. Abschied III. Luftlinie IV. Der Kerker V. Das Tagebuch VI. Die Höhle VII. Der Traum I. Rahmen 8:30 Der Wecker klingelte. Zeitgleich mit dem zweiten Rasseln saß Frau Grubach aufrecht wie eine griechische Tempelsäule in der linken Hälfte des alten Ehebetts. Das geblümte Nachthemd fiel wie ein formloser Sack an ihren Seiten herab. Der Alltag rief. Sie bewegte ihre müden Füße auf den Boden und schlüpfte in ein Paar grüne Filzpantoffeln, mit denen sie das Schlafzimmer verließ. Anschließend durchkreuzte Frau Grubach das Wohnzimmer, um auf dem kürzesten Wege zur Küche zu gelangen und schaltete im Vorbeigehen den Fernseher an. Die glühende Kiste pumpte flackernde Bilder in die kalte Wohnung. “.. jetzt schon Ihnen gehören. Rufen Sie an!” Der alltägliche Schluck bunter Ersatzwelten. Frau Grubach hatte den Frühstückstisch bereits am Abend zuvor gedeckt. Teller, Gläser, Eierbecher, Löffel, Messer und Servietten, von allem jeweils zwei Stück Fünfzehn Jahre lang hatte sie jeden morgen den Tisch für ein zweisames Frühstück bestellt. Seit Erwins letztem Anfall waren nun schon ein Jahr, zwei Monate und ein paar zerquetschte vergangen. Doch Frau Grubach konnte sich einfach nicht von diesem morgendlichen Brauch trennen. Erwin saß nicht mehr am Tisch aber der Schein schien ihn zu überdauern. Der Fernseher füllte die leere Wohnung mit schnellen Worten. “Eine 24-karätige Taschenuhr aus der Windsword Manufaktur, eine originale Nachbildung des Modells, wie es Prinz Chuckley von seiner Gemahlin zum Hochzeitstag...” Erwin war ein einfacher Mensch gewesen. Er hat seine Arbeit geliebt, draußen am Stadtrand, in den Feldern. Im Sommer ist er manchmal sogar so lang draußen geblieben, dass ich oft alleine essen musste. Aber ich hab es ihm gegönnt. Immer ist er mit seiner alten Suzuki davongeknattert. Vor ein paar Jahren hab ich sie verkauft. Erwin hatte sie geliebt. Jeden Sonntag musste sie geputzt werden. Noch vor dem Frühstück stellte er sich in den Innenhof, samt Eimer und Lappen, ein fröhliches Pfeifen in den Backen. Oh ja. Erwin war ein außerordentlicher Mann. Meine Mutter hat schon immer gesagt. “Der Erwin, das ist so ne richtige Persönlichkeit. Der sollte inne Pollitick gehen.” Aber er war stets zufrieden gewesen mit seinen Beeten und Sträuchern, jedenfalls bis zu dem


Tage, an dem er seinen ersten Anfall hatte. Er kam sonderlich spät nach Hause. Seine Hände waren aufgeschürft und er redete müde, halbe Sätze. Er hatte während der Fahrt einen Anfall gehabt, erst die Kontrolle über die Steuerung, später das Bewusstsein verloren. Ich ließ ihn schlafen aber am nächsten morgen machte ich einen Termin beim Arzt. Erwin witzelte über meine Besorgnis und traf dennoch zur vereinbarten Zeit ein. Als er wieder nach hause kam, fiel er schlaff aufs Sofa. Erst als ich ihn darauf ansprach, erzählte er mir von seinem Gespräch mit dem Doktor. Er dürfe nicht mehr Motorrad fahren, wegen dem Blutdruck. Aber er hätte Pillen bekommen, zur Vorbeugung. In den folgenden Wochen blieb die alte Suzuki angekettet, während Erwin auf dem Sofa lag und durch halboffene Augen auf die Mattscheibe starrte. Wenn er nicht dort lag, war er entweder auf der Toilette oder beim Arzt. Einmal in der Woche musste er in die Praxis, zur “Wartung” wie er es immer nannte. Die Termine häuften sich, während Erwin brav seine Medizin schluckte und sich auf dem Sofa fläzte. Ich weiß nicht wie lange es noch so gegangen wäre, wenn sich nicht eines Tages die politischen Verhältnisse unseres Hauses geändert hätten. Im ersten Stock, neben den Briefkästen, hing die Tafel mit den neuesten Meldungen. Herr Gilbach, Vorsitzender der häuslichen Mieterversammlung war zurückgetreten. Alle Nachbarn wurden aufgefordert, sich bei der anstehenden Neuwahl zu beteiligen, indem sie erste Kandidaten vorschlugen. Ich schrieb einen offiziellen Brief und nominierte meinen müden Erwin. Seine Faulheit war nicht länger zu ertragen. Als ich ihm am nächsten Tag davon erzählte, dass er einer der Kandidaten sei, starrte er bloß weiter in den Fernseher und schüttelte müde den Kopf, als wolle ich ihm Aufgewärmtes von Gestern anbieten. Da kam mir eine Idee. Ich sagte ihm in einem gleichgültigen Ton, dass er wahrscheinlich wirklich zu schwach sei, sich in seinem Alter noch einer solchen Herausforderung zu stellen, wo doch seine Krankheit so schlimm sei und er ja so leiden musste. Ich wartete nicht auf eine Antwort. Und siehe da! Er wandte seinen Blick vom Fernseher ab, schaltete ihn aus und wartete auf den Ausgang der Wahlen. Und er bekam seine Chance. Erwin wurde einstimmig angenommen. Vielleicht lag es daran, dass er schon früher bei Festen den Grill bedient hatte und durch seine Witzeleien und Geschichten vom Stadtrand aufgefallen war oder vielleicht war es auch einfach nur Anfängerglück. Jedenfalls hat sich mein Erwin schon nach kurzer Zeit richtig beliebt gemacht. Meine Mutter wäre stolz auf mich gewesen. Er ging weiter zum Arzt, verzichtete von nun an aber auf die Medizin. Ich erinnere mich, wie die reiche Frau Semper aus dem dritten Stock einmal Streit mit dem Hausmeister hatte und schon kurz davor war, wegen nem Rohrbruch ihren Anwalt zu rufen. Erwin hat die beiden über ner Tasse Kaffe versöhnt und dann haben die doch noch ne bessere Lösung gefunden. Oder als wir plötzlich Hochwasser hatten und die Keller unter Wasser standen da hat mein alter Löwe alles so organisiert, dass wir schon nach wenigen Stunden wieder im Trockenen saßen. Er konnte nicht selbst mit anpacken, aber war stets zur Stelle, um alle Schuftenden mit


Witz und Sticheleien anzutreiben. Er war nie zu ehrgeizig und erreichte das was er wollte fast wie von selbst. Ich kann mich an so viele gute Dinge erinnern, die er in seiner Zeit als Vorsitzender geleistet hat. Aber seine Gesundheit ging trotz allem langsam bergab, bis ihn der Doktor eines Tages endlich ins Krankenhaus verlegte. Im Laufe der Wochen drängten sich die verschiedensten Besucher um sein Bett, brachten Blumen, Schokolade und Beileid in kleinen Portiönchen mit. Auch Frau Yamlah, seine Stellvertreterin, kam regelmäßig vorbei, um ihrem erkrankten Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Erwin erzählte mir wie sie über den porös-gewordenen Konsens in den Versammlungen klagte. Seit er im Krankenhaus lag, fehle die treibende Kraft und die Meinungen strömten wild auseinander. Erwin lachte, aber wir wussten beide, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Eines Tages, ich wollte gerade den Müll runter tragen, da klingelte Frau Yamlah an meiner Tür, holte tief Luft und teilte mir zwischen Tür und Angel mit: “Frau, Grubach. Ich möchte ihnen keineswegs die Hoffnung nehmen, aber...aber es scheint höchst unwahrscheinlich, dass Herr Grubach in absehbarer Zeit seine Position als Vorsitzender der Mieterversammlung wieder aufnehmen wird. Es ist deshalb meine Pflicht als seine Stellvertreterin, gemeinsam mit den restlichen Mitgliedern die vorläufige Wahl eines Nachfolgers einzuleiten. Herr Greifhahn nominierte meine Wenigkeit. Ich teilte ihm mit, dass ich mich durch diese Auszeichnung sehr geehrt fühle, aber meine Position als Stellvertretende keinesfalls aufgeben wolle. Wie hat Erwin...Verzeihung...Her Grubach doch immer gesagt: Wer den Stellvertreter nicht ehrt, ist den Minister nicht wert. Der zweite Kandidat war Herr Weplen. Er nominierte sich selbst, verzichtete jedoch darauf, sich selbst auch seine Stimme zu geben, so dass er mit Null Punkten sofort gestrichen wurde. Da keine anderen Vorschläge mehr kamen und die meisten anderen entweder ihren Mann, oder gar keinen haben wollten, kam mir die Idee, Sie als Vorsitzende zu nominieren, Frau Grubach.” Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Als ich Frau Yamlah in die Wohnung ließ, einen heißen Kaffee aufgesetzt hatte und wir beide auf dem Sofa saßen, wurde sie plötzlich verlegen und sagte mir mit abgewandtem Blick, dass eine solche Ablenkung möglicherweise von großem Vorteil sein könnte, um den schweren Verlust hinter mir zu lassen und die Trauerarbeit zu beschleunigen. Zuerst war ich empört über ihre kühle Art. Erwin lag noch immer im Krankenhaus und sie behandelte ihn, als läge er schon unter der Erde. Trotzdem war ich einsam geworden, seit ich alleine in dem großen Bett schlief und vielleicht...vielleicht hatte Frau Yamlah Recht. Ich willigte ein. Und als ich dann eines Tages meine erste Versammlung hielt, war ich ernsthaft überrascht. Alle Anwesenden behandelten mich mit einem Respekt, wie ich ihn noch nie zuvor erfahren hatte. Von Anfang an war ich die Frau des alten Löwen und wurde in Allem unterstützt, bevor ich danach fragen musste. Als Frau Grubach das Geschirr gespült hatte, setzte sie sich vor den Fernseher und schaute die Zusammenfassung der Nachrichten. Krieg in Afrika, Krieg in Asien, Krieg in der Börse


Sie schaltete den lokalen Sender ein. Bilder einer Demonstration flackerten auf dem Schirm vorbei. Junge Menschen trugen Schilder mit Aufschriften wie, “Krieg dem Ultrakapitalismus“, “ONE world, NO system.”, oder ”Money makes the world go down” Frau Grubach erkannte im Hintergrund einen Supermarkt, ihren Supermarkt, in dem sie montagmorgens immer einkaufen ging, nur wenige Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Sie hielt inne. Als die Bilder plötzlich verschwanden und den Endspielergebnissen der Bundesliga Platz machten schüttelte sie den Kopf. Zum Glück war heute nicht Montag. Sie nahm einen Kugelschreiber von der Tischplatte und begann, die Tagesordnungspunkte für die kommende Versammlung aufzulisten: - Mülltrennung - Kabelfernsehen / Gebührenregulierungen - Planung eines Grillfestes - Fortsetzung der Kellerordnung Da fiel ihr der wichtigste Punkt erst ein, der nicht fehlen durfte und nun schon seit einigen Wochen zum festen Bestandteil der Sitzung geworden war. Sie werde ihn nicht auflisten müssen. Die anderen werden ihn mit Sicherheit vor allen anderen Themen erwähnen: Ich habe ihn erst gestern wieder im Treppenhaus getroffen. Fast jedes Mitglied der Versammlung hat etwas gegen ihn vorzubringen. Frau Lehmann, die direkt neben ihm wohnt, beschwert sich schon seit Wochen über den Geruch, der aus seiner Wohnung kommt, Herr Schwartz aus dem ersten Stock teilte uns mit, dass er ihn einmal frühmorgens schlafend im Treppenhaus vorgefunden hat, in einer Ecke zusammengekauert. Der junge Herr Greifhahn erzählte uns, wie er schon mehrmals versucht hatte, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen, um ihn kennen zu lernen. -Immer das Gleiche: Er klingelte, hörte darauf ein Poltern hinter der Tür, doch niemand öffnete. Frau Yamlah meldete der Versammlung, wie sie beobachtet hatte, dass er nur einen verbeulten Mantel zu besitzt, den er selbst bei schönstem Sonnenschein trägt. Und dazu kommt, dass er weder ein Namensschild an der Klingel, noch an seiner Haustür angebracht hat. Der Vermieter pochte auf das Datenschutzgesetz und wollte keine Personalien preisgeben. Wir sollten uns erneut mit dem Hausmeister in Verbindung setzen. Und wenn alle Stricke reißen, müssen wir wohl einen Brief an die Regionalverwaltung richten. II. Der Abschied In den Sommerferien habe ich im Zoo gearbeitet. Zuerst hatte ich keinen Bock, aber dann haben sie mich doch überzeugt. Am ersten Tag musste ich die Kacke der Eulen und Papageien wegfegen und ihnen neues Futter geben, damit der Besen auch weiter seine Arbeit tun konnte. Die Menschen wünschen sich immer wie ein Vogel zu sein, frei und heimatlos, aber die meisten sind doch wie die alten Insassen im Vogelkäfig, verwöhnt und am falschen Ort. Wie du siehst, hatte ich zwischen dem Füttern und Kehren viel Zeit mit meinen Gedanken zu spielen.


Am zweiten Tag durfte ich im Aquarium sitzen. Das war schön. Die Fische haben nicht viel Arbeit gemacht. Nur ab und zu ein bisschen Futter in die Becken streuen; das Grüne für die Kleinen, das Blaue für die Großen. Ich saß den ganzen Tag im Dunkeln und beobachtete die schillernden Fische in ihren beleuchteten Becken. In dem größten Aquarium schwammen viele verschieden Arten umher. Große Schwärme, winziger silber-grün schimmernder Fischchen zogen lautlos hinter dem dicken Glas vorüber. Ich frage mich aber immer noch, ob das ganze stumme Umhergeschwimme nicht sinnvoller ist, als die ganzen Dummheiten, die du und ich ständig tun? Eine verrückte Idee jagt die Nächste und wir kommen nicht hinterher. So wie die Affen, die es in meinem Zoo leider nicht gab. Die haben keine Angst den sicheren Griff zu verfehlen und von den Bäumen zu fallen. Aber das Geschrei mag ich nicht. Das erinnert mich immer an Dich. Du weißt was ich mein. Und eins sag ich dir: Ich werd so bald nicht wieder in den Zoo gehen. Da schau ich lieber in den Spiegel. Das Ganze lag viel weiter zurück, als ich ahnen konnte. Soweit meine Erinnerung reicht, finde ich überall das Selbe. Schon seit langem habe ich den Wunsch gepflegt, eines Tages alles zu verlassen und endlich meinen eigenen Weg einzuschlagen. Es war ein Spiel. Solange ich darin verschwinden konnte, war alles wunderbar. Ich erhob mich voller Tatendrang in die dünne Luft meiner Phantasie, verfing mich jedoch ständig in Nebensächlichkeiten, bevor ich einen Entschluss fassen konnte. Egal wie weit ich mich in meiner Vorstellung herauswagte; Immer wieder riss es mich zurück in den Alltag, auf dessen grauen Hintergrund mein Traum wertlos erschien, da ich nicht fähig war, ihn in die Tat umzusetzen. Ich musste endlich eine Entscheidung treffen. Ich saß auf meinem Bett und schaute aus dem Fenster, als ich mich wieder an all die verstreuten Momente erinnerte, in denen ich voll verzehrter Sehnsucht von einer fernen Heimat geträumt hatte. Eine Heimat, in der wir beide zuhause waren Zuhause sein sollten. Der Traum schien gleichzeitig mit mir auf die Welt gekommen zu sein. Er war das einzige, das sich beständig durch meine gesamte Vergangenheit zog; Ein roter Strang inmitten eines Ozeans zusammenhangsloser Ereignisse. Doch es geschah immer wieder, dass ich mir aus meinem eigenen Wunsch einen Strick zu drehen wusste. “Morgen...Gleich” Meine Vergangenheit war in den letzten Jahren zu einem hoffnungslos verhedderten Knäuel gewachsen. Je mehr ich versucht hatte, dem roten Faden zu folgen, und den Anfang meines Traums, meines eigenen Weges zu finden, desto mehr verfing ich mich in diesem Knäuel unerfüllter Absichten. Und erst jetzt bemerke ich, wie tief meine Freiheit begraben lag. Früher, viel viel früher, hätte ich eine Entscheidung treffen sollen.


Ich erinnere mich, wie ich damals, noch voll naivem Eifer, am Fenster saß, meine Pupillen in den Wolken badete und mir ausmalte, was sich wohl hinter den flauschigen Wänden verbergen würde. Ich träumte von straßenlosen Landschaften, undurchdringlichen Dschungeln, fremden Völkern, vielfarbigen Tieren und seltsamen Bekanntschaften - zwischen dir und mir. Die weichen Wolkengebilde schienen die Form meines Traums in sich aufzunehmen. Damals fand ich es schön. Aber es hat mich meinem Ziel nicht näher gebracht. Mein Ziel war der Anfang. Ich musste mir nur endlich einen Ruck geben. Ein Schritt würde auf den nächsten folgen, mich hinter sich lassen und dir näher bringen. Doch ich hatte es nie gewagt, den ersten Schritt wirklich zu tun. Ich umrundete die Erde ausschließlich in meiner Phantasie und versuchte meinen gekränkten Stolz mit selbstgemalten Bildern zufrieden zu stellen. Es war ein schäbiger Trost. Ich konnte mich nicht selbst belügen. Und doch tat ich es immer wieder. Eine dumme Ausrede folgte auf die andere, während ich erfolglos versuchte sie vor meinem Gewissen zu rechtfertigen und mich dabei ständig in neue Ausreden verwickelte, die wieder von komplizierten Netzen gestützt werden mussten, nur um den Schein vor mir selbst weiter aufrecht zu erhalten. “Morgen werd ich es tun! Ganz sicher!” Es war alles in Ordnung, solange ich mich nur konzentrierte und mir immer wieder neue Gründe einfallen ließ, aber es wurde zunehmend anstrengender. Das Knäuel wuchs schneller, als ich es entwirren konnte. Keine Begründung stand für sich, sondern war stets eingewoben in ein Geflecht konfuser Halbwahrheiten. Es wurde immer verstrickter und undurchsichtlicher, bis mein Drang sich eines Tages so weit aufgebläht hatte, dass es kein Zurück mehr gab. Ich musste handeln, bevor es zu spät war, bevor der letzte Tropfen Vertrauen in meinen Traum verschwinden und sich ganz dem Selbstmitleid übergeben würde. Die Verantwortung lag in meinen Händen. Wie gern hätte ich sie abgegeben, wenn auch nur einen kleinen Teil, aber dafür war es nun zu spät. Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mich besuchen kommst. Aber an deiner Stelle fand ich nur diese Karte in meinem Briefkasten. Zwei wulstige rosafarbene Engel hielten ein Herz mit der Aufschrift: “Lebwohl!” Ich stand am Fenster und drehte die Karte in meinen Händen. Die Rückseite war unbeschrieben. Ich wollte dich wiedersehen, wenn auch nur, damit du mir einen kleinen Rat, einen kleinen Hinweis geben würdest. NUR? Du würdest kommen und ich werde dir von meinem Plan erzählen. Du würdest mich bitten noch einmal über alles nachzudenken, nichts zu überstürzen, doch ich würde voller Entschlossenheit für meine Entscheidung einstehen, mich höflich für deine Anteilnahme bedanken und dir Lebwohl sagen. Das Geld für die Postkarte hättest du dir sparen können.


In meiner Enttäuschung wollte ich die glänzende Pappe erst zerreißen, steckte sie dann aber doch in meine Manteltasche. Ich konnte es selbst nicht glauben, dass mich diese billige Karte irgendwann einmal erfreuen sollte, dass sie in meiner Jackentasche, nah bei mir, besser aufgehoben sein sollte, als in einem beliebigen Papierkorb, aber da ich nicht ahnen konnte, was die Zukunft für mich bereithielt, so war ich doch froh über dieses kleine Andenken, diese letzte Verbindung zu einer halbvertrauten Vergangenheit. Ich stopfte ein paar Klamotten in meinen alten Bundeswehrrucksack, zündete mir eine Zigarette an und lief in die Küche. Wahllos öffnete ich ein paar Regale und schloss sie wieder. Nichts schien unentbehrlich. Ich bewegte mich in mein Badezimmer und ließ meine Augen hastig durch den Raum hüpfen, als ich plötzlich aus Versehen das Handtuch an der Wand herunterfegte und den Spiegel freilegte. Zwei dunkle, angespannte Augen saßen tief in ihren Höhlen und blickten mich voll mahnender Erwartung an. Ich erschrak. Mein Haar war länger, als es sich anfühlte. Bis auf die Schultern reichte es schon. Ich versuchte mich mit meinen Händen zu kämmen, stieß jedoch auf heftigen Widerstand, als sich meine Finger in einem filzigen Knoten verhedderten. Ich erhöhte die Kraft und riss meine Hand ein paar Mal hin und her bis ein paar Strähnen auf den weißgekachelten Badezimmerboden rieselten. Ich dachte an die Schere in der Küche und versuchte zu grinsen. Ich erschrak erneut, als mir mein zweidimensionaler Zwilling anstatt einem Lächeln einen kalten Ausdruck gelähmter Zerrissenheit vor Augen hielt. Feste borstige Haare sprossen ungleichmäßig aus dem rau-gezeichneten Kinn. Fast hätte ich Mitleid empfunden mit diesem scheuen, alten Tier. Auf der Oberlippe wucherte das schwarze Grass in ebenso willkürlicher Verteilung. Ich hatte schon genug Zeit verschwendet. Ich hastete in mein Schlafzimmer und tastete mit eiligen Blicken die Wände des dreieckigen Raums ab, als meine Aufmerksamkeit plötzlich auf die alte Holztruhe hinter der Tür fiel, die kaum mehr als solche zu erkennen war, da sie unter einem Berg muffiger Wäsche begraben lag. Mit einer Hand fegte ich die oberste Schicht herunter und klappte den eisernen Verschluss nach oben. Die Truhe war gefüllt mit einem Haufen alter Zeitungen. Dazwischen fand ich ein Paket Schrauben, einen hölzernen Bilderrahmen mit eingravierten Verzierungen, einen verbogenen Korkenzieher und einen Kunstlederbeutel, der mit Spielgeld gefüllt war. Ich wühlte mich durch die Ansammlung längst vergessener Besitztümer, als ich plötzlich ein altes Foto in den Händen hielt: Auf dem Bild standen zwei Reihen kahlgeschorener junger Männer in dunkelgrauen Uniformen. Von den Hintergründlern waren nur die Köpfe zu sehen. Ich suchte nach bekannten Gesichtern, aber sie schienen mir alle fremd. Da entdeckte ich in der linken Ecke einen Mann mit einer Trommel, der etwas abseits auf dem Asphalt kniete. Dieses Lächeln. Ich kannte ihn...irgendwie. Aber ich erinnerte mich nicht. Eine Frage quoll in mir hervor:


Wenn der Trommler wirklich erinnernswert sein sollte, wieso hatte ich ihn dann vergessen? Und wieso kam er mir dann so bekannt vor, wenn ich mich doch nicht erinnern konnte? Ich hatte keine Zeit für so was. Wütend warf ich das Bild zurück in die Truhe und wollte sie gerade wieder schließen, als ich ein abgegriffenes rotes Büchlein unter einer vergilbten Zeitung entdeckte. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich es her hatte, wie lange es schon in der Truhe gelegen haben musste, aber es rief ein unbestimmtes Gefühl in mir auf, das sofort widerlegt wurde, als ich das Buch öffnete. Ich blätterte in seinen Seiten und klappte es enttäuscht wieder zu, als ich bemerkte, dass kein einziges Blatt mit Schriften oder Bildern gefüllt war. Die Seiten waren unnummeriert und von der Ersten bis zur Letzten boten sie mir nicht mehr zu lesen, als die leere Weiße des unbedruckten Papiers. Es könnte vielleicht trotzdem nützlich sein, um Erfahrungen festzuhalten, dachte ich mir, bevor sie in der Flut der aufkommenden Ereignisse in Vergessenheit geraten würden, wie schon so vieles. Mein stummer roter Reisebegleiter würde stets zur Stelle sein, um alles in sich aufzusaugen und zu konservieren. Ich packte in ihn meinen Rucksack und schloss die Truhe. Zeit ritt mein Gewissen. Eile drängte sich auf. Mein Traum war schon vor vielen Jahren losgegangen und wenn ich ihn einholen wollte, so musste endlich der erste Schritt getan werden. Ich bewegte mich in den Flur, stülpte ein Paar Wanderschuhe über meine Füße, warf einen letzten Blick zurück und ehe ich mich versah, stand ich da... - mit einem Fuß in der Türschwelle. Es roch nach Gemüseeintopf. Ein Blick fiel auf die Fußmatte meiner Nachbarin: Rot-geschwungene Buchstaben, umringt von grünen Verästelungen blickten mich hämisch an: “Home sweet Home!” Ein Instinkt war sofort zur Stelle und mahnte mich, umzudrehen. Leider war ich mir dessen bewusst, dass dies meine letzte Chance sei und es mir an Überzeugung mangelte, jemals einen zweiten Versuch zu unternehmen. Also drehte ich den Schlüssel im Schloss und stieg die Treppen hinunter. Im ersten Stock hörte ich plötzlich eine raue, männliche Stimme: “Sie haben es ja immer schon gesagt. Haben sie sich schon mit den Anderen beraten? Eine energische Stimme antwortete ihm: “Ja. Das ist das einzige, wo sich wirklich alle einig sind. Nur Herr Greifhahn meinte, man sollte mehr Rücksicht auf seine persönlichen Umstände nehmen, über die wir ja so gut wie nichts wissen. Aber lang kann es nicht mehr so weitergehen. Wer keine Rücksicht nimmt, bekommt auch keine, hat mein Erwin immer gesagt. In der letzten Versammlung haben wir jedenfalls alles endlich mal schwarz auf weiß festgehalten. Die Liste ist schon sehr lang, schaun Sie. Sogar der alte Herr Weplen hat sich eingetragen. Aber hier auf der Rückseite ist noch Platz, wenn Sie vielleicht noch etwas hinzufügen möchten?” “Oh ja. Ich habe da schon eine Idee. Kommen Sie doch in meine Wohnung, trinkn wir ‘n Kaffee und gehen alles noch mal durch.” Ich hielt inne und wartete auf der Treppe, bis die beiden in der Tür des Hausmeisters verschwunden waren. Ich habe es immer geahnt, dass ich bei meinen Nachbarn nicht sehr beliebt war. Ich musste der einzige Bewohner in diesem Haus gewesen sein, der nicht an einer einzigen Versammlung oder Grillparty teilgenommen hatte, obwohl sich die Einladungen in meinem Briefkasten häuften.


Ein junger Mann hatte sogar ein paar Mal an meiner Tür geklopft. Durch das Guckloch habe ich ihn einmal, zweimal, dreimal voll dummer Zutraulichkeit warten sehen. Eines Abends wollte ich die Tür fast schon öffnen, als...Du...Ich... Aber nun konnte es mir ja auch wirklich egal sein, was sie alle von mir dachten. Ich hatte meine Abreise zum richtigen Zeitpunkt beschlossen. Als ich endlich auf der Straße stand und die Sonne fahl durch graue Wolken schimmerte, war ich fast einverstanden mit meiner Entscheidung. Seit ich mich erinnern kann, habe ich mit dem Gedanken gespielt, doch es war nie mehr als ein Spiel, im Schatten erwachsener Verbohrtheit ad absurdum geführt. Kurz bevor ich entschlossen war, schlich sich immer noch ein Zweifel ein, suchte nach Gegenargumenten und fand Gegenargumente zu Gegenargumenten. Doch ich hatte einen wackligen Entschluss gefasst und nun war der erste Schritt wirklich getan. Sollte ich nicht jetzt schon voller Vorfreude sein? Ich griff in meine Jackentasche und zog die Zigarettenschachtel heraus. Sie war leer. Ich zerknüllte sie in meiner Faust und warf sie vor mir auf die Straße. Eine Frau mit zwei prallgefüllten Einkaufstüten warf mir einen missbilligenden Blick zu, öffnete den Mund, schüttelte dann jedoch nur den Kopf und schleppte ihre Gewichte weiter den Bürgersteig entlang. Hätte sie etwas gesagt, so wäre ich vielleicht bereit gewesen, mich zu bücken und die Schachtel aufzuheben, aber so ging auch ich einfach weiter und hatte sie ein paar Atemzüge später schon wieder vergessen. Als ich an einem Zigarettenautomaten vorbeikam, machte ich kurz halt, um meine Münzen zu zählen. Plötzlich tauchte ein Junge mit einer schwarzen Baseballmütze hinter mir auf und krächzte in einer pubertierenden Kreidestimme:„Ey!“ Unten war er in eine riesige blaue Hose gehüllt, die keine Rückschlüsse auf die wahren Ausmaße seiner Beine zuließ. Oben trug er ein ebenso übergroßes T-Shirt mit einem rotblauen Buchstabengewirr auf der Brust. “Hast du n Euro?” Seine amerikanische Mütze thronte falsch herum auf einem verkraterten Aknegesicht. “Wozu brauchst du das Geld?” fragte ich leicht abwesend. “Kippen kaufen. Was meinst du, warum ich grad dich anlaber?” Ich sagte ihm, dass auch mir gerade noch eine Münze fehlte, um die Tabakindustrie zufrieden zu stellen. Der Junge zupfte an einem einsamen Barthaar, das an seinem Kinn baumelte. “Ach, vergiss es. Dann frag ich jemand anders.” Als der Junge auf der Stelle kehrt machte, kam mir eine Idee. Ich packte ihn an der Schulter und sagte: “Hier! Nimm meine letzten Münzen.” Der Junge schaute mich verwundert an und runzelte die Stirn, als spräche er nicht meine Sprache: “Ja, hier! Nimm!” Als ich nach seiner Hand griff, um ihm das Geld zu geben, wich die Verwunderung in seinen Augen plötzlich einem Ausdruck von nackter Furcht. “Nein, Lass mich! Ich muss zur Schule!” Und er rannte davon, fiel über seine viel zu große Hose auf den Bürgersteig, raffte sich sofort wieder auf und flüchtete die Straße hinauf, ohne ein einziges Mal hinter sich zu blicken. Da sah ich plötzlich ein paar Münzen auf dem Gehsteig glitzern.


Ich probierte ein Lächeln an, aber es stand mir nicht. Also hob ich das Geld auf und kaufte mir neue Zigaretten. Ich zweifelte, ob ich diesen glücklichen Zufall als eine erste Bestätigung sehen dürfte, während ich tief an der Zigarette zog und in den grauen Himmel starrte, - als ich plötzlich eine dumpf-grollende Schallwand durcheinander gewürfelter Stimmen zu hören glaubte. Ja, Es kam ganz aus meiner Nähe, aus der Richtung, in die der Junge geflüchtet war. Eiligen Schrittes ging ich die Straße hinauf, auf der merkwürdigerweise kaum ein Fahrzeug zu sehen war. Die Stimmen wurden immer lauter, bis sich mir von rechts plötzlich ein geschlossener Mob in einstimmigen Schlachtrufen entgegenwälzte. Kurz darauf brach ein Streit aus. Meine Beine wollten sofort davon rennen aber meine Augen und Ohren waren voll gelähmter Neugier in die Richtung des Mobs gerichtet. Mein Gehirn bestand darauf, die Rolle des Mittlers zu spielen, drängte sich jedoch zu heftig dazwischen und ließ mich gefrieren, als sich das Problem bei genauerem Hinschauen plötzlich von selbst löste. Schau an: Es war kein bis an die Zähne bewaffneter Mob. Nein! Ich atmete auf: Sondern ein Haufen, junger Frauen und Männer, die selbstgemalte Plakate in die Luft hielten und laut murmelnd in einen Rhythmus einstimmten, den ein überdrehtes Megaphon vorgab. “Deulann is gai Subamaad” Binnen wenigen Sekunden hatte mich die Vorhut erreicht. Ich sah den Megaphonträger mit den selbstvergessenen Augen eines neugewählten Rudelführers an mir vorbei streben und sich weiter in seine krächzende Flüstertüte erbrechen: “Deuschlant is kein Supamaat” Ich stand noch immer am selben Fleck. Unzufriedene Gesichter umgaben mich und schon strömten die ersten Plakate an mir vorbei. Ein Jemand hatte sich in einen dünnen Clown verkleidet, wie man ihn immer häufiger auf Bänken angekettet vor Restaurants sitzen sieht. Der Clown hielt eine Wellpappe mit schiefen Lettern in seinen weißen Handschuhen: “Omas Buletten statt Industriepaste” Hier und da tauchten buntbemalte Haarschöpfe auf. Da sah ich plötzlich eine Kamera an mir vorbei steuern, die auf dem Buckel ihres Trägers lastend, den Menschenstrom durchquerte. Ihr schwarzes, Teleskop-artiges Auge zog Aufmerksamkeit an, wie ein Magnet. Dort wo die Kamera hinschaute, verstärkten sich die Schreie für einen kurzen Moment, dort wurden die Plakate plötzlich mit neugewonnener Überzeugung in die Luft gerissen und die unzufriedenen Gesichter ereiferten sich in größtmöglicher Angespanntheit. Ein kahlrasierter Spross von nicht mehr als siebzehn Jahren präsentierte mit heroischem Grinsen seine unmutstiftende Wortwaffe: “Krieg dem Krieg”...Ein alter Witz, über den ich nicht mehr lachen konnte. Der Menschenstrom umspülte meinen Standpunkt, ohne mich auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Oder jagten sie bloß der Kamera hinterher, die nun ein Stückchen weiter vorne schwamm? Fünf Frauen in weißen, luftigen Gewändern bewegten sich zu meiner Linken an mir vorbei und ignorierten so offensichtlich meine Anwesenheit, dass es nicht zu übersehen war. Zwei von ihnen zogen Kinder mit halbverschwitzter Schminke an ihren Händen, die verwirrt


auf die Gesäße und Kniekehlen ihrer Mitdemonstranten blickten. Die anderen zwei hielten jeweils einen Stab, zwischen denen ein großes Stoffbanner gespannt war und mich in gestochen-scharfen Buchstaben informierte: “Vereinte Frau, e.V.: Das Land der unregulierten Möglichkeiten frisst unsere Kinder” Ich duckte mich unter dem Banner hindurch. “Deulann is gai Subamaaah” Das Megaphon krakeelte nun ein paar hundert Meter weiter die Straße herunter. Zwischen all den durcheinander wuselnden Köpfen, Brüsten, Armen und Beinen glaubte ich einen Polizeiwagen zu erkennen. Ein Sperrholzplakat segelte haarscharf an meinem Gesicht vorbei. Der Polizeiwagen folgte der Demonstration im Schritttempo. Ich hatte mich noch immer keinen Meter bewegt. Die Dichte der Demonstrierenden nahm langsam ab. Plötzlich entdeckte ich eine junge Göre, die einen Dackel hinter sich her schleifte. Der wurstfömige Hund trug eine überdimensionale Pappmaché-Tasse auf seinem Rücken, auf deren Seiten ein rundes Emblem aufgemalt war. Ein grüner Ring trug die Worte: “Sterntaler” in weißen Lettern. In der Mitte des Rings war eine stilisierte Figur zu erkennen, die mich an eine Meerjungfrau erinnerte. Ich glaubte eine kleine Krone auf ihrem Kopf zu erkennen. Ihr Haar fiel wellenförmig an den Schultern herab und ließ verdeckte Brüste erahnen. Als das Dackeltier an meinen Füßen vorbei hechelte, da entdeckte ich erst, dass ein kleines Skelett mit einer Sonnenbrille in der Tasse saß. Seine knöchrigen Arme waren lässig auf den Tassenrand getackert, während der Rest des fleischlosen Körpers ungelenk auf dem besattelten Dackelrücken hin und her rutschte. Der Polizeiwagen kam mehrere Meter neben mir zum Stehen. Nein! Er rollte immer noch, als plötzlich eine blonde Polizistin heraus hüpfte und sich in den Menschenteig mischte. Der Dackel schaukelte mit seinem Reiter die Straße hinunter und ich sah ihn zwischen Bäumen am Gehsteig verschwinden. Der Polizeiwagen beschleunigte wieder auf Schritttempo und folgte den letzten Schildträgern. Wie konnte es sein, dass all diese Menschen an mir vorüber gegangen waren, einfach so ... ohne etwas zu sagen? Nicht einmal die Polizei schien sich für mich zu interessieren, obwohl... Da bemerkte ich erst, dass ich in Gedanken losgelaufen war und mir kam eine Idee: Ich war anders als sie alle. Denn ich war auf dem Weg. Ich steckte mir eine Zigarette an und erwartete ein Gefühl der Erhabenheit, das sich jedoch nicht einstellen wollte. Allein der Gedanke an all die verstreichenden Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Monate, Jahre ließ mich in nagendem Selbstmitleid zurück. Ich war froh, wenn die Zeit reichte, um dir wenigstens ein Stückchen näher zu kommen. Mein Traum drängte mich weiter. Zuviel war schon Verloren. Ich hielt ein Taxi an, warf meinen Rucksack auf den Rücksitz und setzte mich neben den Fahrer, der ein kleines Pflaster an der Stirn trug. “Das is n Nichrauchertaxi” sagte er, während er auf den allgegenwärtigen Aufkleber mit der durchkreuzten Zigarette deutete. Ich öffnete die Tür und warf meinen Glimmstängel auf die feuchte Straße. Der Fahrer nickte und setzte den Wagen in Bewegung.


Als mich das Taxi vor dem Flughafen absetzte, fragte ich den Fahrer, wieso er gedacht habe, dass ich mit dem Flugzeug fliegen will. “Sie haben doch jesagt, sie wollen dorthin.” Ich hatte mehr von seiner Antwort erwartet. Vielleicht einen kleinen Hinweis, einen kleinen Rat. Also sagte ich nur: “Ja, ich erinnere mich.” und noch ehe die Worte richtig ausklingen konnten, stand ich schon vor der gläsernen Schiebetür des Flughafens und hörte das Taxi hinter mir verschwinden. III. Luftlinie Mein alter Bundweswehrkamerad lastete schwer auf meinen Schultern. Ich überlegte, ob es daran lag, dass ich so viel eingepackt hatte, oder ob ich nur schwächer geworden war seit damals. Ich stürzte mich in Schlaufen, Knoten für die eine, für die andere Seite, als ich mich plötzlich inmitten des Gedränges des Flughafens wieder fand und mein Gewissen mich mahnte, die nächste Entscheidung zu treffen. Ich steuerte auf einen Ticketschalter zu, hinter dem eine blaue Mütze schwebte. Eine Frau mit fettglänzender Schminke blickte mich durch lange, schwarze Wimpern an und rückte ihre Mütze zurecht. Sie schien darauf zu warten, dass ich meinen Mund öffnete. Ich fragte sie: “Haben Sie last-minute?” Sie blinzelte und antwortete mit Verzögerung: “Ähm. Ja, wir haben last-minute. Wo möchten Sie denn hin?” Ein verzücktes Lächeln auf ihren rot-bemalten Lippen. “Wurscht. Geben Sie mir einfach irgendein Ticket.” Sie blinzelte abermals und schaute mich vergebend an. “Ja, aber, ich muss doch wissen wohin sie wollen?” “Sie werden mein Ziel bestimmen!” sprach ich leise zu mir selbst. Es war mir einerlei wohin ich ging. Ich wollte nur weg, weiter weg von all den bekannten Orten, noch weiter weg von all den Alltagsfliegen mit ihren Stadtfesten und Mieterversammlungen. Weiter weg, weiter fort, näher zu dir. Sie räusperte sich und blinzelte gleich mehrmals hintereinander. “Ich verstehe das Problem nicht. Die Leute kommen hier an den Schalter, sagen mir wohin sie fliegen möchten und dann stelle ich ihnen eine Fahrkarte aus.” Ihre grünlackierten Fingernägel trommelten einen lautlosen Rhythmus auf der weißen Tischplatte. Ich seufzte und zeigte auf einen Flug nach Tokio, der bereits in zwanzig Minuten starten sollte. “Na also.” Die Ticketverkäuferin stürzte sich in Routine. : “Sitzplatz, Fensterplatz? Gepäck, Handgepäck? Erste, Zweite, Dritte Klasse? Kreditkarte, Sofortzahlung?” Der Drucker surrte unter der Tischplatte. Die grünen Fingernägel flogen durch die Luft, rissen meine Bordkarte mit einem RATSCH herab und setzten sie vor mir ab. Ihre Eigentümerin lächelte fleißig, beugte sich ein wenig über den Schalter, um einen kleinen


Kreis auf meine Karte zu malen und sagte freundlich, aber bestimmt: “Gate 23" Ich drehte mich um und machte mich auf den Weg. Als ich vor dem Wartesaal stand, kamen mir wieder Zweifel. Ich wusste zu wenig über mein Ziel, über Tokio, über Japan... Es wäre mir wirklich lieber gewesen, wenn die Frau mit den Wimpern einen Flug ausgesucht hätte. Dann hätte ich die Verantwortung leichter von mir schieben können. Aber so war es meine eigene Entscheidung. Nur ich konnte sie widerrufen. Es machte ja eigentlich keinen Unterschied und doch: Sollte ich nicht umkehren, solang es noch möglich war? Umnebelt von Gedanken betrat ich den vollen Wartesaal und hielt Ausschau nach einem freien Sitzplatz. Viele der Passagiere warteten bereits im Stehen. Ich entdeckte nur wenige Touristen unter ihnen. Die meisten schienen in ihr Heimatland zurückzukehren, alle mit ähnlich schlichten und unnahbaren Gesichtseindrücken. Dafür, dass sich so viele Passagiere in dem Saal befanden, war es verhältnismäßig ruhig. Geduldige Mienen umgaben mich und warteten ruhig auf die Ankündigung ihres Abflugs, als würden sie selten etwas anderes tun. Eine große Digitaluhr hing von der Decke und glühte informierend-grün: “15:58" Ich hatte mehr Zeit, als ich vertragen konnte, Zeit, die totgeschlagen werden musste, bevor sie mich in Bedenken wickeln konnte. An der längsten Wand des Wartesaals entdeckte ich einen Getränkeautomaten, auf dem das grüne Sterntaler-Zeichen klebte. Ich kam näher und suchte nach dem Münzeinwurfschlitz. Es gab keinen. Also drückte ich einfach eine Taste. Ein grünes Licht flackerte kurz auf und die Kaffeemühle kam auf Touren. Ich wartete, bis der Automat fertig gesurrt hatte und nahm meinen Becher heraus. Eigentlich trinke ich sonst keinen Kaffee. Trotzdem hob ich den Becher an meine Lippen und schlürfte das heiße Getränk in hastigen Schlückchen. Abermals schaute ich mich nach einem Sitzplatz um. Ich weiß nicht was ich erwartet hatte, aber es war nur noch voller geworden. Ich drehte meinen Kopf und beobachtete die eigenartigen, japanischen Gesichter, die wie leere Masken in der klimatisierten Luft hingen. Wie mochte es wohl sein ... -In Japan? Ich weiß nicht ob es an dem Nixenkaffee lag, aber für einen kleinen Augenblick lichteten sich die Sorgen. Es wurde heller. Glänzende Vorstellungen tauchten auf: Ich, auf der anderen Seite des Planeten ohne Kenntnis der fremden Sprache, allein auf mich gestellt, voller Tatendrang nach selbstlosen Idealen strebend. Ich sah mich inmitten unzähligen Japanern, die mir alle einzeln ihre Ehre erwiesen und mich, den fremden Krieger im Exil, mit Geschenken überschütteten und für all meine Mühen im Übermaß belohnten. In der Euphorie des Augenblicks schüttete ich den Rest meines Kaffees in einem Zug herunter. Wärme breitete sich aus und ließ meine Nervenenden in Wollust verkrampfen.


Manchmal kann ich sehr sensibel sein. Meine Finger zitterten in reger Vorahnung, als ich den dünnen Becher zum zweiten Mal auffüllte und noch ehe das dunkle Getränk meinen Magen erreicht hatte, lockerte sich das Sorgenknäuel ein wenig mehr. Ein paar Schlücke später wachten auch meine Beine auf und stimmten in den Takt ein, den meine zitternden Finger vorgaben. Ich musste mich setzen. Ich verlor jedoch schneller an Höhe, als ich es geplant hatte und stieß dabei einen alten Mann an, der bereits Wurzeln auf dem blauen Kunsthaarteppich geschlagen hatte. Sein bleiches Mondgesicht hatte die schmalen Augen geschlossen und öffnete sie erst, als ich sagte: “Tut mir Leid!” Der Alte lächelte friedlich und hob verzeihend seine linke Hand. Irgendetwas fehlte in seinem Gesichtsausdruck. Ich konnte nicht feststellen, was es war, und trotzdem störte mich die Abwesenheit nicht im Geringsten. Ja, im Gegenteil. Es hatte fast eine beruhigende Wirkung, auch wenn meine Muskeln unbeirrt weiter zitterten und nach mehr wohltuender Nixenessenz verlangten. Der alte murmelte etwas, das so klang wie “RAA-MEN” und seine Augen schlossen sich wieder; zwei schlicht-geschwungene Linien inmitten eines milchig-weißen Gesichts, die wie eine Überschrift zum Rest seiner unbedruckten, fast charakterlosen Merkmale wirkten. Meine Finger zitterten. ZU VIEL! Hilflos wandte ich mich meinen Blick zur Uhr. “16:11" Ich zog meine Bordkarte heraus, blickte auf die Abflugszeit und stopfte sie wieder in meine Manteltasche. Noch fünf Minuten. Ich erhob mich mit weichen Knien vom Boden, bewegte mich vorsichtig um den Alten herum und drängte durch die Wartenden zu meinem Automat hindurch, für einen letzten mutmachenden Schluck. Auf meinen Handflächen bildeten sich Schweißtropfen und ich stellte fest, dass meine Motorik gröber geworden war, als ich endlich meinen Becher in die kleine Luke manövriert hatte und meine gesamte Konzentration darauf fixieren musste, wirklich nur einen Knopf auf einmal zu drücken. Ohne Zweifel! Der Kaffee leistete gute Arbeit. Meine Finger zitterten schneller, doch ich spürte sie nicht mehr, da mein ganzer Körper bereits in mehreren Wellenlängen gleichzeitig ausschlug und ein Orchester der Elektrizität zu dirigieren schien, dessen Soli abwechselnd von meinem Herz und meinen Zähnen gespielt wurden. Eine weibliche Stimme klang aus Deckenlautsprechern: “All passengers flight JNA 634 to Tokyo, please get ready for boarding.” Es wurde wärmer und meine feuchten Finger spielten hektisch mit der Bordkarte in meiner Manteltasche. Die Masse im Raum rührte sich und bildete Schlangen, die am Eingang des Gates mündeten und von einer blaubemützten Frau hindurchgeschleust wurden, die die Tickets der Passagiere durch einen piependen Kartenleser zog. Instinktiv drehte auch ich mich in die Richtung, doch meine Beine folgten nur mit großer Mühe. Ich riss mich zusammen und als ich einzelnen Schrittes endlich den Anfang einer Schlange erreicht hatte, begannen meine Zähne unerwartet einen dramatischen Einsatz einzustimmen, der sich erst sanft heranbahnte und dann in wildem Stakkato in sich zusammenfiel. Eine nicht-japanische Frau vor mir, drehte sich um und warf mir ein Auge voll entsetzter


Schaulust zu. Ich packte mir mit beiden Händen an den Unterkiefer und drückte ihn nach oben, doch die Spannung bahnte sich einen anderen Weg. Meine Knie schlugen wild um sich und schienen eine Wendung einzuleiten. Als ich endlich den Schalter mit der blaubemützen Frau erreicht hatte und ihr zitternd meine zerknitterte Bordkarte überreichtet, tastete sie das Papier mit prüfenden Blicken ab. Sie zeigte auf meine Bordkarte: “Auf welchen Flug sind sie gebucht?” “Tokio. Hier steht es doch.” Nehmen Sie einfach meine Karte, reißen Sie das kleine Stück mit dem Magnetstreifen ab und schieben sie sie dann durch ihr kleines Gerät da.” Ich wollte nach meiner Bordkarte greifen und ihr es vorführen, aber sie entriss mir die grüne Pappe und sagte in einem Dunst von Schadenfreude: “Der Passagieridentifizierungscode fehlt.” Sie deutete auf einen schwarzen Fleck in der rechten, oberen Ecke der Bordkarte. Ich seufzte: “Ach so. Schaun Sie.” Ich hielt ihr meine Hand entgegen. “Mein Schweiß hat die Druckertinte verwischt. Alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung. Das schaffen wir schon.” Ich versuchte erleichtert zu klingen, aber mir wollte es nicht danach erscheinen, als wäre ich von meinen eigenen Worten überzeugt. Der Traum; Japan; Der Weg Ich ahnte Probleme auf mich zukommen. Ich wollte die Prozedur beschleunigen und so schnell wie möglich mein Ziel erreichen. “Nehmen sie doch bitte einfach meine Karte und füttern sie ihrer kleinen Maschine da, so wie bei den anderen Passagieren vor mir.” Die Frau rückte ihre blaue Mütze zurecht, gab mir ein Handzeichen zu warten und begann auf ihre Tastatur einzuhämmern. Tok-tok-tok....- taK! Tok-tok-tok...--tik, taK! Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen, wie du es damals empfohlen hattest und schaute über meine Schulter. Hinter mir wartete eine vierköpfige, japanische Familie. Die Frau war in ein glänzendes Seidenkleid gehüllt und hielt ein kleines, haarloses Kind auf weißen Armen. Ihr Mann trug einen schwarzen, faltenlosen Anzug mit einer diagonal gestreiften Krawatte, die vorbildlich in dunkel schimmernden Hosen steckte. Tok-tok-tok....- taK!.. Von ihrem zweiten Kind, sah ich nur einen schwarzen Schopf, dessen Gesicht nach unten gebeugt war und all seine Aufmerksamkeit einem tragbaren Videospiel widmete, das ab und zu synthetisierte Geräuschfetzen in den Wartesaal spuckte. blip, blip...IUUU...blip, blip..IIIUUU-dsüüü Langsam wurde ich ungeduldig. Meine Knie schüttelten sich. Ich musste mich mit einer Hand abstützen, als sich die Frau mit der blauen Mütze endlich von ihrem Bildschirm löste und mir trocken mitteilte: “Ohne Passagieridentifizierungscode kann ich sie nicht an Bord lassen. Ich darf bei ihnen keine Ausnahme machen, selbst wenn ich wollte. Bitte gehen Sie einen Stück zur Seite, damit ich die anderen Passagiere vorbeilassen kann!” Meine Zähne schlugen heftig gegeneinander und ließen mir keine Möglichkeit, der Frau zu widersprechen, als sie die japanische Familie hinter mir zu sich heranwinkte.


Ich ballte meine Faust in der Manteltasche und spürte Wut auf mich hereinbrechen. Mein zentrales Nervenorchester tobte in Disharmonie, türmte sich höher und höher, bis plötzlich ein leises Pfeifen meine Ohren erreichte und ich die letzte Geduld über Bord warf. Ich nahm einen kräftigen Schritt nach vorne, stolperte jedoch über mein linkes Bein. Das Videospiel des kurzen Japaners fiel piepend zu Boden, überschlug sich einmal, zweimal und verstummte plötzlich. Der Junge riss seinen Mund auf, bis von seinen Augen nur noch zwei schmale Striche zu sehen waren. Ein leichtes Rot bildete sich unter seinen Backen, und ich dachte er schäme sich, aber es verstärkte sich langsam, griff auf die Stirn über und sättigte sich in dunkleren Tönen bis der gesamte Kopf feuerrot leuchtete,...Stille..., als seine Stimmbänder plötzlich nachgaben und in einen markerschütternden Urschrei explodierten. Inmitten der allgemeinen Verwirrung, stapfte ich wackligen Schrittes hinter den Schalter und sah direkt in die Augen der Blaubemützten. Ich hörte mich mit zitternder Stimme sagen: “Sie verstehen nicht. Ich muss weg. Weiter fort!” Die junge Frau sprang einen Schritt zurück und nahm einen Telefonhörer von der Wand. Ich nutzte die Chance, schnappte mir meine Bordkarte, riss die kleinere Hälfte zitternd herab und wollte sie in den Kartenleser schieben. Doch es war nicht ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Schlitz war viel zu klein für die Karte. Sie passte nicht hinein. Ich legte die Bordkarte auf den Tisch, schlug mit der flachen Hand darauf, um sie zu glätten und versuchte es ein zweites Mal. Sie hing nun zur Hälfte in der Maschine und wurde dennoch nicht hindurch gezogen. Ich versuchte die Karte ganz hineinzustopfen, doch sie war schon zu verknickt. Ich wollte sie gerade wieder herausnehmen und zum zweiten Male glätten, als mich plötzlich zwei kräftige Arme von hinten packten und zu Boden rissen. IV. Der Kerker Der abrupte Gang der Ereignisse machte mir zu schaffen. Ich hatte mir eine Zelle immer ganz anders vorgestellt. Ich vermisste den modrigen Geruch, die weißen Schimmelpilze an unverputzten Wänden, die gelegentlichen Schreie, tief aus dem Inneren der Katakomben. Es ging alles viel zu schnell. Es war eigentlich ein normales Zimmer, nur dass der Boden gekachelt war und sich in der Mitte einem Abflussgitter entgegensenkte. Es gab ein anständiges Bett, ein Waschbecken, eine brillenlose Kloschüssel und sogar ein kleines Fenster, wodurch ein schmaler Lichtkegel in den quadratischen Raum fiel. Auf jeden Fall war es ein angemessener Ort, um sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Licht fiel auf mein Gesicht. Ich saß auf dem Boden und betrachtete jüngste Aufnahmen meines inneren Archivs, die im Gegensatz zu anderen Erinnerungen noch so klar und lebendig flackerten. Ich ließ sie immer wieder vor mir ablaufen, fand jedoch keinen brauchbaren Zusammenhang. Ich hatte mein Ticket bezahlt, Passagieridentfizierungscode hin oder her. Niemand verstand meine Situation. Ich hätte sie aber auch nicht erklären können, da ich die weitesten Ausmaße meines Plans selbst nicht zu erörtern wagte.


Vielleicht war es kindisch aber allein die Dringlichkeit war mir bewusst. All die Jahre, in denen ich faul auf eine Bestätigung gewartet hatte, anstatt mich endlich auf den Weg zu machen. Faden um Faden wickelte sich ineinander. Hätte ich keinen Kaffee getrunken hätten meine Hände nicht geschwitzt, wäre der Passagieridentifizierungscode lesbar geblieben, und ich wäre jetzt schon vielleicht in Tokio. Eine unausdenkbar formlose Vorstellung. Hätte, Hätte, Hätte! Nun saß ich hier und musste mich abermals mit den gleichen Dingen auseinander setzen. Wenn du mich an Stelle deines “Lebewohls” besucht hättest? Hättest du mich abgehalten oder ermutigt? Aber warum hattest du mir nicht gleich gesagt, dass du mich gar nicht sehen willst? Die Karte, diese billige Ausrede, war nicht deine Art. Ich erinnerte mich nicht an vieles. Aber ein paar Worte, die du mir damals formtest, waren einwandfrei erhalten. Es war der Moment, in dem du von mir gingst. Der Moment, in dem ich dich das letzte Mal sah. Du sagtest, es wäre einfach an der Zeit, in Frieden auseinander zu gehen. Nichts könne diese Entscheidung widerrufen, deshalb solle ich mir gleich die Mühe sparen. Ich weiß nicht, was damals mit mir los war. Ich habe dir nicht widersprochen. Ich habe nicht weiter nach den Gründen gefragt. Doch meine Erinnerung ließ zu wünschen übrig, in ihrem zersplitterten Zusammenhang. Ich beobachtete die Staubkörnchen in der Luft, wie sie für einen Moment vom Licht erhellt wurden und wieder im Dunkeln verschwanden. Es war alles schon so lang her. Ich erinnerte mich nur noch schwach an unsere Zeit. Nur wenige Bilder tauchten auf; eine Begegnung im Wald, du am Meer, ich in suchender Hingabe. Doch die Bilder waren vergilbt von all den Veränderungen, die seit damals geschehen sind; Durchzogen von Vergessenheit lagerten sie im dicken Eis meines Unterbewusstseins. Eine tiefe Schlucht tat sich auf. Mein Ich, das diese Bilder vor langem aufgezeichnet hatte unterschied sich zu sehr von meiner jetzigen Sicht der Dinge. Eine schaurige Ahnung durchzuckte meinen Körper. Wie gern wäre ich einfach aufgestanden und weitergelaufen, fort von meinen Sorgen, weg von all den Widersprüchen, die sich immer mehr voneinander entfernten, je länger ich darüber nachsann. Ich stand auf und lief hektisch von einer Wand zur anderen, als ich plötzlich das Rasseln des Schlüsselbunds vernahm, die massive Stahltür sich öffnete und zwei Wärter zu mir hereinkamen.

“Sie haben Glück. Die Administration erstattet keine Anzeige.” sagte der schmalere von beiden. Der Andere wartete in der offenen Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Rahmen. “Ihr Fall ist zudem auch nicht gravierend genug, dass wir ihn weiter verfolgen würden. Gerade in diesem Stadtbezirk gibt es wichtigere Probleme, wenn sie wissen, was ich meine.” Ein geöltes Lächeln flitzte über seine Lippen. Ich hörte mich sagen:


“Aber...Ich...Ich...bin auf dem Weg!” “Mein Herr...” sagte der Andere und schüttelte langsam seinen schweren Kopf. Der Schmale nahm den Dialog wieder auf: “Wir haben nicht die Zeit, uns um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Niemand ist verletzt und die Staatsanwaltschaft ist zurzeit überlastet mit wichtigeren Belangen.” Der Andere blickte auf seine Uhr und atmete schwer, als würde ihn die Situation zutiefst ermüden. Er öffnete seinen Mund und schien etwas sagen zu wollen, gähnte dann jedoch nur. Der Schmale schaute ihn nachsichtig an und wandte sich wieder meiner Verwunderung zu: “Folgen uns bitte zu Raum 24. Dort werden sie ihre mitgeführten Gegenstände zurückbekommen.” “Herein!” Der Schmale öffnete die Tür. Ich betrat den Raum, dessen hintere Wand mit sperrigen Stahlregalen zugestellt war. Zwei müde Augen kauerten hinter dicken Brillengläsern und maskierten ein Gesicht, welches auf verschränkten Armen inmitten eines papierbeladenen Schreibtisch lagerte. Es trug ein graues, zerzaustes Nest über der Stirn und erhob sich unerträglich langsam von der dunklen Tischplatte, als der Schmale ihm einen Zettel hinlegte und verschwand. Eine schleppende Stimme kam aus der Richtung des Schreibtischs. “Ich werde ihnen die Liste ihrer Besitztümer vortragen. Bitte bestätigen sie mir jeden einzelnen Eintrag, damit ich ihn abhaken kann. 1 Rucksack, Bundeswehrstandard.” Ich nickte. “Inhalt: Vier gestreifte Unterhosen, eine schwarze Cordhose, fünf Hemden, zwei Pullover, ein Kugelschreiber und ein rotes Buch ohne Titel.” [Ein Räuspern] “Korrekt?” Ich nickte zaghaft. “Ein schwarzer Mantel mit einem Loch auf der Rückseite, Zigarettenschachtel in der Tasche” “Ja.” Der Archivwart erhob seinen Körper noch langsamer als seinen Kopf und verschwand hinter den Stahlregalen. Ich hörte ihn in Gedanken zählen. Wenige Sekunden später tauchte er wieder auf und überreichte mir den Mantel und den Rucksack. Ich bedankte mich flüchtig und noch ehe ich in meinen Mantel schlüpfen konnte und den Rucksack aufgesetzt hatte, senkte der Archivwart seinen Körper wieder auf den Stuhl zurück, verschränkte seine Arme auf der Tischplatte und ließ seinen Kopf narkotisiert herabfallen. Ich stand alleine in einem hellgrünen Flur und nur wenige hundert Meter vor mir konnte ich schon den Ausgang erkennen. Ich setzte einen Schritt vor den anderen. Ich sollte dankbar sein, dass der staatliche Apparat nicht genügend Mittel zur Verfügung hatte, um sich meines, kleinen Fehltritts anzunehmen aber ich fühlte mich in meinem Stolz betrogen. Da übertrat man legal verankerte Grenzen, versuchte ohne Rücksicht sein Ziel zu erlangen und bekam nicht einmal eine Strafe, sondern wurde einfach freigelassen. Einfach So! Doch der Gedanke daran, dass ich wieder, endlich auf dem Weg sei, zeichnete die winzigste Spur eines Lächelns auf meine Lippen und ließ mich in Richtung Ausgang laufen. Neben der Rezeption am Eingang, war ein Berg von einem Mann an eine


Plastikschalensitzbank gekettet. Als ich durch die Schiebetür trat, trafen sich zufällig unsere Blicke. Ein unbestimmter Instinkt schien dem Häftling meine kürzlich erlangte Freiheit zu offenbaren, denn als ich an ihm vorbeiging, sagte er leise, als spräche er zu sich selbst: “Arschloch!” Ich ging nicht darauf ein. Ich musste weiter, weiter weg, weiter fort, näher zu Dir. V. Das Tagebuch Ich stieg die Treppen der Polizeistation herab und setzte mich auf die unterste Stufe. Ich blickte auf eine vierspurige Kreuzung, die im Schatten hoher Bürotürme lag und motorisierte Blechhaufen an Ampeln im Zaum hielt. Ich kramte in meiner Manteltasche und zog eine Zigarette heraus. Ich zündete sie an und pustete ungleichmäßige Ringe in die Abendluft. Plötzlich hüllte sich die Kreuzung in wildes Hupen, als eine Kolonne verschiedenfarbigster Wägen von rechts nach links rauschte. Blau-weiße Tücher flatterten an Radioantennen, Jugendliche lehnten sich aus heruntergekurbelten Scheiben und stimmten grölend in den holprigen Rhythmus ein. Die letzten Sonnenstrahlen glänzten an der Front eines spiegelverglasten Wolkenkratzers. Was nun? Ich griff in meine Manteltasche und fischte nach der Grußkarte. Ich fand meine Zigarettenschachtel und graue Staubbällchen. Nicht mehr? War mir die Karte vielleicht im Flughafen aus der Tasche gefallen? Der Archivwart hatte keine Pappe erwähnt. Den Rest meiner Sachen hatte ich wieder, nur das hochglänzende “Lebwohl!”, war nirgends zu finden. Ich warf meine Zigarette auf die Straße, setzte meinen Rucksack ab und leerte ihn vor meinen Füßen auf die Treppenstufen. Ein Haufen zerknitterter Klamotten fiel heraus. Ich durchwühlte ihn und fand den Kugelschreiber und das rote Büchlein wieder, aber keine Spur von deiner Karte. Ich war erbost über den Verlust, dachte aber gleichzeitig, dass es vielleicht so besser sei. Ich würde besser daran tun, erste Ereignisse meiner Reise schriftlich festzuhalten. Der nächste Schritt musste sorgfältiger angegangen werden. Ich fischte meinen stummen Reisebegleiter aus dem Rucksack, zückte den Stift, öffnete den roten Umschlag und hielt plötzlich inne. Die erste Seite war von einer krakeligen Handschrift bedeckt. Zögernd begann ich zu lesen. Die Erzählung klang wie der Praktikumsbericht eines eigenartigen Jugendlichen. Sie handelte vom Zoo, von Vögeln, Fischen und Affen, Faulheit und seltsamen Anspielungen. Ich erschrak. Ein paar Zeilen richteten sich direkt an mich. Es könnte Zufall gewesen sein, aber dazu passte es einfach zu gut. Eine glühende Neugier packte mich und ich krempelte meinen Bundeswehrkameraden um, durchforstete sein Inneres und fand auch sofort die eingenähte Plakette mit meiner alten Dienstnummer. Kein Zweifel! Das rote Büchlein lag geöffnet in meinem Schoss.


Ich blätterte die erste Seite um und erschrak erneut, als ich bemerkte, dass die wirre Schrift auch die Nächsten und die Folgenden Seiten füllte. Dazu waren überall unleserliche Notizen und Einschübe dazwischen gequetscht. Ich blätterte weiter. Die wirren Aufzeichnungen zogen sich durch das gesamte Buch bis hin zur letzten Seite. Ich schlug es zu und öffnete es wieder an einer zufälligen Stelle. Erinnerst du Dich? Damals war alles anders. Ich hatte unzählige Freunde, die Welt lachte mich aus allen Ecken an und ich war jederzeit bereit, gedankenlos in ihrem Rausch zu baden, als gäbe es kein Morgen. Nun sehe ich in allem mein trauriges Spiegelbild. Im Leid der Kleinen, sowie in den Lügen der ...Groben oder Großen .Ich konnte den Buchstaben nicht eindeutig entziffern. Meine Zeit ist voller Grenzen, voller Gedankenknebel. Aber ist es nicht die gleiche Zeit wie damals? Warum kann ich diesen Gedanken fassen, aber mich nicht mehr damit abfinden? Jeden Tag stirbt ein Teil von mir, mit jeder unerfüllten Absicht, mit jedem Aufschub auf ein Morgen, werd ich älter, wirst du härter. Diese Einsicht mag weise klingen, aber sie bedrückt mich zutiefst und lässt mir das Lied der Welt in der Kehle verstummen und ersetzt alles Vertrauen durch peinliche Zweifel. Wo, zwischen damals und jetzt liegt die Schwelle? Wann habe ich mich so unglücklich verändert? Du warst immer der Gleiche, wirst es für immer bleiben. Aber warum schweigst du, anstatt mir zu helfen? Ich bin allein, von allen guten Geistern verlassen. Bin ich deinen Rat nicht wert? Moment, da kommt mir ein Gedanke an damals, ein zerschlissenes Stück Erinnerung. Ein guter Freund bat mich um Hilfe und ich musste ihn vertrösten. Ich sagte, es tue mir leid, aber nur er selbst könne sich weiter nach vorne bringen. Jetzt sitze ich hier mit der Stimme meiner verlorenen Vergangenheit und finde keinen Zugang mehr zu meinen alten Worten. Ich muss mit ihnen lachen aber auf der Zunge bleibt ein Geschmack bitterer Ironie zurück. Lass mich allein! Ich muss nachdenken, zurückgehen in der Zeit und [unleserlich] umdrehen, jede Erinnerung durchdringen und nach Antworten suchen, die auch jetzt noch zu mir passen und nicht bloß blasse Aufzeichnungen eines [unleserlich] Ich [unleserlich], das mir nun so rätselhaft geworden ist. Bitte frag mich nicht. Die Antwort wird dir nicht gefallen. Ein Gefühl wie rauschend-heißer Wind durchströmte meinen Kopf und mein Puls beschleunigte sich. Das Geschriebene traf einen wunden Punkt genau in die Mitte. Es war, als würde das Buch genau das zu mir sprechen, was ich gerade am nötigsten hatte: Die traurige, nackte Wahrheit. Meine Finger zitterten. Eine unglaubliche Neugier drängte mich weiter zu lesen und kämpfte gegen eine schaurige Vorahnung an, die jedoch stärker war, den Streit gewann und mich gefrieren ließ. ZU VIEL! Ich versuchte gleichmäßig zu atmen. ABLENKUNG!


Mein Blick fiel auf ein großes Werbebanner, das von einem zehnstöckigen Gebäude herunterbaumelte und von zwei kräftigen Halogenstrahlern angeleuchtet wurde. In riesigen, goldenen Lettern prangte eine Aufschrift auf weiß-gekacheltem Hintergrund: “Gier macht Geil!” Eine blondes Mädchen räkelte ihren makellosen Körper in einer Badewanne, die bis zum Rand mit Münzen und Geldscheinen gefüllt war. Nur die offensichtlichsten Reize ihrer Kurven waren unter dem Spielgeld begraben, so dass gerade noch genug geschwungenes Fleisch zu sehen war, um die Aufmerksamkeit des Betrachters für eine Weile länger leuchten zu lassen. “Gier macht geil!” Nach einer Weile verlor ich die Lust und meine Augen rutschten wieder zurück in die Eingeweide meines Reisebegleiters, obwohl ich ahnte, was mich erwartete. “Damals!” DAMALS! Ein Finger klopfte auf meine Schulter. Ich erhob meinen Kopf und blickte einem uniformierten Polizist entgegen: Seine Handschellen glitzerten in der schwindenden Abendsonne. “Was haben sie sich dabei gedacht?” Er zeigte auf die Treppenstufen, die mit meinen Klamotten bedeckt waren. “Sie würden es nicht verstehen.” sagte ich mit gesenktem Blick. Der Polizist stemmte die Hände in seine Hüften, als wollte er mir zu Verstehen geben, dass er Zeit hatte. “Dann erklären Sie es mir!” “Ich bin auf dem Weg.” hauchte ich, doch der Polizist hatte es gehört und grinste. “Sind wir nicht alle auf dem Weg?” sprach er in einem romantisch-seufzendem Ton. Als ich ihn anblickte, schien er die Freude an seinem Sarkasmus jedoch plötzlich zu verlieren und teilte mir trocken mit: “Dennoch ist das keine Rechtfertigung. Räumen sie den Eingang, bitte!” “Nur noch einen Moment,....Ich will noch einmal...” “JETZT!” dröhnte sein Befehl. Er wartete, bis ich meinen Kram wieder eingepackt hatte und ereiferte sich in seiner höheren Stellung: “Mein Herr; Ich rate Ihnen, einen Frisör zu besuchen. Da fühlt man sich gleich ganz anders.” Er strich sich mit der Hand über seine spärlich besprossene Kopfhaut, als wollte er dadurch seinem Ausspruch den nötigen Nachdruck verleihen. “Ich kenne da einen ganz in der Nähe.” Er streckte seinen Arm an dem “GIER MACHT GEIL” Plakat vorbei in die Häuserschlucht und sagte: Einfach geradeaus, an der Ampel vorbei und dann direkt auf der linken Seite neben dem Hotel InterViva.” Ich murrte ein dumpfes “Danke” und stieg die Treppen herunter. Als ich über meine Schulter schaute, stand der Polizist noch immer an der gleichen Stelle und folgte meinem Gang mit wachsamen Blicken. Ich seufzte und lief langsam geradeaus, in die Richtung, die er mir gewiesen hatte. Nebensächlichkeiten. Was störten mich die Knoten in meinen Haaren, wenn das Knäuel in meinem Herzen alles andere überschattete? Noch immer stand ich am Anfang meines Weges und das Ziel war ferner denn je. Und mein Reisebegleiter hatte tausend neue Fragen aufgeworfen, mich in neue Bedenken gewickelt, anstatt mir zu helfen. Dieses seltsame rote Buch.


Ich hätte am liebsten auf der Stelle kehrt gemacht und es dem Archivwart zurückgegeben oder es gleich in den nächsten Mülleimer geworfen, aber ich wusste, dass ich es erneut aufschlagen würde und darin lesen müsste. Ich setzte einen Schritt vor den anderen und schleppte meinen Rucksack den Bürgersteig entlang. Es war schon fast dunkel. Die Neonlichter der Geschäfte kamen flackernd zum Leben. Ein kleiner Junge saß vor einem Spielzeugladen und stocherte lustlos mit einem Stöckchen in dem Bürgersteig, als auf einmal eine Frau heraustrat, mahnende Worte sprach und ihn von der Straße zog. Ich lief weiter geradeaus und hörte eine mehrtönige Piepsmelodie Als ich mich umdrehte, hastete plötzlich ein Stoßtrupp feiner Nadelstreifenanzüge an mir vorbei, dessen Anführer laut telefonierend in die Richtung zeigte, aus der ich gekommen war, und den Gang der Einheit beschleunigte. Noch ehe mein Hirn sie registriert hatte, verwischten sie sich in der Geschwindigkeit und ließen mich in einer Wolke teuer-riechenden Duftwässerchen zurück. Sie kämpften mit der Zeit, wie ich, aber ihr Kampf war nur des Kampfes wegen. Mein Kampf war der Zeit wegen. Ich war auf dem Weg. Wieder erwartete ich ein Gefühl stolzer Erhabenheit, doch meine Beine schmerzten. Die Sonne hatte sich bereits verabschiedet und dem milchigen Licht der Straßenlaternen Platz gemacht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte ich eine grüne Oase zwischen Betonklötzen. Ich lief über einen Zebrastreifen und glaubte die tief-aufheulende Beschleunigung eines Rennwagens hinter mir zu hören. Ich drehte meinen Kopf, sah jedoch nur einen tiefergelegten, alten Käfer, der sich knatternd davon bewegte. Ich seufzte und stand wieder auf dem sicheren Bürgersteig; den spärlich beleuchteten Park zu meiner Rechten. Ein kunstvoll geschwungenes Eisentor streckte mir einladend seine Pforten entgegen und führte einen verschlungenen Kiesweg über kleine Hügel zwischen Bäumen hindurch. Zulange war ich diesen Weg gegangen. Ein Urinstinkt trommelte mir von innen gegen die Brust; Ich duckte mich unter einer Tanne hindurch und verschwand im dunkelgrünen Geäst. Ich steuerte einen Punkt am Horizont an und lief auf einer geraden Linie in den Wald hinein, wie eine unwiderrufliche Zielrakete. Mein peripherer Sichtwinkel hatte sich ausgeblendet. Ich blickte stur nach vorne. Zwischen den Blättern sah ich ab und zu die weißen Lichter schimmern, die den breiten Kiesweg markierten. Meine Wanderschuhe zersplitterten trockene Äste unter ihren Gummisohlen, während meine Hände die gröbsten Sträucher beiseite bogen, um mein unrasiertes Gesicht vor scharfen Blattkanten zu schützen. Meine Augen sahen nicht weiter, als die ausgestreckten Arme reichten. Die weißen Lichter, die den Kiesweg beleuchteten, entfernten sich immer mehr, bis ich ihre Spur ganz verloren hatte. Nach einer Weile traf ich auf eine dichte Hecke, die mir bis kurz über den Kopf reichte und mit spitzen Dornen besetzt war.


Ich folgte der Hecke und suchte nach einem Durchgang. Bis jetzt hatte ich meiner Luftlinie treu bleiben können. Doch als ich dem dichten Gewächs folgte, krümmte sich die Hecke immer weiter nach innen. Nach einer langen Weile stand ich wieder am Anfang und mir wurde klar: Die grüne Mauer war in einem Oval angelegt. Ich zog meine Hand in das Futter des Mantels zurück und versuchte, durch die Hecke zu greifen. Doch mein Ärmel verfing sich in den Dornen und riss große Löcher in den alten Stoff. Die Büsche waren in ungefähr gleichgroßen Abständen nebeneinander in den Boden gepflanzt. Ich lief langsam um die Hecke herum und verlor mich in konstruktiver Ablenkung. An einer Stelle standen die Stämme zweier Büsche in etwas größerer Entfernung nebeneinander und ließen einen recht breiten Zwischenraum, durch den ich mich vielleicht hindurchzwängen könnte. Ich kniete mich auf den erdigen Boden und ging auf alle Viere. Wie ich es gelernt hatte, legte ich mich dann flach auf den Boden und robbte auf die Hecke zu. Meine Schultern waren schon fast auf der anderen Seite, als ich plötzlich hängen blieb. Mein Rucksack! Ich war so auf die unmittelbare Überwindung des Hindernisses fixiert gewesen, dass ich die Details völlig vergessen hatte. Ich schämte mich. Die Hecke hatte sich in meinen Rucksack gekrallt und ließ mich weder vor noch zurück. ZU VIEL! Ich stemmte all meine Kraft dagegen und drängte nach vorne, als die Riemen meines Rucksacks plötzlich nachgaben und ich mit der Nase voran in den feuchten Waldboden fiel. Als ich mich wieder aufgerafft und feuchte Erde aus meinen Atemöffnungen entfernt hatte, drehte ich mich um und erblickte, was von meinem alten Bundeswehrkamerad übrig geblieben war. Er hatte endlich ausgedient. Jämmerlich hing er in der Hecke und hatte meine Klamotten erbrochen, die nun aufgespießt in dem grünen Gestrüpp hingen. Ich griff mit einer Hand in das dreckige Loch, durch das ich gekommen war und wühlte nach meinem Reisebegleiter. Doch meine Finger bekamen nur braune Erde zu fassen, als ich auf einmal das Gewicht des kleinen Buchs in meiner Manteltasche fühlte. In der Erleichterung zogen es meine Finger heraus, bevor ich über die Konsequenzen nachdenken konnte. Ich öffnete es an einer beliebigen Stelle und hielt mein Feuerzeug über die Seiten: Heute war ein unglaublicher Tag. Die Strassen waren voller Menschen. Überall in der Stadt passierte es. Plakate, Reden, Musik und genug Wein für alle, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren. Es hatten sich die verschiedensten Menschen aus einem gemeinsamen Grund zusammengeschlossen, der ihre individuellen Träume und Ziele [unleserlich] verknüpfte, die Ängste und Wünsche des Einzelnen enthaltend und befreiend. Ich sage [unleserlich], da es mir beim besten Willen nicht möglich wäre, eine Erklärung zu finden, die der Zeit gerecht wird. Natürlich war ich mittendrin im Geschehen und habe an dem großen Traum teilgenommen. Ich habe mit Kindern Schach gespielt, mit Greisen Grimassen geschnitten, mit Professoren


getanzt und mit Irren... Mein Daumen brannte. Das Feuerzeug war zu heiß geworden Ich schüttelte es hektisch, wartete ein paar Sekunden und entzündete es wieder. ...diskutiert. Aber ich weiß nicht, warum. Es ist immer noch der gleiche Tag, der neue Moment. Vielleicht weiß ich es morgen. Oder ist dann vielleicht schon wieder alles vergessen und ich weiß so wenig wie du jetzt? Denn ich kann ja nur grobe Umrisse wiedergeben. Das Wichtigste fällt zwischen die Wörter, weißt du wie ich mein? Was rede ich da überhaupt? Du warst doch den ganzen Tag dabei, mittendrin im Geschehen. Deine eigenen Vorstellungen sind lebendige Bilder. Jede Erinnerung atmet ein, atmet aus. Und ich fürchte jedes Wort, das du hörst, prallt an dir ab. Ich schaue aus dem Fenster und sehe wie die Sonne sinkt, der Tag schwindet und mit ihm alle Bilder. Es ist wieder morgen und ich winke ab: “Nicht Jetzt.” Das Geschriebene war schwer zu verdauen. Es beschrieb eine Angewohnheit, die mir mehr als nur bekannt war. “Nicht Jetzt!” Für einen winzigen Augenblick, einen Flügelschlag eines Kolibris, sah ich plötzlich das gesamte Knäuel von außen und mein Leiden erschien mir aus einer neuen Perspektive. Ich wurde zum Zuschauer meines eigenen Dramas; ein Blitz der Klarheit durchzuckte die verschlungenen Windungen meiner Sorgen und ich fand echtes Vertrauen, doch noch ehe ich erleichtert aufatmen konnte, steckte mein Kopf wieder in einer Schlinge. Ich hatte die Hecke überwunden. Was tat ich hier? Ich durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Das Büchlein hatte mich abgelenkt und doch war mir dies erst beim Lesen klar geworden. Ich fürchtete und liebte meinen Reisebegleiter gleichermaßen und nahm verwirrt meinen Weg wieder auf. Die Hecke umrundete einen Durchmesser von circa hundert Metern. Der Boden war an wenigen Stellen mit spärlichen Gräsern bewachsen und senkte sich von allen Seiten der Hecke in die Mitte des Grundstücks herab. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre. Anstelle des Mondes war nur ein diffuses Glühen am Himmel zu erkennen, das von den Lichtern der Stadt auf die dichte Wolkendecke projiziert wurde. Ich entzündete mein Feuerzeug und schwenkte die winzige Fackel ein wenig umher. Der Boden wirkte ausgetrocknet und war an einigen Stellen von grauem Staub oder Asche bedeckt. Als ich mich ein paar Schritte von der Hecke entfernt hatte, merkte ich erst, wie steil das Gelände wirklich herabfiel. Der erdige Boden war von Wurzeln und Steinsbrocken durchzogen und schien sich immer tiefer hinab zu stürzen. Plötzlich ging mein Feuerzeug aus.


Ich wollte es erneut leuchten lassen aber das Zündrad war verschwunden. Wahrscheinlich war es zu heiß geworden, hatte sich aus der Fassung gelöst und aus dem Staub gemacht. Langsam wurde ich ungeduldig. Ich war dir immer noch kein bisschen näher gekommen. Jetzt rannte ich in meinem Wahn in einem Park herum, hatte ein erstes Hindernis überwunden und dabei sogar meinen Rucksack geopfert; aber zu welchem Zweck? Ich schämte mich meiner Ziellosigkeit. Hinter mir lagen die alten Traumlandschaften, die ich zu lange für tot erklärt hatte und trieben mich weiter nach vorne, in ihrem kindischen Drang nach Erfüllung. Vor meinen Füßen senkte sich der Boden immer steiler in die Erde hinab und ich musste mir eingestehen, dass ich dich sicherlich nicht in einer schmutzigen Grube finden würde. Ich war noch immer in der gleichen Stadt, auch wenn ich diesen Park noch nie gesehen hatte. Ich musste weiter weg, weiter fort, näher zu dir. Als ich mich umdrehte und eilig wieder nach oben klettern wollte, machte ich überstürzt einen falschen Schritt. Ein Steinsbrocken löste sich unter meinem rechten Fuß, mein Gleichgewicht geriet ins Schwanken, ich versuchte mich mit den Armen in der Luft abzustützen, verlor die Balance und stürzte. VI. Die Höhle Als ich die Augen öffnete brummte mein Kopf und es wurde kein bisschen heller. Es roch nach feuchter Erde und ich hätte nicht schätzen können, wie viele Meter ich gestolpert, geschlittert und gerutscht war, bis ich diesen Ort erreicht hatte. Meine Hände schmerzten von dem Aufprall und ich rieb meine Beine, an denen sich der Hosenstoff in Streifen gerissen hatte. Ich wandte meinen Kopf nach allen Seiten, aber das Bild blieb das Gleiche. Es wäre fast angenehm gewesen, so dunkel, so still, wenn ich nur ein Licht dabei gehabt hätte. Da sah ich plötzlich in einiger Entfernung vor mir ein grünes Leuchten. Warum war es mir nicht gleich aufgefallen? Ich stand auf und näherte mich dem Schein. Ein Teelicht ruhte in einer Nische in der Wand und ließ an seinem Docht ein grünes Flämmchen tanzen. In seinem limonenfarbenen Schein konnte ich die unmittelbare Umgebung näher betrachten. Ich befand mich in einem mehr oder weniger runden, grob ausgehauenen Gang, der aussah, als hätte sich hier vor nicht allzu langer Zeit ein riesiger Wurm hindurch gefressen. Ich entschloss mich dazu, diese Vorstellung nicht weiter zu verfolgen. Mit einer Hand wollte ich das Teelicht ergreifen, doch noch ehe ich den metallenen Becher berührt hatte, schrie ich laut auf. Der Ton vervielfachte sich und seine Zwillinge verliefen sich auf unterschiedlichen Längen in den Windungen des Ganges. Meine Finger schmerzten und dennoch konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob ich mich verbrannt oder verkühlt hatte. Ich schüttelte hektische meine Hand. Da erinnerte ich mich an einen Trick, den du mir damals gezeigt hattest. Ich atmete tief ein, hielt die Luft an und griff abermals nach dem Teelicht. Ich musste nur daran glauben. Und siehe da!


Nach kurzem Bangen hatte ich das Licht mühelos auf meine Handfläche manövriert und atmete erleichtert aus. Einzelnen Schrittes bewegte ich mich vorwärts durch den feuchten Gang, an dessen Seiten ich das Grundwasser schon zu riechen glaubte. Als ich bereits eine ganze Weile gelaufen war, fiel mir auf, dass der Gang auf einmal viereckig geworden war und hölzerne Pfeiler die Decke in regelmäßigen Abständen stützen. Verwundert blickte ich mich um und verschüttete aus Versehen ein paar Tropfen des grünen Wachs. Zum Glück blieben meine Finger von dem Zeug verschont. Ich schaute auf den Boden und bemerkte, dass hier und dort lange Holzplanken die Erde fliesten. Ich hielt das Teelicht tiefer und meinte zu erkennen, dass einige Platten viel älter und morscher waren als andere, die so wirkten, als kämen sie gerade frisch aus dem Sägewerk. Als ich mich weiterbewegte nahm die Dichte der Planken zu und schon bald war der ursprünglich erdige Boden nur noch zwischen den schmalen Ritzen des mehrtönigen Holzbodens zu erahnen. Plötzlich blieb ich mit meinem Fuß an einer überstehenden Planke hängen. Ich stolperte und das Teelicht schlitterte zu Boden. Die Flamme loderte ein letztes Mal auf und ließ mich dann im Dunkeln allein. Ich wollte mich auf den Boden setzen und in meinem Reisebegleiter lesen, zwischen den Zeilen nach Hinweisen suchen, aber auch dazu fehlte mir leider das Licht. Also breitete ich meine Arme aus, tastete mich mit den Händen an den Seiten des Gangs voran und lief vorsichtig weiter. Als ich mich gerade an die Dunkelheit gewöhnt hatte und in ihrer angenehmen Tiefe verschwinden konnte, sah ich plötzlich ein paar Meter vor mir ein grünes Flackern an der Wand. Ich glaubte zu erkennen, dass der Gang dort eine scharfe Biegung nach rechts einschlug. Die ganze Wand flackerte in limonenfarbenen Schatten. Als ich die Ecke erreicht hatte, schob ich vorsichtig meinen Kopf ein Stückchen nach vorne und schielte erst dann in die Richtung, aus der das Flackern kam. Der Gang endete an einer runden, eisenbeschlagenen Holztür, die in einen gemauerten Torbogen gefasst war. Vor der Pforte stand ein schwerer Schreibtisch, der seine Füße nach innen gekrümmt hatte. In den Nischen und Vorsprüngen der Mauern leuchteten bestimmt zwei Dutzend kleine Teelichter und bewegten sich sachte hin und her. Ein laues Lüftchen wehte mir entgegen. Ich ging langsam auf die Tür zu, als ich bemerkte, dass auf der gemaserten Oberfläche des Schreibtischs eine metallene Glocke ruhte. Instinktiv schlug ich mit der flachen Hand auf die Schelle und wich ruckartig zurück, als sich plötzlich eine Kapuze hinter dem Tisch erhob und ihren rechten Zeigefinger grüssend in die Luft streckte. “Ich habe dich erwartet.” sagte die Kapuze in einem seltsamen Ton, der herablassende Ironie und vertrauenswerte Achtung in einer haarsträubenden Mischung vereinte. Ein Fragezeichen nach dem anderen drängte sich auf, doch ich verwarf sie alle. Alle bis auf eins. Ich schaute in das schwarze Loch der Kapuze und hörte mich zitternd sagen: “Bist du es?” Die Person hob ihre Hand und streifte die Kapuze von ihrem Gesicht. Es war ein blonder, junger Mann mit einem ebenso blonden Drei-Tage-Bart. Er lächelte und der grüne Schein der Teelichter glitzerte in seinen dunklen Augen. Seine Mundwinkel senkten sich erst nach und nach und als sie endlich wieder ihre


ursprüngliche Position erreicht hatten, sprach er: “Ich ahne, welche Antwort dir am liebsten wäre. Auf der einen Seite würde ich dir den Gefallen gerne tun, aber auf der anderen würde dies nicht ganz der Wahrheit entsprechen.” Ich schaute ihn an, wie man eben jemanden anschaut, der sich einen üblen Scherz zur falschen Zeit erlaubt. Von meiner Reaktion beflügelt, nahm er seine Worte wieder auf: “Sagen wir einfach: Zu einem Teil bin ich der, den du suchst und zu einem anderen Teil bin ich es nicht.” Langsam wurde ich ungeduldig. Der Mann schien das schlechte Verhältnis zurzeit, das mir innewohnte, sofort anzumerken, denn er lächelte wieder und sprach: “Nun will ich dich aber auch gar nicht länger aufhalten. Du hast noch viel vor dir.” Er drehte sich um, schob einen Riegel an der runden Holztür beiseite und drückte dagegen, bis sich die Pforte quietschend öffnete und einen Spalt warmes Licht hinauswarf. Der Jüngling hob seinen rechten Arm und wies in die Richtung des Eingangs: “Wenn du eine Uhr dabei hast, bitte ich dich, sie gleich hier bei mir abzugeben, bevor du hineingehst” Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. Solange ich mein Buch behalten durfte. So zwängte ich mich also durch den Türspalt und trat in das warme Licht, als es meiner Erwartung plötzlich die Sprache verschlug. Ich befand mich in einer Art Ballsaal, dessen Wände sich hoch über meinen Kopf türmten. An den Seiten waren riesige Fenster auf die verputzten Mauern gemalt, die mit einer geschickten Spiegelung versehen waren, so dass die andere Seite im Ungewissen blieb. Eine leise Musik kam aus Lautsprechern, die ich nirgendwo entdecken konnte. Von der Decke hingen vier riesige Kronleuchter und schickten orangenfarbene Strahlen herab auf kleine, runde Tische, an denen Grüppchen von wohlgekleideten Männern und Frauen ihre Cocktails schlürften. Die Tische waren so situiert, dass die Gäste einen direkten Blick auf die längste Wand des Saales hatten, die von einem dunkelroten Vorhang verhüllt war. Die Männer steckten in dunklen Anzügen, die mit Krawatten versiegelt waren und die Frauen trugen helle, lange Kleider, die den glänzenden Marmorboden streiften. Zwischen den Tischen huschten ein paar Kellner mit zurückgekämmten Haaren umher und balancierten ihre Last über die Köpfe des Publikums hinweg. Ich blickte an mir herunter und sah meine zerfetzte Hose, meine verbeulten Schuhe und fühlte jedes einzelne Barthaare an meinem Kinn, als mir auffiel, dass ich noch immer wie verwurzelt im Eingang stand. Ich erblickte einen freien Tisch an der hinteren Seite des Saals, ging langsam darauf zu und setzte mich. Sofort war ein gestriegelter Diener zur Stelle und überreichte mir ein kunstvoll geblasenes Glas, welches die Silhouette einer Frau umschrieb. An ihrem Busen steckte eine Zitronenscheibe und dümpelte in einer orangenen Flüssigkeit. Noch ehe ich etwas sagen konnte, war der Kellner wieder verschwunden und ließ mich mit der gläsernen Frau allein. Plötzlich stieg das höfliche Getuschel der Gäste zu einem aufgeregten Murmeln an und einige SSSSHHTEN mahnend, als sich der schwere Vorhang langsam beiseite zog. Ein Scheinwerferkegel ruhte in der Mitte der Bühne und leuchtete einen Ständer aus, an dessen Spitze ein Mikrofon eingeklemmt war. Der Lichtkegel wanderte nach links und das Publikum brach in Beifall aus, als er mit einem


kleinen, haarlosen Mann wieder in die Mitte zurückkehrte und seine Glatze glänzen ließ. Auch er trug einen Anzug, die dunkle Uniform, an der jedoch keine Fliege oder Krawatte steckte und so verknittert war, dass man hätte meinen können, er wäre aus dem Bett auf die Bühne gestolpert, ohne die Kleidung zu wechseln. Die Glatze tippte mit dem Finger das Mikrofon. Ein dumpfes PLOK-PLOK hallte durch den Saal und wurde von einer kreischenden Rückkopplung gefolgt, die den Beifall der Gäste endlich verstummen ließ, da sie ihre Hände voneinander entfernen mussten, um ihre Ohren zu schützen. Die Glatze räusperte sich und sprach: “Es freut mich, dass wir heute Abend alle hier beisammen sind. Schaut euch an! All diese hübschen Gesichter!” Er hob seine Augenbrauen. “Aber nun gut! Genug der Schleimereien.” Ein kurzes hysterisches Lachen wanderte durch das Publikum und verstummte ruckartig, als der glänzende Glatzkopf fort fuhr: “So denn! Hier die erste Perle des Abends: Misstrauen aus allen Ecken Reservierte Blicke: “lieber nicht!” Wir spielen Vergessen und es hilft beim Verstecken. Erfahrungswert: “Jetzt Nicht!” Die letzten Worte hingen für einige Sekunden in der Luft, während die Gäste prüfend ihre Köpfe drehten. Als ein Herr neben mir auf einmal begann wild zu klatschen und auffordernde Blicke in den Saal leerte, in der Hoffnung, Nachahmer zu rekrutieren, wurden seine Bemühungen in einer markerschütternden Rückkopplung ertränkt. Die Glatze lachte. “Nehmt mich nicht zu ernst, liebe Freunde. Das war nur ein erster Test. Gut! Wo waren wir stehen geblieben? Ich bin, wo ich bin. Oder bewegt ihr euch, wenn ich grade nicht hinschaue?” Ein paar vereinzelte Grinser tauchten im Publikum auf, aber sie wirkten auf mich wie aufgesetzt. Die Glatze schüttelte sich enttäuscht im Lichtkegel. “Ihr habt den zweiten Test leider nicht bestanden...Von dem ersten will ich gar nicht erst sprechen. Und deshalb lasse ich Nummer Drei gleich weg und fange sofort mit dem Hauptgang an. Das Publikum schwieg und die Glatze fuhr fort: Ich will euch heute die lang verschollenen Memoiren eines rauen, alten Soldaten vor Ohren führen. Der Text stammt aus seinen frischeren Tagen. Ich darf nicht zuviel verraten, aber wundert euch nicht, wenn die Aufzeichnungen zum Teil seltsam übertrieben scheinen. Das ist der Drang der Jugend!” Die Augenbrauen des Redners spannten sich, er atmete tief ein, hielt für einen Moment inne und erhob seine Stimme: “Vor vielen Jahren stand auch ich im Dienst des Vaterlandes. Es war meine eigene Wahl, alles zu verlassen und Freiheit gegen Pflicht einzutauschen:


Am Anfang war ich überglücklich mit dem neuen Leben. Ich schlief mit meinen Kameraden im selben Zimmer, sang mit ihnen unsere Lieder, trug dieselben Kleider und war niemals allein.” Wenn wir uns lobten, wenn wir uns drohten, wenn wir gemeinsam gehorchten. Das Wir war unser Antrieb und zugleich tröstende Zuflucht. Die Bühne glühte mit den Reminiszenzen junger, verträumter Jahre. Während ich an meiner Orangenfrau nippte, fragte ich mich, ob wohl schon jemand meinen alten Kamerad in der Hecke gefunden hatte. Aber dieser Zusammenhalt war nicht bedingungslos gegeben, das spürte ich immer wieder. Übertrat ein Kamerad die ungesprochenen Grenzen, sprach er unbedacht ein falsches Wort zur falschen Zeit, so wurde er ohne Vorwarnung aus dem Bund gelöst. Auf der Glatze perlten Schweißtropfen, die im Rampenlicht glänzten. Ich schaute nach oben und versuchte die Höhe des Saales einzuschätzen. Ich wusste mich stets anzupassen und kümmerte mich mit verstreichender Zeit immer weniger um meine eigenen Meinungen, meine eigenen Ansichten. Ich nahm die Zitronenscheibe von meinem kurvenreichen Glas und saugte daran. Und dennoch habe ich in meiner recht kurzen Zeit in der Einheit so einige Fälle mitbekommen, in denen einst beste Kameraden, der Trommler Siggi zum Beispiel oder der Witzbold Carlos, plötzlich an die Peripherie des Wirs rutschten und dann allmählich ganz heraus fielen.” Man redete nicht mehr über den Abtrünnigen, alle Erinnerungen waren auf einen Schlag verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Als die Zitronensäure langsam meine Schleimhäute betäubte, begann mir die Geschichte irgendwie zu gefallen. Gerade an Siggi sind mir viele Erinnerungen geblieben, die auch ich nur im Geheimen weiter erhielt, aus Furcht vor der Einheit, meiner Einheit. Doch Einigen, denen es so erging wie ihm, hielten sich nach ihrem Ausschluss trotzdem noch weiter in den Kasernen auf, schlichen einsam umher und versuchten verzweifelt einen neuen Zugang zu der geschlossenen Gruppe zu finden. Die Glatze räusperte sich und sprach mit neugewonnenem Antrieb: Die Verräter, wie sie genannt wurden, wenn kein Weg drumherum führte, waren bereit, alles zu geben, um wieder in die Einheit aufgenommen zu werden und wir machten uns einen Spaß daraus, immer gemeinere Spiele der Erniedrigung zu erfinden. Erst versprachen wir ihm, er würde bald schon wieder dazugehören, er müsse nur dies oder jenes als Zeichen seiner Reue über sich ergehen lassen, willigte er ein und ließ geschehen, verspotteten wir ihn und liefen lachend davon. Das Wir war alles was wir hatten und ein Leben außerhalb war auch für mich nicht vorstellbar. Ich warf die ausgesaugte Zitrone zurück ins Glas und schüttelte entsetzt den Kopf. Ich war immer friedlich gewesen, solange ich mich erinnern kann. Jedenfalls habe ich nie jemanden mehr gequält, als mich selbst. Das Traurige daran war, dass die armen Teufel immer wieder auf die kleinste Hoffnung reagierten, nach der winzigsten Chance griffen, in ihrem blinden Drang nach fester Zugehörigkeit. Ich weiß nicht, ob die Oberen etwas von alldem mitbekamen, was zwischen uns geschah. Sie schienen jedoch auch nie zu früh einzugreifen und mahnten uns erst, wenn der Gequälte schon so tief erniedrigt war, dass er sich selbst kaum wieder erkannte. Die meisten Verräter hielten dem enormen Druck nicht lange stand und wurden schon bald aus den Listen gestrichen. Man riss ihr Namensschild von der dunkelgrauen Uniform und reichte sie an die Rekruten weiter, die noch voll eifriger Vorfreude in den Dienst traten.


Nach einigen Jahren, in denen viele von uns ausschieden, aufstiegen, oder durch neue ersetzt wurden, begann plötzlich der Krieg. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich hatte mich an den strengen Tagesablauf gewöhnt, gelernt, mit Unteren und Oberen umzugehen und ein streng geregeltes, aber gemeinschaftliches Leben zu führen. All die Jahre wurden wir nur auf diesen Moment des Ernstfalls vorbereitet, und dennoch wussten wir alle, dass es etwas anderes war auf Zielscheiben zu schießen, als auf bewaffnete Kinder und Frauen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag des großen Aufbruchs. Er herrschte eine leicht angespannte Stimmung, doch unsere Einheit war noch nie so stark verbunden, wie an diesem Tag. Die Meisten fürchteten sich sicher genau wie ich, aber der Code hielt unsere Münder geschlossen. Alle machten den Anschein, als wäre der große Moment endlich gekommen. Sogar die Verräter wurden an diesem Tag vergessen und es schien, als gehörten sie dazu, wie alle anderen auch. Wir alle würden alles auf eine Münze setzen. Es vereinfachte die Dinge zunehmend und während der Reise zu unserem Einsatzort wurden die Grenzen immer klarer. An den Schläfen der Glatze pumpten die prallen Worte in den Saal. Es war eine schöne Geschichte, aber sie war gefüllt von selbstgefälliger Träumerei, wie ich sie selbst all die Jahre gepflegt hatte. Ich habe auf meinem Weg nie das Gefühl gehabt, als wären die Grenzen immer klarer geworden, Im Gegenteil! Es gab unsere Einheit, die bereit war, alles für ihr Land zu geben, den Feind, den es mit allen Mitteln zu vernichten galt und das Glücksspiel, welches das Schicksal mit jedem einzelnen von uns spielen werde, egal ob Oberst, Neuling, Kamerad oder Verräter, Freund oder Feind. Und ich glaube es war gerade diese vereinfachende Klarheit, die unsere Einheit mit jeder verstreichenden Stunde enger zusammenschweißte.” Ich trank den letzten Schluck meines orangenen Getränks und spürte Ungeduld. SCHICKSAL! Sicher, es war vielleicht recht gemütlich hier zu sitzen, aber die Zeit war wie gewohnt gegen mich. Der blonde Türsteher hatte meine Erwartungen hochgeschraubt und mich hineingelassen. Dank ihm saß ich nun hier zwischen rasierten Männern und schmuckbehangenen Frauen. Aus welchem Grund waren sie hier? Aber ich wusste nicht einmal, warum ich hier war, gerade jetzt in diesem Moment. Vorstellungen verstrickten sich in Netzen und baumelten an einem seidenen Faden in einer zersplitterten Erinnerung. Natürlich war ich im Großen und Ganzen auf dem Weg, aber warum nahm ich mir dann die kostbare Zeit und vertrödelte sie in dieser unterirdischen Veranstaltung? Lange würde ich es nicht mehr aushalten. Ich musste dich bald finden. Ich hatte wirklich gedacht, ich müsse mir nur endlich einen Ruck geben, losgehen und der Fortschritt würde von selbst folgen, aber es war alles nur noch komplizierter geworden. Ich seufzte und kramte in meiner Manteltasche nach meinem entarteten Reisebegleiter, der mir mittlerweile so vertraut vorkam, als führte ich ihn schon mein halbes Leben mit mir herum. Ich atmete tief ein schlug ihn an einer zufälligen Stelle auf. Singend marschierten wir durch Wüsten, Täler, Hügel und Wälder und ich begann langsam Geschmack an der Idee zu finden, Leben zu nehmen und mich für ein anderes herzugeben.


Wir wurden zunehmend ungeduldiger, endlich auf den Feind zu treffen, doch als wir den Treffpunkt erreichten, überkam uns alle eine Welle unerwarteter Ernüchterung. Wir sahen nirgends den Feind, den wir alle im Geheimen schon mit selbstgemalten Hassbildern gespickt hatten. Auch die Oberen schienen nicht mehr zu wissen. Es folgten lange Tage der Desillusionierung. Es schien fast so, als hätten wir unsere Daseinsberechtigung mit dem Feind verloren. Gegen wen sollten wir kämpfen? Die Glatze ließ die Frage für einen Augenblick im Raum stehen. Ich blätterte um. Langsam bröckelte der feste Grund unserer Einheit unter uns weg. Obwohl es keiner wahrhaben wollte, waren wir plötzlich alle wieder allein. Die Gemeinsamkeit war verschwunden, in fremdem Lande, in unerfüllter Mission. Einige klammerten sich jedoch noch weiter daran, behaupteten, der Feind wäre weiter nach Westen gezogen, aber die Meisten rissen freiwillig die Namensschilder von ihren Uniformen und machten sich auf den eigenen, langersehnten Weg, der endlich für einen kurzen Moment beleuchtet, aus dem Schatten gehoben wurde und ein ungewisses, aber einzigartiges Ziel darstellte. Ich erwartete einen Moment der Klarheit. Augenblicklich wurde es wärmer und ich war wie geblendet. Als ich für einen kurzen Moment von meinem Buch aufschaute, bemerkte ich, dass die Stimme der Glatze verstummt war. Der gleißende Scheinwerfer war direkt auf mich gerichtet und ich fühlte neugierige Publikumsaugen auf meiner Haut. Ich konnte die Bühne nicht erkennen, da mich das Licht blendete, doch ich hörte die Glatze entzückt grunzen. ”Einen Applaus für unseren abgelenkten Herrn in der dritten Reihe, bitte, der sich gleich doppelt zu beschäftigen weiß.” Ich nahm das Buch vom Tisch und steckte es in meine Tasche. Das Publikum brach kopfschüttelnd in Beifall aus und ich fühlte die Aufmerksamkeit des Saales wie heißen Regen auf mich herabprasseln. Ich erhob mich rasch von meinem Stuhl und probierte einen Ausdruck bescheidener Überheblichkeit an, als ich beinahe das Glas vom Tisch gefegt hätte. Der Scheinwerfer ließ mein Gesicht brennen und ich versuchte zum Ausgang zu gelangen. Doch der Kegel folgte mir auf Schritt und Tritt, bis ich das kürzere Ende des Saals erreicht hatte und das Licht mich zwischen zwei ausrangierten Stühlen eingekesselt hatte. Die Glatze wandte sich zur ersten Reihe des Publikums und spitzte die Augenbrauen in einem hohen Bogen: “Er scheint mehr zu wissen, als er sagt.” Nun gesellten sich zu der allgemeinen Aufmerksamkeit auch noch ein paar mitleidige Blicke und stürzten mich in Wut. “Haben dir die Erinnerungen etwa nicht gefallen?” Ich wollte meinen Mund öffnen, doch mir fehlten die Worte...da kam mir in meiner Not eine Idee. Ich würde alles auf eine Münze setzen. Dramatisch zog ich mein rotes Büchlein heraus, erhob den rechten Arm in dem Lichtkreis und las mit laut-bebender Stimme: Der Text ist erlogen. Und wenn er nicht ganz erlogen ist, dann ist er geklaut. Und wenn er nicht ganz geklaut ist, dann ist er übertrieben. Und wenn er nicht ganz übertrieben ist, dann ist er frei erfunden.”


Das Publikum brach in Beifall aus. Der warme Regen umspülte meine Ohren und ich verbeugte mich zaghaft. Sie dachten wahrscheinlich, ich gehörte dazu. Die Glatze auf der Bühne sprach auf einmal in einem Ton frei von jeder Zweideutigkeit: “Sehr gut! Damit bist du der erste heute Abend!” Die Glatze winkte mich auf die Bühne heran. Der Lichtkegel verließ endlich mein Gesicht und wanderte einen Meter nach vorne. Ich folgte ihm, doch als ich ihn beinahe erreicht hatte, war er mir schon wieder ein Stückchen voraus. Begleitet von ab- und zunehmendem Beifall, dem Licht folgend, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Als ich auf der Bühne stand bemerkte ich, dass die Glatze von Nahem viel schmächtiger wirkte. Der Redner hob seine Hand und sprach ruhig: “Du hast die erste Hürde überwunden. Nicht ganz ohne Hilfe, aber mit der nötigen Überzeugung.” Ich wollte etwas entgegnen, aber er kam mir zuvor. “Ich bitte dich jetzt, als erster hindurchzugehen!” Er drehte sich um und wies auf die Rückseite der Bühne, die von einem zweiten, schwarzen Vorhang verhüllt war. Der abrupte Gang der Ereignisse machte mir zu schaffen. Ich schob den dicken Vorhang beiseite und blinzelte, als meine Augen gezwungen waren, sich abermals an gänzlich neue Lichtverhältnisse anzupassen. Ich stand in einem quadratischen Gang, der mit geschliffenem Marmor belegt war. In seinen Nischen waren wieder kleine Teelichter eingesetzt, deren Flammen jedoch hier in einem tiefen Blau leuchteten und sich auf dem glänzenden Boden widerspiegelten. Ich folgte dem Gang und hörte hinter mir noch immer das Publikum klatschen. Als ich weiter hineinlief und den blauen Teelichtern folgte, dämpfte sich der Beifall immer mehr, bis ich nur noch ein dumpfes Rauschen vernahm, welches den Gang durch seine Eintönigkeit in Stille zu hüllen schien. Ein paar Meter vor mir endete der Stollen an einer Wand. Zwei Teelichter beleuchteten eine silberne Plakette, auf derer Oberfläche geschwungene Buchstaben eingraviert waren: Der Wind hält das zusammen, worin wir blühen, selten bangen. Es ist die Sippe von altersher, wo jeder ist wie er ist, und nicht lieber wär. Das blaue Licht flutete die Rillen und warf lange Schatten über das Metall. “Die Sippe von altersher.” Zwischen den Zeilen roch es förmlich nach obskuren Anschauungen und tief verwurzelter Tradition. Ich entschloss mich, Antipathien zu sammeln, so dass ich die letzten beiden, mahnenden Zeilen, einem verwirrten Geist zuschreiben konnte. Je mehr ich mich anstrengte, desto besser passte es zusammen, Spekulationen türmten sich aus einzelnen Gedankensteinen: Der Türsteher mit der Kapuze und seinem ersten Hoffnungsschimmer, den er mit einem


freundschaftlichen Lächeln vervieldeutigt hatte, und dann diese Glatze, ein duzender Anzug in einem Raum voller Kulturwesen. Erst hatte sie mich kaltblütig bloßgestellt und dann als “den ersten” über die anderen erhoben. Auf der Plakette vor mir meinte ich die Grundsätze einer dubiosen Gemeinschaft zu erkennen, die gerade durch ihre zweideutige Freundschaftlichkeit so verdächtig schien. Sowohl die Kapuze als auch die Glatze hatten mich gleichermaßen ent- und ermutigt. “Die Sippe von altersher” Wer konnte ahnen, welche verstrickten Gedanken sich dahinter verbargen? Ich...Ich...nicht. Ich stand hier, in einem dunklen Gang im Nirgendwo und knüpfte Verschwörungstheorien, während mir der Tod mit jedem Atemzug einen Schritt entgegenkam. Wer konnte wissen, wie lange mein Weg noch gehen würde. Wer konnte wissen, ob ich mein Ziel jemals erreichen würde. Was wäre passiert, wenn ich mich nicht auf den Weg gemacht hätte? Dann säße ich wahrscheinlich zu Hause und mein Traum würde mich langsam verzehren. Es schien keinen Ausweg zu geben. Ich war schon so weit gegangen aber mein Ziel war immer noch so weit entfernt. Warum konnte ich nicht einfach sterben, einem dummen Zufall zum Opfer fallen, oder mir selbst ein Messer in die Brust rammen? Auf diese Idee war ich noch nie gekommen. Als ich diesen ersten Selbstmordgedanken jedoch in meiner Vorstellung in die Tat umsetzte, verebbte meine Überzeugung, noch ehe ich an Details feilen konnte und mir fiel etwas ganz anderes ein. Ich würde besser daran tun, mich nur mit den unmittelbarsten Hindernissen zu belasten, wenn noch so viel vor mir lag. Weise klangen diese Worte, aber sie stammten nicht von mir. Wieso konnte ich mich nicht bewusst an deine Ratschläge erinnern? Nur ab und zu tauchten sie plötzlich auf, als hätte ich sie nie vergessen. Wie seltene Fische schimmerten sie in der löchrigen Gesamtheit meiner blassen Erinnerungen und mahnten mich ...mahnten mich... All diese forttreibende Kraft, aber deine Worte alleine brachten mich dir nicht näher. Es drehte sich im Kreise. Da fand ich endlich Hoffnung und verlor sie plötzlich wieder, fand dich nicht und verlor mich wieder. “wo jeder ist wie er ist, und nicht lieber wär.” Die Gedankenschlaufe ließ Wut in mir brennen, als ich mich plötzlich einem archaischen Instinkt hingab, der mich mit den Fäusten gegen die Plakette hämmern ließ, bis sie scheppernd zu Boden fiel. Eingedellt lag sie nun auf den Marmorfliesen, mit der Rückseite nach oben. Ich rieb meine schmerzenden Hände. Dort, wo die Plakette gehangen hatte, war nun eine kleine Fläche freigelegt, worauf schon wieder eingravierte Worte prangten. Ich seufzte und las: “Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man” Darunter ruhte eine Art Knopf, der ein paar Zentimeter aus der Wand herausragte. Was hatte ich für eine Wahl? Es war der einzige Weg nach vorne und ich wollte ungern die neu entdeckten Worte in mir bestätigt sehen. Ich war mir schon fremd genug für meinen Geschmack, als ich endlich den Knopf


herunterdrückte und die Wand surrend nach oben fuhr. Der Gang ging weiter geradeaus und leuchtete tiefblau. Ein paar Meter vor mir hingen in regelmäßigen Abständen große, schimmernde Quadrate mittig an den Wänden, die die Hälfte der senkrechten Mauern einnahmen. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass die Quadrate aus einer glatten, halbdurchsichtigen Oberfläche gefertigt waren. Ich stand vor der ersten Scheibe zu meiner Linken und schaute hindurch, in einen kleinen Raum, dessen Inhalt durch die blaue Tönung des Glases in derselben Farbe erschien. In der Mitte stand ein Schrank von einem Apparat, an dessen Seiten dicke, schwarze Schläuche heraus quollen, übereinander liefen und wie zusammengerollte Riesenschlangen auf dem Boden lagerten. In der Vorderseite der Maschine steckten bestimmt zwei Dutzend silberne Scheibchen parallel nebeneinander, die sich in hoher Geschwindigkeit zu drehen schienen. In den Ecken des Raumes standen zwei nachttischgroße Kästen, die durch ein Kabelmeer mit dem Schrank in der Mitte verbunden waren, dessen surrende Tätigkeit ich sogar durch das dicke Glas zu hören glaubte. Ich wollte mich gerade umdrehen, als ich eine silberne Plakette entdeckte, die neben dem blauen Fenster angebracht war und von meinen Augen gelesen wurde, noch ehe ich über die Konsequenzen nachdenken konnte: “Perpetumobile - Dr. G. I. Swivel Rekord: 56 Jahre Selbstbetrieb ohne Wartung” Ich hatte irgendwo schon mal etwas von diesen Maschinen gehört, den so genannten Perpetumobiles, die sich durch ihre eigene Kraft antrieben und so bis in die Ewigkeit von alleine laufen sollten. Aber ich hatte nie davon gehört, dass es wirklich jemandem gelungen war, diese Idee in die Tat umzusetzen. Alles schien darauf hinzuweisen, dass diese wirr-verkabelte Maschine mit ihren Schläuchen die erfolgreiche Umsetzung einer solchen Idee darstellte, für was auch immer sie gut war. Ich verstand nichts von Mechanik, aber der Gedanke gefiel mir in seiner fernen Perfektion Ewig zu laufen, ohne von äußeren Einflüssen abhängig zu sein, freischwebend in seinem eigenen Antrieb Ich seufzte und wandte meinen Kopf, bevor ich meinen Körper drehte und tiefer in den Gang hineinlief. Ich setzte einen Schritt vor den anderen und bemerkte, dass sich mein Gesicht in den bläulichen Fenstern spiegelte, dass ich nicht hindurchschauen konnte, wenn ich mich nicht direkt vor eine Scheibe stellte. Ich lief noch ein paar Schritte, stoppte willkürlich und bewegte mein Gesicht an ein Fenster: Eine geschminkte Figur saß im Schneidersitz auf dem Boden, auf einer Strohmatte. Sie bewegte sich nicht, als wäre sie aus Wachs. Ihr Gesicht war in zwei Farben bemalt. Auf der Nase verlief die Naht zwischen leuchtendroter Farbe auf der Linken und tiefblauer auf der Rechten. Ich dachte an Fieberthermometer, als ich zu erkennen glaubte, dass die Figur sich bewegt hatte. Ich suchte nach der zugehörigen Plakette, doch ich fand keine beschreibenden Worte sondern nur einen roten und einen blauen Knopf. Ich drückte meinen Daumen auf die blaue Fläche, als ich ein leises Surren hörte und die Figur sich plötzlich von ihrer Strohmatte erhob. Aufrecht stand sie dort, für eine ganze Weile. Plötzlich explodierte sie in grundlose Freudenschreie, die glücklicherweise von der Scheibe gedämpft wurden, während ihr Körper wie ein Flummi von einer Wand zur anderen sprang.


Die zweifarbige Maske trug ein enormes Lachen auf ihren Lippen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, jedoch nur auf der blauen Seite. Die andere Hälfte des Mundes lag reißverschlossen in rotem Gebiet. Die Figur kugelte sich auf dem Boden, sprang in die Luft, rannte mir laut lachend entgegen und machte im letzten Moment einen Rückwärtssalto, der sie wieder in ihre ursprüngliche Position zurückversetzte, wo sie sitzend verharrte. -blöde Puppe. Ich zuckte mit den Achseln, fuhr mit dem Finger ein zweites Mal über die Plakette und drückte den roten Knopf. Wie von einer Feder katapultiert, sprang die Puppe wieder auf und verzog ihre blaue Hälfte zu einer furchterregenden Fratze, während sie einen gellenden Schmerzesschrei hallen ließ. Die Scheibe schien recht dünn. Die Figur ballte ihre Fäuste und rannte gegen die hintere Wand, von der sie sich im letzten Moment mit den Armen abstieß und in beschleunigendem Tempo auf mich zuraste. Ich trat einen Schritt zurück und das zweifarbige Gesicht klatschte mit einem dumpfen FWOP gegen das Glas. Einen Atemzug später raffte die Figur sich wieder auf, rannte zurück in die Mitte des Raums und ich dachte schon, sie würde sich wieder setzen, als sie neuen Anlauf nahm und wie ein wilder Stier zum zweiten Mal gegen das Glas knallte. FWOP Ich drückte abermals den roten Knopf. Doch das Gesicht sauste mir schon wieder entgegen und hinterließ dieses Mal rot-blaue Schmierflecken an der Scheibe, bevor der Körper nach hinten kippte, sich aufraffte und erneut Anlauf nahm. Irgendwie kam ich mir verantwortlich vor, du weißt ja wie das ist. Ich machte einen letzten Versuch und drückte beide Knöpfe gleichzeitig, aber die Figur schien außer Kontrolle. Schnell entfernte ich mich von dem Fenster und lief tiefer in den Gang hinein, an unzähligen Scheiben vorbei. Aus meinen Augenwinkeln erspähte ich mein eigenes Spiegelbild in den bläulichen Fenstern, dessen Anblick mich nur noch sturer geradeaus laufen ließen. Mein Herz raste. Unzählige quadratische Fenster reihten sich zu beiden Seiten an den Wänden. Das zweifarbige Gesicht klatschte in meinem Kurzzeitgedächtnis weiter gegen das blaue Glas. Blöde Puppe. Ein Ende schien nicht abzusehen. Ich musste mich beruhigen. Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb vor dem erstbesten Glas stehen, als ob dies ein guter Einfall wäre Wenigstens schaute ich diesmal zuerst auf die Plakette. Ich seufzte und las: “Der Weg” Mein Verstand warnte mich vor großen Erwartungen aber mein Herz flackerte wild vor Hoffnung. Ich blickte durch die blaugetönte Scheibe in einen weißen, leeren Raum. Die Farblosigkeit blendete mich, so dass ich keine Ecken mit meinem Auge fühlen konnte. Einfach nur weiße, maßlose Leere. Vielleicht gehörte die Plakette, die ich gelesen hatte, zu einem anderen Fenster? Plötzlich rieselten dunkle Blätter aus der farblosen Decke:


Sie schienen einfach hindurch zufallen, wie Regentropfen durch Wolkenberge. Ovale, gelbbraune, spröde, fünfzackige, grünbraune, nahezu runde, rotbraune, vertrocknete Vorboten des Winters.. Jedes Blatt hatte seine eigene Art hinunterzufallen. Einige taumelten sachte hinunter, andere schaukelten wild im Raum, ein paar drehten sich gleichmäßig auf ihrer Achse, berührten sich oder stießen sich ab und doch fielen alle dem Boden entgegen. Aber kein einziges Blatt kam dort zur Ruhe. Sie fielen durch den Boden hindurch und verließen den Raum ebenso reibungslos, wie sie in ihn einkehrten. Ich betrachtete den lautlos-fallenden Blätterregen und entdeckte immer wieder neue Formen, neue Farben, neue Eigenarten des Fallens und Taumelns. Plötzlich versiegte der Strom und die letzten Flieger verschwanden in dem farblosen Boden. Es war recht schön anzusehen, aber was hatte das Ganze mit dem Weg zu tun? Es erinnerte mich zu sehr an das Vergang...an das Vergäng...an das Vergessene. Ich starrte in den weißen Raum, als sich der Blätterregen unerwartet wieder in Bewegung setzte. Nein! Ich meiner Eile hatte ich eins in Eile vervielfacht. Ich sah nur ein einziges Blatt auf weißem Hintergrund. Es war ein löchriges, dunkelbraunes Ahornblatt, welches mit der gewölbten Seite nach unten schaukelte. Es drehte sich wie die anderen Blätter, gewann jedoch plötzlich Auftrieb, beschrieb eine Schlaufe in der Luft, taumelte mit der Spitze nach unten, erhob sich abermals ein ganzes Stück in die Höhe, drehte sich und fiel wogend der Schwerkraft entgegen. Immer wieder segelte es nach oben, schaukelte hinunter, schaufelte Luft und gewann an Höhe. Es dauerte eine ganze Weile, bis es endlich verschwunden war. Ich weigerte mich, vorschnelle Verbindungen herzustellen, die sich mir gedanklich schon in greifbare Nähe gerückt hatten. Es gab keinen Zusammenhang. Mein Verstand stritt sich mit einem Gefühl, einer selbstgefälligen Ahnung, dass dieser Korridor der blauen Schaukästen speziell für mich gemacht war. Vielleicht würde ich es später herausfinden. Meine erste, meine einzige Priorität war der Fortschritt. Ich musste weiter, vielleicht würde ich lernen, vielleicht auch nicht, aber ich musste weiter. Ich lief ein paar Schritte geradeaus, doch ein Ende des Gangs schien nicht abzusehen. Misstrauisch trat ich einer Scheibe entgegen. So war wenigsten mein Spiegelbild verschwunden. In der Mitte des Raumes lag eine Art Modelleisenbahnlandschaft, mit zwei schneebedeckten Papp-Maché-Hügeln, hügeligen Plastikwiesen und einer Art Festung kurz unter der Spitze des höchsten Bergs. Ich suchte nach der zugehörigen Aufschrift, fand jedoch keine. Plötzlich hörte ich die Melodie einer gedämpften Trompete und ein paar schwarze Krümel flitzten über die Landschaft. Sie schienen aus einem schmalen Schlitz an der hinteren Wand zu kommen. Immer dichter drängten sich die ameisenartigen Wesen, wuselten wild durcheinander, und schienen sich vor meinem Auge zu vermehren, bis sich schon bald eine teigartige, schwarze Masse über die idyllische Miniaturlandschaft wälzte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie die obere Baumgrenze überwunden.


Einige Krümel versuchten an den steilen Wänden der Festung hinaufzuklettern, rutschten jedoch immer wieder herunter. Alte Erinnerungen kamen auf. “Leiter” rief ich gegen die Scheibe “Leiter” Ich war mittendrin im Geschehen, an der Spitze des Stoßtrupps. Da sah ich auf einmal, dass sich nun auch einige weiße Krümel auf dem Burghof gesammelt hatten, von der Festung stürzten und sich unter die Angreifer mischten, wie kalte Milch in heißem Kaffee. Die Weißen drängten die Schwarzen ein Stück zurück, die Schwarzen brachen an einer anderen Stelle wieder durch, bahnten sich einen Weg zur Burg, wurden wieder hinausgeworfen, drängten die Weißen in eine Ecke, wurden von den Weißen wieder zurückgeworfen, kämpften und verteidigten, verteidigten und kämpften ..... Die Gebiete verschoben sich schneller, als sie besetzt werden konnten. Ich hatte das rege Treiben schon eine lange Weile beobachtet, als meine Konzentration soweit abgesackt war, dass ich nur noch eine Landschaft sah, eine Plastiklandschaft, von grau-flackerndem Nebel bedeckt. Ich schüttelte meinen Kopf und wandte mich müde von der Scheibe ab. Die vergangenen Ereignisse mischten sich in mir zu einem dickflüssigen Cocktail trauriger Ziellosigkeit. Was hatte ich in diesen Katakomben verloren? Missmutig zog ich meinen Reisebegleiter aus der Tasche,... als ich plötzlich ein leises Klopfen vernahm: Ich drehte mich um. Ein alter, bärtiger Mann stützte sich mit einer Hand gegen die Scheibe und klopfte mit der anderen dagegen. Er trug eine dunkle Stoffhose, die unter seinem abgemagerten Bauch zusammengebunden war. Aus dem Kragen seines hellen, weiten Hemdes quollen graue Haare hervor. Als er endlich bemerkt hatte, dass ich ihn ansah, hielt er inne und gab mir ein Fingerzeichen. An ihm vorbei blickte ich in einen verdunkelten Raum. Im Hintergrund leuchtete eine einsame Kerze. An den Wänden standen sperrige Regale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Der Alte deutete auf den unteren Teil der Scheibe und zeigte dann auf mich. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Er deutete. Die Plakette! : “RAHMEN” Der Alte wies auf seinen Bart und schien Silben zwischen den Haaren zu formen. Ich tat ihm den Gefallen und sprach brav die Aufschrift der Plakette nach: “Raaaamen” und noch ehe ich meine Lippen wieder geschlossen hatte rutschte die gläserne Scheibe zu meiner fehlenden Bewunderung in den Boden. Der Alte nickte und schien gerade etwas sagen zu wollen, als ich ihm dazwischenfuhr: “Sag bloß nicht, du hast mich erwartet.” Der Alte schaute mich ausdruckslos an. “Ich könnte Hilfe gebrauchen, hier raus zu kommen, aber ich habe keine Zeit für leere Worte. “Ich bin nämlich auf dem Weg” sagte ich, als schenke mir dieser Ausspruch besondere Privilegien. Doch der Alte lächelte und winkte mich mit einer Hand in seinen Raum hinein. Ich zögerte, kletterte dann aber doch durch das Fenster. Im Schein der einsamen Kerze entdeckte ich, dass auf dem Boden überall Papiere und


aufgeschlagene Bücher herumflogen, die wahrscheinlich aus den riesigen Regalen oder aus einer der unzähligen Schubladen des massiven Schreibtischs stammten. Ich versuchte, keinen der Texte mit Füssen zu treten, aber die große Dichte ließ mir kaum eine andere Wahl. Der Alte setzte sich in einen alten Ohrensessel und bat mich, ebenfalls Platz zu nehmen. “Auf dem Weg mmmh...” murmelte er und ließ seine Hand über den Tisch laufen. “Ich glaube, ich könnte etwas für dich tun.” Er kramte zwischen Papieren auf seinem Schreibtisch, zog ein Blatt heraus, wandte sich mir zu und sprach: “Aber auch alles, was ich dir geben kann sind nur Worte. Leer oder nicht, das musst du selbst entscheiden.” Er ließ das Blatt herunterfallen und schaute mich prüfend an. “Vielleicht wird dir mein Rat aber auch nicht gefallen.” “Wenn du die Worte einmal gehört hast, dann hast du sie gehört und kennst sie.” Ich antwortete ihm: “Ich habe schon so vieles vergessen. Da wird auch dein Rat keine Ausnahme sein. Also hör schon auf mit deiner Einleitung und sprich endlich!” Der Alte schien zu überlegen und sagte nach einer Weile, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam: “Nun gut. Aber zuerst musst du mir eine Frage beantworten:” Ich seufzte. “Du sagtest du wärest auf dem Weg.” Ich nickte. “Dann sag mir doch bitte: Jeder Weg hat ein Ziel. Was ist das Deine? Ich war zugegebener Maßen ein wenig verwundert, dass mir endlich jemand diese Frage stellte und antwortete schneller, als ich mich besinnen konnte: “Ich muss weg. Weiter weg, weiter fort...du weißt schon...näher zu...” Ich hustete. “Näher zu...” Die Worte stauten sich in meiner Kehle und meine Zunge verknotete sich. Der Alte nahm ein neues Blatt von seinem Schreibtisch und sprach leise: “Das meinte ich. Ich kann nicht mehr als warnen. Dennoch will ich dir nichts verheimlichen. Ich frage dich nun ein letztes Mal: Willst du dich wirklich mit meinem Rat belasten oder nicht doch lieber auf eigene Faust weiterziehen?” Langsam wurde ich ungeduldig. Der Hustenanfall schien vorbei und ich antwortete spöttisch: “Ja!” Hier, mein förmliches Einverständnis. Ich hoffe das reicht. Der Alte faltete das Papier in der Mitte und steckte es in seine Hose. “Nun Gut. Aber du wirst dich ein wenig gedulden müssen.” Er erhob sich von seinem Sessel, verschwand in einer dunklen Ecke und kam mit einer alten Blechkanne zurück. Dann kramte er in einer Schublade und stellte zwei dünne Porzellantässchen auf die textbeladene Tischplatte. Er hob die Kanne in aller Seelenruhe und ließ kochenden Tee in die Tassen sprudeln, während ich eine wachsende Unruhe verspürte sofort zu flüchten. Der Alte führte die Tasse an seine Nase und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Gerade als ich den Entschluss gefasst hatte, mich aufzuraffen und wegzurennen, öffnete er endlich seine Lider und sprach: “Ich nehme an, dass du ein spezielles Buch mit dir führst. Den Grund dieser Annahme jetzt und hier näher auszuführen, würde deine Konzentration nur unnötig belasten.”


Ich zog meinen Reisebegleiter aus der Tasche und hielt ihn die Luft, als präsentierte ich einen zweifellosen Beweis. Ein roter Umschlug und eine mittelgroße Menge Papier. Der Alte lächelte und trank einen kleinen Schluck aus der dampfenden Tasse. Ich legte meinen Reisebegleiter auf den Tisch. Er wies auf das zweite Porzellantässchen, aber ich schüttelte den Kopf: “Jetzt nicht! Ich will mich hier nicht länger aufhalten, als unbedingt nötig. Also was ist jetzt mit dem Buch?” “Wie du meinst.”, sprach der Alte “Dein Buch hat dir etwas gezeigt, das du selbst nicht wissen konntest. Es liegt in seiner Natur, den Leser in sich einzubeziehen, Perspektiven zu vermischen und eine neue, leicht verschiedene Sichtweise aufzugeben. Der Leser verliert sich in dem Buch und findet sich zwischen Zeilen bestätigt oder widerlegt. Aber wenn die Mischung stimmt, dann ist das Ergebnis immer das Gleiche.” Ich erinnerte mich, wie ich damals, für einen winzigen Moment der Klarheit zum Zuschauer meines eigenen Dramas geworden war. “Aber es ist gefährlich, da es leicht verblendet. Deshalb ist eine besondere Einstellung unbedingt notwendig; ein Hintergrund, ein flexibler Rahmen, der immerfort gleich bleibt und so auch die entferntesten Widersprüche dämpft.” Der Alte nahm ein Papier von seinem Schreibtisch, wühlte in einer Schublade, reichte mir einen Kugelschreiber und schrieb mit seiner Hand in der Luft. Ich setzte die Spitze des Stifts auf das leere Blatt und beobachtete, wie sich das Papier füllte, Wort für Wort, Zeile für Zeile. “Das sollte genug sein.” sagte der Alte nach einer Weile. Doch der Stift bewegte sich weiter, bis er die rechte, untere Ecke des Blatts erreicht hatte. Ich sah mich den Kugelschreiber hinlegen. Der Alte nahm meinen Reisebegleiter vom Tisch, öffnete ihn und legte ihn neben das Papier, das nun mit einer krakeligen Schrift bedeckt war. “Siehst Du...” murmelte er.. Ich sah nicht. Offensichtlich betrachtete er den Vergleich der beiden Texte als selbsterklärend. Es war unerträglich dunkel in dem Raum. Nur diese eine, kleine Kerze. Ich sprach hastig. “Ich bitte dich! Mein Weg läuft ohne mich weiter, während ich hier in diesen Katakomben herumirre! Was hat das mit geschriebenen Worten zu tun?” Der Alte lächelte. “Ich kann dir nicht die ganze Wahrheit sagen, denn sie würde in deinen Ohren wie eine Beleidigung klingen. Ich kann dir auch nicht die halbe Wahrheit sagen, denn dazu bräuchtest du die andere Hälfte.” Er schien sich ein Grinsen zu verkneifen. Alles was ich dir geben kann, ist ein kleiner Hinweis, ein kleiner Rat” Ich seufzte. “Du sehnst dich nach deinem Ziel und verfolgst es skrupellos. Du kommst aus der Vergangenheit und flüchtest vor ihr. Niemals hat es einen besseren Nährboden für Selbstmitleid gegeben, als diese Rastlosigkeit. Die Zukunft macht dich neidisch durch unerreichbare Hoffnung, treibt dich voran. Und die Vergangenheit peitscht dich weiter, quält dich deinem Ziel entgegen. Der Alte nickte, trank vorsichtig einen Schluck Tee und sprach weiter: “Vielleicht ahnst du, wohin meine Worte führen.


Du bist auf dem Weg, aber du schaust nur in eine Richtung. Und ich stelle dir nun erneut meine erste Frage” Allein die Erinnerung ließ es in mir brodeln. Ich sprang auf und rief mit zitternder Stimme: “Ist das etwa alles?” Der Alte nickte und setzte die Tasse ab. Ich musste weiter. Zuviel war schon verloren. Zeit ritt mein Gewissen und drängte mich weiter...weg...fort. Ich verließ den Raum ohne ein einziges Mal hinter mich zu blicken und hörte den Alten hinter mir rufen: “Vergiss den Rahmen nicht!” Als ich wieder ein paar Schritte durch den Gang gelaufen war, bemerkte ich plötzlich, dass mein Buch sich nicht mehr in meiner Tasche befand. Ich war hin und her gerissen aber mein verkümmerter Stolz hatte Blut geleckt und mir klargemacht, dass ich auf keinen Fall zurückgehen dürfe. Der Alte hatte schon genug triumphiert. Ich musste weiter...weg...fort... Meine Vergangenheit lag wie ein verbranntes Schlachtfeld hinter mir. Ein Fortschritt war nur nach vorne möglich. Ich rannte los und die blauen Fenster schnellten an meinen Augenwinkeln vorbei. Wenn meine Augen aus Versehen durch eine Scheibe fielen und ich mein Spiegelbild erblickte, beschleunigte ich mein Tempo nur noch mehr und rannte geradeaus... weiter.....weg....fort. Ich lief und lief, aber das Ende des Gangs schien sich mir nicht zu nähern. Ich schaute über meine Schulter und sah dort das Gleiche, wie vor mir. Nicht enden wollende Galerien blauer Fenster reihten sich wie rechtwinklige Perlen zum Horizont. Ich lief mittlerweile so schnell, dass es mir vorkam, als stünde ich still und der der Gang bewegte sich an meiner Stelle. Plötzlich bekam ich Seitenstechen und musste meine Geschwindigkeit drosseln. Ich atmete schwer und wurde immer langsamer. Ich setzte einen Schritt vor den anderen, ließ noch einmal blaue Fenster hinter mir und führte neue herbei...- bis ich es endlich aufgab. Es war aussichtslos. Ich war allein. Ohne Begleiter allein auf dem Weg, ohne Wegweiser unterwegs zu meinem Ziel. Wie gern wäre ich zu dem Alten zurückgegangen. Aber er lag bereits hinter mir und war Teil meiner verfehlten Vergangenheit geworden, die ich nicht zu verstehen wagte, die alles hinter mir in Vergessenheit stürzte, bevor ich es festhalten und durchschauen konnte. Eine Vergangenheit, der ab nun auch mein Reisebegleiter angehören sollte. So hatte ich es nicht gewollt. Ich kauerte schluchzend auf dem Boden, als mich plötzlich eine unerträgliche Müdigkeit überfiel und ich die Augen schloss.


VII. Der Traum Der Himmel ist von dunklen Wolken vergangen, Du stehst nicht, du gehst nicht. Ein Weg über Hügel hinweg. Rostende Stahlgerüste im Atem verkantet. Du gehst nicht, du stehst nicht. Ein Blitz durchzuckt starres Wolkengeflecht. Gedankennetze knirschen, ächzen, Licht verfängt sich, bricht hindurch. Splitter prasseln zu Boden, von Tropfen begleitet... Und du lachst. Mutter blitzt in dunklen Augen. Dein Kindertraum ist Sonnenschein. spielend auf denkender Stirn, Sind wir. Warstu-ich. Wir sind. Werdich-du.. Wir sind Alleine zum Anfang, Doch nur zusammen am Ziel. Schön baldige Verhässlichkeiten.... Vergissmeinnicht!

andrenalin33@gmx.net


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