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Der Anfang ist weisses Gold.

Geschichten der Sanktgaller Tuchherstellung 1250 bis BIGNIK



«g u t» Der Anfang ist weisses Gold. Geschichten der Sanktgaller Tuchherstellung 1250 bis BIGNIK


St. Gallen kann auf eine viele hundert Jahre währende Textilgeschichte zurückblicken, die ihren Anfang im Mittelalter nimmt. Die hohe Qualität begründet einst den Ruhm der St. Galler Leinwand; als «weisses Gold» wird sie zu einem Mythos, der bis heute nachwirkt. Die Konzept- und Aktionskünstler Frank und Patrik Riklin vom St. Galler Atelier für Sonderaufgaben nehmen textile Traditionen auf und verleihen ihnen mit BIGNIK, einer jährlich wachsenden sozialen Skulptur, neue Bedeutung. In einer freien künstlerischen Interpretation verbindet Martin Leuthold, selbst Ikone zeitgenössischer Textilgestaltung, textile Vergangenheit und Gegenwart und kreiert eine raumgreifende In-stallation, die vom 22. April 2022 bis zum 29. Januar 2023 im Textilmuseum St. Gallen zu sehen ist. Seit dem 13. Jahrhundert zählt die Leinwandproduktion zu den wichtigsten Einnahmequellen der Stadt und Region St. Gallen. Zehntausende Menschen

beschäftigen sich mit dem weissen Gold: dem Anbau von Flachs, dem Spinnen von Garn sowie dem Weben, Bleichen und Veredeln der Tücher. Dass die Leinwand über alle Produktionsstufen hinweg den höchsten Ansprüchen genügt, darüber wachen Zünfte und städtische Behörden. Mit einem «G» bezeugen sie die Herkunft («St. Gallen») – in mancher Lesart auch die Qualität («gut») – der für den Fernhandel bestimmten Textilartikel. Als das Leinwandgewerbe im 18. Jahrhundert unter Druck gerät, beginnt sich die Textilregion St. Gallen neu auszurichten – und bringt zuerst die Baumwollverarbeitung, später dann die Stickerei zur Blüte. Die Leinwand-Zeit hat vor Jahrhunderten ein Ende gefunden und mit ihr sind die zum Bleichen auf den Wiesen ausgelegten Stoffbahnen verschwunden. Und doch sind die Hügel um St. Gallen heute wieder mit Tuch bedeckt – zumindest sporadisch. «Gemeinsam ein riesiges Picknick-Tuch für die ganze Bevölkerung erschaffen,


bestehend aus 286 478 Tüchern, exakt so viele wie die Einwohnerzahl der Region » – das ist die Vision der Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin vom Atelier für Sonderaufgaben, die im Jahr 2012 in Komplizenschaft mit der REGIO Appenzell AR-St. Gallen-Bodensee das Projekt BIGNIK ins Leben rufen und seitdem Jahr für Jahr eine Auslegung an unterschiedlichen Orten in der Region initiieren. Nach zehn Jahren des Sammelns und Nähens wird die Stadt St. Gallen 2022 zum Auslegungsort: Weiss stösst auf Rot, Wirtschaft auf Kultur, Geschichte auf Leben. Aus diesem Anlass zeigt das Textilmuseum St. Gallen die Ausstellung « g u t » – Der Anfang ist weisses Gold, in der sich textile Vergangenheit und Gegenwart zu einem visuellen Gesamtkunstwerk verbinden.



«gut» Zukunft braucht Herkunft, heisst es. Auf die Textilkreation trifft das Sprichwort in besonderem Masse zu. Als gelernter Stickerei-Entwerfer bin ich ein Leben lang für die St. Galler Textilindustrie tätig. Tagtäglich lasse ich mich von historischen Stoffen inspirieren, entdecke im Alten Neues, schöpfe daraus Ideen und erschaffe neue Textilien. Der Anfang der Sanktgaller Tuchherstellung ist «weisses Gold». Der Mythos fasziniert mich persönlich. Das Leinwandgewerbe hat der Region Wohlstand und Ruhm eingebracht und den Namen

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St. Gallen in die Welt hinausgetragen. Im weissen Gold ist vieles angelegt, was der Textilindustrie den Stempel aufdrückt. «gut» steht für Organisationstalent, Qualitätsbewusstsein, Bescheidenheit, Weltläufigkeit und Innovationskraft. Vom textilen Renommee und Netzwerk profitieren auch Branchen wie Bildung, Mode, Architektur, Banken, Versicherungen, Medizin und Autoindustrie. Die Sanktgaller Tuchherstellung prägte Land und Leute achthundert Jahre lang. Gewiss war nicht alles Gold, was glänzt. Zieht man die Rohstoffbeschaffung, Arbeits-


bedingungen oder die Gewinnverteilung in Betracht, gab es neben Glanz auch Schatten. Die Textilgeschichte wirft Fragen auf, die mal mehr, mal weniger bequem ist, darum aber immer aktuell bleibt. Die textile Vergangenheit geht der in der Ostschweiz ansässigen Bevölkerung unter die Haut. Ob sie will oder nicht, ja ob es ihr bewusst ist oder nicht, besitzt sie eine «textile DNA». Ein eindrückliches Zeugnis legt BIGNIK hiervon ab. Seit 2012 legen die Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin mit den Einwohner:innen ein riesiges rot-weisses Picknick-Tuch aus – ein jährlich wachsendes Gemeinschaftswerk zur Belebung der regionalen Tuchherstellung. Die reiche Textiltradition der Ostschweiz in Erinnerung zu rufen, die Besucher:innen in die Welt der Bleichefelder zurückzuversetzen und ihnen die Faszination für Textilien und ihren komplexen Herstellungsprozess zu vermitteln – das bezweckt die Ausstellung « g u t » – Der Anfang ist weisses Gold. Martin Leuthold

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Sanktgaller Tücher als Exportschlager

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Linien = wichtige Handelsstrassen Punkte = häufig besuchte Messen und Märkte

Handelsnetz der Stadt St.Gallen

Das St. Galler Leinwandgewerbe war auf den Export ausgerichtet. Auf der Suche nach Abnehmern reisten Fernhandelskaufleute quer durch Europa. An welchen Messen und Märkten die St . Galler Tücher gehandelt wurden und welche Wegstrecken die Fuhrmänner und Händler dabei zurücklegten, zeigt die nebenstehende Karte. Erstmals in internationalen Quellen taucht die St . Galler Leinwand in Genua (1262), Venedig (1362), Padua (1368), Mailand (1375) Frankfurt am Main (1371) und Nürnberg (1387) auf. Mit der Zeit wurden die St . Galler

Produktion immer umfangreicher und das Handelsnetz immer dichter. Mitte des 16. Jahrhunderts wurden etwa 20 000 Tücher von je knapp hundert Metern Länge und einem Meter Breite hergestellt. Der Höhepunkt lag im Jahr 1610, als 23 622 St . Galler Tücher (erster Qualität) nach Europa gelangen.

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Textilhistorische Schnellbleiche

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Rund um St. Gallen wird seit dem Mittelalter Flachs angebaut, Garn gesponnen und Leinwand gewoben. Die Veredelung erfolgt in der Stadt, wo Handwerksmeister die Stoffbahnen bleichen, mangen und färben. 16


An der Leinwandschau werden die Tücher einer strengen Kontrolle unterzogen und mit einem amtlichen Schauzeichen versehen. Für den Absatz reisen Fernhandelskaufleute an Märkte und Messen in 17

ganz Europa. Die Abgaben aus dem St. Galler Leinwandgewerbe sind so hoch, dass sich die Stadt nach 1457 vom Reichskloster loskaufen und zur freien Reichsstadt aufsteigen kann.


1721 führt der Einwanderer Peter Bion die Baumwollverarbeitung in St. Gallen ein. Nach einer Anregung aus Lyon werden in der Ostschweiz tausendfach Barchentund Mousseline-Gewebe von Hand bestickt.

In den 1860er-Jahren schwingt sich die Maschinenstickerei zum führenden Industriezweig der Ostschweiz auf. An St. Galler Textilfachschulen eignen sich Jugendliche die künstlerischen und kaufmännischen Fertigkeiten an. 18


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Das Kaufmännische Directorium entsendet Handelsdelegationen in alle Welt. Auf den neu erschlossenen Märkten besorgen Exporteure den Absatz der Weissstickereien.


Hinschauen, nachfragen und weiterlesen

Die in « g u t » – Der Anfang ist weisses Gold gezeigten Historienbilder sind ebenso anschaulich wie fragwürdig: anschaulich, weil die wichtigsten Berufsgruppen, Aktivitäten und Verflechtungen der Ostschweizer Textilindustrie vorgeführt werden. Der Auftraggeber, das textilkundige Kaufmännische Directorium, war darauf bedacht, dass die Maler gleichermassen die grossen Zusammenhänge wie auch die textilen Details in die Darstellung aufnahmen. Fragwürdig sind die Historienbilder, weil in den Bildern mehr steckt als die von den Kaufleuten vorgegebenen Botschaften. Bei den Gemälden handelt es sich um kulturhistorische Zeitzeugnisse. Da Entstehungszeit und Betrachtungsmoment 20


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auseinanderfallen, kommen Museen ins Spiel. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Bilder zu sammeln, zu bewahren und auszustellen. Gleichzeitig ist es ihre Pflicht, genau hinzuschauen und die Bilder kritisch zu hinterfragen. Unbequeme Fragen wirft das Bild des Historienmalers Emil Rittmeyer (1820–1904) auf. Es zeigt wichtige Episoden der regionalen Herstellung und des weltweiten Vertriebs von Leinwand- und BaumwollstickereiProdukten. Darin taucht die Baumwolle eher unscheinbar auf, obwohl der Rohstoff für die Industrialisierung, Globalisierung oder Kolonialisierung geradezu unverzichtbar war. Das Ölgemälde wurde 1881 zu einer Zeit ausgeführt, in der rassistische Theorien weit verbreitet und allgemein akzeptiert waren, auch wenn die Sklaverei an manchen Orten bereits aufgehoben worden war. Damals herrschte die Überzeugung vor, dass Menschen nicht gleichwertig und nach äusserlichen Merkmalen kategorisierbar seien. Dieses Denken ist dem Gemälde klar anzusehen. Im Abschnitt ganz rechts sind stereotypisierende Darstellungen ethnischer Gruppen erkennbar. Heute ist diese Präsentationsweise


Abfolge zu 14 postkartengrossen Aquarellen. Heute werden sie in der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen aufbewahrt. Mit Sicherheit verklären die Historienbilder das St. Galler Leinwandgewerbe. Dass die Arbeitsschritte in Stadt und Land so anmutig erledigt wurden und die Arbeitsteilung zwischen den Berufsangehörigen so harmonisch vor sich ging, darf bezweifelt werden. Auch war der europaweite Leinwandverkauf störungsanfälliger, als der Zyklus glauben macht, und konnte grosse Gewinne wie auch herbe Verluste nach sich ziehen. Zudem gibt es im Leinwandzyklus augenfällige Leerstellen.

undenkbar und verletzend. Leider wirken die konstruierten Vorurteile in Form von Rassismus, kultureller Traumata oder sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit bis in die Gegenwart nach und sind noch nicht gelöst. Auch der historische Leinwandzyklus gibt Anlass zu Fragen. Das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen besitzt eine Bilderfolge aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Wer die elf Bilder gemalt hat, ist unklar. Wahrscheinlich nutzten Fernhandelskaufleute diese als Werbegeschenk oder schmückten damit ihre Geschäftsräume. Der in « g u t » präsentierte Zyklus stammt von Daniel Wilhem Hartmann (1793–1862) aus St. Gallen. Vermutlich im Auftrag des Präsidenten des Kaufmännischen Directoriums kopierte und erweiterte der Künstler die originale

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Wer eine zweite Lesart wünscht, greife zum Buch. Als Annäherung an das Rittmeyer-Ölgemälde seien empfohlen: Hans Fässler: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei, Zürich 2005 Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2014 Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk (Hrsg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2014 Erhellendes rund um das St. Galler Leinwandgewerbe bieten die Titel: Hans Conrad Peyer: Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520, 2 Bände, St. Gallen 1959–1960 Curt Schirmer und Hermann Strehler: Vom alten Leinwandgewerbe in St. Gallen, St. Gallen 1967 Ernest Menolfi und Peter Bolli: Frühes Unternehmertum in Hauptwil. Die Textilmanufakturen Gonzenbach im 17. und 18. Jahrhundert, (Thurgauer Beiträge zur Geschichte 157), Frauenfeld 2019

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Berufsbilder

Repräsentant:innen des St . Galler Leinwandgewerbes:

Kaufmann


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Fuhrmann

Factor (Aufseher) Feilträger


Leinwandmesser

Bleichemeister

Bauer (Heimweber)


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Maultiertreiber

Färber

Einbinder Leinwandschneider


Stauchentröcknerinnen

Küfer 28



Leinwand – eine historische Auslegung


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Sanktgaller Tuchherstellung gestern und heute

Vision BIGNIK – ein jährlich wachsendes Gemeinschaftswerk


Vor rund achthundert Jahren bildete sich in der Stadt St. Gallen und der Region ein Verfahren heraus, wie aus Flachs Leinwand wird. Die Tücher wurden im Anschluss nach Europa verkauft, wo sie als Kleiderstoffe (Hemd, Schürze, Schleier) oder Heimtextilien (Vorhang, Tischtuch, Bettwäsche) Verwendung fanden. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts trugen die Herstellung und der Vertrieb der Leinwand St. Gallen Ansehen und Wohlstand ein. Der Stoff war so wertvoll, dass er mit (Gold-) Münzen aufgewogen und bisweilen als weisses Gold bezeichnet wurde. Aber der Reihe nach:

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Ein überdimensioniertes Picknick-Tuch breitet sich in der Region zwischen Säntis und Bodensee aus. Seit 2012 sammelt, vernäht und legt deren Bevölkerung rötliche und weissliche Tücher aus. Die Maxime lautet: Pro Kopf ein Tuch. Und erschafft dadurch eine soziale Skulptur. Das Projekt wächst jährlich weiter bis ins Jahr 2050. So lange wird es dauern, bis die Vision erfüllt ist. Die von den Konzept- und Aktionskünstlern Frank und Patrik Riklin vom St. Galler Atelier für Sonderaufgaben ins Leben gerufene Langzeitperformance schöpft aus der textilhistorischen Vergangenheit der Ostschweiz und bündelt die Ressourcen für wegweisende Projekte der Zukunft. Wer seine Ideen, Fertigkeiten und Kontakte zusammenlegt, erreicht mehr – für die Region ebenso wie für ihre Einwohner:innen. Aber der Reihe nach:

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Bis Mitte März bereiten die Bauern die Anbauflächen für die Aussaat vor. Dafür müssen die Äcker von Unkraut und Erdklumpen gesäubert, gelockert und gepflügt werden. Gleichzeitig werden auf Wiesen und in Pflanzgärten weitere Nutzpflanzen angelegt, die die St. Galler Bevölkerung ernähren.


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Von April bis Mai findet in der Region die sogenannte Tuchjagd statt. Dabei wird die St.Galler Bevölkerung aufgerufen, Dachböden und Keller zu durchkämmen und alle weisslichen und rötlichen Tücher bereitzulegen. Egal, ob gemustert, beige, orange oder bordeaux: Je mehr, je grösser, je besser. Das Einsammeln der Tücher findet mit einem Rapid-Traktor statt.


Wenn der Boden bereit ist, wird die Saat ab Mitte März ausgebracht. Trotz gutem Klima muss die Pflanze während des Wachstums gehegt und gepflegt werden. Arbeit gibt es reichlich – vom Ziehen der Egge über das Ausbringen der Saat bis hin zum Jäten des Unkrauts.


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Innerhalb von vier bis sechs Wochen stöbern Frank und Patrik Riklin mit zugewandten Kompliz:innen durch die Quartiere und jagen nach Tüchern. Wer nicht von den Tuchjägern persönlich besucht wird, kann die Tücher auch in Tuchsammelstellen in den Gemeindehäusern während der Öffnungszeiten abgeben. Das Mindestmass eines Tuches beträgt 1,40 x 1,40 Meter.


Ab der zwölften Woche ist der Flachs reif und kann geerntet werden. Dafür wird jede helfende Hand benötigt: Die Pflanzen werden ausgerissen und gebündelt. Danach werden die Stängel mit einem eisernen Kamm von den Samenkapseln befreit. Anschliessend werden die Halmbüschel auf der Wiese ausgelegt oder im Wasser eingeweicht. Ziel ist es, dass die Stängel verfaulen und die Fasern im Innern freigeben.


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Pro Kopf ein Tuch – so lautet die BIGNIKVision. Insgesamt sollen 286 478 Tücher gesammelt werden, exakt so viele wie die Einwohner:innenzahl der Region. Fast in jedem Haus befinden sich in alten Schränken oder in verstaubten Schubladen Stoffreste von Vorhängen, Bettlaken oder Tischtüchern. Durch die Beteiligung vernetzen sich die Menschen miteinander. Es entstehen unübliche Gemeinschaften.


In Heimarbeit wird der Flachs aufbereitet. Mit Botthämmern schlagen Bäuerinnen die Blätter und Samen der Stängel ab. Danach lösen sie die Fasern aus den Stängeln. Nach dem Kämmen der Fasern werden die Halme in kleinen Bündeln getrocknet. Mithilfe eines Hackmessers sondern die Bäuerinnen Holzreste aus. Als nächstes ziehen sie die Fasern durch Bürsten mit eisernen Zähnen und fassen sie zu Zöpfen zusammen.


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Im Anschluss werden die gesammelten rötlichen und weisslichen Tücher auf ihre endgültige Grösse gebracht. Jeder Stoff – ob Bettwäsche, Vorhang, Tischtuch oder ab Rolle – wird auf exakt 1,40 x 1,40 Meter zugeschnitten. Dieser Arbeitsschritt findet in leer stehenden textilindustriellen Produktionshallen statt und erfordert höchste Genauigkeit, da sonst das BIGNIK-Modulkonzept nicht aufgeht.


Im Anschluss wird die Faser zu Garn versponnen. Mit der Handspindel drehen Bäuerinnen die Flachsfasern ab dem Rocken, sodass ein beliebig langer Faden entsteht. Danach wird das Garn gehaspelt und zu einem Zopf geflochten. Anschliessend wird es in heisser Aschenlauge gesotten, ausgewaschen und ausgewrungen. Als Zwischenprodukt ist Garn auf dem Markt von St. Gallen sehr begehrt.

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In einem weiteren Schritt werden die zugeschnittenen Tücher für das Nähen aufbereitet: Vier rötliche oder weissliche Tücher werden miteinander kombiniert, sodass daraus weisse und rote Tuchmodule entstehen können. Die Inspiration dazu erhielten die Riklins von ihrer Grossmutter, die das Nachtessen oft auf einem rot-weiss karierten Tischtuch servierte. Dieses Tuch interpretieren die Riklins neu und setzen es in die Landschaft.

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In feuchten Kellerräumen wird das Garn zum Gewebe verarbeitet. Auf dem Bild ist dies durch die schemenhaft blau und rot gekleideten Webbauern dargestellt. Insbesondere in den Wintermonaten sitzen sie stundenlang am Webstuhl und produzieren Leinwand. Mehr als fünf Meter am Tag werden kaum geschafft. Der gewobene Stoff weist einen bräunlichen Farbstich auf.

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Ab Mai wird an öffentlichen Orten genäht, etwa auf einer Verkehrsinsel, am Bahnhof auf einer Rampe, oder zu Hause: Mit der Heimarbeit greift BIGNIK die einstige Arbeitsrealität in der Region auf und überführt sie in die Gegenwart. Keine muffigen Kellerlokale und 14-Stunden-Arbeitstage, sondern lustvoller Einsatz im Namen der grossen Ostschweizer BIGNIK-Vision ist angesagt.

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Den zu Ballen gefalteten Stoff tragen Bauern und Zwischenhändler in die Stadt. In der Brotlaube oder in der Stube der Weberzunft findet die Roh-Leinwandschau statt. Sie wird von schwarz gekleideten städtischen Beamten beaufsichtigt. Verstösse gegen die Fabrikationsbestimmungen und Handelsvorschriften werden streng geahndet. 46


Ein zusammengenähtes Tuchmodul besteht aus vier Tüchern und hat ein Mass von 2,70 x 2,70 Meter. Weisse Klettverschlüsse in den Ecken helfen, die einzelnen Module bei der Auslegung miteinander zu verbinden. Auch Lokalpolitiker:innen in dunklen Anzügen setzen sich an die Nähmaschinen und lassen die Nadeln rattern. Jedes fertig hergestellte Tuchmodul wird zelebriert, bevor es in eine Kiste kommt.

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Leinwand ist nicht gleich Leinwand. Gewissenhaft kontrollieren die städtischen Beamten die vorgelegten Tücher. Dies dient einerseits der Preisermittlung, erhält der Bauer doch nach Abzug einer Gebühr seinen Weblohn. Andererseits wird die Qualität der Stoffe festgestellt. Je nach Beschaffenheit versehen die städtischen Beamten die Leinwand mit einem guten oder schlechten Schauzeichen:

Erstklassige Ware erhält ein «G» (St. Gallen), einen «Krebs» oder «Ring» und ist zur Bleiche zugelassen. Minderwertige Stücke werden mit einem «Nasenbletz» oder schwarzen und roten «Kreuz» ausgezeichnet und dürfen gefärbt werden.

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BIGNIK ist nicht gleich Picknick. Einerseits geht es nicht um die Wurst, die man darauf isst. BIGNIK ist eine Langzeitperformance, in die die ganze Bevölkerung involviert ist. BIGNIK «meisselt» an der Mentalität und ruft die «textile DNA» der ganzen Region in Erinnerung. Andererseits entsteht durch die gesellschaftliche Produktion und die Kultivierung von BIGNIK ein einzigartiges St. Galler Kulturgut («KG»).


Nur die besten Tücher werden in die Weissbleiche gebracht und veredelt. Bleichemeister bieten ihre Dienste rund um die Stadtmauern an. Zwischen März und August umgibt St. Gallen ein Meer aus Leinwand. Der Bleicheprozess besteht aus drei Schritten: Beim Bauchen wird die Leinwand in Aschelauge gesotten. Beim Walken werden die Tücher mit einem Stampfwerk gestampft und gewaschen. Und beim Bleichen werden die Stoffbahnen wochenlang auf den Feldern ausgelegt und von der Sonne gebleicht.


Zwischen Juni und September findet der dramaturgische Höhepunkt statt: Gemeinsam mit der Bevölkerung werden alle Tuchmodule wie ein Schachbrett in der Region ausgelegt. Das «Tuchen» ist das neue Heuen. Hierfür treten Bauern ihre Felder ab und mähen im Vorfeld die Wiesen. Und alles, was vermeintlich im Weg ist, wird in das Tuch integriert, so auch Häuser, Bäume oder Bahngleise. Die Grösse des Tuches ist abhängig von der Anzahl der Tuchleger:innen. Danach lädt das Tuch für ein paar Stunden zum gemeinsamen Picknick.

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Schmalere und günstigere Tücher heissen Stauchen. Für ihre Veredelung sind die Stauchentröcknerinnen zuständig. Nach dem Bauchen in der Aschelauge werden die Tücher mit rollenden Steinkugeln geplättet, gestreckt und an Stöcke gespannt.


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Den letzten Teil der Auslegung bildet das Zusammenlegen der Tücher. Gegen den späteren Nachmittag werden die Tuchmodule wieder von den Klettverschlüssen gelöst, zusammengelegt und in graue Kisten verpackt. Dafür wird jede helfende Hand benötigt, da die Luftfeuchtigkeit nach Sonnenuntergang ansteigt und die Tücher nicht feucht werden dürfen.


Die qualitativ weniger guten Tücher gelangen zu den St. Galler Färbemeistern. Zum Trocknen werden die farbigen Stoffbahnen von den Stadtmauern, Häuserfassaden oder in Tröcknetürmen herabgehängt.

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Feuchte Tuchmodule werden separiert und gelangen zu den BIGNIK-Kernkompliz:innen. Diese hängen oder legen die Module über die Fenstersimse, um sie an der Luft zu trocknen. Danach kommen diese Exemplare wieder in den Gesamtbestand von BIGNIK. Dasselbe gilt auch für beschädigte oder verschmutzte Tuchmodule, die repariert und gewaschen werden.


Den Kontakt zu den Absatzmärkten stellen Fernhandelskaufleute her. Sie schliessen Kaufverträge ab und organisieren den Transport. Handwerker wie die Küfer verpacken die wertvolle Fracht sicher in Ballen, Kisten oder Fässern und verladen sie auf Lasttiere. Je nach Zielort ist der Transport wegen der anspruchsvollen Verkehrswege nur mit Maultieren möglich.


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Unter dem Jahr werden die Tücher an einem sicheren Ort gelagert, zum Beispiel in einem Feuerwehrdepot oder in einer städtischen Lagerhalle. BIGNIK benötigt Jahr für Jahr mehr Logistik, Raum und Menschen für die Lagerung des wachsenden Kulturguts. Aktuell existieren rund 3000 Tuchmodule, was rund 6,2 Prozent der angestrebten BIGNIK-Vision entspricht.


Mittels Fuhrmännern und Maultiertreibern werden die Stoffe quer durch Europa spediert. Absatz findet die St. Galler Leinwand auf den grossen internationalen Messen. Hauptumschlagplätze sind Lyon und Nürnberg. Die dort tätigen Händler übernehmen die Feinverteilung in die hintersten Winkel Europas. An den Erzeugnissen des St. Galler Leinwandgewerbes erfreuen sich gut betuchte Trägerinnen in Valencia wie auch in Warschau.


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Seit 2018 findet die Tücherauslegung auch in Ortskernen auf Asphalt statt: die sogenannte Asphaltierung. Dabei werden Strassen, Plätze und Gassen mit Tuchmodulen bedeckt. Das Tuch wird wie eine Flüssigkeit in den Ort gegossen. Das Besondere an dieser Weiterentwicklung ist, dass die Umgebung noch konsequenter in

das Tuch integriert wird und der öffentliche Raum eines Dorfes oder einer Stadt mit Tüchern «ausgemalt» wird.


Reich bepackt mit Eindrücken und Waren aus aller Welt kehren die St.Galler Kaufleute in die Heimat zurück. Um 1750 entdeckt ein St.Galler an der Messe von Lyon türkische Stickereien auf Seide und löst in der Ostschweiz eine Begeisterung für Leinwand- und Baumwoll-Handstickereien aus. Damit brechen die goldenen Jahre der St.Galler Stickereiindustrie an – aber das ist eine andere Geschichte.


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BIGNIK bearbeitet eine Utopie. Es ist der Versuch, eine einzigartige gemeinschaftliche Tradition für die Region zu schaffen – frei nach dem Motto «Stetes ‹Tuchen› höhlt den Stein». Bis jetzt sind über zehntausend Menschen am Entstehungsprozess beteiligt. Sie sammeln, nähen und legen aus – und tragen so die Vision immer weiter. Die Erfüllung von BIGNIK wird voraussichtlich 2050 erfolgen.

Frank und Patrik Riklin


«Off-White» 18. Dezember 2021 Land-Art mit Wasserfilter-Tuch und Wetterballonen Martin Leuthold und Marcus Gossolt Fotografie Maurus Hofer


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Impressum

Bildnachweis Agentur Alltag Off-White, Fotografien: Maurus Hofer Seiten 2, 6, 14, 62f. Atelier für Sonderaufgaben BIGNIK, Fotografien: Frank und Patrik Riklin Seiten 35, 39, 41, 45, 47, 49, 51, 57, 59, 61 Helikopter-Service Triet AG Seite 8 Bodo Rüedi Seite 37 Jelena Gernert Seite 43 Daniel Ammann Seite 53 Ruth Gradenecker Seite 55 Kantonsbibliothek St. Gallen, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen � St. Gallen vor der Anpflanzung der Gemeindstheile [Ausschnitt], Daniel Wilhelm Hartmann, 1818, Gs q 1 D/11A Seite 8 � St. Gall. Vue prise depuis le Romonte [Ausschnitt], Franz Nikolaus König, 1817, GS q 1 D/1 Seite 9 � St. Gall. Vue prise depuis la Solitude [Ausschnitt], Franz Nikolaus König, 1830, GS f 1 D/3 Seite 29

� Reimspruch zum St. Galler Textilgewerbe mit vierzehn Aquarellen zum St. Galler Leinwandgewerbe, Daniel Wilhelm Hartmann, Ms S 45a, 4.21-33 Seiten 24–28, 34, 36, 38, 40, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 54, 56, 58, 60 Martin Leuthold Künstlerische Überblendung von Leinwand- und BIGNIK-Zyklus Seiten 10, 30 Hans Conrad Peyer Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St.Gallen von den Anfängen bis 1520, Bd. 2, St.Gallen 1960, Seite 27, ergänzt vom Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen Seite 12 Textilmuseum St.Gallen Von der mittelalterlichen Leinwandindustrie zum StickereiWelthandel, Emil Rittmeyer, 1881. Gemalt im Auftrag des Kaufmännischen Directoriums, der heutigen Industrieund Handelskammer St.GallenAppenzell Seiten 16–20

Herausgeber Textilmuseum St. Gallen Vadianstrasse 2, St. Gallen textilmuseum.ch © 2022 Konzept und Gestaltung Martin Leuthold Marcus Gossolt Maurus Hofer Projektleitung Paul Gruber Kooperation Frank und Patrik Riklin Redaktion Mandana Roozpeikar Roman Wild Wissenschaftliche Beratung Nicole Stadelmann, Co-Leiterin Stadtarchiv St. Gallen Textarbeit Sandra Čubranović Silvia Gross Mandana Roozpeikar Frank und Patrik Riklin Roman Wild

Übersetzung CoText Übersetzungs Service GmbH Korrektorat Kerstin Forster Grafik und Bildbearbeitung Alltag.ch Schrift GT Sectra Druck Typotron St. Gallen Papiere Bavaria Gloss Holmen Trend Magno Satin Rebello Maxi Offset Produziert in der Schweiz ISBN 978-3-033-09197-9



«g u t»

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Sanktgaller Tücher als Exportschlager

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Textilhistorische Schnellbleiche

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Berufsbilder

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Sanktgaller Tuchherstellung gestern und heute

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