Herbst 2015
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz TONgyEONg
Tongyeong
Die unerwarteten Reize von Tongyeong; Im Schutz der Inseln, genährt vom Meer; Stadt der Künstler, die von Freiheit träumten
JaHrgang 10, nr. 3
ISSN 1975-0617
IMPRESSIONEN
Unveränderliche Herbstwünsche Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
„M
ögen alle 365 Tage des Jahres genau wie Hangawi sein!“ Diesen bescheidenen Wunsch äußern die Koreaner zum Erntedankfest Chuseok. Das Erntedankfest, auch „Hangawi“ genannt, fällt auf den 15. Tag des achten Mondmonats. Damit wird es genau zur Herbstmitte gefeiert, wenn die Gaben der Natur am reichhaltigsten sind. Chuseok ist neben dem Lunar-Neujahrsfest Seollal einer der wichtigsten traditionellen Feiertage in Korea. Um die Zeit des Erntedankfestes lässt die Hitze allmählich nach, es weht ein kühleres Lüftchen und der Himmel wird klarer und höher. Der Reis wogt golden in den Ebenen. Die Getreide, die das Jahr über im Schweiße des Angesichts gezogen wurden, reifen aus. Diejenigen, die ihren Heimatort verlassen haben, um in der Stadt zu leben, denken plötzlich wieder an den Ort ihrer Kindheit, wo die mittlerweile alt gewordenen Eltern leben und die von Generation zu Generation weitergegebenen Felder bestellen. Nach dem Sonnenkalender fällt Chuseok 2015 auf Sonntag, den 27. September. Offiziell gibt es drei Chuseok-Feiertage. Da 2015 jedoch einer der Feiertage ein Sonntag ist, trifft die „Ersatzfeiertag-Regelung“ in Kraft, sodass Chuseok vier Tage bis zum 29. September gefeiert wird. Zu Beginn der Feiertage wird es eine „große Völkerwanderung“ geben, da 75 Prozent der Koreaner ihre Heimatorte besuchen werden. Die Autobahnen werden total verstopft und Zugtickets im Nu ausverkauft sein. An diesem Festtag der Fülle und des Danksagens besuchen die Menschen die Gräber der Vorfahren, schneiden das überlange Gras auf den Grabhügeln und halten die Ahnenverehrungsriten ab. So danken sie den Vorfahren dafür, dass sie ihnen die Lebensgrundlage gesichert und weitergegeben haben. Eine Speise, die auf dem reich gedeckten Festtagstisch und bei den Ahnenriten an diesem Tag nicht fehlen darf, ist Songpyeon. Songpyeon sind halbmondförmige Küchlein, die aus Reis, dem Hauptnahrungsmittel der Koreaner, hergestellt werden. Dazu wird das Reismehl mit warmem Wasser vermischt und zu einem Teig geknetet. Kleine Stücke des Reisteiges werden mit Nüssen, Mungobohnen, Sesamkörnern, Pinienkernen, Jujuben usw. gefüllt, in Halbmondform gebracht und gedämpft. Damit die mit so viel Sorgfalt zubereiteten Reiskuchen nicht aneinander kleben und um sie mit einem sanften Kiefernadelaroma zu tränken, werden sie auf Kiefernnadel-Schichten gedünstet. Daher kommt auch der Name „Songpyeon“: „song“ steht für „Kiefer“, „pyeon“ meint „gedämpfter Reiskuchen“. Songpyeon versinnblidlicht gewissermaßen das Leben der Koreaner als solches in komprimierter Form: harte Feldarbeit und Ernte, der Duft der Kiefernbäume, die Koreas Berge weit und breit bedecken, die Spuren der Hände, die die Reiskuchen gemacht haben, und auch Liebe und Lachen der Menschen, die die Reiskuchen teilen. Doch die Welt hat sich verändert und immer mehr Menschen bringen gekaufte Songpyeon auf die Ahnenverehrungstafel, statt sie selbst zuzubereiten. Zudem steigt die Zahl derer, die an Chuseok nicht mehr in ihre Heimatorte fahren. Statt dessen fahren die alten Eltern in einer Art „umgekehrter Heimkehr“ in die Städte, um das Fest dort mit den Kindern und deren Familien zu feiern. Auch bevorzugt die junge Generation industriell hergestellte Biscuits oder Hamburger. So verändert sich das Leben. Aber immer noch steht der Vollmond hoch am klaren Herbsthimmel. Und auch der Wunsch der Menschen nach Fülle bleibt unverändert: „Mögen alle 365 Tage des Jahres genau wie Hangawi sein!“
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COPy EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTOR DESIgNERS
Yu Hyun-seok Yoon Keum-jin Ahn In-kyoung Bae Bien-u Choi Young-in Emanuel Pastreich Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse Anneliese Stern-Ko Kim Sam Kim Jeong-eun, Noh Yoon-young, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Lee Sung-ki, Yeob Lan-kyeong
LAyOUT & DESIgN
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Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Kim Eun-ji Park Ji-hyoung
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Von der Redaktion
Hin zu einem Dorf, einem Festival Zu dieser Zeit, wenn die vorliegende Ausgabe von Koreana vor der Drucklegung abschließend überprüft wird, scheint die politische Lage auf der geteilten koreanischen Halbinsel in eine neue Phase einzutreten. In dreitägigen MarathonSitzungen, die inmitten erhöhter militärischer Spannungen aufgenommen wurden, kamen die beiden Koreas schließlich überein, eine bewaffnete Konfrontation zu vermeiden und die Gespräche zur Beilegung der Krise und Verbesserung der Beziehungen fortzusetzen. Ein Blick auf die Geschichte der innerkoreanischen Beziehungen warnt allerdings vor verfrühtem Optimismus. Viele hegen den Verdacht, dass es sich wieder einmal nur um eine kurzlebige Ruhepause handeln könnte. Die geplanten Treffen der getrennt lebenden Familien könnten sich als einmaliges politisches Ereignis herausstellen und die Lautsprecher an der Grenze beginnen vielleicht wieder mit ihren Propagandabotschaften. Doch kaum jemand dürfte daran zweifeln, dass die Menschen im Norden und Süden auf das Beste hoffen. Die jüngste Konfrontation dürfte v.a. die Bewohner des „Freiheitsdorfes“ Daeseongdong den Atem anhalten lassen haben. Übrigens enthält die vorliegende Ausgabe einen Beitrag über das Leben der Bewohner in dieser isolierten Gemeinde in der DMZ. Daeseong-dong befindet sich direkt gegenüber Kijeong-dong, seinem nordkoreanischen Pendant, das nur 1,8km Luftlinie entfernt auf der anderen Seite der Militärischen Demarkationslinie liegt. „Geschichten aus zwei Koreas“ ist eine neue Serie, die die Problematik der Teilung aus gesellschaftlicher und kultureller Perspektive beleuchtet. Es ist traurig, dass die beiden Grenzdörfer, die zu Instrumenten der Rivalität des Kalten Krieges gemacht wurden, auch daran erinnern, dass die beiden Koreas jeweils ein eigenes Musikfestival zum Gedenken ein und desselben Komponisten veranstalten: Yun Isang zu Ehren wird jedes Jahr ein Festival in Pjöngjang und eins in Tongyeong abgehalten. Die SPEZIAL-Reihe dieser Herbstausgabe ist Tongyeong gewidmet, dem Geburtsort von Yun Isang, an den er aufgrund der politischen Umstände nie wieder zurückkehren konnte. Tongyeong ist auch die Heimatstadt vieler herausragender Künstler und Schriftsteller. In der Joseon-Zeit war es zudem Sitz des Oberkommandos der Marine. Wir laden unsere Leser zu einem Streifzug durch diese charmante Hafenstadt ein. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
gEDRUCKT HERBST 2015 Samsung Moonwha Printing Co. 274-34 Seongsu-dong 2-ga, Seongdong-gu, Seoul 133-831, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2015 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Herbst 2015 Viertejährlich publiziert von The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 137-863, Korea http://www.koreana.or.kr
Klänge an der Küste von Tongyeong Suh Hyung-il Öl auf Leinwand, 45,5cm x 53,0cm, 2011
fokUs
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Königliche Ritualmusik der Ahnenverehrung in Paris Song Hye-jin
gescHIcHten aUs ZweI koreas
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Daeseong-dong: Eine „Binneninsel“ blickt in die Zukunft Kim Hak-soon
kUnstkrItIk
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Tiefreligiöse Mäzene bringen die buddhistische Kunst zur Blüte Shin So-yeon
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57 64
entertaInMent
Die Lieblingsfilme der Koreaner rühren tief an ihre Gefühle
SPEZIAL
tongyeong: eine südliche Hafenstadt von vielfältigem reiz sPeZIaL 1
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Die unerwarteten Reize von Tongyeong
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Im Schutz der Inseln, genährt vom Meer
Unterwegs
Den eIgenen weg geHen
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LIfestyLe
Koreaner: Dem Kaffee verfallen Kim Yong-sub
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reIsen In DIe koreanIscHe LIteratUr
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Die Zeit des Knetens – Geste der Versöhnung an das „Du“
Gwak Jae-gu
Kim Dal-jin: Eine „wandelnde Kunst-Enzyklopädie“
Kang Je-yoon
sPeZIaL 3
37 Hwasun – Ein friedlicher Ort voll mystischer Energie
Han Kyung-koo
sPeZIaL 2
Kim Young-jin
Chang Du-yeong
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Nudeln Kim Sum
Kang Shin-jae
Stadt der Künstler, die von Freiheit träumten Lee Chang-guy
sPeZIaL 4
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Traditionshandwerk im neuen Stil wiederbelebt Lee Kil-woo
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Entzückendes Hafenviertel mit verführerischen Meeresdelikatessen Song Young-man
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SPEZIAL 1 Tongyeong: Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz
Die unerwarteten Reize von
TONgyEONg
Han Kyung-koo Kulturanthropologe, Professor am College of Liberal Arts, Seoul National University Fotos Ahn Hong-beom
Tongyeong ist eine der drei Städte, in denen die Koreaner am liebsten leben möchten. Die Stadt, an der Südküste der koreanischen Halbinsel gelegen, ist mit 140.000 Einwohnern zwar klein, hat aber bereits mehrere Verwandlungen hinter sich: Sie war ein wichtiger Seeverkehrsknotenpunkt, eine Reißbrett-Militärstadt und Zentrum des traditionellen Kunstgewerbes und Handels. In der Kolonialzeit (1910-1945) war sie Siedlungsgebiet für die Japaner und gleichzeitig wichtiger Stützpunkt für die Unabhängigkeitsbewegung und andere soziale Bewegungen. Außerdem ist sie als Stadt der Kunst und Kultur bekannt, die viele hervorragende Schriftsteller, Maler, Musiker usw. hervorgebracht hat. Nicht zu vergessen das zu jeder Jahreszeit reiche Angebot leckerer Meeresfrüchte, das die gourmets anlockt. Durch Kulturprogramme wurden zudem einzelne Viertel erfolgreich wiederbelebt, auch konnte ein regionales Fachzentrum für die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ in die Stadt geholt werden. Jetzt träumt Tongyeong davon, auf Basis seiner musikalischen Ressourcen im Rahmen des Projekts UNESCO Creative City zur City of Music bestimmt zu werden. 4 KOREANA Herbst 2015
Aus der Vogelperspektive gesehen wirken das Zentrum von Tongyeong, die Insel Mireuk-do und die Inseln in den Gewässern vor Tongyeong wie ein wunderschönes Aquarell. Das Foto von der Tongyeong-Region bei Sonnenaufgang wurde aus der Luft geschossen.
t
ongyeong ist zwar keine Inselstadt, aber da sie nur durch eine schmale Passage mit dem Festland verbunden ist, besitzt sie Insel-Flair. Bis zur japanischen Imjinwaeran-Invasion (15921598) war es nur ein verschlafenes Fischerdorf namens Duryongpo. Nach dem Ausbruch des Krieges besiegte das Joseon-Reich (1392-1910) die japanischen Invasoren erstmals in der Schlacht von Okpo (1592), einem Seegefecht in der Nähe von Tongyeong vor der Insel Geoje-do. Auch der Triumph vor der Insel Hansan-do – einer der drei großen Siege im Imjinwaeran-Krieg – fand vor der Küste von Tongyeong statt (Juli 1592). Der Königshof, der die Notwendigkeit der Konzentration auf die Kriegsflotte erkannte, ernannte im August 1593 Admiral Yi Sun-shin (1545-1598) zum „Oberbefehls-
haber des Marinehauptquartiers der Drei Provinzen“ (Gyeongsangdo, Jeolla-do, Chungcheong-do). Admiral Yi unterstanden damit die Befehlshaber und Flotten der drei südlichen Provinzen sowie die fünf Hauptstützpunkte. Mit anderen Worten: Er befehligte fast die ganze Flotte des Joseon-Reichs und leitete sämtliche Schlachten in den südlichen Gewässern der koreanischen Halbinsel.
Seeverkehr-Knotenpunkt, Schauplatz grausamer Schlachten Das zentrale Marinehauptquartier der drei Provinzen wurde zunächst auf der Insel Hansan-do eingerichtet, bevor es nach mehrmaligem Standortwechsel 1604 seinen endgültigen Platz in Tongyeong fand. Danach bestand es fast 300 Jahre weiter, bevor es KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 5
1895 geschlossen wurde. Der Name der Stadt Tongyeong kommt von „Tongjeyeong“ bzw. „Tongyeong“, was „Marinehauptquartier“ bedeutet. Von 1955 bis 1994 hieß die Stadt nach Yi Sun-shins posthum verliehenemTitel auch „Chungmu“. Der Grund, warum sich der Handel Ende der Joseon-Zeit gerade in Tongyeong stark entwickelte und viele Japaner sich während der Kolonialzeit hier ansiedelten, lag in Tongyeongs Funktion als strategischer Verkehrsknotenpunkt. In der Nähe der Stadt Busan und der Insel Tsushima gelegen, befindet es sich auf dem Weg von Busan in die beiden Jeollado-Provinzen . Gerade aus diesem Grund wurde Tongyeong im Koreakrieg (195053) zum Angriffsziel der nordkoreanische Volksarmee. Der Norden besetzte Tongyeong und wollte über die Insel Geoje-do die Städte Masan und Busan überfallen, was eine große Gefahr für die südkoreanischen und amerikanischen Streitkräfte darstellte. Die südkoreanische Marineeinheit, die in aller Eile zum Schutz von Geoje-do mobilisiert wurde, konnte Tongyeong jedoch mit einer amphibischen Landeoperation zurückerobern und die nordkoreanischen Streitkräfte zurücktreiben. Das geschah einen Monat vor der historischen Landeoperation der Alliierten in Incheon im September 1950. Somit ist Tongyeong der erste Ort in Korea, an dem eine strategische Landeoperation durchgeführt wurde. Die amerikanische Journalistin und Kriegsberichterstatterin Marguerite Higgins (1920-1966, New York Herald Tribune) machte die südkoreanischen Marinestreitkräfte mit dem Satz „They might capture even the devil.“ als „Ghost Catching Marines“ bekannt
Militärstadt mit dem Verlangen nach Frieden „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor (Si vis pacem, para bellum).“ Tongyeong ist eine am Reißbrett geplante Militärstadt, die im Zuge der Verlegung des Marinehauptquartiers der drei Provinzen angelegt wurde. Gleichzeitig ist es aber auch eine Stadt des Friedens, da sie mit der Entschlossenheit und dem Gelöbnis geplant wurde, weitere Kriege und Invasionen zu verhindern und den Frieden aufrechtzuerhalten. Im Zentrum der Stadt steht ein imposantes Gebäude, das neben seinem funktionellen Zweck auch zum Ausdruck von Stärke und Entschlossenheit der Marinestreitkräfte von Joseon erbaut wurde. Es ist das Sebyeonggwan (Waffen davonspülen), dessen Haupttor „Jigwamun (Tor des Speer-Ablegens)“ genannt wird. Beide Namen spiegeln den Wunsch des Staates wider, durch starke Verteidigungskraft den Frieden zu sichern. Seit seiner Gründung war das Hauptquartier Tongjeyeong gezwungen, finanziell fast ganz auf eigenen Beinen zu stehen. Aufgrund der Kriegsunruhen konnte Admiral Yi Sun-shin keine Unterstützung von der Zentralregierung erwarten. Deshalb ließ er Kasernenbauernhöfe anlegen, um die Verpflegung seiner Truppen zu sichern und gleichzeitig die darbende Zivilbevölkerung zu unterstützen. Dazu brachte er durch Fischfang und Salzrösten die Gelder für die Kriegsführung auf. Auch ließ Yi die Zwölf Werkstätten von Tongyeong einrichten, in denen Meister aus verschiedenen 6 KOREANA Herbst 2015
Bereichen Waffen und andere Kriegsausrüstung anfertigten. In diesen Werkstätten wurden neben Militärgütern auch landwirtschaftliche Geräte und Alltagsgegenstände hergestellt. Das trug zur Verbesserung der finanziellen Lage des Stützpunkts bei, da die besten Produkte als Geschenke für den König an die Zentralregierung gingen und der Rest verkauft wurde. Daher geht auch die Berühmtheit der Stadt für traditionelles Kunsthandwerk wie z.B. ihr Ruf für Steppwaren auf ihre militärische Geschichte zurück. Denn damals soll die Nachfrage nach wattierten Steppstoffen für Militäruniformen dermaßen gestiegen sein, dass alle Frauen der Stadt zu Meisterinnen des Quiltens wurden, um für ihre Ehemänner und Söhne Uniformen anzufertigen.
Entwicklung von Handel und gewerbe Die Werkstätten in Tongjeyeong konzentrierten sich schließlich neben der Anfertigung von Kriegsartikeln mehr auf die Herstellung von Alltagsgegenständen und Tributgeschenken an den König. Die Handwerksfertigkeit entwickelte sich so weit, dass besonders unter den Königen Yeongjo (reg. 1724-1776) und Jeongjo (reg. 1776-1800) die eigenständige Münzgießerei vorangetrieben wurde. Auch gab es erste Formen genossenschaftlicher Produktion, was auf eine beginnnende Industrialisierung der traditionellen Gesellschaft hinweist. Mit dem Ausbau der Handwerksproduktion und der Herstellung hochwertiger Produkte wie die von den Herren der Oberschichte getragenen Pferdehaarhüte, tragbare Tablett-Esstischchen, Perlmuttintarsien-Lackwaren usw., die landesweit hohen Ruf genossen, entstanden immer mehr Fünf-Tage-Märkte und die Bevölkerung wuchs. Die für Bau und Reparatur von Kriegsschiffen eingesetzte Schiffbautechnik wurde auf Handelsschiffe angewendet und Lagerhäuser zur Aufbewahrung von Schiffsbaumaterialien wurden gebaut. Da immer mehr Menschen und Produkte über den Seeweg transportiert wurden, ließ der Marine-Oberbefehlshaber 1872 die Flussmündung erweitern und den Marktplatz vergrößern. Es entstanden auf den Verkauf von Reis, Kleiderstoffen, kleinen Alltagsgegenständen, Tabak und Seegurken spezialisierte Läden und Tongyeong wurde zum Handelszentrum der Küstenregion der Provinz Gyeongsangnam-do. Das führte automatisch zur Erweiterung des Stadtkerns. Wegen des begrenzten Raums breiteten sich die Wohngebiete auch auf die Inseln in Stadtnähe aus. Von Ende des 18. bis Ende des 19. Jhs verdoppelte sich die Bevölkerung der Stadt. Mit 7,2 Personen pro Haushalt überstieg die Bevölkerungsdichte von Tongyeong die der Hauptstadt Seoul mit 4,4 Personen. Bereits zu Ende der JoseonZeit war Tongyeong landesweit die bevölkerungsmäßig zwölfgrößte Stadt und damit größer als Jinju oder Mokpo. Wachsende Pein Die Einwohner von Tongyeong besaßen nicht nur starke Lebens-
Eine alte Karte von 1830 zeigt in der Mitte das von Stadtmauern umgebene Tongyeong, die Gangguan-Bucht, die Brücke Gullyang-gyo, die zur Insel Mireuk-do führt, sowie unzählige Inseln jeder Größe im Meer. Diese Karte wurde auf einer ausländischen Webseite für OnlineAuktionen von Seol Jong-guk, Geschäftsführer des Geobukseon Hotels in Tongyeong, ersteigert.
Auch wenn Tongyeong heute unscheinbar scheinen mag, so war es früher doch groß und seiner Zeit voraus. Als erste Planstadt des Joseon-Reichs war es aufgrund seines hoch entwickelten Handwerks und Handels führend in puncto gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Als Zentrum der Südküstenregion bot die Stadt fruchtbaren Boden für Kunst und Kultur. Tongyeong, das seit der Öffnung der Häfen für den Außenhandel relativ schnell die japanische und westliche Kultur aufsog, war eine der kosmopolitischsten Städte der Zeit und stand zudem an der Spitze der Modernisierung. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 7
kraft, sie waren auch voller Stolz und hatten ein waches Bewusstsein. Auch das kann wohl auf die fast 300-jährige Geschichte als Marinehauptquartier zurückgeführt werden. Der Oberbefehlshaber der Seestreitkräfte war als militärischer Beamter zweiten Ranges von gleichem Rang wie ein Gouverneur. 11 Städte wie Jinju, Changwon, Gimhae, Jinhae, Sacheon, Geoje usw. und 23 Marine-Kasernen standen unter seinem Befehl. Im Kriegsfall hatten alle seinem Kommando zu folgen. Tongyeong war daher das militärische, administrative und kulturelle Zentrum der Region und ebenfalls Mittelpunkt von traditionellem Gewerbe und Handel. So war es ein großer Schock, als das Marinehauptquartier 1895 im Rahmen der Gabo-Reformen, die das Joseon-Reich zwecks Modernisierung des Landes durch Öffnung gegenüber der westlichen Zivilisation einleitete, zusammen mit dem Marinekommando der Provinz Gyeongsang-do geschlossen wurde. Viele Beamte und Soldaten, die seit Generationen der Marine gedient hatten, verloren auf einen Schlag ihren Arbeitsplatz. Ein Großteil der Meister aus den Zwölf Werkstätten ließ sich in Seoul und anderen Orten nieder. Einige eröffneten Werkstätten in der Nähe, aber für das traditionelle Handwerksgewerbe als solches begann der Niedergang. Als Joseon schließlich seine Häfen öffnen musste, strömten japanische Fischer auf der Suche nach neuen Fischgründen ins Land. Diese Japaner, die politische und administrative Unterstützung genossen, brachten neue Technologien, Ausrüstungen und Kapital ins Land und monopolisierten die besten Fischfanggründe. Sie begannen, den Gewerbe- und Finanzbereich in Tongyeong zu vereinnahmen. Auch die Zahl der in der Stadt lebenden Japaner wuchs. Es gab sogar Fälle wie den der japanischen Präfektur Okayama, in denen die Kolonialisierung mit Unterstützungsgeldern zur Niederlassung in bestimmten Siedlungsgebieten systematisch vorangetrieben wurde. Trotz diverser Schwierigkeiten stellte die Fischerei allmählich auf moderne Methoden um und wuchs beständig. 1966 wurde auf der Insel Yokji-do, die unter der Verwaltung von Tongyeong steht, eine Fischereibasis aufgebaut. Ein Jahr später richtete man in der Innenstadt von Tongyeong eine Fischsamenbank ein, die zum Ausbau der Fischzuchtindustrie führte. Dank der vom Himmel geschenkten natürlichen Gegebenheiten machte sich Tongyeong als „Fischerei-Standort Nr. 1“ einen Namen. Tongyeong ist zwar nach wie vor Zentrum der modernen Fischerei und des Küstenseeverkehrs, aber die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Stadt nahm mit Beginn des schnellen Wirtschaftswachstums des Landes entsprechend ab. Zudem erlebte die Fischerei mehrere 1 Krisen: Wegen der Roten Flut 8 KOREANA Herbst 2015
(Algenblüte) starben massenhaft Fische und Meeresfrüchte, der Austernexport wurde für längere Zeit ausgesetzt. In den 1980er und 90er Jahren stagnierte die Stadt, die Bevölkerung wuchs nur mäßig. Mitte der Nuller-Jahre erfolgte ein kurzzeitiger Aufschwung im Schiffbau, dessen Anteil eine Zeitlang sogar den der Fischerei überstieg. Da die Stadt lange abseits der wirtschaftlichen Entwicklung stand, konnte sie zumindest ihr sauberes natürliches Umfeld erhalten.
Eine schöne Stadt voller Überraschungen Tongyeong rühmt sich, eine Stadt der Kunst zu sein. Viele berühmte Literaten und Künstler wie die Dichter Kim Chun-su (1922-2004) und Yu Chi-hwan (1908-1967), der Maler Jeon Hyuk-lim (19162010), der Dramatiker Yu Chi-jin (1905-1974), der Komponist Yun I-sang (1917-1995) die Schriftstellerin Pak Kyongni (1926-2008) und der Schriftsteller Kim Yong-ik (1920-1995) sind in Tongyeong geboren oder aufgewachsen. Auch der Poet Baek Seok (1912-1995) und der Maler Lee Jung-seob (1916-1956) hatten eine innige Beziehung zu dieser Stadt. Überall auf den Straßen und in den Parks finden sich Denkmäler, Gallerien und Gedenkhallen zu Ehren der berühmten Söhne und Töchter von Tongyeong. Viele wundern sich, dass aus einer so kleinen Stadt so viele Literaten und Künstler hervorgegangen sind. Die einen sagen, dass es an der bezaubernden natürlichen Umgebung liege, andere wiederum meinen, dass die Tradition der Zwölf Werkstätten ausschlaggebend sei. Aber sollte man seine Aufmerksamkeit nicht auf die Tatsache richten, dass all diese Künstler zu einer bestimmten Zeitperiode aktiv waren? Auch wenn Tongyeong heute unscheinbar scheinen mag, so war es früher doch groß und seiner Zeit voraus. Als erste Planstadt des Joseon-Reichs war es aufgrund seines hoch entwickelten Handwerks und Handels führend in puncto gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Als Zentrum der Südküstenregion bot die Stadt fruchtbaren Boden für Kunst und Kultur. Tongyeong, das seit der Öffnung der Häfen für den Außenhandel relativ schnell die japanische und westliche Kultur aufsog, war eine der kosmopolitischsten Städte der Zeit und zudem an der Spitze der Modernisierung. Bereits vor der Annexion Koreas 1910 begannen die Japaner, sich mit Blick auf die wirtschaftliche Profitabilität in Tongyeong niederzulassen. Außer dem Sebyeonggwan wurden alle Gebäude des Marinehauptquartiers abgerissen und durch neue Bauten wie eine Schule, ein Gerichtshof und ein Steueramt ersetzt. Es bildete sich ein modernes japanisches Stadtzentrum heraus, Straßen und Hafeneinrichtungen wurden saniert.
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1931 wurde der Bau des Tongyeong-Kanals und eines unterseeischen Tunnels vollendet. Mitte der 1930er Jahre lebten im Zentrum der Stadt ca. 3.000 Japaner, in der ganzen Region etwa 6.000. Auch die westliche Kultur fand sehr früh Einzug in Tonyeong. Vertreter der britischen Anglikanischen Kirche und der australischen Presbyterianischen Kirche missionierten seit 1894/95 in der Stadt. 1905 wurde eine Kirche gebaut, 1911-1912 ein Kindergarten eingerichtet. Zwar scheiterte der Bau einer Grundschule, aber die Missionare eröffneten die Jinmyeong-Ausbildungsstätte, wo sie Mädchen und junge Frauen jenseits des schulpflichtigen Alters unterrichteten. Auch eine Abendschule wurde eröffnet. Diese Bildungseinrichtungen trieben zusammen mit der beruflichen Schulung eine auf dem Geist des Christentums basierende Volkserziehung voran und wurden für die Bewohner von Tongyeong zu einer geistigen Säule der sozialen Bewegung. So kamen die Menschen durch die Missionare bereits sehr früh mit der westlichen Kultur in Berührung . Tongyeong war auch Ort unterschiedlichster gesellschaftlicher Bewegungen, sei es die Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919, die Jugendbewegung, die Arbeiterbewegung, die Pachtstreitbewegung der Bauern oder die Singanhoe-Unabhängigkeitsbewegung. Die Singanhoe-Sektion in Tongyeong verfocht die strengste Doktrin in ganz Korea. Das Bildungsfieber der Stadt war so hoch, dass in Bezug auf die Zahl der nach Japan geschickten Studenten Tongyeong gleich an zweiter Stelle hinter der Hauptstadt stand.
1 In der Gangguan-Bucht liegen Nachbildungen eines Geobukseon-Schildkrötenschiffes (links) und eines Panokseon-Kriegsschiffes mit Kommandoturm (rechts) vor Anker. Das von Admiral Yi Sun-shin konzipierte Schildkrötenschiff besaß zur Abwehr japanischer Enterangriffen ein mit Eisenspitzen bewehrtes Oberdeck. Zusammen mit den Panokseon waren die Schildkrötenschiffe mit ihrer hervorragenden Gefechtsausstattung entscheidend für Joseons Seesieg über die japanischen Invasoren während der Imjinwaeran-Invasion im 16. Jh. 2 Die 1604 erbaute Sebyeonggwan-Halle gehörte zu den Hauptgebäuden des in Tongyeong ansässigen Marineoberkommando der Drei Provinzen. Der Name bedeutet „Waffen davonspülen“ und steht für den Wunsch, einen erneuten Kriegsausbruch zu verhindern.
Auch die Jugendbewegung war sehr aktiv. So errichteten die Teilnehmer z.B. mit selbst gesammelten Spenden das Gemeinschaftshaus für Jugendliche. Direkt nach der Befreiung vom japanischen Joch 1945 engagierten sich die Bürger von Tongyeong für den Aufbau eines unabhängigen Nationalstaates. Dieser Geist ist heute noch lebendig: Um die von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung verabschiedete Agenda 21 auf regionaler Ebene zu verwirklichen, wurde die amtlich-zivile Organisation Grünes Tongyeong 21 ins Leben gerufen. Grünes Tongyeong 21 ermöglichte es, das kurz vor dem Abriss stehende Viertel Dongpirang mit seinen Wandmalereien zu retten und landesweit berühmt zu machen. Auch in Zukunft wird die Stadt mit ihren vielfältigen Gesichtern und ihrem überraschendem Charme neue Kapitel schreiben. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 9
SPEZIAL 2 Tongyeong: Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz
IM SCHUTZ DER INSELN, gENäHRT VOM MEER Tongyeong ist eine harmonische Mischung aus Bergen, Meer und Inseln. Die beiden Hauptberge yeohang-san und Mireuk-san, der vom Meer umschlossene Hafen in der gangguan-Bucht, und gleich davor der Markt, auf dem zu allen Jahreszeiten geschäftiges Treiben herrscht: All das verleiht der Stadt vibrierendes Leben. Die gewässer vor der Küste sind juwelengleich mit großen und kleinen Inseln bestickt. Werfen wir einen Blick auf das Leben der Menschen, die in dieser malerischen Landschaft zu Hause sind. Kang Je-yoon Dichter, Rektor der Island School, Pressian Humanities Institute Fotos Choi Jung-sun
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Auf einem Fischkutter werden frisch gefangene Sardellen aus dem Netz geschĂźttelt. um die Frische zu erhalten, werden die Fische gleich an Bord verarbeitet. Ein Sardellenfang-Konvoi besteht gewĂśhnlich aus vier Booten: einem Erkundungsboot, zwei Fangbooten mit Netzen und einem mit Verarbeitungsanlagen ausgestatteten Boot.
KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 11
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ongyeong ist eine liebliche Hafenstadt, ein Ort, „an dem einen das Meer selbst im Tiefschlaf ruft und aufstehen lässt“. Dank der Insel Mireuk-do (Insel des Maitreya-Buddha), die vor der Tongyeong-Halbinsel liegt und als Wellenbrecher fungiert, ist Tongyeong ein von der Natur gesegneter, vor Wind und Wellen geschützter Hafen. Die Gangguan-Bucht, die sich bis hin zur Stadtmitte erstreckt, ist das pochende Herz der Stadt. Zu jeder Stunde laufen hier Fischerboote aus und ein und die über Nacht gefangenen Fische und Meeresfrüchte wie Muscheln kommen gleich auf den Jungang-Markt, der direkt am Ufer liegt. Dank der Bucht und der Fischerboote kann Tongyeong seinen Ruf als ein Hauptumschlagplatz für ein üppiges Angebot an Fischereiprodukten erhalten.
Der Berg Mireuk-san und das Viertel Dongpirang Sanft umarmt der Mireuk-san die Stadt. Es ist ein heiliger, von den Menschen verehrter Berg, an dessen Hängen der Tempel Yonghwa-sa und die Einsiedelei Dosol-am liegen, die beide über tausend Jahre alt sind. Der Mireuk-san schützt die Stadtbewohner vor starken Winden und wilden Wellen, sodass er als Wächterberg Gegenstand der Verehrung wurde. Heutzutage erspart eine Seilbahn den mühsamen Aufstieg zum Gipfel, von wo aus man einen grandiosen Blick auf das sich zu Füßen erstreckende Panorama hat: das Stadtzentrum von Tongyeong und die Inseln vor der Küste bei Samcheonpo, Namhae, Goseong, Sacheon und Geoje. Auf dem Gipfel des Mireuk-san befand sich die Signalfeuer-Station Bongsu-dae, die dem Marinehauptquartier der Drei Provinzen während der Joseon-Zeit (1392-1910) zur Überwachung der Bewegungen des Feindes diente. Daher trägt das Dorf 12 KOREANA Herbst 2015
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1 Ein Großteil des Fangs wird auf der Stelle getrocknet. Die Verarbeitung zu Trockenprodukten ist zwar aufwändig, aber die hohen Preise, die Trockenfisch erzielt, lohnen die Anstrengung. 2 Dorffrauen beim Reparieren der Fischnetze. Beschädigte Netze müssen sorgfältig repariert werden, damit sie wieder eingesetzt werden können.
am Fuße des Berges den Namen „Bongsu-gol“. Am südlichen Berghang des Mireuk-san liegt der Tempel Mirae-sa. Dieser Tempel, der sich harmonisch in die Berglandschaft einfügt, ist zwar auch für seine architektonische Schönheit bekannt, doch sein größter Schatz ist der Zypressenwald. Die Hinoki-Scheinzypressen wurden während der Kolonialzeit (1910-1945) von den Japanern angepflanzt und unterstehen heute der Verwaltung des Tempels. Dieser rund 165.000m3 große Wald ist einfach ein Ort der Heilung. Wandelt man auf seinen Pfaden, fühlen sich Körper und Geist gereinigt. Das Wahrzeichen Tongyeongs ist das Viertel Dongpirang, das in letzter Zeit große Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Dongpirang“ bedeutet „Klippen an der Ostseite“. Das Viertel zählte einst zu den ärmsten von Tongyeong. Doch dank des von einer amtlich-zivilen Organisation (Grünes Tongyeong 21) angeführten Projekts zur Wiederbelebung geriet Dongpirang ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. 2007 beschloss die Stadt Tongyeong, im Rahmen der Neuentwicklung, das ganze Viertel dem Erdboden gleich zu machen und dort einen Park anzulegen. Die Generalsekretärin von Grünes Tongyeong 21, die es bedauerlich fand, dass das Viertel mit seinen alten Gassen und damit allen Spuren der Vergangenheit verschwinden sollte, schlug der Stadt anstelle der Neuentwicklung eine Sanierung vor. Sie überzeugte die Zuständigen davon, Dongpirang zu einem originären Gassenkultur-Viertel, in dem die Geschichte der Region und das Leben der Bewohner verschmelzen, zu entwickeln. Sie war überzeugt, dass dieses schäbige Gassenviertel ein erhaltenswerter Ort der Kultur sei. Und dann begannen Studenten damit, die Mauern der alten Häuser zu bemalen. Als Wandmalerei-Viertel lockte es mehr und mehr Touristen an und wurde wieder zum Leben erweckt. Dongpirang, das einen Geist schön wie diese Lüftlmalerei atmet, wurde vor der Zerstörung bewahrt, indem KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 13
Schäbigem und Altem neues Leben eingehaucht wurde.
Das Meer vor Tongyeong und die Insel yokji-do In den Gewässern vor der Stadt gibt es rund 500 Inseln unterschiedlichster Größe, viele umgeben von Meeresfarmen. Tongyeong ist besonders für seine Austern- und Seescheidenzucht berühmt, die 70 Prozent der landesweiten Produktion ausmacht. Tongyeongs Austern, gezüchtet in sauberen, klaren Gewässern, zeichnen sich durch ihren reichen Geschmack aus und sind im Winter so cremig wie Milch. Tongyeongs Ruf als Hochburg der Austernzucht geht auf die 1960er Jahre zurück, als im Stadtgebiet Gwangdomyeon mit der Floßkultivierung begonnen wurde. Im Frühling bieten die roten Seescheiden, die per Boot von den Meeresfarmen in den Hafen geschleppt werden, einen prächtigen Anblick, der an rote, auf dem Wasser schwimmende Blüten erinnert. Die Seescheide (Halocynthya 1 roretzi) wurde erst ab den 1970er Jahren zu einer gängigen Meeresfrucht, als man in den Küstenregionen mit ihrer Zucht begann. Davor kam sie nur in den Küstengebieten auf den Tisch. Wilde Seescheiden, die von den Tauchern geerntet wurden, waren Köstlichkeiten, in deren Genuss die Einwohner der Binnenregionen kaum je kamen. In den Städten werden sie meistens roh verzehrt, doch an der Küste kommen sie in die Suppe, werden mit Gewürzen angerichtet oder unter den Reis gemischt. Auf Yokji-do, die etwa eine Fährenstunde von Tongyeong entfernt ist, hat man trotz der zahlreichen drumherum liegenden Inselchen einen weiten Blick aufs Meer. Es ist ein besonderer Ort, der die vielfältige Schönheit des Dadohae-Archipels und den Thrill des Ozeans in sich vereint. Auf Yokji-do leben etwa 1.500 Menschen. Malerische, gut ausgebaute Trails, die das ganze Jahr über Wanderer anziehen, führen auf den Cheonwang-bong (Gipfel des Himmelskönigs, 392m). Von dieser höchsten Bergspitze der Insel aus hat man einen umfassenden Blick auf die Inselchen in der Umgebung. Der Blick von dem flachen Felsen, der über eine Hängebrücke zu erreichen ist, ist schlichtweg atemberaubend. Da die ganze Insel gebirgig ist, gibt es viele schöne Wälder, unter denen zweifelsohne der Scheinkastanien-Wald (Castanopsis cuspidata var. thunbergii) zu den eindrucksvollsten gehört. Es ist selten, dass so ein üppiger Scheinkastanien-Hain in den warm-temperierten Wäldern Koreas gedeiht. Einst war Yokji-do der bedeutendste Fischerei-Standort an der Südküste. Doch heutzutage ist auch hier die Fischzucht wesentlich verbreiteter als der Fischfang. Die umgebenden Gewässer sind voller Meeresfarmen, in denen Meerbrassen, Felsenfische und Zackenbarsche gezüchtet werden. Derzeit floriert auch die Makrelenzucht. Nachdem Yokji-do in diesem Bereich erfolgreich war, werden jetzt auch um Yeonhwa-do Makrelen gezüchtet. Rohe Makrelen schmecken so süß und herzhaft-pikant, dass man – einmal probiert – jede andere Art von Rohfisch, die man mal gegessen hat, sofort vergisst. Eine weitere Sehenswürdigkeit in Jabupo ist das Dorfunternehmen „Oma Barista“, das von 70- bis 89-jährigen Frauen betrieben wird. Die 14 KOREANA Herbst 2015
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1 Jabupo ist berühmt für seine „Oma Baristas“, ältere Frauen in ihren 70ern und 80ern, die ein Café auf der Insel Yokji-do betreiben. Eine Tasse Kaffee und Plätzchen aus auf der Insel angebauten Süßkartoffeln sind ein Highlight für Touristen. 2 Einst vom Abriss bedroht, gewann das Viertel Dongpirang Berühmtheit, als junge Künstler die heruntergekommenen Häuser mit Wandbildern schmückten. Das Viertel gehört heute zu den bekanntesten Attraktionen von Tongyeong und zieht Touristen aus dem ganzen Land an.
In den Gewässern vor der Stadt gibt es rund 500 Inseln unterschiedlichster Größe, viele umgeben von Meeresfarmen. Tongyeong ist besonders für seine Austern- und Seescheidenzucht berühmt.
älteren Damen backen Plätzchen aus Süßkartoffeln der Region und bereiten Kaffee mit eigenhändig gerösteten Bohnen zu.
Die Inselbewohner Auf der Insel Daemaemul-do gibt es einen Wanderweg, von dem aus man überall Blick aufs Meer hat. Der Pfad die Klippen entlang läuft sich angenehm und bequem. Ist man aus dem Wald heraus, tut sich vor einem eine Grasebene auf, hinter der sich das Meer erstreckt. Die Rückseite der Insel ist von bizarren Felsformationen gesäumt, an deren steilen Hängen immergrüne Bäume wie Scheinkastanien und Kamelien wachsen, die riesigen Blumenbündeln gleichen. Auf dem Aussichtsturm auf der Bergspitze Janggun-bong (Gipfel des Generals) erscheinen einem die Inseln Somaemul-do und Deungdae-seom zum Berühren nahe. Von hier aus wird einem erst richtig bewusst, wie schön die Insel Somaemul-do tatsächlich ist. Auch auf Daemaemul-do sammeln die Haenyeo-Taucherinnen, Meeresfrüchte wie Seeohren, Gehörnte Turbanschnecken, Seeigeln, Austern usw. Zu den großen Freuden einer Inselreise gehört es, an der Anlegestelle Rast zu machen, einen zu trinken und dabei die handgroßen Austern zu verzehren, die von den alten HaeKOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 15
nyeo gerade aus dem Wasser geholt worden sind. Die Insel Chu-do ist die Stadt der Scheibenbäuche (Liparis tessellatus). Die Fischkutter der Insel setzen alle Fischfallen ein. Während in anderen Regionen Plastikfallen verwendet werden, bestehen die Fischer von Chu-do auf der traditionellen und umweltfreundlicheren Fangmethode mit Bambusfallen. Fangsaison ist von Spätherbst bis Winter und in dieser Zeit verwandelt sich die gesamte Insel in ein einziges Fischtrockengestell. Nicht nur an den Hügelhängen, sondern auch am Straßenrand oder auf Einfriedungsmauern, in Gemüsegärten und in den Höfen werden die Fische zum Trocknen aufgehängt. In den einzelnen Häusern hängen mehr Scheibenbäuche als Wäschestücke auf der Leine. Die Scheibenbäuche werden auch frisch verkauft, doch die meisten werden getrocknet, da der Trockenfisch den Mehraufwand an harter Arbeit aufgrund der höheren Preise lohnt. Scheibenbauch-Suppe gilt als unschlagbares Katerfrühstück. Die Insel Yeonhwa-do (Lotusblüten-Insel) ist wie ein großer Berg, an dessen steilen Hängen die Bewohner quasi behaglich aneinandergekauert leben. Der Ausblick, der sich von der Bergspitze aus auf die bezaubernde Landschaft der Yongmeori-Küste (Drachenkopf-Küste) bietet, ist majestätisch. Die alten Frauen aus dem Dorf Yeonhwa-ri stellen den trüben Makgeolli-Reiswein selbst her. Ein Glas davon ist mehr als genug, um den Durst des Wanderers zu stillen. Auf der angrenzenden Insel U-do sind die Wanderwege entlang der Küste atemberaubend. Diese sanft ansteigenden Pfade, die sich über die ganze Insel ziehen, führen durch eine Reihe von Waldtunneln und entlang herrlicher Meerlandschaften. Als Spezialität der Insel gelten die verschiedenen Algen-Beilagen, die die Frauen der Fischer zubereiten. 16 KOREANA Herbst 2015
EIN ALTER FISCHER MIT DEM HERZEN EINES BODHISATTVA
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Am Pier der Insel Yeonhwa-do repariert ein alter Mann ein „Jubok-Fischnetz“. Jubok ist eine Art Stellnetz, das heutzutage kaum noch verwendet wird. An diesem Tag mit strahlend blendendem Sonnenschein trägt er eine Kopfbedeckung, die einem Sonnenschirm ähnelt. Was für eine originelle Idee! Ich fragte, wo er den Hut entdeckt hätte. Er sagte: „Im Internet finden Sie viele davon.“ Der alte Mann ist auf Yeonhwa-do geboren und aufgewachsen. Nach dem Militärdienst fuhr er dreißig Jahre lang auf Ozeandampfern als Maschinist zur See. Er kam erst auf die Insel zurück, als seine alte Mutter demenzkrank wurde. Der alt gewordene Sohn pflegt noch immer unermüdlich seine 92-jährige Mutter. Das Netz repariert er nicht seinetwegen. Im Meer zwischen den Inseln Yeonhwa-do und U-do gibt es unzählige Aquakulturanlagen. Es kommt vor, dass die Netzgehege brechen und die gezüchteten Fische en masse entkommen. In so einem Fall kann der Besitzer so großen Schaden nehmen, dass seine Existenz gefährdet ist. Der alte Mann erlebte, wie einige Inselbewohner, die ein solches Schicksal ereilte, in Verzweiflung versanken. So kam er auf die Idee, die Netze zu reparieren. Wenn wieder Stellnetze in den Zuchtanlagen brechen und die Fische entfliehen, kann der betroffene Fischfarmer seine reparierten Netze benutzen. Der alte Mann flickt die Netze nicht in der Hoffnung auf eine Belohnung, sondern nur in dem Wunsch, die Schäden minimieren zu helfen. Der Alte hofft, dass ein Teil der entkommenen Fische wieder gefangen werden kann, wenn er an beiden Seiten der Fluchtroute seine Netze aufstellt. Wenn die Fischgehege zerstört werden, „... können die Fischer ja nirgendwo mehr arbeiten...“, sagt er und will aus diesem Mitleid heraus wenigstens eine kleine Hilfe anbieten. Genau das ist das wahre Herz eines Bodhisattva.
1 Die zerklüftete Felsenküste der Insel Yeonhwa-do bietet ein spektakuläres Panorama. Der Anblick des jadegrünen Wassers unter der 2011 eingerichteten hängenden Fußbrücke ist unvergesslich. 2 Ein alter, auf der Insel Yeonhwa-do geborener Mann, der 30 Jahre lang auf Ozeandampfern arbeitete, verbringt seine Tage mit dem Ausbessern von Fischnetzen und der Pflege seiner demenzkranken Mutter. Er begann mit der Netz-Ausbesserungsarbeit, als er erlebte, wie einige Fischer der Insel durch Unfälle auf ihren Käfig-Fischfarmen bankrott gingen.
©Kang Je-yoon
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SPEZIAL 3 Tongyeong: Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz
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STADT DER KÜNSTLER, DIE VON FREIHEIT TRäUMTEN
Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom, Choi Jung-sun
Die Künstler, die während der japanischen Kolonialherrschaft in Tongyeong geboren wurden, prägten als Musiker, Dichter, Maler und Schriftsteller die Kultur der Zeit. Dass sie ihr Talent zum Blühen bringen konnten, ist der Selbstständigkeit, der Modernität und dem wirtschaftlichen Wohlstand der Stadt geschuldet. Die kleine Hafenstadt zieht die Menschen mit dem inspirierenden gefühl an, dass hier jeder zu einem Dichter oder Künstler werden kann. 18 KOREANA Herbst 2015
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ie Einwohner von Tongyeong scheuen sich nicht, ihre Stadt als „Stadt der Kultur und Kunst“ zu bezeichnen. Viele, die dabei sofort an Florenz, Paris oder Wien denken, werden sich fragen: Wann hatte Tongyeong denn überhaupt eine kulturelle Blütezeit, die sich mit der dieser Städte messen könnte? Wenn eine Region die Identität eines „besonderen Ortes“ erwerben möchte, müssen die diesen Ort erlebenden Menschen den Kontext der damit in Zusammenhang stehenden Aktivitäten verstehen, sie als bedeutsam wahrnehmen und somit bestimmte mentale Repräsentationen miteinander teilen. Das heißt: Die Verbindung mit Ereignissen und Personen im Sinne von „Was ist dort passiert?“ oder „Wer hat dort gelebt?“ und dessen Bedeutsamkeit muss als Wert angenommen werden.
Als Beispiel sei Salzburg genannt: Nur weil es der Geburtsort von Mozart ist, wird es heute als „Mozart-Stadt“ gepriesen, obwohl der Komponist die meiste Zeit seines Schaffens in Wien verbrachte. Tongyeong ist keine natürlich gewachsene Stadt: Ende des 15. Jhs wurde sie während der japanischen Imjinwaeran-Invasion (1592-1597) aus strategischen Gründen zur Militärstadt entwickelt. Wie konnte sie dann zur „Stadt der Kunst und Kultur“ werden?
Kollision von Kolonialherrschaft und Moderne Welcher namhafter Künstler kann sich Tongyeong denn nun rühmen? Zu nennen sind u.a. der Komponist Yun Isang (19171995; international als Isang Yun bekannt), der Dramatiker Yu Chi-jin (1905-1974), die Dichter Yu Chi-hwan (1908-1967), Kim
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1 In der Ausstellungshalle des Isang Yun Memorial Parks sind Instrumente, Notenblätter und andere Andenken an den Komponisten zu sehen. Die ständige Ausstellung, die sich neben seiner Geburtsstätte befindet, hilft den Besuchern verstehen, wer dieser Komponist war und was ihm seine Musik und sein Vaterland bedeuteten. 2 Der in der Nachbarstadt Geoje (Bangha-ri, Dundeok-myeon) geborene und in Tongyeong aufgewachsene Yu Chi-hwan war als Dichter bekannt für seine „Poesie des Lebens, der Nihilität und des Widerstands“. Yu, in dessen Versen eine tiefe Sehnsucht nach seiner Heimatstadt zum Ausdruck kommt, ist dort auf dem Familienfriedhof begraben.
Chun-su (1922-2004) und Kim Sang-ok (1920-2004), die Schriftstellerin Pak Kyongni (1926-2008) und der Schriftsteller Kim Yong-ik (1920-1995) sowie der Maler Jeon Hyuck-lim (1916-2010). Sie alle sind entweder in Tongyeong geboren oder dort aufgewachsen und haben ohne Zweifel durch ihre hervorragenden künstlerischen Leistungen die Blütezeit der zeitgenössischen koreanischen Kunst auf den Weg gebracht. Einer näheren Erklärung bedarf hierbei die Tatsache, dass alle bereits in der ersten Hälfte des 20. Jhs, als Korea unter japanischer Kolonialherrschaft stand, Bekanntheit erlangt hatten. 1895 verlor Tongyeong seinen Status als Standort des Marineoberkommandos Tongjeyeong, dem in der Joseon-Zeit (13921910) die drei Provinzen Gyeongsang-do, Jeolla-do und Chungcheong-do unterstanden. Damals war die Stadt bereits der bedeutendste Fischerei-Hub an der südlichen Küste. Wegen der warmen Tsushima -Strömung war die Region schon immer reich an Fischereiressourcen, sodass die Fischerei dort bereits früh florierte und Tongyeong beträchtlichen wirtschaftlichen Aufschwung brachte. Dank des lebhaften Austausches mit den Japanern, die sich bereits vor der Kolonialherrschaft (19101945) in Tongyeong niedergelassen hatten, war zudem den Bürgern von Tongyeong die neue, vom Westen beeinflusste moderne Kultur nicht fremd. Mit der Begeisterung für moderne Bildung, die sich nach der Unabhängigkeitsdemonstration vom 1. März schlagartig verbreitet hatte, begannen die kleinen Landbesitzer und Fischwirte, ihre Kinder in der Hoffnung auf einen ordentlichen Beruf zum Studium nach Japan zu schicken.
Licht und Schatten der Kunst In den 1920er Jahren gründeten die von ihrem Studienaufenthalt in Tokio zurückgekehrten jungen Leute einen Literaturzirkel, der die Zeitschrift Sojebu (Saubermacher) herausgab. Angeführt wurde die Gruppe von den Brüdern Yu Chi-jin und Yu Chi-hwan. Wegen des Bankrotts des KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 19
väterlichen Heilkräutergeschäftes musste Yu Chi-hwan, der jüngere der beiden, sein Studium in Japan abbrechen und nach Korea zurückkehren. Zu der Zeit stand er aber bereits unter dem Einfluss von anarchistischen Künstlern, die in Japan studiert hatten und damals führend in den koreanischen Dichterkreisen waren, sowie unter dem Einfluss des namhaften koreanischen Dichters Jeong Ji-yong (1902-1950). Yu Chi-hwans erster Gedichtband Gedichte des Blauen Pferdes [Blaues Pferd: Schriftstellername des Autors] (1939), enthält sein bekanntestes Werk Flagge , das mit der berühmten Zeile „Dies ist ein lautloser Schrei...“ beginnt. Flagge wurde ins Mittelschulbuch für Koreanisch aufgenommen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, musste sich Yu mit den verschiedensten Arbeiten durchschlagen. 1940 zog er mit
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seiner Familie in die Mandschurei, wo er als Gutshofleiter arbeitete. Anders als sein jüngerer Bruder konnte Yu Chi-jin sein Studium der englischen Literatur an der japanischen Rikkyo-Universität abschließen. Da er sich fürs Drama interessierte, rief er nach seinem Rückkehr die Gesellschaft für Theaterkunst ins Leben und setzte sich aktiv für das neue Theater ein. Als Dramatiker und Regisseur führte er die Gruppe an, bis sie sich, dem Druck der japanischen Kolonialherren nachgebend, auflöste. Yu Chi-jin thematisierte in realistischem Stil Japans koloniale Ausbeutung und die dadurch bewirkte Verarmung des koreanischen Volkes. Der Dichter Kim Chun-su, der mit seiner einzigartigen Literaturwelt der „Poesie ohne Sinn“ die Welt der zeitgenössischen koreanischen Poetik bereicherte, war auf
der Hochzeit von Yu Chi-hwan als Blumenjunge mit dabei, da er damals den Kindergarten besuchte, in dem Yus Braut arbeitete. Ohne konkretes Lebensziel war Kim zum Studium nach Japan gegangen, wo er sich für die Gedichte von Rainer Maria Rilke begeisterte. Gegen Ende des Pazifikkriegs (1937-1945), als sich die japanische Zwangsrekrutierung von Soldaten und Arbeitern verschlimmerte, suchte Kim in der Stadt Masan Unterschlupf bei der Familie seiner Frau. Nach der Befreiung 1945 besuchte er Yu Chi-hwan in Tongyeong. In Erinnerung an diese Zeit schreibt Kim Chun-su: „Direkt nach der Unabhängigkeit sammelten sich aus Tongyeong gebürtige Künstler und Kunstaspiranten in Tongyeong und gründeten den Tongyeong Kulturverband. Den Vorsitz übernahm Yu Chi-hwan. Der Komponist Yun Isang, der die westdeutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte, der Dichter Kim Sang-ok, der Dramatiker Park Jae-seong (1914-1947), der Komponist Jeong Yun-ju (1918-1997) und der Maler Jeon Hyuck-lim waren die wichtigsten Mitglieder.“ Überraschend ist nicht nur, dass sich in einer so kleinen Stadt wie Tongyeong eine große Zahl bemerkenswerter Künstler verschiedenster Richtungen gefunden haben, sondern auch, welche Aktivitäten sie unternahmen: Sie gruben volkstümliche Tänze wieder aus, führten Theaterstücke auf, unterrichteten Analphabeten im Lesen und Schreiben, hielten literarische Vorträge und betrieben sogar eine Abendschule. Sie
Überraschend ist nicht nur, dass sich in einer so kleinen Stadt wie Tongyeong nicht nur eine große Zahl bemerkenswerter Künstler verschiedenster Richtungen gefunden haben, sondern auch, welche Aktivitäten sie unternahmen. [...] Sie hatten „jeder in seinem Herzen das ehrgeizige Ziel, in dem nun unabhängigen Land durch eine Kulturbewegung den Geist des Volkes anzuregen.“ 20 KOREANA Herbst 2015
hatten „jeder in seinem Herzen das ehrgeizige Ziel, in dem nun unabhängigen Vaterland durch eine Kulturbewegung den Geist des Volkes anzuregen.“ Doch, wie Kim Chun-su sagte, „bestand diese Bewegung keine zwei Jahre“. Die Künstler damals „waren einfach zu jung und voller jugendlicher Waghalsigkeit.“ Jugend und jugendliches Draufgängertum können zwar als Leidenschaft und Tatendrang interpretiert werden, doch das stürmische Zeitalter legte auch seine Schatten über ihr Leben. Als die japanische Regierung die Theatergruppe von Yu Chijin auflöste, gründete Yu eine neue Gruppe, mit der er jedoch „Japan-konforme“ Stücke, die den Anordnungen des japanischen Generalgouverneuramts entsprachen, auf die Bühne brachte, sodass sein Name im „Biographischen Lexikon pro-japanischer Kollaborateure“ landete. Vor einiger Zeit wurde zudem ein pro-japanisches Gedicht seines Bruders Yu Chi-hwan, der bis dahin nicht mit der Kontroverse über pro-japanische Literatur in Verbindung gebracht worden war, entdeckt, das er während seines Aufenthalts in der Mandschurei verfasst hatte. So verlor Yu Chi-hwans angebliche „patriotische Eigen-Verbannung“ an Glanz. Dem Komponisten Yun Isang blieb es versagt, vor seinem Tod noch einmal den Boden seiner geliebten Heimat zu betreten, nachdem er 1967 der Verwicklung in die sog. Ostberliner Spionageaffäre beschuldigt und von der südkoreanischen Regierung als Staatsfeind betrachtet wurde. Später gab jedoch der Koreanische Informati1 An Kim Chun-su, bekannt unter dem Spitznamen „Dichter der Blumen“ wird in einer ständigen Ausstellung mit rund 800 von seiner Familie gespendeten Nachlassstücken gedacht. In der am Kai gelegenen Ausstellungshalle sind im Erdgeschoss Kims Bücher und Manuskripte zu sehen, während im ersten Stock einige Möbelstücke, Kleider, Bücher und persönliche Gegenstände aus seinem Nachlass ausgestellt sind. 2 Pak Kyong-ni, eine der wahren Größen der modernen koreanischen Literatur, hat viele bekannte Werke hinterlassen, darunter Die Töchter des Apothekers Kim und Land . Sie schrieb einmal: „Die reinste und tiefste Form der Liebe ist das Mitleid.“ Die Gedenkhalle mit Blick auf das Meer ihrer Heimatstadt erlaubt anhand von Fotos und anderen Erinnerungsstücken einen Blick in Paks Leben.
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©Toji Cultural Foundation
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1 Die Außenwände der Jeon Hyuck-lim Memorial Hall in Bongsugol am Fuße des Mireuk-san sind fein bemalt mit Motiven aus den Arbeiten des Künstlers und seines Sohnes Jeon Hyeong-geun. Ausgestellt sind Malereien von Jeon Hyuck-lim, der für seine „Farben des Archipels“ und seine „magische Hand für Farben“ gelobt wird. 2 Das auf dem Hügel oberhalb der Gangguan-Bucht gelegene Viertel Dongpirang wurde durch die Malereien auf den Wänden der alten Häuser, die sich dicht an dicht in den engen Gassen drängen, wiederbelebt. Dongpirang, das endlose Ströme von Touristen anzieht, gilt als erfolgreiches Beispiel der Stadtviertel-Wiederbelebung.
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onsdienst im Rahmen der Aufarbeitung der Vergangenheit zu, dass die Ostberliner Spionageaffäre von der damaligen Regierung zum Erhalt ihrer politischen Macht manipuliert worden war. Was bedeutete wohl Yun Isang seine Heimatstadt Tongyeong?
Tongyeong, meine Heimatstadt „Er [Mein Vater] nahm mich oft nachts mit aufs Meer zum Fischen. Wir saßen dann schweigend im Boot und horchten auf das Springen der Fische und auf den Gesang der anderen Fischer, die sich von Boot zu Boot zusangen, schwermütige Lieder, den sogenannten ‚Südgesang‘, das Wasser trug die Töne weit, das Meer war wie ein Resonanzboden, und der Himmel war voller Sterne.“ (Auszug aus Der verwundete Drache (1987) von Luise Linser und Isang Yun) „Als ich in die Mittelschule kam, wechselte ich auf eine Schule in Seoul. Vielleicht war es vor dem Hwasin-Kaufhaus in Jongno oder in der Nähe des Gwanghwamun, auf jeden Fall spazierte ich irgendwo in dieser Gegend, als ich plötzlich am helllichten Tag nicht nur eine oder zwei, sondern Dutzende von Möwen schreien hörte. Himmel und Meer, die in dem Moment vor meinem Augen aufstiegen, waren Himmel und Meer von Janggae-seom, meiner Heimatinsel. Es waren Stapel von weißen Wolken, die sich Schicht auf Schicht dick und dicht anhäuften, und das smaragdgrüne Meer, das sich weit in Richtung Hallyeo-Wasserweg erstreckte.“ (Auszug aus Als Dichter auf einem Esel reitend, 1980, von Kim Chun-su)
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„Die Heimat kann dem Künstler auch als Quelle seines Schaffens dienen. Das Blau, das zu dieser Zeit – meiner ‚Blauen Periode‘ – meine Werke tief färbte, war die Farbe des Lichts im Hafen Chungmu, das mein Gedächtnis ganz füllte, und Farbe des Lichts des Himmels, der an den Hafen grenzte.“ (Auszug aus Lehrmeister meiner Werke: Der Himmel und das Licht des Wassers meiner Heimat (1998) von Jeon Hyuck-lim) „Tongyeong ist ein bescheidener Hafen am Dadohae-Archipel an der Südküste. Die Stadt, auf halbem Wege auf der Bu san-Yeosu-Seeroute gelegen, wird von ihren jungen Bewohnern als ‚Neapel Koreas‘ gepriesen. So klar und blau ist das Meer.“ (Auszug aus Die Töchter des Apothekers Kim (1962) von Pak Kyongni)
Stadt voller Leidenschaft Die Spuren, die die Künstler in der vom smaragdgrünen Meer eingerahmten Stadt Tongyeong hinterlassen haben, und die kulturellen Sehenswürdigkeiten, die zu ihrem Gedenken errichtet wurden, sind so reich an Vielfalt und Geschichten, dass man damit ein dickes Buch füllen könnte. Zu nennen sind v.a. die Tongyeong-Konzerthalle, in der zum Gedenken an den Komponisten Yun Isang jedes Jahr ein internationales Musikfestival stattfindet, die Gedenkstätte für Yun Isang, die sich in der Nähe seines Geburtshauses an der Straße Jungang-ro befindet, das Literaturmuseum Cheongma zum Gedenken an den Dichter
Yu Chi-hwan am Fuße des Mangil-bong, die Ausstellungshalle zum Gedenken an Kim Chun-su an der Küstenstraße, die Gedenkhalle für Pak Kyongni, die von der Stadtmitte aus über die Tongyeong-Brücke zu erreichen ist, und das Jeon Hyuck Lim Kunstmuseum an der Fünf-Wege-Kreuzung Bongpyeong. Neben diesen Kultureinrichtungen gibt es auch Orte, die an die unerfüllte Liebe erinnern, wie das ehemalige Teehaus Seongnim Dabang in Hangnam-dong, in dem der Maler Lee Jungseop (1916-1956) während des Koreakriegs seine Ausstellung eröffnete, das Postamt Jungang-dong, wo der Dichter Yu Chihwan 5.000 Liebesbriefe an seine Geliebte geschickt haben soll, sowie die Gasse gegenüber, in der der Stickereiladen dieser Geliebten gestanden haben soll, oder die Stelle, an der der Dichter Baek Seok (19121996) im Kampf mit seiner unerwiderten Liebe zu einer junge Frau aus Tongyeong rastlos auf und ab gegangen sein soll – heute steht an dieser Stelle ein Gedenkstein mit einem Gedicht von Baek. Es gibt aber auch eine Attraktion, die Tongyeong zukunftsorientiert in eine kreative Stadt umwandeln wird, nämlich das Viertel Dongpirang, das eine malerische Aussicht auf Bucht und Hafen von Gangguan bietet. Dongpirang war einst ein heruntergekommenes, Hügelviertel am Stadtrand von Tongyeong, eine Zuflucht für die Ärmsten. Vor einiger Zeit hat es sich aber in einen pulsierenden Kulturraum verwandelt: Die schmalen alten Gassen wurden von jungen Künstlern mit originellen Wandmalereien bedeckt und so mit neuem Reiz wiedergeboren. Heute ist das Viertel überfüllt mit Touristen. Die sich dicht an dicht aneinander drängenden Häuschen werden von zielstrebigen Künstlern als Werkstatt genutzt. Tongyeong, einst ein verschlafenes Fischerdorf, wurde im 17. Jh Hauptkommandoposten der Marine und im 20. Jh zu einer prosperierenden Handelsstadt. Heute entwickelt es sich zu einer Stadt der Kultur und Kunst, die es sich zu entdecken lohnt. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 23
SPEZIAL 4 Tongyeong: Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz
1 1 Die Möbelbeschläge Duseok sind kunstvoll gearbeitete Metall-Ornamente, die auf traditionellen Holzmöbeln als Eckenschutz, Scharniere und Türverschlüsse Verwendung fanden. Jedes Stück verlangt bis zur Fertigstellung Hunderte oder gar Tausende von Handgriffen: Malen des Musters auf eine Nickelplatte, Ausschneiden mit einer Handsäge, Eingravieren des Musters auf der Metalloberfläche, Auslegen des Designs mit Silber oder Kupferdraht usw. 2 Song Bang-ung, der die Kunsthandwerk-Tradition von Tongyeong fortsetzt, ist ein Meister der Perlmuttintarsien-Kunst und berühmt für sein herausragenden Mosaik-Techniken. Die exquisiten, mit Perlmuttintarsien verzierten Stücke aus Tongyeong haben schon viele Generationen von Frauen bezaubert.
Traditionshandwerk im neuen Stil wiederbelebt
Lee Kil-woo Senior Reporter, Tageszeitung The Hankyoreh Fotos Suh Heun-gang
Die traditionellen Kunsthandwerksprodukte der Stadt Tongyeong sind so exquisit gearbeitet und ästhetisch anspruchsvoll, dass sie den Betrachter sofort in ihren Bann schlagen. Die geschicktheit der Meister der Zwölf Werkstätten von Tongjeyeong, die über Jahrhunderte als landesweit Beste ihres Faches galten, lebt bis auf den heutigen Tag fort. Ist die besondere ästhetische Empfindsamkeit der Bewohner von Tongyeong vielleicht der natürlichen Umgebung mit ihrer malerischen Kulisse aus majestätischen Bergen sowie kleinen und großen Inseln im weiten Meer zu verdanken? 24 KOREANA Herbst 2015
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ährend der Joseon-Zeit (1392-1910) wurde im Jahr 1604 in der Region der heutigen Stadt Tongyeong das Marineoberkommando Tongjeyeong eingerichtet, dem die Provinzen Gyeongsang-do, Jeolla-do und Chungcheon-do unterstanden. Das Tongjeyeong mobilisierte Handwerksmeister aus den unterschiedlichsten Bereichen für den Aufbau eines organisierten Werkstättensystems. Bekannt als die Zwölf Werkstätten, war es die erste Manufaktur in der koreanischen Geschichte. „Zwölf“ bedeutet nicht, dass nur exakt 12 Produktarten hergestellt wurden. Die Zahl 12 wird im koreanischen Volksmund für „viel(e)“ gebraucht: „ein Rock mit 12 Bahnen“ ist ein besonders ausgestellter Rock und „12 Pässe“ beschreibt eine gebirgige Landschaft mit vielen aufeinanderfolgenden Erhebungen.
Von Fächern bis zu Köchern: landesweit beste Qualität Die Meister der Werkstätten unter dem Marinehauptquartier produzierten diverse alltägliche und militärische Bedarfsgüter: Seonja-bang („bang“: Werkstatt) produzierte Faltfächer, die der König am Dano-Tag (5. Mai nach Lunarkalender) als Geschenke verteilte, und Ipja-bang den von Edelmännern getragenen traditionellen Pferdehaar-Hut (Gat ). Chong-bang fertigte Herrenstirnbänder und spezielle Herrenhutsorten für Edelmänner. Sangja-bang produzierte Schachteln aus Weiden- oder Bambusgeflecht. Hwawon-bang war ein Atelier, das militärische Karten und Zeremonialgemälde anfertigte. Somok-bang fertigte Möbel und diverse Schreibwaren und Yajang-bang Eisenwaren und Waffen. Juseokbang schmiedete dekorative Hölzmöbelbeschläge aus Zinn und
Kupfernickel und Eun-bang machte Gold- und Silberartikel. Chilbang war auf Otchil-Lackwaren, Tanggae-bang auf Köcher, Hwaja-bang auf Schuhwerk, Anja-bang auf Sättel und Paebu-bang auf Artikel mit Najeon-Perlmuttintarsien spezialisiert. Jupi-bang erzeugte Lederwaren und Miseon-bang runde Fächer. Die Qualität dieser Waren war so hoch, dass der Königshof damit beliefert wurde und sich landesweit Abnehmer fanden. So konnte sich Tongyeong in der zweiten Hälfte des 19. Jhs unter allen regionalen Manufakturen zum Werkstätten-Cluster mit den höchsten Produktions- und Kapitalkapazitäten entwickeln. Vor allem in Tongyeong gefertigte Schränke und kleine, tragbare Soban-Esstische verziert mit Perlmuttintarsien erfreuen sich bis heute landesweit großer Beliebtheit. Ein Beleg dafür findet sich im Letzten Willen der in Tongyeong geborenen Schriftstellerin Pak Kyongni (1926-2008), die darum bat, dass drei Dinge aus ihrem Nachlass mit besonderer Sorgfalt aufbewahrt werden sollten: ihre Nähmaschine, ihr Koreanisch-Wörterbuch und der von einem Tongyeonger Tischlermeister angefertigte Perlmuttintarsien-Schrank. „Die Nähmaschine steht für mein Alltagsleben, das Wörterbuch für meine Literatur und der Schrank für meine Kunst“, erklärte sie. Die Soban-Tischchen aus Tongyeong gelten als so stabil, dass sie sogar das Gewicht eines kräftigen Mannes mit einem über 100 kg schweren Sack Reis auf den Schultern tragen können sollen. Als Gat-Pferdehaarhüte ein Modeaccessoire der adligen Yangban waren, war ein Gat aus Tongyeong ein Must-have jedes modebewussten Adligen. Prinzregent Daewon-gun (1820-1898), Vater
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von Kaiser Gojong (reg. 1863-1907) Werke, die Zehntausende von und mächtigster Mann der Zeit, soll Handgriffen verlangen sogar für einen maßgeschneiderten Meister Song Bang-ung (geb. 1940) Gat extra Gesandte nach Tongyeong (Träger des Titels Wichtiges Immageschickt haben. Doch als das Marineterielles Kulturgut Nr. 10 ) verwendet bei der Herstellung von Perlmuttinhauptquartier 1895 aufgelöst wurde, wurden auch die Zwölf Werkstätten tarsien-Produkten immer noch seigeschlossen. Die Meister zerstreuten nen Speichel. Menschlicher Speisich überall im Lande, nur ein Teil ließ chel bei Körpertemperatur erhöht sich in Tongyeong nieder. die Klebkraft des Tierleims, sodass Nach Ende des Koreakrieges (1950das aus Abalonenschalen gewonne1953) erlangten die Kunsthandne Perlmuttpulver besser auf der mit Naturlack versehenen Oberfläche werksprodukte aus Tongyeong ihren haftet. Die meisten Künstler benutzen einstigen Ruf zurück. In den 1960er warmes Wasser, doch Meister Song Jahren, als sich das gesamte Volk bleibt bei seinem Speichel. „Nimmt im Zuge der Industrialisierung nach man einen Pinsel zum Auftragen, vermateriellem Wohlstand und Teilhabe daran sehnte, wurde der Besitz eines fliegt die Wärme des Wassers schnell, 2 Produkts aus Tongyeong zum Wohlund die Feuchtigkeit verteilt sich nicht 1 Jo Suk-mi, die das Familiengeschäft in fünfter Generation gleichmäßig. Am besten ist die traditistandssymbol einer Familie. Besonvon ihrem Vater Jo Dae-yong übernommen hat, ist auf das ders die regionaltypischen Möbelstüonelle Speichelmethode“, so Song. Kunsthandwerk der Fensterblenden-Herstellung spezialisiert. Es gibt einen alten Spruch in diesem cke wie Perlmuttintarsien-Schränke Nur acht Jahre nach Ausbildungsbeginn gewann sie beim Jährlichen Wettbewerb der Traditionellen Handwerkskunst Handwerk: „Um ein wahrer Perlmuttund Schreibutensilien-Kommoden den Preis des Direktors des Kulturerbe-Verwaltungsamts. Mit intarsien-Meister zu werden, muss hielten Einzug in die Wohnräume jüngeren Ideen hat sie das traditionelle Kunsthandwerk auf man über 30 Mal (ca. 540 l) Tierleim wohlhabender Familien. Damals flomoderne Haushaltsartikel angewendet. 2 Die Herstellung von Bambusblenden beginnt mit dem Schneigegessen haben“. Danach wäre Song rierte die Produktion von Perlmuttinden und Verarbeiten von Bambushalmen in fadendünne ein vortrefflicher Meister, hat er bei tarsien-Artikeln so stark, dass man Streifen. Das Hineinweben von Mustern beim Verknüpfen der der Arbeit doch stets etwas Tierleim sagte, jedes dritte oder vierte Haus in Bambusstreifen mit Seidengarn kostet Meister Jo Dae-yong für eine einzige Blende normalerweise mehr als 100 Arbeitstage. auf der Zunge. Seine Stärke liegt im Tongyeong sei eine darauf spezialisierDie traditionellen Bambus-Fensterblenden, die die SommerGgeuneumjil: Das in dünne Streite Werkstatt. Viele Jugendliche enthitze abblocken, aber Luft hereinlassen, waren wegen ihrer unaufdringlichen Schönheit beliebt. schieden sich statt eines Studiums für fen geschnittene Perlmutt wird mit eine Ausbildung in diesem Kunsthandder Messerspitze Stück für Stück zerlegt und auf der lackierten Holzoberfläche zu einem Mosaik werk. Zu den Zeiten, als Tongyeong 40.000 Einwohner hatte, waren zusammengesetzt. Gelernt hat er die Technik von seinem Vater über 1.000 davon in diesem Bereich tätig. Song Ju-an (1901-1981), einem Perlmuttintarsien-Meister der ersDoch die große Welle der Modernisierung drängte das Kunsthandwerk schließlich zurück: Die Perlmuttintarsien-Schränke mussten ten modernen Generation und erster Träger des Titels Wichtiges Immaterielles Kulturgut in dem Bereich. Song Ju-an gab seine modernen Möbel weichen. Mit sinkender Nachfrage schwanden auch die Kunsthandwerksmeister. Aufgrund der düsteren BerufsMosaik-Technik ausschließlich an seinen Sohn weiter, der mit 19 bei ihm in die Lehre ging. „Für gute Produkte braucht man gutes perspektiven klopften auch immer weniger Auszubildende an die Perlmutt. Die Farben der weiblichen Abalonen übertreffen die der Werkstatttüren. Sich des Ernstes der Lage bewusst, begann die männlichen. In den Gewässern Tongyeongs findet man das allerRegierung, aus der Staatskasse Unterstützungsgelder für diejenibeste Perlmutt“, erklärt Song. Schon kleine Möbelstücke beangen bereitzustellen, die als Träger des Titels Wichtiges Immaterielles Kulturgut ausgezeichnet wurden. In 45 traditionellen Kunstspruchen durchschnittlich sechs Monate Arbeit, große wie Schränhandwerksbereichen wurden Meister ausgewählt. In vier Bereike benötigen über drei Jahre. Jo Dae-yong (geb. 1950), Meister der Bal-Fensterblendenherstelchen stammen die Meister entweder aus Tongyeong oder stehen in engem Bezug zu der Stadt: Diese Handwerksmeister – Hersteller lung und Träger des Titels Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr. von Pferdehaarhüten (Gat), Perlmuttintarsien-Produkten (Najeon), 114, kann sich noch an die Zeiten erinnern, als kaufwillige Kunden dekorativen Möbel-Metallbeschlägen (Duseok) und Bambusblenaus dem ganzen Land angereist kamen, um seine Bal-Fensterblenden aus gewebtem Bambus zu kaufen: „Um hochwertige Bal den (Bal) – sind quasi die wahren Nachfolger der Zwölf Werkstätkaufen zu können, organisierten die Hausfrauen sogar Gye (privat ten. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 27
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Das Kunsthandwerk Tongyeongs bereitet sich auf einen neuen Sprung nach vorn vor. Die Perlmuttintarsien-Schränke aus Tongyeong ziehen bereits die Aufmerksamkeit von Kunstsammlern aus aller Welt auf sich. Auch die jüngeren Koreaner, die bislang eher ausländische Luxuswaren bevorzugten, beginnen, sich für „Edles aus heimischer Produktion“ zu interessieren. Im Zentrum dieses Wandels stehen Handwerksprodukte aus Tongyeong.
organisierte Fonds). Damals waren Bal für die meisten ein notwendiger Haushaltsgegenstand“. Zur Herstellung von Bal-Blenden werden dünne Bambusstreifen mit Seidengarn verwoben, was präzise Techniken und endlose Geduld erfordert. Von der oberen Kante eines hölzernen Webrahmens hängen zahlreiche mit Seidengarn umwickelte Steinspulen herab, die gehoben und gesenkt werden müssen, um die dünnen Bambusstreifen einen nach dem anderen mit dem Garn zu verweben. Um eine einzige Bal-Blende von zufriedenstellender Qualität herzustellen, braucht man über 100 volle Arbeitstage. Meister Jo führt das Familienhandwerk bereits in vierter Generation weiter. Vor 160 Jahren, als sein Urgroßvater nach bestandener Beamtenprüfung im Militärbereich auf seine Postenzuteilung wartete, verbrachte er seine Zeit mit dem Weben von Fensterblenden, von denen er eine König Cheoljong (reg. 1849-1863) als Geschenk darbrachte. Jos Großvater, der als Gemeindevorsteher tätig war, erlernte das Handwerk ebenfalls von seinem Vater. Jos Vater erfand dann eine Technik, deren Anwendung es erlaubte, nach einer vorgefertigten Skizze Muster in die Blenden einzuwe28 KOREANA Herbst 2015
1 Eine gesteppte Tasche von Jeong Suk-hee, einer Künstlerin der neuen Generation, die die 400 Jahre alte Quilt-Tradition von Tongyeong fortsetzt. Mit verfeinerten Designs, die den modernen Geschmack ansprechen, und einer Lackbeschichtung, die den Stoff haltbarer macht, hat sie traditionelle Stepptechniken auf alltägliche Gebrauchsartikel wie Taschen und Krawatten angewendet. Jeong, die mit Jo Seong-yeon, ebenfalls Quilt-Künstlerin, und Lee Su-ryeon, einer Designerin aus New York, zusammenarbeitet, hat dazu beigetragen, den Einsatzbereich des traditionellen Kunsthandwerks zu erweitern. 2 Shin Mi-seon, die in einem Viertel voller Werkstätten, die Lackwaren mit Perlmutt-Intarsien herstellten, aufwuchs, begeisterte sich in ihren 40ern für diese Handwerkskunst. Sie verleiht Alltagsgegenständen wie Lunchboxen und Schmuckkästchen mit Perlmutt-Intarsien einen modernen Touch und hofft, sie für die jüngere Generation interessanter zu machen.
ben. Jo Dae-yong half seinem Vater bereits von Kindesbeinen an: Nach dem Fällen der Bambushalme entfernte er die Laubblätter und spaltete die Halme mit einem speziellen Gerät in gleichmäßig dünne Streifen, oder er flocht musterlose Bal-Blenden. Duseok-Metallkunstmeister Kim Geuk-cheon (geb. 1951), Träger des Titels Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr. 64, und Gat-Meister Jung Chun-mo (geb. 1940), Träger des Titel Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr. 4, gehen mit ihrer Spezialisierung auf dekora-
tive Möbelbeschläge bzw. Pferdehaarhüte ebenfalls den einsamen Weg des Kunsthandwerksmeisters mit der Entschlossenheit, die Traditionen weiterzuführen. Ihre Nachfolger sind meistens ihre Kinder, andere sind schwer zu finden. Das zeigt, dass die Arbeit hart ist und noch härter, die Handwerkstradition am Leben zu erhalten.
Hüter der Tradition Jo Suk-mi (39) entschied erst vergleichsweise spät, das Familiengeschäft zu übernehmen. Ihr Vater ist Bal-Meister Jo Dae-yong. Als sie nach der Heirat weit weg zog, sagte ihr Vater: „Die Bal-Herstellung ist so schwierig, dass keiner sie erlernen will. Aber sollte nicht wenigstens mein Kind das Handwerk weiterführen?“ Diese innige Bitte ihres Vaters konnte sie nicht einfach ablehnen. Aber für eine Frau war die Arbeit noch anstrengender. Eine große Stütze war dabei ihre Mutter Im Seong-ae (63), die einst ihren Mann, durch körperliche Arbeit in der Wäscherei oder am Kai unterstützte. Jo, die vor acht Jahren mit dem Erlernen der Handwerkskunst begann, hat ihre Fähigkeit so weit entwickelt, dass sie vor zwei Jahren sogar beim Jährlichen Wettbewerb der Traditionellen Handwerkskunst den „Preis des Direktors des Kulturerbe-Verwaltungsamts“ gewann. Sie blieb nicht nur bei den traditionellen Bal-Blenden, sondern wandte die Technik auch zur Herstellung alltäglicher Gebrauchsgegenstände wie Untersetzer an oder bestickte die Blenden mit prachtvollen Stickereien. „Traditionelle Bambusblenden sind geheimnisvolle Gegenstände: sichtbar und unsichtbar, verborgen und auffällig zugleich!“, so Jo über den faszinierenden Charakter der Blenden. Jeong Suk-hui (45) kommt zwar nicht aus einer Kunsthandwerkerfamilie, doch sie genießt heute als „Meisterin der neuen Generation von Tongyeong“ große Aufmerksamkeit: Sie hat die traditionelle koreanische Stepptechnik Nubi neu interpretiert. Beim Nubi-Quilten werden zwei Stoffe mit einer Schicht Watte dazwischen Stich für Stich fein säuberlich per Hand zusammengenäht. Nubi-Steppstoffe finden seit langem unterschiedlichste Anwendung, sei es für pfeilsichere Militär-Uniformen während der Joseon-Zeit, für isolierende Kleidung für Fischer auf dem Wintermeer, für Baby- und Kleinkinder-Tragetücher, für Bettdecken usw. Jeong verwandelte den Stoff in modernere Alltagsgegenstände für den jüngeren Geschmack wie Taschen, Geldbeutel, Rucksäcke, Krawatten, Küchenutensilien etc. Auch beschichtete sie den Steppstoff für längere Haltbarkeit mit Lack. Ihre Produkte wie Taschen mit modernen Designs und wasserdichtem Innenfutter wurden in Luxushotels, Duty-Free-Shops und in den Souvenirläden des Koreanischen Nationalmuseums und des Seoul Arts Center ausgestellt. Sie waren sogar im Sarangchae, dem Ausstellungszentrum der Präsidentenresidenz Cheong Wa Dae zu sehen. Damit hat Jeong einen Beitrag zur Weiterentwicklung der koreanischen Kunsthandwerksprodukte geleistet.
JUNGE MEISTERIN IN CONTAINERWERKSTÃTT Vor zwei Jahren fischte ein Freund ihres Mannes einen Frachtcontainer aus dem Meer, der während eines Taifuns dorthin geraten war. Im Hof der Werkstatt ihres Mannes, eines Bootsreparateurs, beulte sie den Con2 tainer aus und strich ihn farbenfroh an. Sie tapezierte den Innenraum und schon war ihre Werkstatt fertig. Die ehemalige Hausfrau Shin Mi-seon (46) verlor ihren Vater, als sie sechs war. Er wurde bei einem Unwetter im Meer vor Tongyeong zusammen mit seinem Schiff in die Tiefe gerissen und kam nie wieder zurück – eine schmerzhafte Erinnerung für sie. Danach sorgten Großmutter und Mutter durch den Verkauf von gesammeltem Alteisen für den Unterhalt der Familie. Unter diesen schwierigen Umständen konnte Shin gerade noch eine Berufsbildende Oberschule besuchen, nach deren Abschluss sie gleich zu arbeiten begann. Mit der Heirat gab sie den Beruf auf und wurde Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Dann entdeckte sie vor drei Jahren eines Tages an der Straße ein Werbebanner für Auszubildende im Bereich Perlmuttintarsien-Arbeiten (Najeon chilgi). Da erinnerte sich an den Tierleimgeruch, den sie als Kind in ihrem Viertel gerochen hatte. Gleichsam magisch angezogen, meldete sie sich ohne zu zögern für den Kurs an. In ihrer Container-Werkstatt übte sie sich in der Najeon-Technik. Bereits ein Jahr später gewann sie beim Wettbewerb der Traditionellen Handwerkskunst der Provinz Gyeongsangnam-do den Großen Preis. Dieses Jahr wurde sie Zweite. Den Großen Preis hatte sie für eine zweistufige Lunchbox erhalten. Sie verzierte den Behälter mit Perlmuttintarsien, verwendete allerdings keine traditionellen Muster, sondern probierte moderne Designs aus. „Das Otchil-Lackversiegeln ist ein regelrechter Kampf gegen den Staub. Kommt beim Lackieren Staub in den Lack, ist die Oberfläche nicht glatt“, erklärt Shin. Früher haben die Perlmuttintarsien-Meister nackt lackiert, um den Kleiderstaub von den Arbeitsstücken fernzuhalten. Shin sagt begeistert: „Die Perlmuttintarsienarbeit ist schwierig, aber gerade das macht sie so attraktiv“. Durch das Craft 12 Project der Stadt Tongyeong, das die Stadt 2008 zur Aufrechterhaltung des Erbes der Zwölf Werkstätten auf den Weg brachte, konnte Shin sich zu einer Perlmuttintarsien-Meisterin entwickeln.
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SPEZIAL 5 Tongyeong: Eine südliche Hafenstadt von vielfältigem Reiz
Entzückendes Hafenviertel mit verführerischen Meeresdelikatessen
Song young-man Geschäftsführer, Hyohyung Publishing Company Fotos Ahn Hong-beom
Die Regionalgerichte von Tongyeong sind kulinarische Verführungen. Das Essen aus den Regionen der Provinz gyeongsang-do ist nach landläufiger Meinung nicht unbedingt jedermanns Sache, aber für Tongyeong gilt eine Ausnahme. Die auf Tongyeonger Art zubereiteten gerichte aus frisch gefangenen Fischen und Meeresfrüchten der Saison sind wahre gaumenfreuden für die gourmets des ganzen Landes. 2
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nfang der 1960er Jahre, in einer weit entfernten Vergangenheit also, lernte ich die Stadt Tongyeong, damals noch Chungmu, kennen. In der vierten Grundschulklasse entdeckte ich eines Tages eine Hafenstadt namens Chungmu im Atlas meiner älteren Schwester. Die mit zwei Kreisen gekennzeichnete Stadt mit 70.000 Einwohnern war mit dem famosen Zusatz „Neapel des Ostens“ versehen, der selbst mein junges Herz mit Sehnsucht füllte. Aber in der Realität war es schier undenkbar, die Stadt einmal zu besuchen. Ob nun das italienische Neapel auf der anderen Seite der Erdkugel oder das östliche Neapel am Hallyeo-Wasserweg: Beide waren für mich so unerreichbar wie die Sterne am Himmel. Bis zu meinem Studienabschluss erlaubten mir weder Finanzen noch Verkehrsverbindung einen Besuch in Tongyeong. Dank der Autobahnverbindung zwischen Daejeon und Tongyeong braucht man heute von Seoul aus nur so vier Stunden, doch noch bis vor zehn Jahren war die Hinfahrt zu dieser südlichen Küstenstadt wegen des Umwegs über Daegu, Masan und Jinju eine Tagestour.
gassen voller Leckerbissen Tongyeong wirkt irgendwie verschnörkelt und heimelig. Die Hintergassen im Hafenviertel halten stets Überraschungen bereit. Das Wandmalerei-Viertel auf dem Hügel Dongpirang oberhalb der Gangguan-Bucht hat sich zu einem Pilgerort entwickelt, der zu allen Jahreszeiten junge Leute anzieht. Sie kommen hierher, um sich zu amüsieren und etwas zu erleben, was auch in puncto Essen neue Trends gesetzt hat: Süße und salzig-würzige Verlockungen warten auf Schritt und Tritt. Die Küste entlang reihen sich endlos Stände und Läden, die Leckerbissen wie die regionalspezifischen Chungmu-Gimbap-Reisrollen, frittierte Kraken, Kkulppang usw. verkaufen. Alle Chungmu-Gimbap-Läden geben auf den Ladenschildern vor, die Wiege dieser Spezialität zu sein. Die Reisrollen sind nur mit weißem Reis gefüllt und werden mit süß-sauer gewürztem Tintenfisch und gut gereiftem Rettich-Kimchi serviert. Chungmu-Gimbap hat sich als Volksimbiss etabliert, der in jedem 24-Stunden-Laden und jeder Autobahnraststätte zu haben ist. Ursprünglich wurde Chungmu-Gimbap auf einer Passagierfähre der Route Busan-Yeosu erfunden. Gegen Mittag machte die Fähre Zwischenstopp im Tongyeonger Hafen. Da gingen die Gimbap-Großmütterchen an Bord, um den Snack zu verkaufen. Das Problem bei Gimbap nach herkömmlicher Art ist jedoch, dass die Kombination von gewürzter Füllung und Reis im Sommer leicht verdirbt. Da hatte jemand den Gedankenblitz: Man trenne die Füllung von der Reisrolle und serviere beide getrennt – was beweist, dass Not erfinderisch macht. Das Tongyeonger Kkulppang heißt zwar „Honigbrot“ , aber Honig sucht man vergebens. Es handelt sich um tischtennisballgroße Teigmassen, gefüllt mit Adzukibohnen-Mus, die knusprig frittiert, großzügig in Maissyrup getunkt und mit Sesamkörnern bestreut
werden. Früher, in den Zeiten der Armut, war Kkulppang bei Schulmädchen beliebt, da das Honigbrot den Hunger und die Lust auf Süßes stillte. Vor süßen Versuchungen wird die Armut schwach. Doch die Touristen von heute, die in einer Zeit des Überflusses leben, werden ebenfalls schwach angesichts dieser süßen Verlockung und lassen jede Menge als Reisemitbringsel für Freunde und Verwandte einpacken. Obwohl ich bisher schon so 15 Mal in Tongyeong war, habe ich noch nie eine geplante kulinarische Entdeckungsreise gemacht. Da ich seit Kindesbeinen an immer ermahnt wurde, „nur ja immer alles bis zum letzten Reiskörnchen aufzuessen“, habe ich vielleicht weder einen feinen Geschmackssinn, noch den Ehrgeiz, einen solchen zu entwickeln. Fünf, sechs Mal war ich als Tourist in Tongyeong, um die Landschaft zu genießen, sechs, sieben Mal führten mich geschäftliche Gründe dorthin. Zu welchem Zweck auch immer ich Tongyeong besuchte: Es war stets aufregender als eine Auslandsreise, weil dem Besucher an jeder Straßenecke Sehenswertes, Essenswertes, Erlebenswertes und Kaufenswertes auflauern. Für den Reisenden ist es oft schwer, in den Genuss von drei guten Mahlzeiten pro Tag zu kommen, aber selten isst man in Tongyeong etwas zum reinen Hungerstillen.
Fische und Meeresfrüchte voller Meeresduft Frühmorgens erwartet diejenigen, die am Vorabend zu tief ins Glas geschaut haben, Kugelfischsuppe und Bohnenpastensuppe mit getrockneten Rettichblättern. Egal, in welches Restaurant man geht: Enttäuscht wird man nie. Mittags erwarten einen nach Meer duftende Spezialitäten wie Bibmibap (Reis mit diversen Beilagen, Chilipaste und Sesamöl vermischt) mit Algen oder Seescheiden oder eine T‘able d‘hôte mit Gemüse und Wildkräutern aus den Mireuksan-Bergen. Abends wird man Zuschauer einer kulinarischen Vorführung, bei der sich frische Meeresfrüchte und Fische panoramartig auf dem Tisch entfalten. Mit Ende zwanzig und strot1 Weil sie auf Felsen wachsen zend vor Lebenskraft verbrachte ich und sich dort wie Blumen meinen ersten Urlaub in Tongyeong, ausbreiten, werden Austern in Korea manchmal auch wo ich auch zum ersten Mal richtig Seokhwa , „Felsenblumen“, frischen Rohfisch aß. Da ich ausgenannt. Mit dem Erfolg der schließlich im Binnenland aufgeAusternzucht in Tongyeong wurden Austern zu einer wachsen war, beschränkte sich allgemeinen Lieblingsspeise mein Fisch-Wissen auf gängige der Koreaner. Frische, rohe Fische wie Salzfisch, Gelbe Corvina Austern werden in einen Dip aus roter Chilipaste mit oder Pazifische Makrelenhechte. Ob Essig getunkt verzehrt, in reich oder arm: damals kam Fisch Suppen mitgekocht, im Reis in allen Haushalten nur gebraten gegessen oder im Eimantel in der Pfanne gebraten. oder fermentiert auf den Tisch. 2 Vor ihrer Kultivierung waren Mitte der 1980er Jahre moderierSeescheiden eine seltene te ich das von einer Tageszeitung Meeresspezialität. Heutzutage sind sie weitaus stärker organisierte Spezialseminar über verbreitet und zu vernünftiWirtschaft und Naturwissenschaft gen Preisen zu haben. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 31
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des 21. Jhs, weshalb ich öfter in der Region um Tongyeong, Jinju und Masan unterwegs war. Vermutlich waren die dortigen Zuständigen uns dankbar, dass Professoren der Eliteuniversitäten Seouls aus den Bereichen Wirtschafts- und Naturwissenschaft die lange Anfahrt auf sich genommen hatten, denn zu Mittag und Abend wurden wir in ausgewählte Restaurants eingeladen. Da lernte ich die japanische Spezialität Konowata kennen: fermentierte Seegurken-Innereien. Seegurken hatte ich schon immer gemocht, doch diese Delikatesse war mir völlig fremd. An dem Abend wurde die Stimmung ausgelassen und wir tranken mehrere Runden Hire-sake (warmer Sake mit eingelegter, sonnengetrockneter Kugelfisch-Flosse). Zusätzlich wurden Meerbrasse, Gelbschwanzmakrele, Umberfisch und rohe Seeohren serviert. Da auch Seeigel-Rogen und Meeräsche die Tafel bereicherten, hatten wir die drei größten japanischen Delikatessen auf dem Tisch. Auch wenn ich mit meiner Familie unterwegs bin, sei es im Inoder Ausland, gibt es Orte, die ich lieber alleine genießen möchte. Das kann ein Flohmarkt sein oder auch ein traditioneller Markt, auf dem das Leben pocht. In Tongyeong ist das der Fischmarkt. Dort kann man frischen Rohfisch an Ort und Stelle essen oder ihn zum Mitnehmen einpacken lassen. Der Markt ist laut und voller Stimmen mit südlichem Dialekteinschlag, die um die Preise feilschen, während die Fischmesser rhythmisch auf die Hackblöcke niedersausen. Alle Arten von Meeresfrüchten und Fischen aus den Tongyeonger Gewässern finden sich nach Luft schnappend in den Plastikwannen. Rote Meerbrassen, Pazifikheringe und Japanische Flunder zappeln herum, Kraken und Oktopusse kriechen hin und her. Seescheiden, Penisfische, Seegurken, Turbanschnecken und Seeohren glänzen vor Frische. Die Seegurke ist so frisch und kalt, dass es mir beim Kauen an den Backenzähne kribbelt.
Köstlichkeiten der Saison Da ich häufig in Tongyeong bin, kann ich die Fische der Saison probieren: im Frühling rohen Seebarsch, im Sommer Aal und rohen Umberfisch. Das kaufeste Fleisch sorgt für besonders geschmacksintensive Gaumenfreuden. Doch der Geschmack reicht nicht an den von rohen Pazifikheringen und Makrelen im Herbst heran. Die Pazifikheringe haben im Sommer, wenn es reichlich
Zu welchem Zweck auch immer ich Tongyeong besuchte: Es war stets aufregender als eine Auslandsreise, weil dem Besucher an jeder Straßenecke Sehenswertes, Essenswertes, Erlebenswertes und Kaufenswertes auflauern. Für den Reisenden ist es oft schwer, in den Genuss von drei guten Mahlzeiten pro Tag zu kommen, aber selten isst man in Tongyeong etwas zum reinen Hungerstillen. 32 KOREANA Herbst 2015
zu fressen gibt, viele Nährstoffe aufgenommen; entsprechend fett und fest ist im Herbst ihr Fleisch. Makrelen sind vom Wesen her so ungestüm, das sie gleich nach dem Fang sterben, weshalb rohe Makrelen selten in Restaurants angeboten werden. Sie werden meist gesalzen und gebraten serviert. Heutzutage gibt es vor den Inseln Yokji-do und Yeonhwa-do hervorragende Makrelenfarmen. Bei meiner jüngsten Reise nach Yokji-do war ich beeindruckt von der dortigen Farmlandschaft. Die aus dem Meer ragenden Fischgehege, die an schwimmende, runde Ringkampfplätze erinnerten, besaßen eine ganz eigene Ästhetik. Die im Meer gefangenen Makrelen werden samt Netz an Land gebracht, in die Gehege gesperrt und eine Zeitlang gezüchtet. Da sie in den Käfigen nur im Kreis schwimmen können, setzen sie Fett an. Daher ist trotz des hohen Preises die Nachfrage groß. Im Winter sind alle Fische und Meeresprodukte köstlich. Kabeljausuppe und Scheibenbauchsuppe sind dabei besonders beliebt. Für die Einwohner von Tongyeong ist ihr Genuss eine Art Winter-Initiationsritus. Der Kabeljau ist zwischen Winter- und Frühlingsbeginn in den Gewässern vor der Insel Mireuk-do zu finden. Am besten schmeckt der Kabeljau, der im Februar mit der warmen Kuroshio-Strömung schwimmt. Die klare Brühe von Tongyeonger Daegutang-Kabeljausuppe ist mild und erfrischend. Besonders beliebt ist sie bei älteren Menschen, die stark gewürzte Gerichte nicht besonders mögen. Während normalerweise Meeresfrüchte als Anju-Beilage zum Alkohol „nebenbei mitgegessen“ werden, so wird in Tongyeong der Alkohol zu Meeresfrüchten „nebenbei mitgetrunken“. Auch über den Kater am Tag darauf braucht man sich in Tongyeong keine Sorgen zu machen, denn an jeder Straßenecke findet man Haejangguk-Katersuppe – womit wir bei Mulmaegit-guk (Scheibenbauchsuppe) wären. In der Region am Ostmeer heißt diese beliebte Katersuppe auch „Gomchi-guk“ (dort werden Scheibenbäuche 1 Gimbap wird normalerweise mit Zutaten wie Fleisch, verschiedenen Gemüsen u.ä gefüllt, aber Chungmu Gimbap enthält nur geschälten Reis und wird mit scharf angerichtetem Tintenfisch und Rettich-Kimchi als Beilagen serviert. Tongyeong hieß einst „Chungmu“ und dieser Name blieb an der dortigen Gimbap-Spezialität auch nach der Rückbenennung der Stadt hängen. Chungmu Gimbap ist landesweit beliebt. 2 Kkulppang wurden zuerst von einer Straßenverkäuferin namens Omisa, die ihren Stand neben einer Reinigung in Tongyeong hatte, verkauft. Die Reinigung gibt es nicht mehr, aber die Bezeichnung lebt weiter im Kkulppang -Laden, der in ganz Tongyeong weitere Läden, die die süßen fritierten Teigbälle anbieten, entstehen lassen hat. 2 Die Straßen entlang der Gangguan-Bucht und des Zentralmarktes, die zu den Hauptattraktionen von Tongyeong gehören, sind von Läden gesäumt, die Chungmu Gimbap und Kkulppang verkaufen.
„Gomchi“ genannt). Am Ostmeer darf Gomchi-guk beim Frühstück nicht fehlen. Beifuß-Schollen-Suppe, eine weitere Spezialität von Tongyeong, die mit einer Frühlings-Scholle und jungem Beifuß der ersten Ernte zubereitet wird, hat einen tiefen, klaren und fein-unaufdringlichen Geschmack. Man sagt, dass „Schollen im Frühling genau so gut schmecken wie Gefleckte Pazifikheringe im Herbst“. Es gibt aber noch zahlreiche andere repräsentative Spezialitäten: Seescheiden im Frühsommer, Kugelfisch-Suppe, die jeden Frühstückstisch krönt, rohe Batavia-Hechtmuränen, ein repräsentatives Stärkungsgericht für den Hochsommer, und die berühmten Tongyeong-Austern, eine geschätzte Winterspezialität. Vor allem die Austern gelten als wahre Goldgrube, denn in den Gewässern vor Tongyeong werden 70% des gesamten Austernangebots in Korea geerntet. Wie konnte sich die Küche einer so kleinen Hafenstadt wie Tongyeong so weit entwickeln? Einige behaupten, dass die delikate Empfindsamkeit der vielen Künstler, die diese nur 140.000 Einwohner zählende Stadt hervorgebracht hat, sich auch kulinarisch niederschlug. Andere sagen, dass bei der Einrichtung des Marine-Kommandozentrums vor 400 Jahren die hochrangigen Beamtem ihren Küchenstaat aus Seoul mitbrachten, was dann schließlich eine verfeinerten Fusion von Hauptstadtküche und Regionalküche hervorbrachte. Doch letztendlich dürften die günstige geografische Lage und das optimale Klima als Fundament gedient haben. Die Insel Geoje-do schützt die Stadt vor den wilden Strömungen der Korea-Straße und die Inseln Yokji-do und Yeonhwa-do vor starkem Wind, während die schützenden Mireuksan-Berge zusammen mit der Insel Hansan-seom eine optimale Mündung bilden. Die gesegnete Natur Tongyeongs schafft atemberaubende Orte, die künstlerische Sensibilität stimulieren, aus deren Geist sich wiederum eine hohe kulinarische Kultur entwickelte.
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FOKUS
KÖNIGLICHE RITUALMUSIK DER AHNENVEREHRUNG IN PARIS Song Hye-jin Professorin für traditionelle Musik Sookmyung Women’s University Fotos Suh Heun-gang
Die Ritualmusik Jongmyo Jeryeak, die die Ahnenverehrungsrituale am Jongmyo-Schrein, dem königlichen Ahnenschrein des Joseon-Reichs, begleitet, wird vom 18. bis 19. September im Théâtre national de Chaillot in Paris vorgeführt. Sie wird das 130. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und Korea im Jahr 2016 unter dem Motto „Année France-Corée 2015-2016“ einläuten und gleichzeitig die Saison 2015-2016 des Nationaltheaters Chaillot eröffnen.
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ei Jongmyo Jeryeak, 2001 in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, handelt es sich um Zeremonialmusik und -tanz des Joseon-Reiches (1392-1910) zur Förderung der konfuzianischen Lehre als offizieller Staatsideologie. Die Quintessenz der traditionellen Vorführenden Künste mit ihren majestätischen Riten, vorgeführt vor dem Hintergrund der würdevollen Architektur des Jongmyo-Königsschreins, bringt das Ewige in Natur und Menschheit zum Ausdruck.
Musiktradition der konfuzianischen Riten In der Joseon-Zeit war die vom Konfuzianismus gelehrte kindliche Pietät eins der zentralen Prinzipien im Leben der Menschen, gemäß dessen sich die Kinder zu Lebzeiten der Eltern hingebungsvoll um diese kümmerten und ihnen auch nach dem Tode unvermindert Respekt zollten. Dieser kindlichen Pietät wurde höchste Bedeutung beigemessen, sodass der König selbst mit dem Ritual am Jongmyo-Schrein ein Vorbild dafür gab. Die Riten wurden nicht nur an den Todestagen der königlichen Ahnen abgehalten, sondern auch bei Ereignissen von nationaler Bedeutung, um den Vorfahren darüber Bericht zu erstatten, sodass sie mehrmals im Jahr stattfanden. In Anwesenheit von König, Kronprinz und hochrangigen Beamten wurden
Tänzer führen den Militärtanz Mumu zu den Melodien der Musik zum Lobe militärischer Heldentaten als Teil von Jongmyo Jerye, der Königlichen Ahnenriten von Joseon, auf. In den Händen halten sie – wie Soldaten – Schwerter oder Speere, um militärische Grandeur zu vermitteln.
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die Zeremonien nach einem detaillierten Protokoll ausgeführt: Räucherstäbchen anzünden, um die Geister der Vorfahren zu empfangen, Opferspeisen und Wein darbieten, die Geister verabschieden. Die Hofmusiker begleiteten die einzelnen Riten mit Musik und Gesang zum Lobpreis der guten Taten der Vorfahren, während die Tänzer zur Musik besondere Reihentänze vorführten. Instrumentalmusik, Gesang und Tanz machen das Jongmyo Jeryeak aus, das 1964 als Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr.1 Koreas registriert wurde und bis heute überliefert wird.
Die Tradition der Musikaufführung bei konfuzianischen Riten Das Musizieren bei den königlichen Ahnenriten geht auf die lange Tradition der konfuzianischen Riten in Nordostasien zurück. Schon im alten China gab es bei konfuzianischen Zeremonien Orchester, Sänger, die die Heldentaten der Vorfahren besangen, und Tänzer, die dazu in Reihen tanzten. Die Instrumente bestehen aus acht Materialien: Metall, Stein, Seide, Bambus, Flaschenkürbis, Ton, Leder und Holz. Diese „acht Klänge“ stehen in ihrem Zusammenspiel für die Harmonie aller Klänge der Natur. Bei den Joseon-Ahnenritualen werden zwei Orchester mit jeweils acht Instrumenten an unterschiedlichen Stellen des Zeremonialortes platziert: eins auf der oberen Plattform Sangwoldae und das andere auf der unteren Plattform Hawoldae, die jeweils Himmel bzw. Erde symbolisieren. Das abwechselnde Spiel beider Orchester bringt die Harmonie zwischen weiblichem Yin und männlichem Yang zum Ausdruck. Das Orchester am oberen Ende der Steintreppe auf der Plattform vor der Haupthalle wird Deungga (wörtlich: „von oben spielen“) genannt, das am unteren Ende Heonga (wörtlich: „unter der Dachtraufe spielen“). In einer Ecke des Hofes zwischen dem oberen und dem unteren Orchester tanzen die Tänzer in Reihen, was die harmonische Ganzheit von Himmel, Erde und Mensch versinnbildlicht. Dieser Symbolismus wurzelt in der alten chinesischen Hofmusik, die im 12. Jh von Korea übernommen wurde. Im 15. Jh wurde sie, basierend auf umfassender Erforschung der antiken chinesischen Hofmusik, vollständig umgestaltet. Wurzeln von Jongmyo Jeryeak Die derzeit aufgeführte Form von Jongmyo Jeryeak ist die Version, die 1449 von König Sejong (reg. 1418-1450) komponiert, unter seinem Sohn König Sejo (reg. 1455-1468) stellenweise bearbeitet und 1464 erstmals bei den Ritualen am Jongmyo-Königsschrein eingesetzt wurde. Damit wurde endgültig mit der Tradition der alten chinesischen Hofmusik in ihrer Reinform gebrochen und es etablierte sich eine „neue Art von Hofmusik im Joseon-Stil“. König Sejong, der das koreanische Schriftsystem Hangeul auf den Weg gebracht hatte, wandte die neue Schrift erstmals auf Yongbi eocheon ga (Oden an die zum Himmel fliegenden Drachen) an, epische Gedichte über die Gründung des JoseonReichs. Anschließend versuchte er, die Oden für Gesang, Tanz und Instrumental1 36 KOREANA Herbst 2015
1 Musiker spielen während der Jongmyo Jerye Ahnenriten am Königsschrein auf der Zither Geomungo. Diese Zither, die aus einem Paulownien-Holzbrett und sechs Seidensaiten besteht, ist neben der zwölfsaitigen Zither Gayageum eines der bekanntesten traditionellen koreanischen Instrumente. Auch als „Instrument der konfuzianischen Gelehrten“ bezeichnet, hat die Geomungo einen erhabenen und eleganten Klang. 2 Musiker beim Spiel der Großen Bambusflöte Daegeum während einer Aufführung. Während der in der Joseon-Zeit abgehaltenen Ahnenriten spielten die Musiker die Zeremonialmusik, die aus 22 kurzen Stücken bestand, unterteilt in „Musik zur Bewahrung des Großen Friedens“ und „Musik zum Lobe militärischer Heldentaten“.
musik zu adaptieren. Dabei experimentierte er damit, den Stil der antiken chinesischen Hofmusik mit heimischen Musiktraditionen zu verknüpfen. So wurde eine „Hofmusik im Joseon-Stil“ geschaffen, die formal gesehen der alten chinesischen Hofmusik ähnelte, sich jedoch inhaltlich deutlich von ihr unterschied. Die traditionellen formalen Elemente wurden weitgehend beibehalten: Zusammensetzung und Platzierung der beiden Orchester mit den acht Instrumenten, Anzahl der Tänzer und ihrer Requisiten, die Kombination aus Instrumentalmusik, Gesang und Tanz sowie die Art und Weise, wie die Musik begann bzw. endete. Inhaltlich gesehen wurde aber eine neue Art von Musik geschaffen: Neben den herkömmlichen „acht Klängen“ wurden Instrumente der Volksmusik aus der Tang- (618-907) und Song-Zeit (960-1279) sowie die von Joseon eingesetzt. Dazu wurden Takt, Melodien und die Lieder der originär koreanischen Hofmusik Hyangak aufgenommen. König Sejong nannte das Resultat „Sinak“ (neue Musik) und hoffte, dass sie bei Hofbanketten und anderen Hofzeremonien verwendet würde. Dieser Wunsch ging schließlich während der Regierungszeit von Sejo in Erfüllung. Unter Sejo wurden die während Sejongs Regierungszeit zur Würdigung der Verdienste der verstorbenen Könige komponierten Werke Botaepyeongjiak (Musik zum Lobe des friedlichen Regierens) und Jeongdaeeopjiak (Musik zum Lobe militärischer Heldentaten) zwecks Begleitung der königlichen Ahnenrituale entsprechend adaptiert. Seitdem wird das Jongmyo Jeryeak in der damals ausgearbeiteten Form gespielt. Es ist ein einzigartiges Erbe der koreanischen Musik, das von den Hofmusikern der Joseon-Zeit bis zu den heutigen Künstlern der traditionellen Musik tradiert und bewahrt wurde.
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Die feierlichen konfuzianischen Riten, die von Anfang bis Ende getragenene, monoton scheinende Musik, der Klang der exotischen Musikinstrumente und die unverständlichen Lieder kommen auch dem koreanischen Publikum von heute fremd und schwierig vor. Nichtsdestoweniger ist Jongmyo Jeryeak zweifelsohne ein markantes und ehrwürdiges Erbe der Menschheit.
Instrumentalmusik, gesang und Tanz von Jongmyo Jeryeak Jongmyo Jeryeak besteht aus drei Teilen: Ak (Instrumentalmusik), Ga (Vokalmusik) und Mu (Tanz). Bei Ak geht es um die Instrumentenbesetzung und die Anordnung der beiden Orchester Deungga und Heonga. Bei Jongmyo Jeryeak werden Instrumente der chinesischen Hofmusik, die Volksmusik-Instrumente aus der Tang- und der Song-Zeit sowie die der koreanischen Hofmusik eingesetzt. In der heutigen Version setzen sich die beiden Orchester aus 15 Instrumenten zusammen: Pyeonjong (Glockenspiel), Pyeongyeong (Klangsteinspiel), Banghyang (Metallophon), Chuk (hölzernes Schlaginstrument), Eo (Schraptiger), Bak (hölzerne Bündelklapper), Dangpiri (dicke und kurze chinesische Oboe), Daegeum (große Bambusquerflöte), Haegeum (zweisaitige Fidel), Ajaeng (große siebensaitige Zither), Janggu (Sanduhrtrommel), Jing (großer Gong), Taepyeongso (Holzblasinstrument mit kurzem Doppelrohrblatt), Jeolgo (mittelgroße Fasstrommel) und Jingo (große Fasstrommel). In der Joseon-Zeit wurden zusätzlich 20 weitere Instrumente eingesetzt, darunter Gayageum (zwölfsaitige Zither), Geomungo (sechssaitige Zither), Wolgeum (viersaitige mondförmige Laute), Dangbipa (viersaitige birnenförmige Laute), Hyangbipa (fünfsaitige birnenförmige Laute), Junggeum (mittelgroße Bambusquerflöte) und Sogeum (kleine Bambusquerflöte). Bei Ga geht es um Loblieder, also um den Gesang. In den Suiten werden besungen: die Bedeutung der Ahnenriten, die Hingabe der königlichen Vorfahren an das Wohl der Bürger und ihre Verdienste zur Bewahrung des staatlichen Friedens sowie die Bitte um Segen für die Nachkommen. In den Gesangstexten geht es hauptsächlich darum, dass die Nachfahren durch die in Ehrfurcht dargebotene Zeremonie reichlich gesegnet werden mögen. Der Wunsch kommt in verschiedenen Formen vor: in dem Gelöbnis, dass die Nachfahren lange nicht vergessen werden, wenn die Vorfahren ihnen Segen zukommen lassen, oder in der Wunschäußerung, dass die Vorfahren auch den Nachfahren weiterer Generationen Prosperität gewähren und ihr Wohlleben sichern mögen, oder in der Bitte, den Nachfahren, die hingebungsvoll Pietät bezeugen, langes Leben in guter Gesundheit zu gewähren. Zugleich kommen v.a. Huldigung an und Lobpreisung der königli1
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1 Jongmyeo Jerye, die zeremonie, die zu Ehren der verstorbenen Könige und Königinnen von Joseon dargebracht wurde, unterschied sich in Bezug auf Qualität und Varietät der Opfergaben von den Gedenkriten normaler Haushalte. Die Getreide- und Fleischopfergaben wurden alle roh dargebracht, was Ausdruck des Bestrebens war, den Vorfahren nur die frischsten aller Nahrungsmittel darzubringen. 2 Die Offizianten standen in Reihen, bereit, den Singwannye-Ritus des Weihrauch-Verbrennens zur Herbeirufung der Geister durchzuführen. Im Joseon-Reich gab es an die 300 Offizianten, darunter der König, der Kronprinz und hochrangige Beamte, die bei den Riten am Königsschrein anwesend waren.
chen Ahnen, denen die Riten gewidment waren, zum Ausdruck. Die derzeitige Version von Jongmyo Jeryeak besteht aus 22 kurzen Musikstücken, die jeweils mit einem Untertitel versehen sind und je nach Inhalt des Lobes unter Botaepyeong (Lob des friedlichen Regierens) und Jeongdaeeop (Lob militärischer Heldentaten) eingeordnet werden. Die Liedtexte bringen gut zum Ausdruck, dass es bei den Riten am königlichen Ahnenschrein um Zeremonien geht, bei denen man für die ewige Prosperität der Königsfamilie und der Nation betete, indem man die königlichen Vorfahren durch Darbringung von Respekt und Hingabe, Befolgung der gebotenen Umgangsformen und Darbietung von Musik sowie reinen Opferspeisen und Wein ehrte. Nach dem Buch Zhongyong (Mitte und Maß) wird „durch Ahnenriten am königlichen Schrein den Nachkommen Schutz gewährt“. Die Lieder enthalten aber auch Belehrendes, das die Nachkommen dazu anregen sollte, sich am Beispiel der verstorbenen Könige zu orientieren, in ihre Fußstapfen zu treten und entsprechend weise zu regieren. Mu (Tanz) steht für Ilmu, wortwörtlich „Reihentanz“. Bei Ilmu werden die Tänzer in mehreren Reihen aufgestellt, wobei die Zahl der Reihen und die der Tänzer pro Reihe übereinstimmen. Ilmu teilt sich in Munmu (zivile Tänze) und Mumu (militärische Tänze). Alle Tänzer tragen eine purpurfarbene Robe mit einer dunkelblauen Schärpe, HIrschlederschuhe mit Holzsohle (Mokhwa) und einen zweistufigen Hut (Bokdu). Beim Tanzen halten sie bestimmte Gegenstände (Uimul) in der Hand: Die Munmu-Tänzer halten in der linken Hand das Blasinstrument Yak, in der rechten den Holzstab Jeok. Yak mit seinen nur drei Tonlöchern steht für die Harmonie aller Klänge, während Jeok, ein ca. 30cm langes, mit Quasten aus Fasanenfedern verzierter Holzstab, Frieden und Ordnung symbolisiert.
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Die Munmu-Tänzer schlagen die beiden Requisiten aufeinander und tanzen zu den so erzeugten rhythmischen Klängen. Die Tanzbewegungen sind langsam und zurückhaltend ohne dramatische Bewegungen wie Aufspringen oder im Kreis Wirbeln. Sie bleiben meist an einer Stelle stehen und wiederholen ständig ihre Tanzbewegungen: Arme heben und senken, den Oberkörper beugen und strecken oder langsam nach links und rechts drehen. Es sind einfache, aber Ehrfurcht ausstrahlende Bewegungen. Von den insgesamt zehn Riten der Ahnenverehrungszeremonien am Schrein Jongmyo wird der zivile Munmu-Tanz für folgende Riten vorgeführt: Empfang der Geister, Darbringung der Opfergaben und Erstes Trankopfer. Beim dritten Ritual, der Darbietung der Opferspeisen, wird hingegen nur die Musik für reichliche Ernte und Wohlergehen (Punganjiak) gespielt und nicht getanzt. Der militärische Mumu-Tanz wird beim Zweiten Trankopfer und beim Letzten Trankopfer vorgeführt. Dabei halten die Tänzer in den ersten vier Reihen jeweils ein Schwert und die in den vier hinteren Reihen einen Speer. Sie wiederholen relativ einfache Tanzbewegungen: Zunächst halten sie ihre Hände vor der Brust zusammen. Wenn die Musik beginnt, drehen sie ihren Körper nach links und dann wieder nach rechts, breiten die Arme aus, heben die rechte Hand über den Kopf und senken sie wieder. Die Choreographie passt gut zu den prächtigen Melodien von Jeongdaeeopjiak (Musik zum Lobe militärischer Heldentaten) und drückt die Würde der militärischen Helden aus. Die Reihentänze der königlichen Ahnenrituale fußen auf den unter König Sejong erforschten chinesischen Tänzen. Formell ähneln sie zwar den alten chinesischen Tänzen, aber gleichzeitig weisen sie originär koreanische Merkmale auf.
Während die Ahnenriten in der Haupthalle des Königsschreins abgehalten werden, führen die Tänzer zur Musik der beiden Orchester, die jeweils auf der oberen und unteren Ebene der mit breiten Steinen ausgelegten Plattformen vor der Haupthalle platziert sind, Tänze auf. Musik und Tanz verleihen den Riten eine noch großartigere und würdigere Atmosphäre.
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Jongmyo Jeryeak von heute Seit Mitte der 1970er Jahre wird Jongmyo Jeryeak an jedem ersten Sonntag im Mai aufgeführt. Darüber hinaus kann man die Musik- und Tanzstücke als Hauptrepertoire traditioneller Aufführungen wie z.B. im Nationalen Gugak-Center genießen. Mit der steigenden Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vervielfältigen sich die Inszenierungsformen von Jongmyo Jeryeak: Es gibt z.B. kommentierte Aufführungen oder Nachstellung der Ahnenriten mit Ritualmusik-Begleitung auf der Bühne. Da Jongmyo Jeryeak einer Großbühne bedarf, wurde es bislang nur dreimal im Ausland aufgeführt: im Rahmen des Konzerts der Hofmusik Koreas und Japans im Mai 2002 anlässlich der Fußballweltmeisterschaft Korea/Japan 2002, des Torino Musikfestivals 2007 in Italien und der Asien-Pazifik-Wochen Berlin 2007. Anders als bei den bisherigen Auslandsaufführungen, die hauptsächlich aus Musikvorführungen bestanden, werden in Paris in 90 Minuten sämtliche Musikstücke gespielt und die Ahnenriten in verkürzter Form dargestellt. Mit einer deutlich erhöhten Zahl von Tänzern steht diesmal der Tanz im Vordergrund. Die feierlichen konfuzianischen Riten, die von Anfang bis Ende getragenene, monoton scheinende Musik, der Klang der exotischen Musikinstrumente und die unverständlichen Lieder kommen auch dem koreanischen Publikum von heute fremd und schwierig vor. Es wird spannend sein zu erfahren, wie diese „nicht leichte“ Vorführung beim Pariser Publikum ankommt.
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gESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
DAESEONG-DONG
Kim Hak-soon Journalistin, Gastprofessorin, Korea University Fotos Ahn Hong-beom
Eine „Binneninsel“ blickt in die Zukunft Das Dorf Daeseong-dong, bekannt auch als „Freiheitsdorf (engl.: Freedom Village)“, ist das einzige, von Zivilisten bewohnte Dorf auf der südkoreanischen Seite der Demilitarisierten Zone (DMZ), des Streifens Niemandsland, der sich durch die Mitte der koreanischen Halbinsel zieht. Verwaltungstechnisch gehört Daeseong-dong zur Ortschaft Josan-ri, gemeinde gunnae-myeon, Stadt Paju, Provinz gyeonggi-do. Doch dieses Dorf an der Militärischen Demarkationslinie, die 1953 mit dem Waffenstillstand, der den Koreakrieg beendete, eingerichtet wurde, steht de facto unter dem Kommando der Streitkräfte der Vereinten Nationen (UNC), die die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens überwachen. Die Dorfbewohner leben gewissermaßen seit dem Waffenstillstandsabkommen vor über 60 Jahren isoliert auf einer „Binneninsel“. Heute sind sie voller neuer Hoffnung für die Zukunft, da in ihrem Dorf endlich das lange notwendige Sanierungsprojekt in Angriff genommen wurde.
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m 23. Juli 2015 unterzeichneten in Daeseong-dong die relevanten Organisationen feierlich den Vertrag für das Sanierungsprojekt „Projekt: Daeseong-dong, das erste Zeugendorf der Wiedervereinigung“. Dorfbewohner, Vertreter der zentralen und lokalen Regierungsstellen, Geschäftsleute und Bürgergruppen nahmen an der Zeremonie teil und signalisierten damit den Willen zu gemeinsamen Anstrengungen zur Revitalisierung des Dorfes. Die Wohnhäuser in Daeseong-dong, die in den 1970er Jahren von der Regierung gebaut wurden, sind heute ziemlich heruntergekommen, da sie seitdem kaum richtig instand gehalten werden konnten. Der Zugang von Ortsfremden wird nämlich strengstens kontrolliert, sodass jede kleinere und größere Angelegenheit wie Hausreparatur oder Internetanschluss einer Sondergenehmigung der Regierungsstellen bedarf. Kim Dong-gu (47), Dorfvorsteher von Daeseong-dong, sagte bei der Zeremonie sichtlich gerührt: „Heute wird ein neues Kapitel in der Geschichte des Dorfes geschrieben. Ich bin überglücklich, dass die Wünsche der Bewohner in Erfüllung gehen und wir zudem ein besseres Lebensumfeld für die nächste Generation schaffen können“.
Zwei vis-á-vis liegende Dörfer an der grenze Das nach dem Koreakrieg am 27. Juli 1953 unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen enthält die Regelung, dass im nördlichen und südlichen Teil der DMZ jeweils ein Dorf mit zivilen Bewohnern bestehen bleiben darf, sodass am 3. August 1953 Daeseong-dong auf die Südseite und Kijeong-dong auf die
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Nordseite der DMZ gelegen kamen. Kijeong-dong, auch als „Friedensdorf“ bezeichnet, befindet sich unmittelbar an der Militärischen Demarkationslinie und ist vom „Freiheitsdorf“ Daeseong-dong nur 1,8km Luftlinie entfernt. Vor der Teilung der koreanischen Halbinsel waren es „direkte Nachbardörfer“. Kijeongdong untersteht dem Kommando der nordkoreanischen Volksarmee und wird anders als Daeseong-dong nicht von den UNO-Streitkräften überwacht. Es liegt nur vier Kilometer von dem vor rund zehn Jahren eingerichteten Kaesong(Gaeseong)-Industriekomplex, der seitdem die Kooperation der beiden Koreas befördert, entfernt. Mit dem Teleskop, das auf dem Dach des Gemeindehauses in Daeseong-dong eingerichtet ist, kann man jede Bewegung der Nordkoreaner in Kijeong-dong verfolgen. Lange Zeit führten die beiden Dörfer einen Wettstreit um den höchsten Fahnenmast, um die Überlegenheit des jeweiligen politischen Systems zu demonstrieren. Ende 1954, also direkt in Anschluss an das Waffenstillstandsabkommen, wurde in Kijeong-dong ein über 30m hoher Fahnenmast aufgestellt. Daran wurde eine riesige Nationalflagge der Demokratischen Volksrepublik Korea angebracht. Aber nicht nur das: Beim täglichen Hissen und Einholen der Flagge wurde die Nationalhymne, die aus den Lautsprechern dröhnte, immer lauter. Ein Jahr später rüsteten die Bürger von Daeseong-dong nach und errichteten einen 48m hohen Fahnenmast, 18m höher als der der nordkoreanischen Seite. Zwei Jahre darauf antworteten die Nordkoreaner mit einem 80m hohen Fahnenmast, der weitere drei Jahre später von Daeseong-dong mit einem 99,8m hohen Mast – dem höchsten in Südkorea – übertrumpft wurde. Weitere vier Jahre später (1964) konterten die Nordkoreaner mit einem 160m hohen Fahnenmast, den sie als den höchsten der Welt rühmten. Und natürlich ist die Nationalflagge, die an diesem Mast flattert, die größte der Welt. Doch danach endete der Wettstreit. Dorfvorsteher Kim meint gelassen: „Soweit ich weiß, fand die südkoreanische Seite diesen Wettstreit 1 Daeseong-dong, auch als „Freiheitsdorf“ bekannt, wurde gleich nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens 1953 zum einzigen zivilen Wohngebiet im südlichen Teil der Demilitarisierten Zone bestimmt. Es ist nur 1,8km von der Militärischen Demarkationslinie, die die beiden Koreas teilt, entfernt. Von Daeseong-dong aus kann man mit bloßem Auge den Fahnenmast im nordkoreanischen Dorf Kijeong-dong und die Gebäude des innerkoreanischen Industriekomplexes Kaesong sehen. 2 Dieser 99,8m hohe Fahnenmast ist der höchste in Südkorea. Sein Gegenstück in Kijeong-dong ist 160m hoch. Die hohen Masten sind Resultat der Rivalität, die im Kalten Krieg in den 1950er und 1960er Jahren ihren Höhepunkt fand.
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um den höchsten Fahnenmast irgendwann sinnlos“. Alleine Anfertigung und Instandhaltung der Flaggen kostete jede Seite mehrere zehn Millionen Won. Bis heute stehen die riesigen Fahnenmasten einander gegenüber.
Leben unter ungewöhnlichen Bedingungen Die Bewohner des Dorfes Daeseong-dong mit seiner 62-jährigen schmerzhaften Geschichte nehmen das Leben mit seinen Freuden und Leiden wie es eben kommt. Mit Stand von Juli 2015 sind dort 207 Personen in 49 Haushalten wohnhaft, die meisten betreiben Landwirtschaft. Die Mehrzahl hat bereits vor Ausbruch des Koreakrieges dort gewohnt oder es sind Nachfahren der einstigen Bewohner. Der größte Teil gehört zum Kim-Clan aus Gangneung. Nur diejenigen, die mehr als acht Monate pro Jahr im Dorf leben, haben Anspruch auf Ortsansässigen-Status, der mit diversen Privilegien einhergeht, darunter Befreiung von Steuer- oder Wehrdienstpflicht. Da die einzigen Bildungseinrichtungen im Dorf Kindergarten und Grundschule sind, sind Mittelund Oberschüler von dieser Regelung ausgenommen. Männliche Einwohner können nach einer Eheschließung mit einer Frau aus einer anderen Region weiterhin in Daeseong-dong leben, während eine Frau bei Heirat mit einem Ortsfremden das Dorf verlassen muss. Diese Regelung haben die Bewohner selbst in Einklang mit der konfuzianischen Tradition, dass die Frau mit der Heirat nicht mehr zu ihrer Herkunftsfamilie gehört, beschlossen. Geschieht ein Verbrechen, kann die Polizei der Republik Korea nicht einfach ins Dorf gehen und den Täter festnehmen. Zuerst muss das Kommando der UNO (UNC) den Täter aus dem Ort bringen, sodass er außerhalb der DMZ festgenommen werden kann. Die Einzelregelungen bezüglich des Lebens in Daeseong-dong basieren auf den Regelungen des UNC, das die DMZ verwaltet, sowie auf zivilrechtliche Regelungen, die das UNC und die Einwohner vereinbart haben. Zahlreiche Beschränkungen erschweren den Alltag der Bewohner von Daeseong-dong: Von 00:00 bis 05:00 Uhr gilt die tägliche Ausgangssperre. Zwischen 19:00 und 20:00 Uhr ist Anwesenheitsappell, bei dem die UNO-Soldaten von Haus zu Haus gehen. Eine schwer bewaffnete Zivilverwaltungseinheit der UNO überwacht das Dorf rund um die Uhr. Wer aus dem Dorf hinausfahren möchte, braucht eine Genehmigung des UNC. Eine geplante Feldarbeit muss zwei bis drei Tage im Voraus beim UNC angemeldet werden. Bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten nahe der DMZ werden die Bewohner von Soldaten begleitet. Besucher von außerhalb werden nur mit einer Sondergenehmigung, die eine Woche vor dem geplanten Besuch zu beantragen ist, und nach einer Identitätskontrolle in das Dorf gelassen. Das einzige öffentliche Verkehrsmittel ist ein Bus, der dreimal täglich ins Dorf kommt. Wer alltägliche Gebrauchsgegenstände braucht, muss bis nach Munsan fahren, weshalb heute fast jeder Haushalt ein Auto besitzt. Möglich wurde das aber erst, als sich die Lebensbedingungen verbesserten. Ganz am Anfang konnten die Bewohner nur einmal pro Woche aus dem Dorf fahren. Daher kamen einmal pro Woche Hilfsgüter-LKWs des UNC ins Dorf, um alltägliche Bedarfsgüter zu verteilen. 1972 spendete die damalige First Lady Yuk Young-soo, die Mutter der jetzigen Präsidentin Park Geun-hye, einen Shuttlebus, der dreimal pro Woche verkehrte. Ende der 1970er Jahre fuhr er dann täglich. Heute fährt drei Mal täglich ein Shuttlebus zum Munsan-Busterminal. Bei öffentlichen Wahlen fahren alle Bewohner zusammen zum Wahllokal, weshalb die Wahlbeteiligung des Dorfes jedes Mal fast 100% erreicht. Das Wahlrecht erhielten die Dorfbe44 KOREANA Herbst 2015
wohner aber erst 1967. In den 14 Jahren davor war ihr politisches Mitbestimmungsrecht eingeschränkt.
Bildungsmöglichkeiten für die Dorfkinder Die einzigen Bildungseinrichtungen in Daeseong-dong sind ein Kindergarten und eine Grundschule. Von den 30 Grundschülern stammen nur vier aus Daeseongdong. Die übrigen sind pendelnde Schüler aus anderen städtischen Gebieten wie Munsan, Paju, Ilsan, etc. Die Nachfrage von außen ist groß, da die niedrige Schülerzahl eine Eins-zu-Eins-Betreuung ermöglicht und die Schule zudem als auf Englisch spezialisierte Grundschule designiert wurde. Da aber die Aufnahmekapazität nicht erweitert wird, stehen an die 50 Namen auf der Warteliste. Die Schüler dieser 1954 eingerichteten Dorfschule brauchen die Schüler aus städtischen Schulen nicht zu beneiden, zumal die Schule seit November 2014 sogar mit einem superschnellen Internetzugang ausgerüstet ist. Die Schule wurde noch beliebter, als US-Soldaten aus der Joint Security Area (JSA: Gemeinsame Sicherheitszone) anfingen, zwei- bis dreimal pro Woche die Schule zu besuchen, um Englischunterricht zu geben. Wer die Grundschule
1 1 Park Pil-sun, links, der Älteste Bewohner des Dorfes, und Kim Kyung-lae zeigen auf das nordkoreanische Dorf Kijeong-dong, wo Parks älterer Bruder bis zur Einrichtung der Militärischen Demarkationslinie lebte. 2 Ein Schüler grüßt einen vor der Schule Wache stehenden UN-Soldaten mit einem High-five-Handschlag. Die Grundschule Daeseongdong ist mit nur 30 Schülern klein. Mit einer Lehrer-Schüler-Ratio von 1:1 und einem Curriculum für „Englisch für spezielle Zwecke“ ist sie auch bei Schülern aus den angrenzenden Gebieten äußerst beliebt. 3 Die Bewohner von Daeseong-dong erledigen die Feldarbeit unter der Bewachung eines bewaffneten Schutzsoldaten. Die Dorfbewohner, von denen die meisten Bauern sind, müssen geplante Feldarbeiten zwei bis drei Tage vorher beim UNO-Kommando anmelden. Wenn sie in der Nähe der Militärischen Demarkationslinie arbeiten, geben ihnen Soldaten Begleichtschutz.
Daeseong-dong abschließt, kann sich an jeder Mittelschule des Landes bewerben, da die landesweit gültige Regelung, nach der je nach Wohnort eine Schule im jeweiligen Schulbezirk zu besuchen ist, nicht gilt. Dank diverser Sonderunterstützungsmaßnahmen der Regierung ist der Lebensstandard der Einwohner von Daeseong-dong relativ hoch. Da die durchschnittliche landwirtschaftliche Anbaufläche pro Haushalt mit ca. 82.500m2 groß ist, beträgt das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Haushalt 60 Mio. KW (rd. 48.000 €), was das Jahresdurchschnittseinkommen eines mittelständischen Haushaltes in der Stadt übersteigt. Die Dorfbewohner besitzen für die Felder jedoch kein Eigentumsrecht, sondern nur das Nutzungsrecht. Aufgrund der Besonderheit des Dorfes sorgen bereits kleinste Ereignisse oder Änderungen für Medienwirbel. So genießt z.B. die Abschlussfeier der Grundschule stets die Aufmerksamkeit der Medien. Als dann alle Schüler der Grundschule Daeseong am 15. Mai dieses Jahres auf Einladung des Ministers für Regierungsverwaltung und Inneres Chong Jong-sup den Regierungskomplex in Seoul besuchten, wurde von den meisten Nachrichtenagenturen darüber berichtet. Schlagzeilen machte auch, als Daeseong-dong im Juni 2013 ans Wasserleitungsnetz angeschlossen wurde und als 2012 kostenloser Internetzugang eingerichtet und ein modernes Kino eröffnet wurde. Als sieben Schüler der Daeseong-Grundschule 1991, also direkt nach der Wiedervereinigung Deutschlands, die Berliner Mauer besuchten, war das eine traurig-rührende Nachricht für die Koreaner. Am 2. August 2013 wurde anlässlich des 60. „Geburtstages“ des Daeseong2
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Dorfes ein Fest im Gemeindehaus veranstaltet. Anwesend waren ca. 300 Gäste, neben den Dorfbewohnern hochrangige Persönlichkeiten wie der Gouverneur der Provinz Gyeonggi-do und Vertreter der Botschaften von fünf Koreakrieg-Teilnehmerstaaten. Da Daeseong-dong sich in der Nähe des Waffenstillstandsdorfes Panmunjeom befindet, richtet sich die Aufmerksamkeit stets auf das Dorf, wenn wichtige Persönlichkeiten aus dem Ausland die Region um die DMZ besuchen. Als der deutsche Wiedervereinigungskanzler Helmut Kohl im März 1993 Korea besuchte, besichtigte er, überwältigt von Emotionen, Panmunjeom und Daeseong-dong. Wenn die Spannungen zwischen Nord- und Südkorea eskalieren, verfolgen die Dorfbewohner die Situation mit angehaltenem Atem. Im Oktober 2012 drohte Nordkorea wegen einer regimekritischen Ballon-Flugblätteraktion einer Gruppe von Exil-Nordkoreanern „an der Westfront einen gnadenlosen Militärschlag“ durchzuführen, weshalb die Dorfbewohner für kurze Zeit in einem Bunker in Sicherheit gebracht wurden. 1997 wurde eine Dorfbewohnerin auf Eichelsuche von nordkoreanischen Soldaten entführt, aber nach fünf Tagen wieder freigelassen.
So nah und doch so fern Park Pil-seon (82), der Älteste der in Daeseong-dong geborenen Bewohner, hat seinen früher im Nachbardorf Kijeong-dong lebenden Bruder über 60 Jahre lang nicht gesehen. Er sagt: „Da wir keinerlei Kontakt zueinander haben, weiß ich nicht einmal, ob er noch lebt oder schon verstorben ist. Ich lebe einfach in dem Gedanken, dass er noch dort, in meiner unmittelbaren Nähe, lebt“. Mit Tränen in den Augen fügt er hinzu: „Mein größter Wunsch ist die Wiedervereinigung, selbst wenn ich dann das Dorf mit nichts als den Kleidern auf meinem Leib verlassen müsste. Ich möchte es noch erleben, dass die Nation wieder eins wird“.
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KUNSTKRITIK
TIEFRELIGIÖSE MÄZENE BRINGEN DIE BUDDHISTISCHE KUNST ZUR BLÜTE
Shin So-yeon Kuratorin des Koreanischen Nationalmuseums
Die Ausstellung Devout Patrons of Buddhist Art (Tiefreligiöse Mäzene Buddhistischer
Kunst), die vom 23. Mai bis zum 2. August im Koreanischen Nationalmuseum stattfand, erörterte aus der Perspektive der Kunstförderer das Verhältnis zwischen Buddhismus, Kunst und ihren Mäzenen in der koreanischen gesellschaft. Sie bestand aus fünf Teilen, in denen die Werke mit Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Schicht der wichtigsten Mäzene des jeweiligen Zeitalters eingeordnet wurden. Interessant war dabei, wie die Exponate den sozialen Status ihrer Förderer widerspiegelten.
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eit seinem Einzug in Korea um das 4. Jh n.Chr. während der Zeit der Drei Königreiche hat sich der koreanische Buddhismus in Einklang mit der traditionellen koreanischen Kultur weiterentwickelt. Auf die Kraft Buddhas vertrauend, hofften die Koreaner, Drangsale wie Krankheiten, Hungersnöte, Kriege und Naturkatastrophen zu überwinden. Dieser Wunsch führte dazu, dass verschiedene religiöse Objekte geschaffen und buddhistische Rituale durchgeführt wurden. Er wirkte zudem als Antriebskraft für die Entwicklung der koreanischen Geschichte und Kultur. Der Prolog der Ausstellung mit dem Titel „Bedeutung buddhistischen Mäzenatentums“ beleuchtet anhand der buddhistischen Kunst aus den Zeiten der Drei Königreiche (57 v. Chr. – 668 n. Chr.) und des Vereinten Silla-Reiches (676-935) sowohl die Bedeu46 KOREANA Herbst 2015
tung des buddhistischen Mäzenatentums als auch die jeweiligen Umstände dieser Zeitalter, als der Buddhismus größtenteils von Staat und Königsfamilie gefördert wurde. Damals wollten die Gläubigen gute Taten anhäufen, indem sie Tempel und Steinpagoden errichten und buddhistische Statuen und Malereien in der Haupthalle des Tempels einschreinen ließen oder bei Sutren-Projekten mitwirkten. Die meisten buddhistischen Kunstwerke in koreanischen Tempeln sind Resultat dieser buddhistischen Gebete in Form von Mäzenatentum und konnten dank der großen Anzahl von Förderern angefertigt werden. Gewöhnlich wurde dabei um Frieden und Wohlergehen des Landes gebetet oder darum, dass der Spender, seine Familie und alle empfindsamen Wesen Erleuchtung finden und schließlich in das Reine Land eingehen mögen.
1 Die Goldbronzene Sarira-Reliquienschatulle und die Artefakte aus der dreistöckigen Steinpagode des Tempels Hwangbok-sa (Nationalschatz Nr. 37) in Guhwang-ri, Gyeongju, wurden zweimal versiegelt: im Jahr 692 und 706. Auf der Innenseite des Reliquienbehälter-Deckels findet sich die Inschrift, dass König Hyoso im Jahr 692 für seine Mutter, Königinwitwe Sinmok, und auch für seinen verstorbenen Vater, König Sinmun, betete. 2 Die Statue des Hölzernen Sitzenden Avalokiteshvara aus dem 13. Jh im Koreanischen Nationalmuseum ist eine elegant und natürlich gestaltete Skulptur aus 15 aneinandergefügten Holzteilen. Für die Augen wurden Kristalle verwendet und in der Statue wurden eine Holzflasche, Getreidekörner, Mineralien und Textilien eingeschreint. Die Höhe beträgt 67,6 cm.
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Staatliche Unterstützung für den Tempelbau Da der Buddhismus von der Zeit der Drei Königreiche bis zur Zeit des Vereinigten Silla-Reiches als geistige Stütze des zentralisierten Staates diente, waren Staat und Königsfamilie die größten Förderer des Tempelbaus. Zu dieser Zeit wurden in den Steinpagoden auf dem Tempelgelände gewöhnlich Sarira-Reliquien eingeschreint. Ein repräsentatives Besipiel ist die von der Königsfamilie in Auftrag gegebene Sarira-Reliquienschatulle aus der dreistöckigen Steinpagode der Tempelanlage Hwangbok-sa in Guhwangdong, Gyeongju. Auf der Innenseite des goldbronzenen Reliquienbehälters steht, dass König Hyoso (692-702) zusammen mit seiner Mutter, der Königinwitwe Sinmok, (?-700) im Jahr 692 die Steinpagode errichten ließ, um seinen Vater, König Sinmun (681-692), zu ehren. Berücksichtigt man, dass König Hyoso damals nur sechs Jahre alt war, muss die Königinwitwe der eigentliche Auftraggeber gewesen sein. Das Errichten der Steinpagode dürfte auch eine politische Geste gewesen sein, die die Macht des Kindkönigs und der Königsfamilie untermauern und die Legitimität der Thronfolge beweisen sollte. Auf der Außenseite der Sarira-Schatulle, die König Seongdeok (702-737) 706 in die gleiche Pagode einschreinen ließ, sind 99 kleine Pagoden eingraviert, die auf der Reines Licht Dharani-Sutra beruhen. Die in der Schatulle enthaltenen Stücke wie eine sitzende
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und eine stehende Buddhastatue aus Gold, eine goldene und ein silberne Schatulle jeweils mit Deckel, eine silberne und eine goldene Fußschale, grüne Glasscheiben und Glasperlen usw. zeigen, wie prächtig die von der Königsfamilie in Auftrag gegebenen buddhistischen Kunstwerke waren. Später, in der Zeit des Goryeo-Reiches (918-1392) traten Einzelmäzene in den Vordergrund. Im ersten Teil der Ausstellung mit dem Titel Könige und Aristrokraten: Veröffentlichung von Sutren wurden Projekte mit Bezug zur Kompilierung und Veröffentlichung von Sutren vorgestellt, auf die sich die Förderung der mächtigsten Persönlichkeiten wie Mitglieder der Königsfamilie, Adlige und hochrangige Beamte des Goryeo-Reiches konzentrierte. In der GoryeoZeit waren handschriftliche Sutren-Abschriften populär: Die Sutren wurden auf indigoblau oder purpurrot gefärbtes Papier kopiert und mit Illustrationen in Gold oder Silber versehen. Im Gebetstext wurde nicht nur um das Wohl der Königsfamilie, sondern auch um Segen für den Spender selbst und seine Familie gebeten oder persönliche Wünsche geäußert. Die größte Aufmerksamkeit zog die Kopie der Praktiken und Gelöbnisse des Bodhisattwa Samantabhadra aus der Blumengirlanden-Sutra (Avatamsaka-Sutra) auf sich, die An Sae-han (1279-1368), 1334 in Auftrag gab. In seinem Bittgebet bedankt er sich bei seinen Eltern und dem YuanHof dafür, dass er im chinesischen Kaiserreich zum Beamten
1 Praktiken und Gelöbnisse des Bodhisattwa Samantabhadra aus der Blumengirlanden-Sutra (Avatamsaka-Sutra , Schatz Nr. 752), die 1334 von An Sae-han während der Goryeo-Zeit in Auftrag gegeben wurde, wurde in Gold auf indigoblaues Papier kopiert. Das zweibändige Buch, das im Horim Museum aufbewahrt wird, wurde in Faltwand-Form gearbeitet und misst gefaltet 34cm x 11,5cm. 2 Der Bronzegong mit „Imja“-Inschrift im Tempel Okcheon-sa in Goseong, Provinz Gyeongsangnam-do (Schatz Nr. 495) hat einen Durchmesser von 55cm und ist 14cm tief. Seine Herstellung wurde 1252 während der Goryeo-Zeit von einer Gruppe hochrangiger Zentralregierungsbeamten gefördert.
zweiten Ranges aufsteigen konnte, und betete um das Wohlergehen seiner Familie und des GoryeoReichs. Die Illustrationen sind im Stil der tibetischen bzw. mongolischen buddhistischen Kunst gehalten, der im China der Yuan-Zeit beliebt war und von dort nach Goryeo weitergeleitet wurde, was die politischen Gesinnung des pro-chinesischen Mäzens An widerspiegelt.
Buddha-Verehrung quer durch alle sozialen Schichten Der zweite Teil der Ausstellung „Vom Beamten bis zum Plebejer: in Verehrung des Buddha“ stellte Artefakte aus, die im Zusammenhang mit dem im 13. Jh eingeführten Ritual der Beigabe in den 2 Bauchbereich der Buddha-Statue und der davon herrührenden Zunahme der Fördererzahl aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten standen. Die eingeschreinten Beigaben wie Gebetstexte, Sarira, Sutren, Textilien und Getreide lassen erkennen, dass die Statuen nicht als einfache Skulpturen aus Metall oder Holz, sondern als Buddha selbst betrachtet wurden. Die Statue des hölzernen sitzenden Avalokiteshvara aus dem 13. Jh, die heute im Nationalmuseum aufbewahrt wird, ist ein elegant und natürlich geformtes Werk aus 15 aneinandergefügten Holzteilen. Für die Augen wurden Kristalle verwendet und in der Statue selbst wurden u. a. eine Holzflasche, Getreidekörner, Mineralien und Textilien untergebracht. Auf der Holzstütze der Goldbronzenen Amitabha-Buddha-Triade aus dem Jahr 1333 werden Jang Hyeon und seine Gemahlin Seon als Hauptdonatoren angegeben. Im Gebetstext für das Beigabe-Ritual stehen die Namen von Hunderten von Personen von hochrangigen Beamten bis hin zu einfachen Bürgern. Diejenigen, die schreiben konnten, signierten eigenhändig; des Schreibens Unkundige ließen andere für sich unterzeichnen. Die eingeschreinten Opfergaben kamen also von vielen Personen unterschiedlichsten Status, während die Buddha-Statue selbst von einer Handvoll wohlhabender Mäzene gesponsert wurde. Der dritte Ausstellungsteil „Ritual-Utensilien, dargebracht von Laien aus der Gemeinschaft“ widmete sich Förderern, die kunsthandwerkliche buddhistische Gegenstände für den Alltagsgebrauch darboten, darunter Glocken, die die Gebetsstunde ankündigten, Eisengongs, mit denen zum Essen gerufen wurde, Weihrauchgefäße und Kerzenständer, die für Rituale gebraucht wurden. Zu den wichtigsten Förderern gehörten die niedrigen Verwaltungsbeamte von regional großem Einfluss. Schatz Nr. 1781, die Bronzene Glocke des Tempels Daehyewon, und Nationalschatz Nr. 214, der Bronzene Weihrauchbrenner mit Silberdrahtdekor, lassen die Bedeutung dieser Verwaltungsbeamten erkennen. Die regionalen buddhistischen Glaubensgemeinschaften waren ebenfalls wichtige Förderer. Allerdings weisen die von ihnen in Auftrag gegebenen Kunsthandwerksstücke je nach sozialer Schicht, Titel und Wirtschaftskraft Unterschiede in Qualität und Umfang auf. Schatz Nr. 495, ein Bronzegong aus dem Besitz des Tempels Okcheon-sa in Goseong, Provinz Gyeongsangnam-do, wurde von hochrangigen Zentralregierungsbeamten gefördert. Größe und künstlerische Verarbeitung lassen die Wirtschaftskraft der Förderer erahnen. Mit solchen Werken konnten sich die von niedrigrangigen Beamten, Militärbeamten, Frauen oder Gemeinschaften aus ländlichen Regionen geförderten Kunstwerke nicht messen. Königliche Mäzeninnen buddhistischer Kunst Teil 4, „Frauen des Königshofes als wichtigste Mäzeninnen buddhistischen Kultur“, präsentierte buddhistische, von weiblichen Mitgliedern der Königsfamilie gesponserte Kunstprojekte, die trotz der Unterdrückung des Buddhismus und der Propagierung des Konfuzianismus als staatspolitischer Herrschaftsideologie im Joseon-Reich ziemlich lange vorangetrieben wurden. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist der goldbronzene, tragbare buddhistische Schrein und die Buddha-Triade, die in einer PagoKOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 49
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Die zahlreichen buddhistischen Kunstwerke, die bis heute erhalten geblieben sind, wurden mit dem sehnlichsten Herzenswunsch nach Frieden und Wohl oder nach dem Einzug der Eltern oder Familie in das Reine Land (Sukhavati) hergestellt. Gleichzeitig bedeutete die unterstützung solcher Tempelprojekte, dass die Erleuchtung-Suchenden dadurch grenzenlose Wohltaten anhäufen wollten.
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de des Tempels Sujong-sa in Namyangju, Provinz Gyeonggi-do, gefunden und von Myeongbin, einer Konkubine König Taejongs (reg. 1400-1418), in Auftrag gegeben wurden. Nennenswert ist auch die Sutra vom Goldenen Licht (Suvarnaprabhasa - Sutra), die Königinwitwe Inmok (1584-1632), deren Familie und junger Sohn, Prinz Yeongchang (1606-1614), mit der Thronbesteigung von König Gwanghaegun (reg. 1608-1623) ums Leben kamen, 1622 in Auftrag gab. Die Hüllen bestickte sie eigenhändig und auch die Texte schrieb sie selbst ab. Sie erteilte den Auftrag, als sie und ihre Tochter, Prinzessin Jeongmyeong (1603-1685), in Folge des Machtkampfs im Westlichen Gemach des Palasts Changdeok-gung eingesperrt waren. Das Werk spiegelt ihren Wunsch als Mutter wider, dass ihr Sohn, der im jungen Alter einen tragischen Tod erleiden musste, in das paradisische Reine Land einziehen möge. Das Gemälde der Bhaisajyaguru (Medizin-Buddha)-Triade des Tempels Hoeam-sa in Yangju, Gyeonggi-do, wurde von Königin Munjeong (1501-1565) finanziert, die den 50 KOREANA Herbst 2015
Buddhismus wiederbeleben wollte. Als Mutter von König Myeongjong (reg. 1545-1567) gab sie dem Tempel Hoeam-sa 400 buddhistische Gemälde in Auftrag und bat um das Wohl ihres verstorbenen Enkelsohns, um die Langlebigkeit des Königs und die Geburt eines Prinzen. Das Gemälde der Bhaisajyaguru-Triade war eins der 400 Gemälde.
Wiederbelebung des Buddhismus durch Mönche und einfache Bürger Der letzte Teil der Ausstellung „Mönche und einfache Bürger im Mittelpunkt der Wiederbelebung des Buddhismus“ zeigte buddhistische Arbeiten der späten Joseon-Zeit, die von Mönchen und einfachen Bürgern unterstützt wurden. Im Joseon-Reich wurden nach den beiden großen Invasionen – der japanischen Imjinwaeran-Invasion (1592-1598) und der Zweiten Mandschu-Invasion (1636-1637) – zahlreiche Tempel wieder aufgebaut. Dank der Mönche, die in diesen Krisenzeiten mutig als Soldaten gekämpft und Beeindruckendes vollbrachten, erhöhte sich nach Kriegsende deren gesell-
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schaftliches Ansehen, während es gleichzeitig allgemeine Praxis wurde, dass Mönche die Federführung bei buddhistischen Kunstprojekten und einfache Bürger die Finanzierung übernahmen. Das Gemälde Yeongsanhoesangdo im Tempel Yongyeon-sa aus dem Jahr 1777 stellt Shakyamuni bei seiner Predigt auf dem indischen Geierberg dar. Die Inschriften bestätigen, dass zahlreiche Mönche an der Herstellung beteiligt waren. Damals wurden auch viele Bittrituale zur Aufnahme der Verstorbenen ins paradiesische Reine Land abgehalten und buddhistische Malereien wie das sog. Gamnodo (Bild des Amrita) angefertigt. Das Gamnodo-Gemälde des Tempels Daegok-sa in Uiseong-gun, Pro1 Eine Kopie der Suvarnaprabhasa-Sutra, der Sutra vom Goldenen Licht. Jeder der zehn Bände misst gefaltet 34,6cm x 12cm. Die Sutra, gelistet als Materielles Kulturgut Nr. 34 der Provinz Gyeonggi-do, wird im Dongguk Universitätsmuseum aufbewahrt. 2 Der Goldbronzene Tragbare Schrein mit Buddha Triade (Schatz Nr. 1788) wurde zusammen mit einem Bittgebet aus der oktagonalen fünfstöckigen Steinpagode des Tempels Sujong-sa in Namyangju, Provinz Gyeonggido ausgegraben. Der Schrein hat eine Höhe von 21cm. 3 Das Gemälde Gamnodo (Bild des Amrita) im Tempel Daegok-sa in Uiseong-gun, Provinz Gyeongsangbuk-do, wurde 1764 mit Unterstützung eines privaten Förderkreises fertiggestellt. Farbe auf Seide, 211,5 cm x 277 cm.
vinz Gyeongsangbuk-do, wurde 1764 durch Unterstutzüng eines privaten Förderkreises von Gläubigen fertiggestellt. In der Mitte ist ein großer Altar zu sehen, darunter der das Ritual vollziehende Mönch sowie der knieende Hunger-Geist Preta. Im Hintergrund stehen der König, die Königin, die königliche Gefolgschaft und buddhistische Gläubige. Im unteren Teil werden der Tod und der Alltag des einfachen Volks wie in einer Genremalerei dargestellt. Es ist interessant, dass in einem Ritualgemälde gesponsert von mittelständischen Bürgern und Adligen solche Volksszenen dargestellt wurden. Die zahlreichen buddhistischen Kunstwerke, die bis heute erhalten geblieben sind, wurden mit dem sehnlichsten Herzenswunsch nach Frieden und Wohl oder nach dem Einzug der Eltern oder Familie in das Reine Land hergestellt. Gleichzeitig bedeutete die Unterstützung solcher Tempelprojekte, dass die Erleuchtung-Suchenden dadurch grenzenlose Wohltaten anhäufen wollten. Der Gemeinschaftssinn der Koreaner, die in schwierigen Situationen zusammenhalten, kam also mit dem altruistischen buddhistischen Glauben des Ansammelns von Verdiensten und guten Taten durch den Dienst am Nächsten zusammen und führte schließlich zur Schaffung bemerkenswerter Werke buddhistischer Kunst. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 51
UNTERWEgS
Hwasun
gwak Jae-gu Dichter Fotos Ahn Hong-beom
Ein friedlicher Ort voll mystischer Energie Hwasun, was so viel bedeutet wie „Ort, an dem die Erdenergie friedlich und der Wind sanft ist“, ist wohl der perfekte Platz, um das Leben hier auf Erden zu verbringen. Seit Anbeginn der Zeit nährte Hwasun die Menschen, deren Existenzspuren in den Hunderten von Dolmen hinterlassen sind, und bewahrte ihre flehentlichen Wünsche nach einer neuen Welt aufeinander gestapelt in den tausend Pagoden und Buddha-Statuen. Entlang der Flusswindungen schlängeln sich Sandbänke, der Seryangji-See ist in Mysterien eingehüllt. Wer sich, erschöpft und ausgelaugt von den Unbilden des Lebens, nach der tröstenden Umarmung der Mutter sehnt, für den könnte Hwasun Balsam für Leib und Seele sein. 52 KOREANA Herbst 2015
Die Dolmen sind die Grabstätten der herrschenden Klasse der Bronzezeit. Sie wiegen von nur wenigen Tonnen bis mehrere zehn, ja, mehrere hundert Tonnen. Diese gigantischen Brocken zu fördern, zu transportieren und aufzustellen muss unglaubliche Arbeitskraft verlangt haben. Korea hat eine ungewöhnlich hohe Zahl solcher Dolmen. Sie finden sich hier in höherer Konzentration als sonstwo auf der Welt.
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enn man durch die Stromschnellen des Lebens navigiert, findet man auch immer wieder einige hilfreiche Trittsteine. 1981 trat ich auf meinem Weg durchs Leben auf einen davon. Am 1. Januar 1981 gewann ich nach zehn trostlosen Jahren als unbekannter Schriftsteller den Literaturwettbewerb der Zeitung JoongAng Ilbo und eins meiner Gedichte wurde veröffentlicht. Der jedes Jahr im Frühling stattfindende, von einer Zeitung gesponserte Wettbewerb, der jungen Nachwuchsschriftstellern auf die literarische Bühne hilft, findet sich in dieser Art nur in Südkorea. Die Tradition geht bis auf die Kolonialzeit in den 1930er Jahren zurück. Das imperialistische Japan, das Korea annektiert hatte, verbot den schriftlichen Gebrauch der koreanischen Sprache im öffentlichen Bereich. Dagegen leisteten die großen koreanischen Zeitungsverlage Widerstand, indem sie jährliche Literaturwettbewerbe ins Leben riefen, deren Preisträger sofort Anerkennung als Schriftsteller oder Dichter fanden. Es war eine große Ehre für jeden Schriftsteller, in der ersten Ausgabe des neuen Jahres seinen Namen neben dem selbst verfassten preisgekrönten Gedicht oder der Erzählung veröffentlicht zu sehen. Dieser
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Wettbewerb, der bereits seit über achtzig Jahren besteht, gilt für junge koreanische Literaten auch heute noch als bedeutsamstes Sprungbrett in die Literaturwelt. Auch mein Gedicht Am Bahnhof Sapyeong erblickte auf diesem Weg das Licht der Welt. Der letzte Zug war immer noch nicht da. Draußen vor dem Wartesaal häufte die Nacht Schneeflocken. Hinter jedem fliederblütenweiß-blendenden Fensterglas wurden Sägemehlöfen angezündet. […] Nach Mitternacht ist alles, auch die Fremdheit, auch der Schmerz, nur noch verschneites Feld. Mit ein paar Ahornblättern-gleichen Fenstern fährt da der Nachtzug, ...wohin? Die zurückersehnten Augenblicke beim Namen rufend, warf ich eine Handvoll Tränen ins Licht.
2 1 Der Tempel Unju-sa – der „Ort, an dem die Wolken wohnen“ – ist berühmt für seine 1.000 Buddhas und 1.000 Pagoden, die der Legende nach im 9. Jh über Nacht von einem Nationalen Präzeptor des Shilla-Reiches errichtet worden sein sollen. Auf dem Gelände des Unju-sa finden sich überall verstreut buddhistische Skulpturen und Pagoden. 2 Bei den meisten Buddha-Darstellungen im Unju-sa handelt es sich um Maitreya, den Buddha der Zukunft. Anders als die meisten buddhistischen Skulpturen haben sie kein Podest und keine Aureolen. Der Glaube an Maitreya, von dem es heißt, dass er die retten wird, die nicht von Sakyamuni gerettet werden konnten, spiegelt die Hoffnung auf die Zukunft wider. 3 Der Garten Imdaejeong ist der Inbegriff eines traditionellen Gartens. Dort finden sich Teiche und Pavillons, die Lieblingsorte der Literati aus alter Zeit.
Sapyeong: Flussdorf ohne Bahnhof Die politische Lage in den 1980er Jahren in Südkorea war mehr als beklagenswert. Mein Traum als junger, unbekannter Schriftsteller war, dass alle Koreaner diese Zeit des Leides überwinden und den Horizont der Hoffnung erreichen sollten. Damals unternahm ich eine kurze Reise auf eine Insel an der Südküste. Auf dem Rückweg nahm ich den Bus und unter den vielen Fahrgästen fiel mir das Profil einer jungen Frau auf. Sie lächelte leise in sich hinein. Draußen vor dem Fenster plätscherte ein Flüsschen, breite, von Pappeln gesäumte Sandbänke erstreckten sich den Wasserlauf entlang. Zu der Zeit – ich war in meinen 20ern – war ich fürchterlich schüchtern. Es war undenkbar für mich, eine junge Frau, die ich zum ersten Mal sah, anzusprechen. Doch genau das tat ich: „Sie sehen bezaubernd aus, wenn Sie lächeln. Worüber lächeln Sie?“ Sie blickte mich an und sagte: „Als kleines Kind habe ich in dem Fluss gebadet und am Strand gespielt. Ich musste an meine Freunde und meine Großmutter denken.“ Wir stiegen an der Endstation aus und tranken gemeinsam einen Kaffee. Da erfuhr ich, dass der Name ihres Heimatortes, wo sie in jungen Jahren gebadet und gespielt hatte, „Sapyeong“ war, was soviel wie „Friedliches Dorf am Fluss mit viel Sand“ bedeutet. Diesen zutiefst inspirierenden Namen verwendete ich in dem Gedicht, an dem ich damals gerade schrieb. Natürlich gibt es in dem echten Sapyeong keine Bahnstation. Meine jüngste Reise nach Hwasun ergab sich dadurch, dass ich die kleinen Dörfer am Fluss in der Gegend von Sapyeong erkunden wollte. Die Dörfer besaßen noch immer ihre einstige Schönheit. Stockmalven, Nachtkerzen und Balsamblumen standen in Blüte. Bei einem Bauernhaus saß ein Großmütterchen auf der Veranda und färbte die Fingernägel ihrer Enkelin mit Balsamblumen. Die junge Frau, die ich damals im Bus getroffen hatte, müsste jetzt auch bereits weit über sechzig sein. Vor dem Reiskuchen-Laden, an dem mit Reiswein fermentierter Reiskuchen verkauft wurde, wartete eine lange Schlange. Ich ging zu den mir fremden Menschen und grüßte sie. Alle grüßten lächelnd zurück. Die Zeit ist
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etwas Geheimnisvolles, denn plötzlich fiel mir der Name der jungen Frau, den ich über vierzig Jahre vergessen hatte, wieder ein. Ich fragte die Leute, ob sie wüssten, wo sie lebe. Aber es war nicht wirklich eine Frage, sondern vielmehr eine Art an mich selbst gerichteter Seufzer, beladen mit der Vergänglichkeit der Zeit. Hwasun, was so viel bedeutet wie „Ort, an dem die Erdenergie friedlich und der Wind sanft ist“, ist wohl der perfekte Platz, um das Leben hier auf Erden zu verbringen. Auch in prähistorischer Zeit wussten die Menschen, die hier siedelten, sicher um die positive Energie dieses Ortes. Rund um den Bogeomjae-Pass gibt es am südlichen Fuß eines Berges eine Ansammlung von 596 Dolmen. In dieser Dolmenstätte, die im Jahr 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, befindet sich nicht nur eine Vielzahl von Dolmen, sondern hier wurde auch ein Steinbruch für Decksteine entdeckt, der Einblick in die Herstellung der Dolmen gibt. Der fünf Kilometer lange Weg zwischen den Dolmen, der die Dörfer Hyosan-ri und Daesin-ri verbindet, dürfte einer der geheimnisvollsten und schönsten Wanderwege der Welt sein. Ich parke mein Auto am Eingang des Dorfes Hyosan-ri und laufe langsamen Schrittes. Die Dolmen, die so nah und doch so fern sind, geben einem das Gefühl, über Zeit und Raum hinweg in die Vergangenheit zu reisen. Der Hwasun Dolmen-Park kommt in Sicht. Hier kann man die prähistorische Zeit erleben und eine Vorstellung davon bekommen, wie das Leben der Menschen, die die Dolmen erbaut haben, ausgesehen haben könnte. Laut Aufzeichnun-
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gen stammen die hier gefundenen Tongefäßscherben und Samen aus der Zeit vor rund 2,500 Jahren. Beim Betrachten der Kammkeramik kommt mir der Gedanke, ob es sich dabei nicht um den Prototyp der Poesie handeln könnte. Denn auch vor der Erfindung der Schriftzeichen hatten die Menschen damals ja sicherlich auch Gefühle, die sie zum Ausdruck bringen wollten. An manchen Tagen müssen sie traurig gewesen sein, an anderen einsam und an wieder anderen Tagen fröhlich. Wenn diese Empfindungen in den Kammmustern festgehalten wurden, wären es dann nicht Abbilder dessen, was wir heute als „Gedicht“ bezeichnen?
Dolmengruppen und Kammkeramik Insgesamt 196 Megalithgräber umstehen einen Dolmen, der „Gwancheong-Felsen“ (Amt-Felsen) genannt wird. Es gibt eine Anekdote, nach der der Gouverneur aus der Nachbarstadt Boseong, auf den Felsen kletterte und dort oben die anstehenden Amtsgeschäfte erledigte. Von den „Mond-Felsen“ genannten Dolmen, die sich auf der Spitze des Bergpasses Bogeomjae (188,5m ü. d. M.) befinden, wird erzählt, dass sie früher den Wanderern den Weg über den Pass wie der Mond beleuchtet haben. Der Anblick der im nächtlichen Dunkel leuchtenden Dolmen muss an sich schon ein großer Trost für die Reisenden in alter Zeit, die sich in einer Vollmondnacht über den Pass wagten, gewesen sein. Dann gibt es noch einen Dolmen mit dem Namen „Pingmae-Felsen“, wobei „Pingmae“ „Steinwerfen“ bedeutet. Mit 7 Metern Höhe, 4 Metern Breite und einem Gewicht von über 200 Tonnen gehört er zu den größten Dolmen der Welt. Auf der Unterseite des Decksteins finden sich die Spuren des Behauens, darunter sind Stützsteine. Zwischen Deckstein und Stützsteinen gibt es einen gewissen Hohlraum. Auf der Oberseite des Decksteins ist ein Loch. Es heißt, dass bald die Hochzeitsglocken läuten sollen, wenn ein mit der linken Hand geworfener Stein das Loch trifft. Nach altem Volksglauben soll sich hier auch das Haus der Urriesin Mago-halmi, die als Erdgöttin-Großmutter Samsin-halmi allen Kindern auf die Welt geholfen hat, befunden haben, was schon Aufschluss über die Ausmaße des Dolmen gibt. Insgesamt 133 Dolmen umgeben den Ping-
1 Einwohner von Sapyeong sitzen gemütlich in einem Pavillon beisammen, beschattet vom Wächterbaum des Dorfes, und plaudern die Hitze des Sommernachmittags weg. 2 Der Liegende Buddha des Tempels Unju-sa ist eine gigantische, aus zwei Figuren bestehende Skulptur. Die eine der beiden Figuren würde stehend 12,7m messen, die andere 10,26m. Es scheint, dass es den Bildhauern nicht gelang, die Figuren aus der Steinmasse zu lösen. Der Legende nach soll an dem Tag, an dem sich der Liegende Buddha erhebt, das Land zum Reinen Land werden.
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mae-Felsen. Der Min-Clan, der in der Joseon-Zeit (1392-1920) sehr einflussreich war, gravierte den Hinweis in den Dolmen, dass ihre Vorfahren hier begraben seien. Ebenfalls beeindruckend ist der Anblick der Felsen Gaksi und Gamtae, wo die Decksteine gebrochen wurden. Warum die Menschen in diesen prähistorischen Zeiten sich wohl mit der schweren und mühseligen Arbeit, Steinblöcke aus dem Fels zu hauen, abgemüht haben mögen? Fährt man von der Dolmenstätte mit dem Auto 18 Kilometer auf Landstraße 818 in Richtung Südwesten, erscheint der Tempel Unju-sa. Es gibt kaum einen buddhistischen Tempel in Korea, um den sich so viele geheimnisvolle Geschichten und Legenden ranken wie um den Unju-sa. Es heißt, dass der Nationale Präzeptor Doseon Ende der Silla-Zeit (57 v.Chr.-935 n. Chr.) innerhalb einer Nacht 1.000 Pagoden und 1.000 Buddha-Statuen aus Stein auf dem Tempelgelände errichtete. Nach einer anderen Deutung soll die Urriesin Mago-halmi den Tempel eigenhändig geschaffen haben. Es sind Aufzeichnungen erhalten, nach denen es in diesem Tempel noch bis zum 15. und 16. Jh tatsächlich 1.000 Pagoden und 1.000 Buddha-Statuen gab. 1942 sollen es noch 30 Pagoden und 213 Buddha-Statuen gewesen sein. Jetzt sind es nur noch 17 Pagoden und 70 Statuen. Bereits beim Betreten des Tempels spürt man eine verheißungsvolle Energie. Es ist dieselbe Energie, die von der Dolmenstätte ausströmt. Schriftsteller wie Hwang Sok-yong (geb. 1943) und Song Gi-suk (geb. 1935) haben den Unju-sa zwar als Hintergrund des Geschehens in ihren Romanen gewählt, aber es war eigentlich der Deutsche Jochen Hiltmann (geb. 1935), der den Tempel in der Welt bekannt machte. Hiltmann, Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, heiratete die südkoreanische Krankenschwester Song Hyun-sook, da die aufopfernde Fürsorge, mit der sie seinen Vater gepflegt hatte, ihm ans Herz rührte. Song absolvierte die Hochschule für Bildende Künste Hamburg und wurde eine erfolgreiche Künstlerin. Ihre Ausstellung zur Feier ihrer Heimkehr war ebenfalls ein großer Erfolg. Mitte der 1980er Jahre traf ich in Songs Geburtsstadt Damyang ihren Ehemann Hiltmann. Es war ein beeindruckender Anblick, wie dieser Hüne die kleine, in die Lehmmauer eingelassene Bambustür öffnete und gekrümmt aus dem Haus der Schwiegereltern in den Bergen von Damyang hinaustrat. Hiltmann war so gefesselt von der „kosmischen Energie“ des Tempels Unju-sa, dass er drei Jahre damit vebrachte, das alte Bild des Unju-sa in Fotografien festzuhalten. Um alle Legenden und Volkserzählungen, die sich um den Tempel weben, zu verstehen, studierte er Buddhismus, Taoismus und Geomantik. 1985 stellte Hiltmann in der Zeitschrift Spuren zum ersten Mal den Tempel Unju-sa unter der Überschrift Miruk, Die Heiligen Steine Koreas (nachzulesen unter http://www.hfbk-hamburg.de/fileadmin/ user_upload/spuren-archiv/Spuren_Nr11-12.pdf) vor, 1987 veröffentlichte er im Verlag Qumran in Frankfurt ein Buch mit dem selben Titel. Es wurde 1997 vom Verlag Hakgojae ins Koreanische übersetzt und brachte die koreanischen Intellektuellen-Kreise dazu, in Bezug auf die eigene Kultur und Geschichte bzw. das mangelnde Interesse daran in sich zu gehen. Schließlich kam es auch zu einem Diskurs darüber, welche Bedeutung der Tempel für die Koreaner hat. In seinem Buch Miruk schrieb Hiltmann, dass Chon-Bul-Dong (Cheonbuldong), das Tausend Buddha Tal des Unju-sa, ihn so bewege, wie es kein modernes Kunstwerk vermöge.
Der See Seryangji bietet besonders im Frühling, wenn die Wilden Kirschen blühen, einen wunderschönen Anblick. Die Farben der Berge spiegeln sich in Pastelltönen im Wasser, was liebliche Landschaftsszenen schafft. Der See wurde vor kurzem von CNN zu einem der 50 sehenswertesten Orte in Korea gewählt.
Unju-sa: Tal der tausend Pagoden und Buddha-Statuen Die eindrucksvollsten Sehenswürdigkeiten auf dem Tempelgelände sind die beiden Buddha-Statuen, die in ihren Nischen in der Pagode Rücken an Rücken sitzen, sowie die siebenstöckige Pagode aus
Wenn die Nebelschwaden aus dem Wasser aufsteigen und die Kirschblüten auf den Bergen ihre Schatten auf die Wasseroberfläche werfen, wird die Welt zu einem weiteren Reinen Land. Einen Moment lang wähnt man sich in der Welt, von der die unter den Dolmen begrabenen Menschen, die Menschen, die die eintausend Pagoden und Buddha-Statuen errichteten, träumten. 58 KOREANA Herbst 2015
scheibenförmigen Steinen. Jedes Mal, wenn ich diese Buddha-Statuen sehe, frage ich mich, was sie symbolisieren könnten. Derjenige, der zu sehen vermag, was vorne ist und auch was hinten ist, ohne dass sein Blick verdunkelt würde, der wird Erleuchtung erlangen und Buddhatum erreichen. Die Pagode aus scheibenförmigen Steinen ist so einzigartig, dass manche sie sogar für ein Werk von Außerirdischen halten. Vielleicht ist es die Manifestation der künstlerischen Inspiration des Steinmetzes, der an der Schnittstelle von Buddhismus und Volksglauben seine Kreativität entfaltete. Das Symbol des Tempels Unju-sa sind die Liegenden Buddhas. Diese auch als „Tausendste Buddha“ bekannte Skulptur besteht aus Mann und Frau. An der Stelle, an der sich die Köpfe der beiden Buddhas treffen, gibt es eine lange Aushöhlung, die halb männlichen, halb weiblichen Genitalien ähnelt. Vor langer Zeit, als ich einmal mit den Schriftstellerinnen Park Wan-suh (1931-2011) und Yi Kyoung-ja (geb. 1948) hierher kam, um die Liegenden Buddhas zu sehen, legte sich Lee in diese Rinne und sagte: „Ah, hier ist es so bequem!“ Seit alten Zeiten glauben die Menschen, dass an dem Tag, an dem die Liegenden Buddhas aufstehen, das wahre Land des Buddha und das Reine Land komme. Solange wir von einem
neuen Tag träumen, wird die Symbolkraft der Liegenden Buddhas erhalten bleiben. In Hwasun gibt es auch eine Gedenkhalle für den Maler Oh Ji-ho (1905-1982), den Vorreiter des koreanischen Impressionismus. Von seinen Arbeiten gefällt mir besonders das Werk Mädchen (1929), denn das Gesicht des Mädchens erinnert mich an meine Großmutter. Bestimmt gab es unter den vielen in den Dolmen begrabenen Menschen eine Frau mit ähnlichem Gesicht. Auch unter den vielen älteren Menschen aus vergangenen Tagen, welche die tausend Buddhas aufsuchten, gab es bestimmt ähnliche Gesichter. Ebenfalls sehenswert in Hwasun ist der See Seryangji, der vor Kurzem vom US-Sender CNN zu einem der „fünfzig schönsten Orte in Korea“ gewählt wurde. Die beste Zeit für einen Besuch ist an einem Frühlingstag kurz vor Sonnenaufgang, wenn die Berge im Kirschblütengewand erstrahlen. Wenn die Nebelschwaden aus dem Wasser aufsteigen und die Kirschblüten auf den Bergen ihre Schatten auf die Wasseroberfläche werfen, wird die Welt zu einem weiteren Reinen Land. Einen Moment lang wähnt man sich in der Welt, von der die unter den Dolmen begrabenen Menschen, die Menschen, die die eintausend Pagoden und Buddha-Statuen errichteten, träumten. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 59
DEN EIgENEN WEg gEHEN
Kim Dal-jin
Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Shim Byung-woo
Eine „wandelnde Kunst-Enzyklopädie“ Das Sammeln von Schriftstücken, in das sich der Junge nach dem frühen Tod der Mutter stürzte, um die Einsamkeit zu überwinden, wurde schließlich zu seiner Lebensaufgabe. Ergebnis ist eine eindrucksvolle Sammlung von Materialien, die die geschichte der koreanischen Kunst dokumentieren. Dank seiner Hartnäckigkeit konnte die geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst vervollständigt und systematisiert werden. Trotzdem sammelt er noch eifrig weiter und bemüht sich um die Verifizierung der Materialien. 60 KOREANA Herbst 2015
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ines Tages besuchte ein 19-jähriger Jüngling den Kunstkritiker und damaligen Leiter des Hongik Kunstmuseums Lee Kyung-sung (1919-2009). Der junge Mann machte eine tiefe Verbeugung und zog dann aus einem Tragetuch zehn Scrapbooks. Diese „Doku-Alben der westlichen Kunstgeschichte“ waren voller Farbfotos von Meisterwerken der Kunst, die Frauenzeitschriften oder Sammelwerken der internationalen Kunst entnommen waren. Lee klopfte seinem nervösen Besucher auf den Rücken und lobte ihn für „seine bemerkenswerte Arbeit in so jungen Jahren“.
Sammeln als Kompensation Nachdem der Junge mit Zigarettenschachteln, Briefmarken und Kaugummipapier angefangen hatte, weitete er seine Sammelleidenschaft auf Abbildungen von berühmten Kunstwerken aus Büchern und Zeitschriften aus. Er tastete sich durch die Geschichte der westlichen Kunst, die er in seinen Scrapbooks zusammenstellte. Nachdem er im Alter von elf Jahren die Mutter verloren hatte, versuchte er, die Leere durch Sammeln zu füllen. Eher introvertiert, konnte er aber auch kühn sein, wie sein Besuch bei Museumsdirektor Lee beweist. Nach dem Oberschulabschluss konzentrierte er sich auf das Sammeln von kunstbezogenen Materialien. Er schrieb Zeitschriftenverleger, Kunstkritiker und Kunstmuseen an, gestand ihnen freiweg, dass er sich völlig der Kunst verschrieben habe und bat sie um Kontaktaufnahme, falls sie in Besitz von kunstbezogenen Materialien sein sollten. Er erhielt eine einzige Antwort, und zwar von Kim Hyung-yun, damals Redakteur der anspruchsvollen Kulturzeitschrift Der tief verwurzelte Baum. Der Brief ließ sein Herz höher schlagen, aber der abschließende gute Rat entmutigte ihn: „ [...] aber es ist schwierig, aus dem Hobby einen Beruf zu machen“. Doch das war nicht das Ende, sondern der Anfang der Geschichte. Bald darauf wurde Lee Kyung-sung zum Leiter des Nationalmuseums für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) ernannt und mit seiner Unterstützung konnte der junge Mann im Museum arbeiten, wenn auch zunächst nur auf Zeit und für einen Tageslohn von 4.500 Won (heute ca. 3,5 Euro). War es das dann? Nein, denn das Sammeln von kunstbezogenen Materialien, das der Junge als Hobby begonnen hatte, wurde zu einer 45 Jahre währenden Aufgabe, sodass er sogar im Ethikbuch für Mittelschulen als „Archivar, der sein Hobby zum Beruf machte“ vorgestellt wird. Angesichts dieses Geflechts aus Zufällen und schicksalhaften Verbindungen muss der heute 60-jährige Kim Dal-jin lachen. Er wird als „wandelnde Kunst-Enzyklopädie“ bezeichnet, weil er nicht nur bestens über Kunstgeschichte und Kunsttrends, sondern auch über die Künstler informiert ist. Er kennt ihre Kontaktdaten, ihre privaten Beziehungen und Geschmacksvorlieben. Dieser Zeitzeuge der Geschichte der modernen und zeitgenössischen koreanischen Kunst und Sammler von Materialien zur Kunst, konnte nach jahrelangem Herumziehen von einem Mietbüro ins nächste vor Kurzem endlich in eigene, neu gebaute Räumlichkeiten einziehen. Wohl
deshalb wirkte er viel entspannter. „In meinem letzten Oberschuljahr sah ich die Ausstellung 60 Jahre Moderne Koreanische Kunst und dachte: Das ist es! Materialien über berühmte Maler wie Park Soo-keun (1914-1965), Lee Jung-seob (1916-1956) und Kim Whanki (1913-1974) waren leicht zu finden, aber es gab kaum etwas über unbekanntere Künstler. Da dachte ich, dass ich nicht nur Printmaterial über ausländische Malerei sammeln sollte, sondern auch über moderne und zeitgenössische koreanische Kunst.“ Kim zeigte mir 40 Jahre alte Sammelstücke wie eine Eintrittskarte zum Gyeongbokgung-Königspalast, Tickets zu Ausstellungen und Begleitbroschüren: Zeugen des Moments, den er selbst als Wendepunkt seines Lebens bezeichnet, da ihm Ziel und Richtung seiner bis dahin wahllosen Sammlerei klar wurden. Er arbeitete über 14 Jahre im Archiv des MMCA und danach fast sechs Jahre als Archivleiter im Gana Kunstinstitut des Gana Art Center, bevor er 2001 sein eigenes Kunstforschungsinstitut und Kunstarchiv-Museum eröffnete.
Materialien über Materialien Die Sammelarbeit ging quasi eher in die Beine als in die Hände. In Kuratorenkreisen wurde Kim einmal „Freitag-Mann“ genannt, weil er freitags seine Runden durch die Galerien in den Seouler Statteilen Insa-dong und Sagan-dong machte, um Broschüren und Kataloge einzusammeln. Eine seiner Schultern hängt vom vielen Lastenschleppen immer noch tiefer als die andere. Kim sammelte ohne Einschränkung alles, seien es Broschüren, Kataloge, Eintrittskarten, Plakate, Zeitschriften oder Lehrbücher. So brachte seine Gesamtsammlung einmal fast 20 Tonnen auf die Waage. Auch musste er einmal das Untergeschoss eines Nachbarhauses mieten, weil der Wohnzimmerboden seiner Mietwohnung unter der schweren Last eingesunken war. Und als die Sammelkisten aus Platzmangel bis ins Schlafzimmer vorgedrungen waren, legte er die Schlafmatte kurzerhand auf den Kistenberg. Trotzdem dürstete ihn weiter nach Informationen und Materialien, v.a. nach seltenen Stücken. Deshalb beteiligt er sich regelmäßig an den monatlichen Auktionen Zigarettenpäckchen, Briefdes Internet–Auktionshauses Kobay, marken und Kaugummi-Eindas hauptsächlich auf Kunstobjekte wickelpapier, die ein Junge zu sammeln begann, um von Amateur-Sammlern spezialisiert nach dem Tod der Mutter die ist. Dort ersteigerte er auch jeweils Einsamkeit zu überwinden, ein Exemplar der Ausgaben 1921 und wurden im Laufe der Zeit durch kunstbezogene Print1922 der ersten koreanischen Kunstmaterialien ersetzt, aus denen fachzeitschrift Journal des Vereins schließlich eine Museumsfür Kalligrafie und Malerei , die nur in sammlung hervorging. Dank der Sammlungen von Kim diesen beiden Jahren erschien und Dal-jin, Direktor des Kimdaljin zu seinen wertvollsten SammelstüKunstarchivs und Museums, cken gehört. „Als ich sie sah, bekam konnte die Geschichte der modernen und zeitgenössischen ich Herzklopfen. Ich sagte zu meiner Kunst Koreas noch reichhaltiFrau, dass ich sie haben müsse, selbst ger und genauer dokumentiert wenn ich dafür auf dem Schwarzmarkt werden. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 61
Kim Dal-jins Materialsammlung. Sie besteht hauptsächlich aus seltenen Stücken, die er im Laufe der Jahrzehnte gesammelt hat, darunter Kunst-Schulbücher, illustrierte Kinderbücher, Eintrittskarten für Ausstellungen, Ausstellungskataloge, Poster usw.
Plötzlich fragte ich mich, wer wohl das geschäftige Leben dieses Mannes dokumentieren würde. Er, der jeden Tag nur mit Ausschneiden, Aufkleben, Sichten und Ordnen beschäftigt gewesen war. Zumindest die Künstler in seinen Ordnern sollten Bescheid wissen über das ehrliche Leben eines Mannes, der freiwillig ein eingeschränktes Leben auf sich genommen hat, um ihr Leben und Werk uneingeschränkt zu dokumentieren.
©Kimdaljin Art Archives and Museum
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Geld auftreiben müsste. Bis heute wage ich nicht zu verraten, was ich dafür gezahlt habe. Sie sind so wertvoll, dass sie auch zu Kulturgütern designiert werden könnten, so wie z.B. die Erstauflage des Gedichtbands Azaleen (1925) von Kim Sowol (1902–1934).“ Jedes Mal, wenn während des Interviews ein bestimmtes Schriftstück erwähnt wurde, suchte er es heraus und zeigte es mir. So, als ob ein nicht durch Daten gestützter Sprechakt nicht gutzuheißen sei. Nie war er unsicher, wenn es um eine Jahreszahl oder exakte Zahlenangaben ging. Er ging auf jede Interviewfrage genau ein und seine Antwort wies die Richtung, die er sich für diesen Artikel wünschte. Es war also kein Zufall, dass wir von „Sammler“ auf „Archivar“ zu sprechen kamen.
Vom Sammler zum Archivar und Forscher Seine erste Arbeit fand Kim bei einem Zeitschriftenverleger. Von 1978 bis 1981 schrieb er als Journalist für die Kunstzeitschrift Monatsmagazin Ausstellung. Auch als er im Verlagsarchiv arbeitete, setzte er das Schreiben fort. „1985 veröffentlichte ich einen Artikel mit dem Titel Galeriebesucher werden getäuscht: Ein Vorschlag zur genauen Dokumentation und Bewahrung von Dokumenten . Anhand konkreter Beispiele wie die inhaltlichen Fehler, Schreibfehler oder Auslassungen in Künstler-Kurzbiografien, Jahrbüchern und Almanachen machte er auf die Ernsthaftigkeit des Problems aufmerksam. Zum Beispiel gibt es unterschiedliche Angaben für die Zahl der 1983 abgehaltenen Ausstellungen: 1.272 in Koreanische Kunstblätter, 1.695 im Jahrbuch für Kultur und Kunst, 1.775 in der Jahreszeitschrift Korea Kunst und 2.005 im Yeolhwadang Kunstalmanach. „Ich persönlich fand es bedauerlich, dass fehlerhafte historische Tatbestände ohne Überprüfung immer wieder zitiert und so verbreitet wurden. Da mein Artikel in vielen Medien zitiert wurde, sorgte das Thema für einige Furore in der Gesellschaft. Auch danach machten meine Artikel hin und wieder Schlagzeilen. Ich war quasi ein Schlagzeilen-Macher.“ Doch je mehr Kim schrieb, desto durstiger wurde er. Als jemand, der nur einen Oberschulabschluss hatte, musste er sich in einer Gesellschaft, in der v.a. der akademische Hintergrund zählt, durchkämpfen. Nach zwei missglückten Versuchen schaffte er es schließlich mit 34 Jahren auf die Universität. Und da er schon dabei war, hängte er an den B.A.-Abschluss noch ein Masterstudium an. Nach der Eröffnung des Forschungsinstituts Kimdaljin Art Research and Consulting und des Museums Kimdaljin Art Archives and Museum, überlegte er, wie er seine Materialsammlungen am besten nutzen könnte. Das Resultat: das kostenlose Kunstmagazin Seoul Art Guide mit Neuigkeiten und Artikeln aus der Kunstwelt und dessen erweiterte Version als Webseite daljin.com. Mit Hilfe der Sozialen Medien bemüht Kim sich zudem um eine schnelle Verbreitung von Informationen über Kunst. Damit gab er sich aber noch nicht zufrieden. „Auf das Sammeln folgt natürlich das Ordnen, und dabei überlegt man sich, wie man dieser geordneten Sammlung als wertvollem öffentlichem Gut
Verbreitung verschaffen kann. Ohne all das kann man nicht von einer Sammlung im echten Sinne sprechen. Schauen Sie mal hier: eine Broschüre zur Ausstellung der Modernen Belgischen Kunst, die im Kunstmuseum im Palast Deoksu-gung stattfand. Erstaunlicherweise 1952. Eine Ausstellung ausländischer Werke mitten im Koreakrieg (1950-1953)?! Das geht gegen den gesunden Menschenverstand, ist aber Tatsache. Wäre mir diese Broschüre nicht in die Hände gefallen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Tatsache zu prüfen. Diese Erfahrung brachte mich dann dazu, Ausstellungen Ausländischer Kunst in Korea 1950-2011 zu organisieren und einen Begleitband dazu zu veröffentlichen.“ Sammeln und Ordnen scheint bei Kim immer in Form einer Ausstellung oder eines Buches zu enden. Dazu gehören Ausstellung von Periodika über die Koreanische Kunst 1921-2008 (2008), In Übersee ausgestellte Zeitgenössische Kunst Koreas 1950-2010 (2011), 100 Jahre Koreanische Künstlerzusammenschlüsse (2013), Ein Überblick über Lehrwerke zur Modernen Koreanischen Kunst (2014) und Geschichte der Koreanischen Kunstwettbewerbe (2014). Für diese Leistungen wurde er 2014 von der Kim Sea Joong-Gedächtnisstiftung mit dem Preis für Koreanische Kunstpublikationen ausgezeichnet. Um ein Basisarchiv für Kunstkreise zu schaffen, veröffentlichte Kim das Who’s Who in der Koreanischen Kunst. Bd.I (2010) und Koreanische Künstlerzusammenschlüsse 1945-1999 (2013). In diesem Zusammenhang gründete er 2013 den Koreanischen Kunstarchiv-Verband, den er bis heute leitet. Ein Mammutwerk, das ohne gründliche Analyse und strenge Datenverifizierung nicht abgeschlossen werden kann. „Ein Journalist fragte mich einmal, ob meine Kritik an inhaltlichen Fehlern und Schreibfehlern nicht schon paranoid sei. Ich sagte ihm, dass sie mir sofort ins Auge springen würden und ich sie daher nur schwer ignorieren könne. Die korrekt gemachten Aufzeichnungen von heute sind die korrekt festgehaltenen historischen Aufzeichnungen von morgen. Ich glaube immer noch, dass selbst ‚eine kleine Broschüre in meiner Aktentasche heute oder eine einzige Notiz‘ Großes in der Kunstwelt von morgen bewegen kann.“ Er zeigte mir seine persönlichen Sammelbücher, für die er 270 Künstler der Gegenwart ausgewählt hatte. „Jene unbedeutenden Broschüren und Notizen zur Ausstellung in der Aktentasche“, hatten sich also in dieser Form angesammelt und dokumentierten akribisch Leben und Schaffen der Künstler. Plötzlich fragte ich mich, wer wohl das geschäftige Leben dieses Mannes dokumentieren würde. Er, der jeden Tag nur mit Ausschneiden, Aufkleben, Sichten und Ordnen beschäftigt gewesen war. Er, der unter Werken von unschätzbarem Wert lebt und während des Kunstmarktbooms nicht einmal versuchte, diesen Wert in Geld umzurechnen. Zumindest die Künstler in seinen Ordnern – auch wenn sie nicht in der Lage sind, die Bedeutung seiner Arbeit zu erfassen – sollten Bescheid wissen über das ehrliche Leben eines Mannes, der freiwillig ein eingeschränktes Leben auf sich genommen hat, um ihr Leben und Werk uneingeschränkt zu dokumentieren. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 63
ENTERTAINMENT
Die Lieblingsfilme der Koreaner rühren tief an ihre Gefühle
Kim young-jin Filmkritiker, Professor, Myongji University
Interstellar und Frozen (Die Eiskönigin - Völlig unverfroren) sind Hollywood-Filme, die sich besonders in Korea großer Beliebtheit erfreuten. Der Science-Fiction-Film Interstellar stimulierte mit seinem naturwissenschaftlichen Inhalten das berühmte Bildungsfieber der Koreaner, während der Animationsfilm Frozen an das gemüt der familienorientierten Koreaner rührte: Familialismus und Bildungsfieber der Koreaner bringen die Kinokassen zum Klingeln.
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nterstellar von Christopher Nolan lockte in Korea 10.275.484 Besucher ins Kino. Damit belegte der Film in puncto Besucherrekord unter den bislang in Korea veröffentlichten Filmen Platz 13. Doch in den USA spielte der 160 Mio. Dollar teure Film lediglich 180 Mio. Dollar ein und überschritt damit nur knapp die Gewinnschwelle. Und auch außerhalb der USA kann er nicht unbedingt als Erfolg bezeichnet werden – nur in Korea war er ein Kassenschlager. Ein anderer Hollywoodfilm hat diesen Rekord in Korea gebrochen: Disneys Animationsfilm Frozen zog 10.296.101 Zuschauer in die Kinos. Der Film verzeichnete nicht nur die höchste Besucherzahl in seinem Genre in Korea, sondern auch Filmmusik und Produkte wie Kleider und Spielzeug verkauften sich wie warme Semmeln.
erfolgreich waren. Auch die meisten koreanischen Kassenschlager wiesen deutliche Lokalkolorit-Elemente auf, die für Zuschauer in anderen Ländern eher schwer verständlich waren. Silmido und TaeGukGi: Brotherhood Of War , die ersten koreanischen Produktionen, die die 10-Millionen-Zuschauer-Marke knackten, wurden bei ihrer Veröffentlichung im Jahr 2004 als „koreanische Blockbuster“ vermarktet, was angesichts der vergleichsweise niedrigen Produktionskosten von ca. 10 Mio. Dollar etwas übertrieben schien. Gleichwohl wurden sie zu großen Erfolgen und die Zuschauer bewerteten das epische Format positiv. Der eigentliche Erfolgsfaktor war jedoch die typisch koreanische Gemütswelt, in denen diese Filme tief verwurzelt sind. In dem melodramatischen Szenario von TaeGukGi: Brotherhood Of War, in dem zwei Brüder in der bitteren Realität des Kriegs in einem geteilten Land gegeneinander kämpfen müssen, manifestiert sich die koreanische Seele. Auch im Falle von Silmido muss es für ausländische Zuschauer schwer nachvollziehbar gewesen sein, warum die von der Regierung im Stich gelassenen Spezialeinheit-Söldner „Sehnsucht nach Mutterliebe“ und „Loyalität gegenüber dem Vaterland“ gleichsetzen. Noch bis Ende der Nullerjahre waren in Korea koreanische Filme beliebter als amerikanische. Eine Zeitlang schien es sogar, dass die Hollywood-Blockbuster während der
Spezielle Vorlieben koreanischer Kinogänger Die sog. Hollywood-Blockbuster galten bei Zuschauern mit einem anspruchsvolleren Filmgeschmack lange Zeit als leckeres, aber nährwertloses Fastfood. Wenn diese Blockbuster aber wirklich wie Fastfood die Geschmacksnerven von Menschen in aller Welt betören sollen, dann lässt sich das Phänomen ihrer außergewöhnlichen hohen Popularität in Korea nur schwer erklären. Lange Zeit herrschte im koreanischen Kino eine Atmosphäre, in der Filme mit vornehmlich lokalen Inhalten beliebt und
©Warnerbros Korea
©CJ E&M ©Showbox
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Kino-Hochsaison, also in den Sommerferien und um Weihnachten-Neujahr, die direkte Konkurrenz mit koreanischen Filmen vermieden. Auch die Popularität der Hallyu-Koreawelle-Stars, die sich schnell entlang der Achse Japan-China verbreitete, leistete einen großen Beitrag zum explosiven Wachstum der koreanischen Filmindustrie. Doch als die koreanischen Konglomerate die heimische Filmindustrie monopolisierten, indem sie gleichzeitig Investitionen, Distribution und Vorführungen in den Kinos monopolisierten, nahm die Vielfalt der Produktionen ab, während die Produktionskosten stiegen. Gleichzeitig war die Wettbewerbsfähigkeit auf nur wenige koreanische Filme konzentriert und Hollywood-Filme gewannen erneut an Attraktivität. In den letzten Jahren hatten Filme koreanischer Produktion in der Hochsaison keine Chance gegenüber Hollywood-Filmen. Daher ist es interessant, zu analysieren, was Interstellar und Frozen für das koreanische Publikum so attraktiv gemacht hat.
Hollywood-Konzepte, die faszinieren Viele bemerken scherzhaft, dass der ungewöhnliche Kassenerfolg von Interstellar dem Bildungsfieber der Koreaner zu verdanken sei. Dank der Marketing- und PR-Maßnahmen des Filmverleihs sorgte der naturwissenschaftliche Inhalt des Films für Furore und da die Eltern auf die Fragen der Kinder keine Antwort parat hatten, gingen sie mit ihnen zusammen ins Kino – so, als ob sie einen Ausflug ins Planetarium machen würden. Das Sehenswerteste an diesem Film sind die Wurmlöcher. Die Art der Darstellung des Weltraums wirkt viel atemberaubender als in naturwissenschaftlichen Dokus. Setzt die majestätische Hintergrundmusik für kurze Momente aus, tritt völlige Stille ein und das Raumgefühl, das das aus der Totale aufgenommene Universum auf dem Bildschirm vermittelt, lässt den technologischen Sachverstand, der hinter den Hollywood-Produktionen steht, hautnah spüren. Auch die familienorientierte Empfindsamkeit, auf der Interstellar basiert, ist eine für koreanische Zuschauer vertraute Methode der Annäherung. Denn auch Filme wie Silmido , TaeGukGi und neuere koreanische Mega-Hits wie Miracle in Cell No. 7, The Attorney oder Ode to My Father basieren auf einer ähnlichen Empfindsam-
keit. Koreaner reagieren sensibel auf Geschichten von Eltern, die sich für die Kinder aufopfern, und ganz besonders auf die Tränen der Mutter. In Interstellar trifft Murphy, auf dem Sterbebett im Beisein ihrer Enkel den Vater wieder, der viel jünger als sie aussieht. Diese eindrucksvolle Szene brachte viele koreanische Zuschauer zum Weinen. Einsteins Relativitätstheorie die besagt, dass die Zeit schneller vergeht, wenn die Gravitation stärker ist, wurde mit der Begrenztheit des menschlichen Lebens kombiniert und mit Liebe unter Familienmitgliedern und Verlustgefühl garniert, sodass diese Szene die Koreaner emotional besonders berührte. Auch die beinahe fanatische Liebe der Koreaner zu Frozen kann im Kontext des koreanischen Gemüts interpretiert werden. Bei diesem Film wurde die klischeehafte, bis zum Überdruss strapazierte Handlungslinie der Prinzessinnen-Geschichten von Disney Animations verändert. Der Film beginnt zwar ähnlich wie Dornröschen , doch im Fokus steht nicht die Liebesgeschichte zwischen Prinzessin und Prinz, sondern die Geschichte von zwei elternlosen Prinzessinnen-Schwestern, die sich gegenseitig beeinflussen und im Laufe der Zeit tolerieren und verstehen lernen. Elsa – mittlerweile das fiktive Schwesterherz aller Mädchen im Grundschulalter in Korea – schafft ein Schloss aus Eis und genießt darin ungestört ihre Freiheit. Anfangs fürchtet sie ihre Zauberkraft, doch später akzeptiert sie sie gelassen. Ermöglicht hat dies nicht der Kuss eines Prinzen, sondern die Liebe und Hingabe ihrer Schwester Anna. Elsa und Anna erhalten so die Gelegenheit, in ihre königliche Stellung hineinzuwachsen. In dieser Geschichte gibt es keinen Prinzen, der erscheint, um sie aus der Gefahr zu retten. Es bedarf keines solchen Helden, um die Gerechtigkeit siegen zu lassen. Der Film stieß auf große Resonanz bei koreanischen Frauen, die – noch immer in einer größtenteils patriarchalisch geprägten Gesellschaft lebend – Gleichberechtigung fordern. Die Begeisterung für diesen Film, der die Liebe zwischen zwei Schwestern betont, reflektiert die Gemütsart der Koreaner, die auf Familialismus-basierte Emotionen reagieren. In der fiktiven Welt wurde der Traumwunsch der Eltern, dass ihre Töchter wie Elsa und Anna leben mögen, auf geschickte Weise erfüllt.
Szenen aus den Filmen. Von links nach rechts: Silmido , Taegukgi : The Brotherhood of War, Interstellar und Frozen
©2013 Disney
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LIFESTyLE
Koreaner: Dem Kaffee verfallen
Viele Koreaner starten mit einer Tasse Kaffee in den Tag. Für sie ist die morgendliche Tasse Kaffee schon gewohnheit. Andere gehen mit einem Kaffee-To-go-Becher in der Hand zur Arbeit, kehren nach dem Mittagessen in einem Café ein oder trinken einen Instantkaffee. In den schläfrigen Nachmittagsstunden zwischen drei und vier gönnt man sich auf der Arbeit oder zu Hause ein Kaffeepäuschen. Sei es ein Treffen mit Freunden oder ein Date – gewöhnlich beginnt alles mit einem Kaffee bzw. in einem Café. Kim yong-sub Direktor, Keen-Edged Imagination Institute for Trend Insight & Business Creativity Fotos Shim Byung-woo
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ach der 2013 vom koreanischen Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention durchgeführten „Untersuchung zu Gesundheit und Ernährung des Volkes“ ist Kaffee das Lebensmittel, von dem die Koreaner pro Woche am meisten zu sich nehmen: Während sie 7 Mal pro Woche Reis und 11,8 Mal pro Woche Chinakohl-Kimchi essen, trinken sie gut 12,3 Mal Kaffee. Das heißt, sie konsumieren häufiger Kaffee als das Grundnahrungsmittel Reis und die repräsentative traditionelle Beilage Kimchi. Rein statistisch betrachtet wäre es daher nicht übertrieben zu sagen, dass in Korea nicht länger Reis und Kimchi im Zentrum der Lebensmittelkultur stehen, sondern Kaffee. Man fragt sich, wie es zu dieser Kaffee-Leidenschaft der Koreaner gekommen ist?
Einst das getränk der Könige und der Intellektuellen Es ist allgemein bekannt, dass Kaffee so um 1890 nach Korea kam. Damals wurde er „Gabi“ oder „Gabicha“ genannt. Einige bezeichneten ihn auch als „Yangtangguk“ (westlicher, medizinisch wirksamer Kräutertee), da er bitter wie die Heilkräutertees der traditionellen Medizin schmeckte. Anfangs war Kaffee ein seltenes Genussmittel, das nur am Königshof serviert wurde. Laut historischen Aufzeichnungen trank König Gojong (reg. 1863-1907) seine erste Tasse Kaffee in der russischen Gesandtschaft, wo er nach seiner Flucht aus dem Palast für kurze Zeit Unterschlupf fand. Die allererste „Barista“ in Korea war wohl die im Elsass gebürtige Deutsche Antoinette Sontag (1854-1925), die im Hause des deutschstämmigen russischen Konsuls Carl von Waeber für Haushalt und Kindererziehung zuständig war. Sie servierte König Gojong den ersten Kaffee seines Lebens. Sontag gewann das Vertrauen des Königs und konnte mit Gojongs Unterstützung 1902 das Sontag Hotel, das erste Hotel westlichen Stils in Korea, eröffnen. Da es sich im Stadtviertel Jeongdong, damals diplomatischer Knotenpunkt und Expat-Wohnviertel, befand, entwickelte sich das Hotel zu einer Hauptbühne des politischen und diplomatischen Geschehens. Die Vermutung liegt nahe, dass deshalb im Sontag Hotel v.a. Kaffee angeboten wurde. Später wurde das Hotelgebäude als Wohnheim für Ewha Hakdang, die erste moderne höhere Bildungseinrichtung für Frauen in Korea, genutzt, bevor es schließlich abgerissen wurde. Heute befindet sich in der unmittelbaren Nähe des einstigen Hotelstandortes die zur Ehwa Mädchenoberschule gehörende Gedenkhalle zum 100-jährigen Gründungsjubiläum, in der es auch ein Café gibt. Ich gehe ab und zu dorthin und stelle mir bei einer Tasse Kaffee vor, wie jemand vor rund 110 Jahren exakt an dieser Stelle saß und seinen Kaffee genoss. Das erste „Dabang“ (wörtl.: Teezimmer) Koreas war das Kissaten (Japanisch für „Dabang“), das 1909, ein Jahr vor Beginn der japanischen Kolonialherrschaft, am Bahnhof Namdaemun (heutiger Hauptbahnhof Seoul) eröffnet wurde. Dass gerade dort eine Dabang-Kaffeestube entstand, hat wohl damit zu tun, dass es in dem Viertel zu der Zeit viele Japaner gab, die für den Bau der
Bahnstrecke, die Seoul mit der nordwestlichen Grenzstadt Sinuiju (heute Nordkorea) verband, arbeiteten. Das erste, von einem Koreaner betriebene Dabang war das Kakadu , das der Filmregisseur Lee Gyeong-son (1905-1978) 1927 in Gwanhun-dong, Jongno-gu, in der Seouler Innenstadt eröffnete. Allgemeine Verbreitung fand Kaffee in Korea dann erst in den 1920er Jahren. Damals entstand in den Innenstadtvierteln wie Myeong-dong, Chungmuro, Jongno usw. ein Kaffeehaus nach dem anderen und die Koreaner begannen, ernsthaft Geschmack an Kaffee zu finden. In den 1920ern und 1930ern machten viele Intellektuelle oder Künstler ein Dabang auf. Es waren Orte, wo neue Kulturströmungen aufgenommen wurden und die Gäste sich rege miteinander austauschten. Der Schriftsteller I Sang (1910-1937) eröffnete 1933 mit seiner Freundin, der Kurtisane Geum-hong, im Stadtviertel Cheongjin-dong, Jongno, das Dabang Jebi (Schwalbe). Der Bühnenschriftsteller Yu Chi-jin (1905-1974) führte das Dabang Platana (Platane) im Stadtviertel Sogong-dong und die Schauspielerin Bok Hye-sook (1904-1982) war Inhaberin des Venus in Insa-dong. Kaffee, einst exklusives Genussmittel am Königshof, fand somit Eingang in die Kultur der Intellektuellen- und Künstlerkreise, d. h. er sickerte quasi von oben nach unten durch und wurde vom Luxusgut zu einem beliebten Genussmittel der Massen. Entsprechend war Kaffee anfangs ein kostspieliger Genuss. Noch heute gilt es in Korea als besondere Geste der Höflichkeit, einem Besucher zu Hause oder am Arbeitsplatz eine Tasse Kaffee anzubieten.
Welche Art von Kaffee trinken Sie? Die koreanische Kaffeekultur und Kaffeevorlieben stehen in engem Zusammenhang mit dem jeweils vorherrschenden Lebensstil in den Jahrzehnten nach dem Ende von Kolonialherrschaft, Zweitem Weltkrieg und Koreakrieg: Dabang-Kaffee (Instant-Kaffee mit Milchpulver) in den 1960er Jahren des intellektuellen Gärens, Pulverkaffee in den aufstrebenden 1970ern, Dosenkaffee oder Coffee-Mix-Tütchen in den beschwingten 1980ern, Filterkaffee in den 1990ern und auf Kaffee spezialisierte Ketten seit der Millenniumwende. Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurden auch die Konsummuster vielfältiger, was v.a. der zunehmenden Verbreitung der notwendigen Ausrüstung wie Filterkaffee- und Espressomaschinen, Kapselmaschinen usw. zu verdanken ist. Auf der Suche nach dem noch etwas besseren Geschmack kaufen einige frisch geröstete Kaffeebohnen, um sie zu Hause zu mahlen und aufzubrühen, während andere die Bohnen sogar eigenhändig rösten. Luxuriöse Ausstattungen wie hochwertige Espressomaschinen finden immer mehr Interessenten und immer mehr Kaffeefans eignen sich das notwendige Kaffee-Fachwissen an oder besitzen bereits eine Barista-Qualifikation. Doch gibt es auch immer noch viele Anhänger von Coffee-Mix-Instantkaffee, Portionstütchen mit genau der richtigen Mischung von Kaffee, Milchpulver und Zucker, und auch Kaffee aus dem Kaffeeautomaten ist immer noch beliebt, während KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 67
Für die Koreaner, die oft Überstunden machen und bei denen es als Tugend gilt, unter Verzicht auf Schlaf zu arbeiten oder zu lernen, spielt das koffeinhaltige Getränk die Rolle eines vitalisierenden Tonikums, das den vernebelten Geist klärt und neue Kraft schenkt.
multinationale Franchise-Cafés nach wie vor in sind. Derzeit gibt es landesweit ca. 30.000 Cafés. Diese auf Kaffee spezialisierten Orte sind recht attraktiv, denn man kann dort quasi für den Preis einer Tasse Kaffee „ein ruhiges Plätzchen“ mieten. Da allerorten kostenfreier WiFi-Zugang angeboten wird, erhält man für den Preis einer Tasse Kaffee für mehrere Stunden eine eigene Zimmer- oder Büroecke. Dank dessen ist die Zahl der sogenannten Coffice-Workers (Coffice: Coffee +Office), die sich mit ihrem Laptop zum Arbeiten ins Café verziehen, gestiegen. Durch die Verfeinerung der Geschmacksvorlieben schienen die Kaffeeautomaten in Vergessenheit geraten zu sein, doch landesweit sind immer noch nicht weniger als 40.000 in Betrieb. In den 1990ern konnte man mit nur einer 100-KW-Münze einen Becher Kaffee am Automaten ziehen. Auch wenn die Zahl der Kaffeeautomaten im Vergleich zu ihren Glanzzeiten um die Hälfte abgenommen hat, gelten sie immer noch als eine der alltäglichsten
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und bequemsten Quellen des Kaffeegenusses. Tatsächlich ist der Marktanteil, den 24-Stunden-Geschäfte mit Instant-Kaffee, Dosenkaffee, Eigenmarkenkaffee usw. stellen, bei weitem größer als der der spezialisierten Kaffeehäuser. Laut der Studie eines Marktforschungsinstituts erreichte nach dem Stand von 2012 das Marktvolumen von Instant-Kaffee und Kaffee der 24-Stunden-Läden fast 2,2 Mrd. KW (rd. 1,72 Mrd. Euro), während das der Kaffeehäuser lediglich 1,58 Mrd. KW (rd. 1,23 Mrd. Euro) betrug. Dies bedeutet, dass immer noch viele Koreaner im Alltag den günstigen und unkomplizierten Instant-Kaffee bevorzugen. Der gute Geschmack der koreanischen Coffee-Mix-Sticks wurde auch im Ausland bestätigt, wo sie sich großer Beliebtheit erfreuen
Was bedeutet Kaffee für die Koreaner? Analysen zufolge ist es der Wirkung des Koffein zu verdanken, dass die Koreaner solche Kaffeeliebhaber sind. Für die Koreaner, die oft
1 In einem Café im hochpreisigen Hongdae-Viertel, dem Gebiet um die Hongik-Universität in Seoul, steigt der Duft von geröstetem Kaffee aus einer Vintage-Röstmaschine auf. In diesem Café verwendet man eine alte Maschine und röstet nach traditioneller Art. Das reflektiert den Wunsch des Besitzers, dass die Kunden durch Zuschauen und Dufterlebnis etwas mehr über den Kaffee, den sie trinken, lernen mögen. 2 Gäste beim Kaffeetrinken und Plaudern im ersten Stock eines Cafés, für das eine stillgelegte Schuhfabrik umgestaltet wurde.
Überstunden machen und bei denen es als Tugend gilt, unter Verzicht auf Schlaf zu arbeiten oder zu lernen, spielt das koffeinhaltige Getränk die Rolle eines vitalisierenden Tonikums, das den vernebelten Geist klärt und neue Kraft schenkt. In Korea ist Kaffee mehr als nur eine von vielen Getränkesorten: Er ist ein Aufputschmittel für die hart arbeitenden Koreaner von heute und auch ein soziales „Schmiermittel“, was bereits seit der Frühzeit der Moderne so ist. Und auch der Ort, an dem man gerne Kaffee trinkt, ist von Bedeutung. Mit der Verbreitung der westlichen Kultur Anfang des 20. Jhs übernahmen die Dabang-Kaffeestuben die Rolle des als Empfangszimmer dienenden Herrengemachs der Hanok-Anwesen: Es waren bequeme und nette Treffpunkte, wo jeder auf einen Kaffee und einen Plausch vorbeischauen konnte. 1953, unmittelbar nach Ende des Koreakrieges, gab es allein in Seoul 214 Dabang, bis 1960 wuchs ihre Zahl auf 1.041. In den Dabang, die sich oft in den Gebäudeuntergeschossen befanden, wurde nicht nur Instant-Milchkaffee, sondern auch traditionelle, medizinische Kräutertees wie Ssangwhatang serviert. Das deutet an, dass viele Leute nicht wegen des neuartigen Getränks Kaffee in die Dabang gingen, sondern sie als Orte des sozialen Austausches und kulturellen Erlebens aufsuchten. Laut Dokumenten wartete der Unabhängigkeitskämpfer An Junggeun (1879-1910) 1909 in einem Dabang am Bahnhof von Harbin
in Nordost-China auf die Chance, den japanischen Generalgouverneur Ito Hirobumi zu töten. Auch in Bezug auf die Demokratiebewegung der modernen koreanischen Geschichte oder andere politisch bedeutungsvolle Ereignisse spielten Dabang-Kaffeestuben oft eine Rolle. In den 1980ern und 1990ern gab es in Universitätsnähe viele Dabang. Es war die Zeit, in der die Studenten dort hinter hohen Trennwänden in dichten Zigarettenqualm eingehüllt über die politische Lage und die Liebe diskutierten. Für die Koreaner ist Kaffee heutzutage mehr als nur ein Getränk. Es ist ein attraktives Muss, das Pausen im Alltag und Zeit für Romantik und Kontemplation schafft. Die große Trendwelle der teuren Luxus-Desserts wie Macarons und feine Schokoladen, Torten, Eis usw., die in den letzten Jahren bei jungen Koreanern immer beliebter geworden sind, tragen zum schlagartigen Anstieg des Kaffeekonsums bei. Süße Desserts und Kaffee kreieren gemeinsam den vollkommenen Geschmack und die vollkommene Stimmung. In Korea werden pro Sekunde 728 Tassen Kaffee getrunken. Auf Jahreskonsum umgerechnet macht das 22,9 Mrd. Tassen. Just in diesem Moment sind zahlreiche Koreaner dabei, Kaffee aufzubrühen, eine Tasse zu genießen oder beim Kaffee zu plaudern. Die Kaffee-Leidenschaft der Koreaner ist ein Lifestyle-Trend, der wohl auch in Zukunft anhalten wird.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
DIE ZEIT DES KNETENS – GESTE DER VERSÖHNUNG AN DAS „DU“ Chang Du-yeong Literaturkritiker
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im Sum wurde 1974 in Ulsan geboren und wuchs in Daejeon auf. Sie debütierte mit der Auszeichnung ihrer Erzählung Über die Langsamkeit (1997, Jährlicher Frühjahrs-Literaturwettbewerb des Zeitungsverlags Daejeonilbo) und wurde ein Jahr später für Zeit des Mittelalters mit dem Nachwuchspreis des Verlags Munhakdongne ausgezeichnet. Bereits zu Beginn ihres Schaffens zog sie mit ihren experimentellen, ästhetischen Versuchen die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich. Ihre frühen Erzählungen in den ersten beiden Erzählbänden Kampfhunde (2005) und Das Bett (2007) sind vom Grausamen und Grotesken durchdrungen. In diesen Werken konzentrierte sich die Autorin darauf, Angst und Verzweiflung der Menschen, die unter der Gewaltsamkeit der modernen Gesellschaft leiden, in aller Schärfe zu erfassen und Gestalt zu verleihen. Ihr ging es darum, die alptraumhafte, grauenhafte Realität und das bemitleidenswerte Innere der Menschen, die eben in dieser Realität zu ersticken drohen, ans Licht zu bringen. Aus diesem Grunde stehen in ihrem Frühwerk beim Erzählen symbolische Bilder im Vordergrund, während die narrative Entwicklung zurücktritt. Die Erzählungen in ihrem dritten Erzählband Leber und Gallenblase (2011) zeigen im Vergleich zu den vorausgegangenen Veröffentlichungen eine größere Nähe zur Realiät. Die Autorin beschreibt völlig ungeschminkt das nackte alltägliche Leben der Menschen, denen wir in unserem Leben einmal begegnet sein könnten. Angst und Verzweiflung, die in den früheren Erzählungen noch etwas vage und undeutlich beschrieben waren, gewinnen Konkretheit in der Furcht, die man angesichts von Kälte und Schwere der Realität 70 KOREANA Herbst 2015
und an der Grenze zwischen Leben und Tod empfindet. Es ist als eine positive Wende von Experimentalität zur Realität zu bewerten. Auch in Kims viertem Erzählband Nudeln (2014) ist ihr forschender Blick, mit dem sie die im normalen Alltag verborgene Dunkelheit und Wunden erfasst, immer noch höchst aufmerksam. Besonders interessant ist, dass bei Charakterisierung der Figuren und Konfliktkonstellationen die Familie im Mittelpunkt steht. In den Erzählungen werden unterschiedliche Gefühle wie Groll, Hass, Angst, Abneigung und Selbstbetrug anhand der familiären Beziehungen wie der zwischen Mann und Frau, Schwiegervater und -tochter, Vater und Sohn, Schwester und Schwester usw. gezeigt. Durch die Einschränkung auf familiäre Beziehungen wird die Erzählsituation vereinfacht, und anhand der kompliziert-heiklen Gefühlsverflechtungen unter den Familienmitgliedern, die für immer Objekte der Hassliebe sind, wird die Tiefe des Innenlebens der Figuren beleuchtet. Die Titelerzählung Nudeln, die die Beziehung zwischen Mutter und Tocher behandelt, ist eine Reflexion über das Leben als Frau in einer traditionell-partriarchalischen Gesellschaft. Betrachtet man nur das äußere Handlungsgeschehen, ist Nudeln eine überaus simple Erzählung: Die Stieftochter macht für ihre Stiefmutter, die unter Krebs im Endstadium leidet, Nudeln. Aber auf der Kehrseite der Handlung entfaltet sich panoramaartig das Leben einer Frau. Die Herzenslasten und Konflikte, die die Frau, die ihr ganzes Leben lang ein Schattendasein führen musste, zu ertragen hatte, werden eindringlich geschildert. Beschrieben wird der widerspruchsvolle innere Seelenzustand der Stieftochter,
Die Schriftstellerin Kim Sum bohrt in Dunkelheit und Wunden. In ihren Erzählungen sind oft Spuren der Angst und Verzweiflung zu finden. Das heißt aber nicht, dass ihre Werke in Vergänglichkeit und Selbstaufgabe versinken. Seit ihrem Debüt hat Kim ihre Versuche, dem Wesen der Dinge auf den grund zu gehen, vielen Stellen in ihren Werken wie ganz persönliche Signaturen aufgedrückt. Und sie fragt den Leser unaufhörlich, was für eine Lebenshaltung der Mensch angesichts fortwährender Angst und Verzweiflung zu bewahren versuchen sollte.
die sich hartnäckig geweigert hatte, ihre Stiefmutter „Mutter“ zu nennen, sich aber dann doch nach den immer von ihr gemachten Nudeln sehnt. Da die Nudeln auf diese Weise das Schicksal und die alten Konflikte der Menschen in einer einzigen Schüssel Bandnudeln in Brühe komprimieren, muss sich der Leser auf jeden Satz konzentrieren, damit ihm nichts entgeht. Die Zeit des Knetens ist die des leidvollen Geduldens. Man mischt alles Leiden, Groll, Wut und Eifersucht in den Weizenmehlteig und drückt und knetet ihn - hart, hart - und ohne Ende. Es ist wie ein Ringkampf mit einem hart und zäh gewordenen Gefühlsklumpen. Wenn man das Kneten nur lange genug wiederholt, lösen sich die Klumpen im Herzen langsam auf. Die Zeit des Knetens war für „Du“ die Zeit, die Klumpen im Herzen tröstend zu lösen. Die Protagonistin „Ich“ überlegt auch, wie viel Zeit „Du“, die wegen Unfruchtbarkeit geschieden worden war und bei dem verwitweten Vater von „Ich“ einzog, während der 29 Jahre mit Kneten verbracht haben mag. Und die Protagonistin tastet die Gefühlsklumpen und Wunden vorsichtig ab. Die Zeit des Knetens ist auch eine Zeit des Herstellens von Banden. Eine Freundin der Protagonistin sagt, dass Kinder bindende Bänder seien. Mit Stolz erklärt sie, dass ihre Kinder Bänder seien, die sie nicht nur mit ihrem Ehemann, sondern auch mit der Welt verbinden. Genau das ist für „Du“ die Quelle von Dunkelheit und Verletztheit. Dass „Du“ so viele Knetzeiten wiederholte, bedeutet, dass „Du“ statt der Kinder Bänder aus Mehlteig gemacht hat. Das Kneten war der verzweifelte Versuch, dem Schicksal der Unfrucht-
barkeit zu entkommen, ein jämmerlicher Versuch, weil das Misslingen von vornherein feststand. Aber jetzt beteiligt sich „Ich“ auch am Band-Herstellen. Nicht nur wegen der Gemeinsamkeit der Unfruchtbarkeit. „Ich“ macht es, weil sie den Prozess durchlaufen hat, die Dunkelheit und Wunden im Leben von „Du“ zu verstehen und als ihre eigenen anzunehmen. In der Zeit des Knetens ist es still in der Welt. Es ist die Zeit des Gesprächs zwischen „Ich“ und „Du“, die die einzigen Überlebenden auf der Welt zu sein scheinen. Auch wenn „Du“ eingeschlafen ist und daher die Worte von „Ich“ nicht hört, nein: vielleicht weil „Ich“ denkt, dass „Du“ schläft, fasst „Ich“ den Mut, zum „Du“ zu sprechen. Wenn dem so ist, dann ist es kein Gespräch, sondern ein „Geständnis“: die reinste und ehrfürchtigste Form der Kommunikation. In diesem Jahr gewann Kim Sum mit Die Geschichte der Wurzeln den 39. I Sang-Literaturpreis. In dieser Erzählung betont sie die Bedeutung der Kommunikation als Methode des Mitfühlens und des Heilens der Wunden. Auch die Erzählung Nudeln ist von diesem Themenbewusstsein durchdrungen. Die Tugend des Mitfühlens: das Leben von „Du“, die leidvolle Zeiten mit Geduld ertragen hat, zu verstehen und ihre Schmerzen zu teilen, und der rührende Moment, in dem durch das Geständnis, „Du“ lange vermisst zu haben, die Hand zur Versöhnung gereicht wird, werden in einer Schüssel Nudeln in Brühe dargeboten. Kim Sum sagt uns, dass das innige Bestreben, das Schicksalsband zwischen Mensch und Mensch herzustellen, die Lebenseinstellung ist, die es trotz aller Ängste und Verzweiflung bis zum Ende zu bewahren gilt. KOREANIScHE KuLTuR uND KuNST 71
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