Koreana Summer 2016 (German)

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Sommer 2016

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST

SPEZIAL

DIE INSELN vON SINAN

Dialog mit unberührter Natur Natürliche Landschaften und Ressourcen von Sinan; Den „Schwarzen Berg“ entdecken; Die Salzgärten von Sinan; Erinnerungen an Bigeum-do; Ein Schatzschiff

Die Inseln von Sinan

Jahrgang 11, nr. 2

ISSN 1975-0617


IMPRESSIONEN


Dongdaemun Design Plaza: Lifestyle-Experimentierplatz, der niemals schläft Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der national academy of art

Das historische Zentrum von Seoul ist das gebiet von hanyang, der alten hauptstadt des Joseon reiches (1395-1910) mit seiner über 500-jährigen geschichte. Durch das Dongdaemun, das Osttor der alten Stadtmauer, floss seit Ende des 14. Jhs ein stetiger Strom von Personen und Waren. hier trafen Menschen, Waren und Straßen zusammen, um sich in den rest des Landes zu ergießen. Seit Ende des 19. Jhs war das Dongdaemun Tor mehrere Jahrzehnte lang die Endstation der Straßenbahnlinien durch die Seouler Innenstadt. In der nähe entstand der Dongdaemun-Markt, der sich zusammen mit dem namdaemun Markt am Südtor zum größten traditionellen Markt der Stadt entwickelte. Ende des 20. Jhs schließlich entstand um den Dongdaemun geschichts- & Kulturpark (Dongdaemun history & Culture Park) – ein wichtiger U-Bahnknotenpunkt – ein großer Mode-Komplex. Kleidung, Schuhe, hüte und accessoires häufen sich in den Läden tief unter der Erde, entlang den Straßen und in den hochhäusern und locken Kauflustige und Passanten bei Tag und nacht. 1925 wurde direkt neben dem Stadttor das Dongdaemun Stadion gebaut, das erste koreanische Sportstadion westlichen Stils. In den darauffolgenden 80 Jahren traten hier die Sportler gegeneinander an und von den Tribüne ertönten Jubel und Zurufe der Zuschauermengen. In den letzten Jahrhunderten erfuhr der östliche Bezirk von Seoul eine reihe städtebaulicher Veränderungen – zunächst die Stadtmauer mit dem Tor, dann die Märkte und Straßen, schließlich das Sportstadion und danach die U-Bahn-Stationen –, was den Ort zu einer dynamischen Plattform machte, in der der Puls des städtischen Ökosystems pochte. 2007 wurde das Dongdaemun Stadion im Zuge der städtebaulichen Maßnahmen abgerissen und 2014 öffnete an der Stelle der Dongdaemun Design Plaza (DDP) als neues Wahrzeichen der Stadt. Diese futuristisch anmutende Struktur erhebt sich an einem Ort, an dem die archäologische Spuren der Stadtmauer der alten hauptstadt hanyang begraben liegen. Umgeben von hochhäusern, die unzählige Modegeschäfte beherbergen, ist das alte Stadtviertel zu einem bei jungen Menschen beliebten Ort geworden. Das DDP, ein ikonenhaftes Bauwerk mit asymmetrischen Kurven und Flächen, demonstriert lebhaft die Kreativität der irakstämmigen architektin Zaha hadid, die durch die Symbiose von östlichen und westlichen Kultursymbolen eine originäre Stadtlandschaft geschaffen hat. Das DDP erlebt ein Passantenaufkommen von mehr als einer Million Menschen pro Tag. Im Bauch dieses großen Wals, in dem Innen- und außenraum, Oben und Unten wie ein Labyrinth aus Wasser und Wind zusammenzufließen scheinen, entfaltet sich quasi 24 Stunden pro Tag ein Lifestyle-Experiment. In was für eine art von Zukunft all diese Offenheit, Kommunikation, Interaktion und Begegnung wohl führen werden?


Von der redaktion

vERLEGER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT

Einladung auf die Inseln von Sinan Einige bezeichnen sie als „Fragmente der Erinnerung an den Kontinent, der vor langer Zeit im Meer versank“. Die Inseln des Kreises Sinan-gun sprenkeln die gewässer vor der südwestlichen Küste von Korea. gageo-do, die am weitesten vom Festland entfernte Insel, befindet sich 140 km vor dem hafen der Stadt Mokpo und markiert damit das südwestliche Ende des südkoreanischen Territoriums. In den gewässern zwischen Mokpo und gageo-do liegen 1.004 Inseln verstreut (einige sagen 1.025), von denen 72 bewohnt sind. nach dem Stand von Dezember 2015 leben 43.294 Einwohner auf den Inseln. Es ist noch nicht lange her, dass diese südliche region des Landes sich als ökologische Schatzkiste und beliebtes reiseziel profiliert hat. Zur attraktivität der Sinan-Inseln haben auch verschiedene auszeichnungen beigetragen, darunter Designierungen zum UnESCO Biosphärenreservat, zum ramsar Feuchtgebiet von Internationaler Bedeutung und die Bestimmung zur ersten Slow City asiens. Die Insel Jeung-do, auf der sich Koreas größte Meerwassersaline befindet, zieht heutzutage rund eine Million Besucher pro Jahr an. Die saubere und landschaftlich reizvolle Umgebung von Sinan ist zum großen Teil soziopolitischen Faktoren zu verdanken, die die region in den Zeiten der rasanten Industrialisierung und des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahrzehnten des 20. Jhs ins abseits der Entwicklung drängten. Weiter zurück in der geschichte hatte das gebiet seine einstige Bedeutung als strategisch wichtigen Punkt für den maritimen austausch unter den nachbarländern Ostasiens verloren und lag auf der hauptroute der kolonialen ausbeutung. Die Inseln erlebten zudem Evakuation und einige waren Orte der Verbannung. nichtsgestoweniger – oder ironischerweise gerade wegen dieser Spuren einer düsteren Vergangenheit – ist Sinan heute eine reizvolle region, die einen Besuch wert ist. Die SPEZIaL-reihe der vorliegenden ausgabe „Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur“ gibt einen kleinen Einblick in das, was die Inseln zu bieten haben, und aufschluss darüber, was die Inselbewohner wertschätzen und an die kommenden generationen weitergeben möchten.

COPY EDITOR KREATIvDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTOR DESIGNER

Lee Si-hyung Yoon Keum-jin ahn In-kyoung Bae Bien-u Charles La Shure Choi Young-in han Kyung-koo Kim hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song hye-jin Song Young-man Werner Sasse anneliese Stern-Ko Kim Sam Lim Sun-kun, noh Yoon-young, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Kim nam-hyung, Yeob Lan-kyeong

LAYOUT & DESIGN

Kim’s Communication associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743

ÜBERSETZER

ahn In-kyoung anneliese Stern-Ko Do Young-in Kim Eun-ji Park Ji-hyoung

Preis pro heft in Korea 6.000 Won außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr

Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen ausgabe The Korea Foundation West Tower 19F Mirae asset CEnTEr1 Bldg. 26 Euljiro 5-gil, Jung-gu, Seoul 04539, Korea

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Sommer 2016

Returning Home (Heimkehr) Chung Young-nam gemischte Materialien auf reispapier, 70 x 70 cm (2008) Ein Boot fährt bei Sonnenuntergang nach hause. Der Künstler hat diese Szene vom Berg Seonwangsan auf Bigeum-do, einer der Inseln im Kreis Sinan, Provinz Jeollanam-do, eingefangen.

Viertejährlich publiziert von The Korea Foundation 2558 nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 06750, Korea http://www.koreana.or.kr

GEDRUCKT SOmmER 2016 Samsung Moonwha Printing Co. 10 achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2016 alle rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (reg. nr. no. Ba-1033, august 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch russisch und Spanisch.


fokuS

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Go, Mensch, Maschine Cho hwan-gue

IntervIew

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Regisseur Lee Joon-ik: Leidenschaft für Geschichte, ausgedrückt durch Filme

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Darcy Paquet

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hÜter DeS traDItIoneLLen erBeS

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Yun Gyeong-nam: Hüterin eines 300-jährigen Familienrezepts für Sojasoße Chung Jae-suk

verLIeBt In korea

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Irina Korgun: Russische Wirtschaftsexpertin und Liebhaberin koreanischer Volksmalerei

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Kim hyun-sook

eIn ganZ normaLer tag

SPEZIAL

Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

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Ein eintöniger, aber intensiver Alltag: Kunstlehrerin Kim Won-gyo

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LIfeStyLe

Jeonse: Vergangenheit und Zukunft eines Mietsystems

Kim Seo-ryung

Kim Bang-hee

SPeZIaL 1

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Natürliche Landschaften und Ressourcen von Sinan: Erbe für die Zukunft

runD um Zutaten

Mu : „Ginseng des Winters“ und des Reis bester Freund Kim Jin-young

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reISen In DIe koreanISche LIteratur

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Karnevaleske Herangehensweise an Schwere und Leichtigkeit Choi Jae-bong

Lee heon-jong

SPeZIaL 2

Alle mögen Girls’ Generation

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Lee Young-hoon

Den „Schwarzen Berg“ entdecken Lee Chang-guy

SPeZIaL 3

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Die Salzgärten von Sinan Kim Young-ock

SPeZIaL 4

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Erinnerungen an Bigeum-do hwang hieon-san

SPeZIaL 5

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Ein Schatzschiff, 650 Jahre lang im Meeresschlick geborgen Lee Kwang-pyo

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SPEZIAL 1 Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

naTürLIChE LanDSChaFTEn UnD rESSOUrCEn VOn SInan

Lee Heon-jong Professor für archälogie, Mokpo national University Fotos bae bien-u

ERbE füR dIE ZuKuNft tausend Inseln, tausend farben. die Inseln des Kreises Sinan-gun, die in den südwestlichen Küstengewässer Koreas versprenkelt liegen, zeichnen sich durch einzigartige Naturlandschaften und Ressourcenvielfalt aus. Hier hat sich über tausende von Jahren indigenes Wissen angehäuft, das für die Zukunft von unschätzbarem Wert ist. Auf der 28. Sitzung des Internationalen Koordinierungsrats des uNESCO-Programms „der Mensch und die biosphäre“, die am 19. März 2016 in Lima, Peru, stattfand, wurde das ganze Gebiet des Kreises Sinan-gun-do zum biosphärenreservat erklärt. damit wurde die 2009 anerkannte fläche, die nur die Meere, Wattgebiete und Inseln zwischen den beiden Inseln Jeung-do und Hong-do umfasste, erweitert. 4 KoREANA Sommer 2016


auf der zu gageo-do gehörenden Seomdeung-halbinsel erstrecken sich in 100 m höhe weitläufige grasflächen. Läuft man bis zum Ende der Klippen, erreicht man den südwestlichsten Punkt Koreas.

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esucht man eine Insel, füllt sich das herz mit der Vorfreude auf exotische Landschaften, frische Weite, Vergessen des alltags und eine wohlverdiente Pause, gesichert durch die abtrennung vom Festland. Eine reise auf eine Insel ist ein ausbruch aus dem mechanischen alltagsrhythmus, beherrscht von einer standardisierten, kontinuierlichen Zeit, in eine dis-kontinuierliche Zeit, die den gesetzen der natur unterliegt. Das gilt vor allem für eine Bootsreise vom Festland zu den Inseln und von einer Insel zur anderen, bei der man den Eindruck bekommt, eine Truhe voller geschichten über den alltag der Inselbewohner zu öffnen.

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Inseln vor der Küste Unter den Sinan-Inseln ist Ji-do die erste, die mit dem Festland verbunden wurde. Es folgten Brückenverbindungen zu den nahe gelegenen Inseln Saokdo und Jeung-do, sodass diese drei Inseln auch ohne Fähre zu erreichen sind. Die verschiedenen Salzpflanzen im Watt von Jeung-do, das auch zum ramsar-Feuchtgebiet erklärt wurde, kleiden sich zu jeder Jahreszeit in ein anders gefärbtes gewand. Das Wrack des Schiffes „Sinan“, das gut erhalten an einer seichten Stelle des Meeres im Watt entdeckt wurde, ist Beweis dafür, dass die region seit der antike ein Knotenpunkt war, den zahlreiche handelsschiffe passierten. Die Saline Taepyeong (Tae Pyung) Yeomjeon, eingerichtet auf trocken gelegtem Watt, wurde zusammen mit dem Salzlager aus Stein, das heute als Salzmuseum dient, als neuzeitliches Kulturgut registriert. über ihren Wert als historische ressourcen hinaus sind beide Stätten Schatzkammern der geschichten, die von Freude, Wut, Trauer und glück der Salzbauern erzählen. nach 30-minütiger Fahrt vom Jeomam Passagierfähren-Terminal am westlichen Ende der Insel Ji-do erreicht man das Jilli Passagierfähren-Terminal von Imja-do, der am nördlichsten gelegenen Insel von Sinan-gun. Der 300 m breite und 12 km lange, weiße Daegwang-Sandstrand lässt sich im Schlenderschritt in drei, vier Stunden ablaufen. Diesem Sandstrand, der als breitester in ganz Korea gilt, verdankt die Insel Imja-do ihren Beinamen „Moraeseom“: Insel des Sandes. Läuft man vom Strand in richtung Meer, findet man hier und da von Leben erfüllte Wattflächen. nachts wimmelt das Watt von Meerestieren wie Minikrebsen, die Sandbällchen formen und Bilder im goldenen Sandboden malen. Das Meerwasser schwappt rücksichtslos heran, wischt die gemälde weg und zieht sich dann wieder zurück. Doch die kleinen Künstler ruhen und rasten nicht. am nächsten Tag ist der goldene Sandboden wieder mit neuen Motiven bestickt. Jedes Jahr im april bietet die Daegwang-Küste ein exotisches Landschaftsspektakel: hier findet näm1 Blickt man von der lich das größte Tulpenfestival in Korea statt, das Sangsan-Bergspitze auf 2016 bereits zum neunten Mal veranstaltet wurde. Ui-do über das Meer in 2 2 richtung Mokpo, entfaltet In einem 120.000 m großen Park, der 68.000 m sich die großartige Szenerie 2 Tulpenpark und 52.000 m Kiefernpark umfasst, des Sinan-archipels mit stehen im Frühling drei Millionen Tulpen in voller seinen unzähligen Inseln. 2 auf dem gipfel der hüBlüte. Die Idee des gartenbauwissenschaftlichen geligen Insel Jang-do Forschungsteams der Mokpo nationaluniversität, befindet sich ein typisches dass der fruchtbare Sandboden der Insel in KomBergland-Feuchtgebiet, das in die ramsar-Liste bination mit reichlich Sonnenschein und angevon Feuchtgebieten von messener Meeresbrise optimal für den Tulpenaninternationaler Bedeutung aufgenommen wurde. bau sei, wurde von den lokalen Behörden ange6 KoREANA Sommer 2016

nommen und zu einem Erfolgsprojekt entwickelt, das schließlich eine neue ressource hervorbrachte. Dass die Insel Imja-do, die durch ihre harmonische Kombination von natürlichen und künstlichen ressourcen ein refugium für Erholungssuchende darstellt, von Menschenhand geschaffen wurde, ist nicht allzu bekannt. Ursprünglich lag etwa die hälfte des gesamten Inselgebiets unterhalb des Meeresspiegels. über einen langen Zeitraum karrten die Inselbewohner Steine herbei, die sie zu Deichen aufschichteten, um das Meer zu blockieren, sodass schließlich aus sechs nahe beieinander gelegenen Inseln eine einzige Insel wurde. Fermentierte Minigarnelen (Saeu-jeot), eine Spezialität aus dem hafen Jeonjang-po im norden der Insel, gehören in Bezug auf geschmack und Qualität zu den besten in Korea. Das geheimnis: Die garnelen werden im Juni nach Mondkalender, wenn sie am fettesten sind, gefangen und direkt an Bord eingesalzen. Danach werden sie lange in Tonkrügen in den Steinhöhlen am Fuße des Solgaesan-Bergs hinter dem Dorf am anlegeplatz reifen gelassen, wie es nach alter, lange überlieferter Tradition seit generationen geschieht. So haben die fermentierten Minigarnelen von Jeonjangpo, angereichert mit bodenständigem Wissen, das als eine art intuitive gebrauchsanweisung fungiert, ihren ruf als Qualitätsprodukt erhalten können. Einzigartige regionale Spezialitäten und Slow Food können nur durch die Tradierung von überliefertem Wissen entwickelt werden. 2020 soll eine Brückenverbindung zwischen den Inseln Ji-do und Imja-do gebaut werden.

der diamantenarchipel: Paradies für Zugvögel Die Inseln im mittleren Bereich der gewässer von Sinan sind in Karo-Form verteilt, woher der Beiname „Diamantenarchipel“ rührt. hier finden sich einige der bekanntesten Inseln, von denen die Insel Bigeum-do, die die linke Spitze des Karos bildet, einen besonderen ruf als geburtsort des go-Meisters Lee Se-dol genießt, der jüngst gegen die künstliche Intelligenz alphago das go-Duell des Jahrhunderts lieferte. Die Leuchtturm-Insel Chilbal-do, die 10 km nordwestlich von Bigeum-do liegt, bietet einen rastplatz für Zugvögel. Fährt man die Insel frühmorgens mit einer Fähre an, ist sie so mystisch in Meernebel gehüllt, dass sie gleichsam in der Luft zu schweben scheint. Chilbal-do ist eine unbewohnte Insel, deren Klippen man sich vorsichtig navigierend nähern muss, bevor man anlegen und einen Fuß auf die steilen Felsen setzen kann. Diese zum naturdenkmal ernannte Insel ist ein refugium für Swinhoe-Wellenläufer, Weißge-


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Die Wattflächen, die sich weitflächig über den Diamantenarchipel in Sinans Inlandsee ausdehnen, bilden ein komplexes Ökosystem aus Watt, Dünen und Inseln, das als Habitat von zahlreichen Meerestieren eine Nahrungsquelle für Zugvögel darstellt, sodass diese Region ein wichtiger Landeplatz auf dem Zugweg geworden ist.

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sicht-Sturmtaucher und Pazifiksegler (apus pacificus pacificus), die hier im Winter zum Brüten rast einlegen. Sie dient vor allem als habitat für 80 % der Swinhoe-Wellenläufer aus der ganzen Welt. als wichtige Zwischenstation auf dem Zugweg Ostasien-australasien, der von Sibirien nach Südostasien führt, ist Chilbal-do von Bedeutung für den Schutz der weltweiten artenvielfalt von Vögeln. aber auch die Inseln hong-do und heuksan-do sind als rastorte für Zugvögel bekannt: 2009 suchten 80 % der Zugvögel, die Korea überqueren, die Inseln auf, und etwa 300.000 Vögel von 271 arten wurden in der Sinan-region gesichtet. hauptanziehungspunkt für die Zugvögel ist das Watt. Die koreanischen Wattgebiete gelten als weltweit bedeutend zusammen mit dem Wattenmeer der nordsee, das von den niederlanden, Deutschland und Dänemark begrenzt wird, den Feuchtgebieten an der Küste des amerikanischen Bundesstaates georgia, dem Mündungsgebiet des amazonas in Brasilien und den Feuchtgebieten an der kanadischen Ostküste. Darunter zeichnet sich der Kreis Sinan-gun durch das landesweit größte Wattgebiet aus. Dort treten Ebbe und Flut zwei Mal pro Tag ein und die über tausend Inseln, die bei Flut auf dem Meer zu schwimmen scheinen, werden bei Ebbe dergestalt von Wattflächen und netzartig verlaufenden Wasserläufen und Prielen umschlungen, dass sich der ungewöhnliche anblick von „Inseln auf dem Watt“ bietet. Die Wattflächen, die sich weitflächig über den Diamantenarchipel in Sinans Inlandsee ausdehnen, bilden ein komplexes Ökosystem aus Watt, Dünen und Inseln, das als habitat von zahlreichen Meerestieren eine nahrungsquelle für Zugvögel darstellt, sodass diese region ein wichtiger Landeplatz auf dem Zugweg geworden ist. Südwestlich der Insel Docho-do liegt Ui-gundo, eine Inselgruppe, die haufen von kleinen und großen Steinen gleicht. auf der hauptinsel Ui-do sind der Berg Dori-san, gesäumt von silbernen Magnolien und Kamelien, ein Sandstrand, der an eine Wüstenlandschaft erinnert, und steile goldene Sandhügel zu sehen. Wegen der fortschreitenden Sanderosion ist die Insel Ui-do jedoch bis 2010 für den Publikumsverkehr gesperrt. an einer anderen Ecke der Insel erheben sich Felsenhügel, an denen sich bei regen zahlreiche kleine Wasserfälle bilden, die wild verzweigt herabfließen. Kehrt man entlang der 4 km langen Strecke vom westlichen bis zum östlichen Ende der Insel hier und da in einem der Weiler ein, wird einem die Stille und heimeligkeit bewusst, die den gewundenen gassen und Wegen entlang der Einfriedungsmauern, die schwarz von Moos bedeckt die Zeitläufte in sich tragen, entströmt. 2018 wird die Saecheonnyeon-Brücke (Brücke des neuen Millenniums) eröffnet, die die Insel apae-do, die als Sitz der Kreisbehörde von Sinan-gun bereits ans Festland angebunden ist, und die Insel amtae-do auf der oberen rechten Seite des Diamantenarchipels verbinden wird. Diese beschleunigte anbindung ans Festland erfüllt die lang gehegten Wünsche der Inselbewohner in Bezug auf größere annehmlichkeiten im alltagsleben und besseren kulturellen anschluss. Der dadurch entstehende Druck nach mehr Entwicklung wird jedoch neue Probleme auslösen, denn die inhärente natur einer Insel wird am besten durch das Meer geschützt.

Inseln im weiten Meer Wenn das Boot, das vom Passagierfähren-Terminal in Mokpo ablegt, an den Inseln Bigeum-do und Docho-do vorbeifährt und die kleinen Inselchen von Sinan hinter sich lässt, erstreckt sich vor einem das endlos weite Meer. Passa8 KoREANA Sommer 2016

Die Sanddünen des Dorfes Donmok auf Ui-do präsentieren sich je nach Wind und regen in einem anderen gewand. Es gibt eine redensart, nach der die Frauen von Donmok bis zur heirat einige Scheffel Sand schlucken müssen.


Imja-do

der Kreis Sinan-gun Seoul

Saok-do 350km

Seon-do

Jeung-do Byeongpung-do

Mokpo

Goi-do

Maehwa-do

Jaeun-do

Aphae-do Amtae-do Palgeum-do

Bigeumdo

Anjwa-do

Hong-do Heuksan-do

Docho-do Ui-do

Jangsan-do Sangtae-do

Gageo-do Gasa-do

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giere, die die reise zum ersten Mal unternehmen, könnten von einem gewissen Unbehagen erfasst werden, wenn sie die Inseln, die als Schutz vor Wind und Wellen dienten, hinter sich lassen und plötzlich dem offenen Meer ausgesetzt sind. Doch der Schnelldampfer gleitet lautlos weiter über den gewohnten Meeresweg. In diesem offenen, weiten Meer verstreut liegt die heuksando-Inselgruppe, die die Inseln heuksan-do, hong-do, gageo-do, Damul-do, Jang-do, Yeongsan-do und Manjae-do umfasst. hong-do ist nicht nur für ihre je nach Jahreszeit distinktive landschaftliche Schönheit berühmt, sondern auch für die sich innerhalb eines Tages wandelnde Szenerie, was die Insel zu recht als „Perle von Sinan“ bekannt gemacht hat. gageo-do ist eine geheimnisvolle Insel, auf der man sich wie im tiefsten Urwald fühlt, wenn einen Wind und regen auf der Insel festsitzen lassen. Jang-do ist berühmt für ihr einzigartiges Bergland-Feuchtgebiet im Inneren der Insel. Yeongsan-do wiederum rühmt sich acht ungewöhnlicher Landschaften einschließlich des elefantenförmigen Felsens Seokjudaemun. Die Insel Manjae-do, auf der die Jjakji-Kieselsteinküste das Dorf umrahmt und die von jedem Winkel aus eine hervorragende aussicht bietet, ist vielleicht das Juwel der Inselgruppe. Die Insel ist so klein, dass große Schiffe nicht anlegen können. Wer immer zu dieser Insel möchte, muss in Mokpo eine Fähre nehmen und auf dem offenen Meer in ein kleineres Boot umsteigen, das gageo-do auf der rückfahrt nach Mokpo passiert, und dann noch einmal 1 km weiterfahren. Ohne den Segen der götter ist Manjae-do also kaum zu erreichen. Steigt man entlang des Steinmauerwegs die hügel der Insel hoch, erblickt man hier und da sich aneinander reihende Inseln. Die in Wassernebel getauchten Basaltsäulen unterhalb des weißen Leuchtturms bieten in der abenddämmerung einen atemberaubenden anblick. Für die Inselbewohner ist die Jjakji-Küste Quelle ihres Lebensunterhalts, hier trocknen sie Seetang und teilen die Ernte aus dem Meer. Die Taucherinnen (haenyeo) der Insel verdienen ihren Lebensunterhalt durch das gemäßigte Sammeln von Seetang und Meeresfrüchten. aus Erfahrung wissen sie, dass sie nur dann auf der Insel überleben können, wenn sie Landschaft und ressourcen nicht übermäßig ausbeuten. Die Insel heuksan-do, die heute für ihre raurücken-nagelrochen bekannt ist, gehörte zusammen mit den Inseln Wi-do und Yeonpyeong-do zu den drei größten Pasi-Standorten (Pasi: „Markt auf Wellen“; traditioneller, saisonaler Fischmarkt auf dem Meer). Diese Fischmärkte, die bis Ende der 1970er Jahre stattfanden, boten bis Ende Oktober je nach Monat unterschiedliche Firschsorten an. aushängeschilder von heuksan-do waren der gelbfischmarkt von Januar bis april und der Walfischmarkt von Februar bis Mai. Dass in den 1960er Jahren über 2.000 Schiffe zum Fischmarkt kamen, beweist, dass hier das „goldrausch-gebiet“ der Fischer war. archäologische Befunde belegen, dass der hafen Eupdong-pogu von heuksan-do von der Zeit des Vereinten Sillareiches (676-935) bis zur goryeo-Zeit (918-1392) ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt auf der Seeroute zwischen Korea und China war. Die heuksando-Inselgruppe mit der hauptinsel Ui-do und den dazugehörigen unbewohnten Inseln sind dicht mit silbernen Magnolien und Kamelien bewachsen. Diese Baumarten sind die dominanten Spezies in der warmgemäßigten Zone der immergrünen Laubwälder Koreas. hier kann man den unter Einfluss der Erderwärmung stattfindenden strategischen überlebensprozess zwischen den immergrünen Laubwäldern der warmgemäßigten Zone und den nadelwäldern beobachten. Damit bietet sich quasi eine Laborsituation, in der sich 10 KoREANA Sommer 2016

rapsblüte auf der Insel anjwa-do, auf der die geburtsstätte von Kim Whanki (1913-1974), eines Pioniers der abstrakten Malerei in Korea, unter Schutz steht.


der Wandel von Klima und Vegetation verfolgen und künftige Veränderungen in Flora und Fauna der Insel abschätzen lassen.

Nachwuchsförderung: Schlüssel für Nachhaltigkeit Sobald die Fähre von den Inseln ablegt, füllen geschichten meinen Kopf. Ich versuche, den gesprächen der in kleinen gruppen herumsitzenden Touristen und Inselbewohner lauschend, Schlaf zu finden, doch meine gedanken wandern zu den Kindern mit ihren klaren augen, die ich auf der Insel kennengelernt habe. Wie bereits erwähnt, gibt es in Sinan unendliche naturund Kulturressourcen. Die Kinder von Sinan, die dort geboren und aufgewachsen sind, sollten zu Protagonisten herangezogen werden, die die region in die Zukunft führen können. Diese Kinder sind nämlich diejenigen, die hochtechnologische Wissenschaftscluster für Schutz, Verwaltung und Entwicklung der naturres-

sourcen der Inselregion leiten und die landschaftlichen sowie kulturellen ressourcen globalisieren können. Die anerkennung von Sinan als UnESCO-Biosphärenreservat wird ihnen dabei als Sprungbrett dienen. Die Insel aphae-do mit ihrem reichen natur- und Kulturbe, das die Tausende von Jahren von der altsteinzeit bis zum Zeitalter der schriftlich überlieferten geschichte umfasst, ist historische Stätte und administratives Zentrum von Sinan. auf der Insel sollten Schulen zur Förderung von jungen, die Zukunft Sinans anführenden Talenten eingerichtet werden, um sie zu wissenschaftlichen und kulturellen Experten in Bezug auf Inseln und Küsten auszubilden. genau das wird der Schlüssel zu einer wahrhaftig nachhaltigen Zukunft sein. In der Ferne kommt das Mokpo Passagierfähren-Terminal in Sicht. Wie eine Mutter umarmt der Berg Yudal-san die Menschen mit offenen armen. Mit Einbruch der Dämmerung geht in den rohfisch-restaurants vor dem Terminal ein Licht nach dem anderen an. Schon vor der ankündigung der ankunft ist der Kai von Menschen überfüllt. Mit reisetaschen, Styroporkisten und schwarzen Plastiktüten, die alle Teile der Insel enthalten, steigen die Passagiere aus. auch wenn sie jetzt von der Menge gedrängt von der stählernen Fähre getrieben werden, sind sie bereits voller Erwartung, irgendwann einmal wieder an Bord zu gehen. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 11


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DIE EINZIGARTIGE VIELFALT DER INSELWATTEN VON SINAN Moon Kyong-o generalsekretär, World heritage Promotion Team for the Korean Tidal Flats

atten entstehen dadurch, dass Sedimente durch die gezeitenunterschiede vom Meer ans Festland geschwemmt, oder durch Flüsse vom Festland an die ins Meer übergehenden Stellen transportiert und dort großflächig und flach abgelagert werden. Wattflächen bilden sich meistens in Buchten und Mündungsgebieten mit kompliziertem Küstenlinienverlauf. Je schwerer die von den Wellen herangetragenen Sedimente sind, desto stärker lagern sie sich an den äußeren Bereichen der Küste ab, während sich leichteres Sediment im inneren Küstenbereich setzt. Daher entstehen normalerweise an den äußeren Stellen Sandwatten, im mittleren Bereich Mischwatten und im inneren Schlickwatten.

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bodenstruktur, Wind, felsengrund Die Inselwatten des Dadohae-archipels in Sinan bilden jedoch unter den Küstenwatten eine ausnahme. Die Inseln im offenen 12 KoREANA Sommer 2016

Meer bieten den Inseln in der Inlandsee Schutz, wobei sowohl die ersteren als auch die letzteren die topographische Besonderheit aufweisen, dass sich unzählige Inselchen um eine hauptinsel scharen. Das führt dazu, dass sich je nach Form der Steilküsten und der Küstenlinie der Inseln verschiedene arten von Watten bilden. Zum Beispiel haben sich durch den Einfluss des nordwestwindes im nordwesten (offenes Meer) Sandwattgebiete entwickelt, während im nordosten und Südwesten (mittlerer Bereich) Mischwattgebiete und im Südosten (Inlandsee) Schlickwattgebiete entstanden. Priele und Wasserläufe, die der unterschiedlichen Lage der Inseln entsprechend verschiedene geometrische Formen angenommen haben, weisen Sedimentablagerung-Charakteristika auf, die woanders auf der Welt selten zu sehen sind: So setzt sich Schlickwatt auf Mischwatt und Mischwatt auf Sandwatt ab. Das Schlickwatt im Südosten, das aus einer

dicken Schicht von abgelagerten Sedimenten besteht, ist ein „raum der Zeit“. Der Wörterbuch-Beschreibung von „Watt“ als „flach“ zum Trotz, sind hügel die typischen Merkmale des Watts von Sinan. Vielleicht wäre dafür eine neue Bezeichnung wie „Watthügel“ angebrachter. Ein weiteres Kennzeichen, das die Inselwatten von Sinan von anderen Wattgebieten abhebt, liegt in den Veränderungen je nach Jahreszeit. Die koreanische halbinsel steht im Winter unter dem Einfluss des nordöstlichen Windes und im Sommer unter dem Einfluss von Taifunen, sodass die Sedimentzusammensetzung in derselben Wattenregion im Sommer und Winter unterschiedlich ist. Das heißt, dass ein gebiet, das im Sommer ein Mischwatt war, im Winter einem Sandwatt gleichen kann. Zudem gibt es in Sinans Dadohae-archipel auch Felswatten, die weltweit eine Seltenheit sind. In anderen Wattgebieten der Welt haben sich die flachen Küsten entlang


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die felseninseln des Kreises Sinan-gun sind festland und gleichzeitig teil des Meeres. die Inselwatten, die durch die topographischen besonderheiten der Küstenlinie des dadohae-Archipels entstanden sind, präsentieren jeden tag aufs Neue ungewöhnliche Landschaften, die die Natur mit dem Kommen und Gehen von Ebbe und flut inszeniert.

Sanddünen gebildet. Im gegensatz dazu bestehen die Inseln von Sinan aus Felsgestein und entstanden im Zuge des Meeresspiegelanstiegs nach der Eiszeit, was zur Entstehung von Felswatten führte.

Schutz von Artenvielfalt und überlieferung von Watt-Kultur Diese topographische und geologische Vielfalt der Watten von Sinan ist die Quelle der reichen artenvielfalt. Die wirr durcheinander laufenden Priele und Wassersläufe fungieren als Kapillaren, die das Watt mit Sauerstoff und nährstoffen versorgen. Die wundersame Schönheit der geometrischen Formen der Priele und Wasserläufe ist ein zusätzlicher reiz. Die dicken, oxidierten und stark sauerstoffdurchlässigen Schichten machen das Watt zu einem idealen Lebensraum für ein vielfältiges Benthos. allein ein Vergleich der Zahl der arten von Makrobenthos, das in den Wattgebieten lebt, demonstriert die artenviel-

3 1 Das Wattenmeer der Sinan-Inseln formt sich durch ein einzigartiges, weltweit selten zu findendes Sedimentablagerungssystem, das auf der Wirkung eines geometrischen netzes von Wasserläufen und Prielen beruht. 2 Das Wattenmeer des archipels Dadohae ist eine Schatzkammer der Biodiversität. 3 Dicke Schlammschichten häufen sich im Wattenmeer zu hügeln an.

falt: Während im Wattenmeer der nordseeküste, das sich über eine Fläche von 14.000 km2 entlang der Küsten der niederlande,

Deutschlands und Dänemarks erstreckt, etwa 160 arten leben, ist das Wattenmeer von Sinan mit einer Fläche von nur rund 400 km2 Lebensraum für etwa 600 arten. Die artenvielfalt führt wiederum zur Kulturvielfalt. Seit Tausenden von Jahren ist das Wattenmeer ein gebiet für menschliche aktivitäten und es ist die Mission der jetzigen generation, diese „Lebenskultur in Wattgebieten“ weiterzugeben. Der Kreis Sinan-gun setzt sich aktiv dafür ein, die artenvielfalt auf den Inseln zu schützen und zu verwalten. als Ergebnis wurde ein Teil des Dadohae-archipels von Sinan (573,1km2) im Mai 2009 zum UnESCO-Biosphärenreservat erklärt und im März 2016 wurde diese Bestimmung auf das ganze gebiet von Sinan (3.238,7km2) erweitert. Die koreanische Zentralregierung sowie die regionalregierungen bemühen sich zurzeit um die aufnahme der Inselwatten der koreanischen Südwestküste in die Liste des UnESCO-Welterbes. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 13


SPEZIAL 2 Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

dEN „SCHWARZEN bERG“ ENtdECKEN Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom

die Insel Heuksan-do assoziieren Koreaner gewöhnlich mit „Ort der Verbannung zur Zeit der Könige“. doch in Wirklichkeit spielte diese am südwestlichen Ende des koreanischen territoriums gelegene Insel mit ihren vom Himmel geschenkten natürlichen Gegebenheiten lange Zeit eine wichtige Rolle als Knotenpunkt des internationalen Seeverkehrs in der nordostasiatischen Region.

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m 15. Juni 1997 verließ ein Bambus-Floß mit dem namen „Donga-Jijunghae (Ostasiatisches Mittelmeer)” die Küste von Zhejiang im Süden Chinas. Diese Floß-Expedition, die unter Federführung von Prof. Yoon Myung-chul von der Dongguk University zusammen mit koreanischen Meeresforschern und einem chinesischen Profi-Taucher organisiert worden war, zielte darauf ab, die „Kunst des Treibens“ auf dem Meer, die die Menschen in alter Zeit angewendet haben dürften, zu testen. als sich das Floß vom Festland entfernte, wurde es von Meeresströmungen und Südwestwind nach nordosten getrieben. auf der Fahrt geriet das Team auch in einen Taifun, aber nach 17 Tagen auf See erreichten es heil die Insel heuksan-do.

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der Hafen des dorfes Sa-ri wird geschützt von einer Kette kleiner Inseln, den sog. Sieben-brüder-felsen, die als natürlicher damm fungieren. dieser Ort diente dem Gelehrten Jeong Yak-jeon, der die Hyeonsan Eobo (Enzyklopadie der fischarten von Heuksan-do) verfasste, als eine Art Meeresforschungslabor.

Zwischenstation für Wind und Strömungen Diese Expedition sprengte zwei konventionelle Vorstellungen: Zum einen wurde dadurch bewiesen, dass der austausch zwischen dem chinesischen Festland und der koreanischen halbinsel auch ohne die hilfe der modernen Wissenschaft und lediglich unter ausnutzung der natürlichen gegebenheiten zustande kommen konnte. Somit wurde der Zweifel daran, ob die Menschen früher ohne Motorboote und ordentliche navigationskenntnisse das Meer überqueren konnten, ausgeräumt. Zum anderen wurde die vage „Festland“-orientierte annahme, nach der der austausch mit China eher über die sicheren Landrouten als über gefährliche Seewege stattgefunden haben dürfte, komplett erschüttert. gestützt wurde dadurch die hypothese, dass die sog. Dongi-Menschen, zu denen die Vorfahren der Koreaner gehören sollen, ein Ozeanvolk waren, das das von China und Korea umgebene „Ostasiatische Mittelmeer“ überquerte, mit China, Japan und den weiter südlich gelegenen Ländern handel trieb und sich auch hin und wieder Schlachten auf dem Meer lieferte. Diese art von Expedition wurde später noch einmal wiederholt. Die route des Floßes stimmte dabei weitgehend mit der Südmeeroute überein, einer der alten Korea-China-routen, die vom 10. bis 14. Jh den austausch zwischen dem koreanischen goryeo-reich (918-1392) und dem chinesischen Song-reich (960-1279) erleichterten. Ein ausläufer der Kuroshio-Meeresströmung, die vom norden der Philippinen in nordöstliche richtung fließt, führt an Taiwan vorbei, verläuft dann weiter westwärts nach Jeju-do und teilt sich schließlich in zwei richtungen. Einer der beiden ausläufer fließt erneut westwärts entlang der Westküste der koreanischen halbinsel und strömt weiter südwärts um die halbinseln Liaodong und Shandong. nahe der hangzhou-Bucht biegt dieser ausläufer wieder nach nordosten ab und führt in richtung koreanische halbinsel zurück. Die KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 15


Menschen aus goryeo und dem Song-reich nutzten also diese Strömung und die jahreszeitlichen Winde aus – vom späten Frühling bis anfang Sommer den Südwestwind und im Oktober und november den nordwestwind – und verkehrten zwischen China und der koreanischen halbinsel, um zu fischen und handel zu treiben. Das Kapitel goryeo der annalen Song Shi (Die geschichte der Song-Dynastie, 1345) beschreibt diese route wie folgt: „Von Dinghai in Mingzhou segelten wir im Wind drei Tage lang übers Meer und erreichten nach weiteren fünf Tagen heuksan und damit das Territorium von goryeo. nachdem wir von heuksan aus an mehreren kleineren und größeren Inseln und unzähligen Felsen vorbei gesegelt waren, konnten wir die Fahrtgeschwindigkeit erhöhen und erreichten sieben Tage später den Fluss Yeseong-gang.“ Mingzhou, das heutige ningbo, war eine alte Stadt in der YangtseMündungsregion, der die Zhoushan-Inseln vorgelagert sind. Mingzhou entwickelte sich zu einem neuen handelsknotenpunkt, als das Song-reich, das – eingeschüchtert durch die beiden mächtigen Dynastien Liao (Kitan; 916-1125) und Jin (Jurchen; 1125–1234) – im großraum nordchina seinen Status als Suzerän in Ostasien verlor und gezwungen war, seinen außenhandelsstützpunkt in die südöstliche Küstenregion zu verlegen. Der japanische Mönch Ennin (793-864), der sich zum Studium des Buddhismus nach Tang-China begeben hatte und auf der heimreise mit einem handelsschiff des Silla-reichs in heuksan-do halt machte, schrieb in nitto guho Junrei Koki (aufzeichnungen einer Pilgerfahrt zur Suche nach der Lehre [Buddhas] in Tang-China, 838-847), dass es bereits Mitte des 9. Jhs 300 bis 400 haushalte auf heuksan-do gegeben hätte. also dürften noch mehr Menschen auf der Insel gewohnt haben, nachdem heuksan-do sich nach dem 10. Jh zu einem Knotenpunkt und einer Zwischenstation auf der Südmeerroute entwickelt hatte. Yi Jung-hwan (1690-1756), ein gelehrter der späten Joseon-Zeit, beschrieb in seinem geographiebuch Taengniji (Führer durch Korea, 1751) die Küste von Yeongam-gun in der Provinz Jeollanam-do als Ort, von dem die mit Tributgaben für den Tang-hof beladenen Schiffe in richtung China ausliefen. über die Seeroute nach Mingzhou berichtet er dabei: „Von Yeongam gelangt man in einem Tag bis zur Insel heuksan-do, von der aus man wiederum in einem Tag die Insel hong-do und nach einem weiteren Tag die Insel gageo-do erreicht. Kann man den nordostwind ausnutzen, braucht man von Yeongam drei Tage bis Dinghai in ningpo, Taizhou.“ Diese route nahm ebenfalls der gelehrte Choe Chi-won (857-?) aus dem Silla-reich (57 v. Chr.–935 n. Chr.), der im alter von elf Jahren zum 16 KoREANA Sommer 2016

Studium nach Tang-China aufbrach und sich dort einen namen als Schriftsteller machte. auch der gelehrte und Joseon-hofbeamte Choe Bu (1454-1504), der Verfasser des Werks Pyohaerok (aufzeichnungen einer Odyssee auf dem Meer, 1488), wurde zusammen mit 42 weiteren Passagieren an Bord auf dieser route an die Küste des Ming-reichs gespült, nachdem der Segler vor der Insel Jeju-do von einem Sturm überrascht und von Wind und Wellen abgetrieben worden war. Doch obwohl sich heuksan-do, ein vom himmel gesegnetes Fleckchen Erde, lange als Knotenpunkt des internationalen Seeverkehrs behauptet hatte, assoziieren die meisten Koreaner mit dieser Insel weder Unternehmungsgeist noch Fülle.

„Schwarzer berg“, „Schwarze See“ Viele Koreaner denken zunächst an Exil und Verbannung, wenn sie den namen „heuksan-do“ hören. Sogar in Xuanhe fengshi gaoli Tujing (Illustrierte aufzeichnungen der chinesischen gesandtschaft nach Korea während der regierungszeit von Xuanhe) von Xu Jing (1091-1153), eines abgesandten des chinesischen Song-reichs, ist zu lesen, dass „die meisten Missetäter des goryeo-reichs, die zwar schwere Straftaten begangen, aber nicht mit dem Tode bestraft wurden, an diesen Ort [nach heuksan-do] in die Verbannung geschickt werden“. Die Insel scheint also schon lange als Ort der Verbannung bekannt gewesen zu sein. Doch zumindest in der Joseon-Zeit wurde sie in Bezug auf die Zahl der Verbannten von den Inseln Jeju-do und geoje-do übertroffen. Bedenkt man zudem, dass statistisch gesehen zu Beginn der Joseon-Zeit einer von vier Beamten ins Exil geschickt wurde, dürfte die hohe anzahl von Verbannten heuksan-do nicht unbedingt in Verruf gebracht haben. Wie dem auch sein mag: am stärksten zur Bekanntheit der Insel beigetragen hat der gelehrte Jeong Yak-jeon (1758-1816), der anfang des 19. Jhs nach heuksan-do ins Exil geschickt wurde. Die Brüder Jeong Yak-jeon, Jeong Yak-jong (1760-1801) und Jeong Yak1 yong (1762-1836) waren intelligent und hochbegabt, sodass sie die gunst von König Jeongjo (reg. 1776-1800) erlangten und als hofbeamten in sei1 Choe Ik-hyeon, einem hofbeamten der späten Joseon-Zeit, der wegen seines Widerstandes gegen den Vertrag von ganghwa (1876) nach heuksan-do verbannt wurde, wird mit diesem Denkmal im Dorf Cheonchon-ri für seinen Patriotismus und seinen Einsatz für die Bildung der Jugend gedacht. auf dem Felsen dahinter findet sich eine Choe zugeschriebene Inschrift, die betont, dass „das Koreanische reich eine unabhängige nation mit einer langen und großen geschichte sei“. 2 Die Schule Sachon, in der Jeong Yak-jeon während seines Exils die Dorfkinder unterrichtete, wurde auf einem hügel des Dorfes Sa-ri nachgebaut.


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Eine komplizierte Verwicklung von Faktoren wie die Tyrannei der herrschenden Schicht, die komprimiert als „Korruption der Drei Quellen der Nationalen Finanzen“ beschrieben wird, das harte, leidvolle Leben der Inselbewohner, die am untersten Ende der gesellschaftlichen Strata angesiedelt waren, sowie die Verehrung und das Mitleid, das sie dem im Exil unter ihnen lebenden aufrichtigen Gelehrten entgegenbrachten, führten zur Entstehung der düsteren, traurigen Legende vom Schwarzen Berg. nen Dienst traten. Die drei konfuzianischen gelehrten waren auch Wissenschaft und gedankengut aus dem Westen gegenüber aufgeschlossen und nahmen sogar den katholischen glauben an. Doch 1801, ein Jahr nach dem Tod von König Jeongjo, der den katholischen glauben toleriert hatte, begann die Katholikenverfolgung in Korea. Jeong Yak-jong starb den Märtyrertod, Jeong Yak-jeon und Jeong Yak-yong wurden ins Exil geschickt. Bis zu seinem Tod verbrachte Jeong Yak-jeon neun von seinen 16 Exiljahren auf der Insel Ui-do, die damals So-heuksan“ (Kleines heuksan) genannt wurde, und sieben Jahre auf der Insel heuksan-do, zu der Zeit als „Dae-heuksan“ (großes heuksan) bekannt. Den name „heuksan-do“ evoziert bei den Koreanern gleich mehrere historische Szenen und Begebenheiten. als nach dem Untergang des Joseon-reichs das goryeo-reich gegründet wurde, zwang die neue regierung die Bewohner der Insel heuksan-do zur Umsiedlung nach Yeongsanpo, einem hafen auf dem südwestlichen Festland in der Provinz Jeollanam-do. Diese im rahmen der sog. „Leere Insel“-Politik durchgeführte Maßnahme, die mit den häufigen angriffen japanischer Piraten begründet wurde, schnitt nicht nur heuksan-do von der außenwelt ab, sondern führte im 15. Jh auch zum völligen Zusammenbruch des Seehandels in Ostasien.

Damit verschwand heuksan-do gänzlich hinter den Kulissen der geschichte. Zu einer Zeit, in der sich die Europäer auf das Zeitalter der Entdeckungen vorbereiteten, schlugen das Joseon-reich und Ming-China ironischerweise erneut den Weg der abschottung ein. Erst ab dem 17. Jh, also nach der japanischen Imjinwaeran-Invasion (1592-1598), zog die Insel wieder Menschen an. Die zentrale Kontrolle des Joseon-hofs über die ländlichen regionen war im Zuge der verheerenden kriegerischen auseinandersetzungen mit Japan eindeutig schwächer geworden und heuksan-do war der ideale Zufluchtsort für alle, die nach einem neuen Stück Erde suchten, wo sie Unterschlupf finden und frei von jeder gesellschaftlichen Diskriminierung und Unterdrückung in Freiheit leben konnten. Die Lebensumstände waren zwar hart, doch die natur behandelte wie schon seit Tausenden von Jahren alle gleich. Bei einer Tour über die Insel stößt man überall auf gedenktafeln mit den namen der ersten Siedler. Die meisten von ihnen kamen im 17. Jh auf die Insel und hinterließen nachfahren. Später, zu Beginn des 19. Jhs, führte eine komplizierte Verwicklung von Faktoren wie die Tyrannei der herrschenden Schicht, die komprimiert als „Korruption der Drei Quellen der nationalen Finanzen“ beschrieben wird, das harte, leidvolle Leben der Inselbewohner, die am untersten KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 17


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Ende der gesellschaftlichen Strata angesiedelt waren, sowie die Verehrung und das Mitleid, das sie dem im Exil unter ihnen lebenden aufrichtigen gelehrten entgegenbrachten, zur Entstehung der düsteren, traurigen Legende vom Schwarzen Berg. Das ist wohl auch der grund, warum viele literarische Werke rund um Jeong Yak-jeon verfasst wurden, der im Exil die Meerestiere in den Inselgewässern erforschte und kategorisierte und seine Erkenntnisse in dem meeresbiologischen Werk hyeonsan Eobo, einer Enzyklopädie der Fischarten von heuksan-do, der nachwelt hinterließ. Im Vorwort der Enzyklopädie schreibt Jeong Yak-jeon: „Da der name ‚heuksan (黑山)‘ so düster und trostlos klingt, dass er angst einflößt, pflegten die angehörigen meiner Familie für die Insel den freundlicher klingenden namen ‚hyeonsan (玆山)‘ zu verwenden.” Im ganzen asiatischen Kulturraum einschließlich Korea und China steht die Farbe Schwarz für die nördliche himmelsrichtung. Das mittlere gebiet der Südmeerroute wird „Schwarzes Wasser” genannt, weil das gebiet aus der Sicht von Südchina im norden liegt. auch in Illustrierte aufzeichnungen der chinesischen gesandtschaft nach Korea während der regierungszeit von Xuanhe von Xu Jing wird klargestellt: „Das Schwarze Wasser steht für das nördliche Meer.“ Folglich ist „heuk-san“ (Schwarzer Berg) ein im norden gelegener Berg, und „Kuroshio“ eine Meeresströmung, die in richtung nordosten an Japan vorbeifließt; in chinesischen Schriftzeichen „heuk-jo (黑潮)“ (Schwarze Strömung). neben der Bedeutung „schwarz“ hat das chinesische Schriftzeichen „黑“ (im Koreanischen „heuk“ gelesen, „hei“ auf Chinesisch und „kuro“ auf Japanisch) negative Konnotationen wie „düster“ oder „falsch“. Daher ist es einsichtig, dass die Briefeschreiber „黑 (heuk)“ durch „玆 (hyeon)“ ersetzten, ein Zeichen, das neben „schwarz“ auch „fern“, „weit weg“ bzw. „tiefgreifend“ bedeuten kann. Diese asso18 KoREANA Sommer 2016

1 Die Insel heuksan-do, die von der nachbarinsel Jang-do aus zu sehen ist, ist in nebelschleier gehüllt. 2 Eine dreistöckige Pagode und eine Steinlaterne auf dem geländes des Musim-sa Meditationszentrums belegen, dass der Tempel im 9. Jh gebaut und bis ins 14. Jh betrieben wurde. 3 Eine gruppe von Dolmen in Jin-ri weist darauf hin, dass die Insel bereits vor dem Bronzezeitalter bewohnt war.

ziationen in Verbindung mit heuksan-do scheinen individueller natur zu sein, haben aber zugleich auch universelle, persönliche sowie gesellschaftliche aspekte. In diesem Sinne spiegeln sie die Wünsche und haltung der heutigen Koreaner gegenüber dem Leben wider.

Muschelabfallhaufen und dolmen Wann siedelten die ersten Menschen auf heuksan-do? Warum kamen sie auf die Insel? Solche Fragen gehen weit hinaus über die verstaubten Vorstellungen von historischen Zeitaltern, die in den wenigen schriftlich überlieferten aufzeichnungen einer handvoll von Menschen hinterlassen wurden. Laut Wissenschaftlern bildeten sich die heutigen Klimabedingungen heraus, als vor rund 25.000 Jahren die Würm-Kaltzeit, die letzte Eiszeit, endete und die Erwärmung begann. Zu der Zeit hatte die gletscherschmelze noch nicht begonnen, sodass der Meeresspiegel ca. 140 m niedriger als heute lag. Stellen wir uns einmal die Küstenlinie von heuksan-do zu dieser Zeit vor: Das heuksan-archipel, das aus 296 bewohnten und unbewohnten Inseln besteht, dürfte eine einzige Landmasse gewesen sein, und die koreanische halbinsel wird an das chinesische Festland sowie an die Inseln Japans angegrenzt haben. Das milder gewordene Klima wird die Menschen an die Küste gezogen haben, wo sie dann vom Fischfang lebten. Die abenteuerlustigeren werden den Walen, den wertvollsten nahrungsmittelslieferanten, gefolgt sein. Einige werden reiskörner dabeigehabt haben. Mit der agrar-


kultur stehen die Dolmen in engem Zusammenhang. In Ostasien weisen die Dolmenstätten eine ringförmige Verbreitung auf: Sie erstrecken sich über die Provinz Zhejiang und die halbinseln Liaodong und Shandong in China sowie entlang der koreanischen Westküste. anschauliche Beweise dafür sind der Muschelabfallhaufen, der nicht weit entfernt vom Passagierfähren-Terminal von heuksan-do in Ye-ri entdeckt wurde, sowie die etwas oberhalb davon befindlichen Dolmen südlichen Stils, die in einer reihe auf dem hügel in Jin-ri stehen. Erst vor 4.000 Jahren hat der Meeresspiegel sein heutiges niveau erreicht. Das gebiet des heutigen heuksan-hafens könnte in den letzten 4.000 Jahren als Bootsanlegestelle gedient haben. Doch kehren wir in die schriftlich belegte geschichte zurück. In einer etwa 1.000 Jahre alten aufzeichnung ist nachzulesen: „heuksan [Schwarzer Berg] befindet sich südöstlich von Baeksan [Weißer Berg]. Beide liegen einander nahe gegenüber. auf den ersten Blick erscheint heuksan sehr hoch und steil, aber aus er nähe betrachtet ist zu erkennen, dass sich ein gipfel dicht über dem anderen erhebt. In der Mitte der kleinen gipfelerhebung auf der Vorderseite gibt es eine aushöhlung, eine art geheime höhle, groß genug, um ein Schiff dort zu verstecken.“ – auszug aus Xuanhe fengshi gaoli Tujing . Der name „Jin (dt.: Stützpunkt)“ des Dorfes Jin-ri, in dem die Dolmen stehen, leitet sich davon ab, dass sich im Dorf ein Flottenstützpunkt befand. Wie aus dem Zitat zu ersehen, verfügte der hafen heuksan über hervorragende natürliche Bedingungen. Er dient auch heute noch als Stützpunkt und Versorgungsstation für die Fischereiindustrie, ist rastplatz und Zufluchtsort vor Wind und Wetter. Von april bis Oktober strömen die Fischerboote aus dem Umkreis hierher und ein großer Fischmarkt öffnet seine Tore. Er ist wiewohl nicht so groß wie der auf dem offenen Meer abgehaltene Fischmarkt Pasi, der bis in die 1970er Jahre florierte. Fische wie Jackmakrelen, Makrelen, gelbfische, haie, Degenfische und raurücken-nagelrochen werden in großen Mengen gefangen.

Landrouten, Himmelsrouten Die 25,4 km lange Küstenstraße, die um die Insel heuksan-do herumläuft, wurde erst vor 16 Jahren angelegt. Wegen der tiefen Berge und dichten Wälder dauerte es 26 Jahre bis zur Fertigstellung. Jedes Dorf auf der Insel hat eine eigene anlegestelle, denn die Seewege sind viel schneller und sicherer als das über-

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land-Straßennetz. Fährt man vom Dorf Jin-ri, am heiligen Berg Dang-san vorbei und biegt dann links in die Küstenstraße ein, kommt man zur historischen Stätte eines gasthauses für ausländische gesandte und eines buddhistischen Zen-Zentrums des Tempels Musim-sa. Die jüngste geophysikalische Prospektion identifizierte den ehemaligen Standort des gasthauses, dessen Existenz nur schriftlich überliefert war; die Steinpagode und -laterne sprachen zwar für eine Tempelanlage, doch die Entdeckung eines Stücks von einem konvexen männlichen Dachziegel mit der Beschriftung „Musim-sa Seonwon“ bestätigte schließlich den namen des Tempels. hier werden Menschen in alter Zeit für Sicherheit und Wohl derjenigen, die übers Meer fuhren gebetet haben. Läuft man den sich den Berg hochwindenden Weg hoch, kommt man vorbei an der Festung Banwol-seong in den Bergen Sangna-san, die Jang Bo-go (?-846), der „König des Meereshandels“, anfang des 9. Jhs errichtet haben soll, um angriffe aus dem ausland abzuwehren. auf der Bergspitze befinden sich eine Signalfeuer-anlage und eine ritualstätte. all diese relikte sind Spuren der maritimen Kultur, die bestätigen, dass die Insel heuksan-do ein wichtiger Stützpunkt des Seehandels war. auf dem Weg zum Dorf Sari, in dem Jeong Yak-jeon die Dorfschule Sachon Seodang zur Unterrichtung der Dorfkinder eingerichtet haben soll, versperrt eine sich lang erstreckende Insel hartnäckig den Blick aufs Meer. Es ist die Insel Jang-do. Dort befindet sich in gipfelhöhe ein hochmoor mit Torflagerstätten, was für eine Insel ungewöhnlich ist. Das hochmoor versorgt nicht nur die Inselbewohner mit sauberem Trinkwasser, sondern bietet auch einen Lebensraum für rund 500 arten von Lebewesen. Es gab einmal Pläne, das Feuchtgebiet in eine Farm zu verwandeln, doch die Dorfbewohner kauften es auf, um es zu erhalten. 2005 wurde sein ökologischer Wert anerkannt und es wurde in die ramsar-Liste aufgenommen. nachdem die regierung anfang 2016 erklärt hatte, auf heuksan-do einen kleinen Flughafen mit einer Piste von 1,2 km Länge bauen zu wollen, sollen die grundstückspreise ins Wanken gekommen sein. Falls das Flughafen wie geplant bis 2020 fertig gestellt sein sollte, könnte ein Propellerflugzeug die Insel von Seoul aus in einer Stunde erreichen. Der Tag, an dem frischgebackene Ehepaare im Flugzeug beim anblick des heuksan-archipels zur ihren Füßen in Freudenschreie ausbrechen, scheint also nicht mehr so fern zu sein.

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SPEZIAL 3 Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

dIE SALZGäRtEN VON SINAN das sonnengetrocknete Meersalz, Resultat der Kombination von Meerwasser, Sonnenwärme, Wattenmeerbrisen und mühsamer menschlicher Arbeit, ist ein repräsentatives lokales Produkt des Kreises Sinan-gun: Ca. 70% der SolarsalzProduktion des Landes wird hier getätigt. die Salzgärten Sinans, gesegnet mit natürlichen Gegebenheiten – hier ist das Leben der Inselbewohner quasi integraler bestandteil der unverwechselbaren Landschaftsszenerie. Kim Young-ock Freiberufliche autorin Fotos Ahn Hong-beom

1 Ein Salinenarbeiter, der mit einer Wassertretmühle (Mujawi) das Meerwasser an die Oberfläche befördert. heutzutage wird diese arbeit meist von Motorpumpen übernommen. 2 nachdem das Meerwasser in über 20 Einzelschritten in den Verdunstungsbecken getrocknet worden ist, wird es mit holzrechen in den Kristallisierungsbecken geerntet. 1

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or einiger Zeit verbrachte ich eine nacht auf der Insel Docho-do im Kreis Sinan-gun. Der regen klopfte unablässig auf das Dach meiner Unterkunft, die sich gleich neben der Fähranlegestelle befand. Da das Motel direkt an der Küste lag, hatte ich mich schon auf eine lange, schlaflose nacht gefasst gemacht. Doch Wind und Wellen blieben ruhig und ich schlief den tiefen, süßen Schlaf des Wanderers. Man sagte mir, dass es im Kreis Sinan-gun, dessen Küstenlinien stark zerklüftet sind, über 500 Badestrände gebe, die nur den Inselbewohnern bekannten Orte, an denen Baden möglich ist, nicht mitgerechnet.

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frühlingserwachen der Salzgärten auf den zum Kreis Sinan-gun gehörenden Inseln wie Shinui-do, Jeung-do, Bigeum-do und Docho-do finden sich weitläufige Salzfelder, die im Oktober in den Winterschlaf fallen, um Ende März, anfang april wieder zu neuem Leben zu erwachen. Den Winter überlassen sich die erschöpften Salzgärten dem Wattenmeer und 22 KoREANA Sommer 2016

ruhen aus. In dieser Zeit setzen die Salzbauern die vom Meersalz angefressenen Schleusen instand, bessern die Deiche aus und säubern die Salzbecken. Von april bis Oktober ist Erntezeit; hochsaison ist dabei von Mai bis September. Die arbeit in den Salzgärten von Sinan beginnt jeweils am 28. März, um an den historischen 28. März 2008 zu erinnern, als das Solarsalz offiziell aus der Kategorie „Mineralien“ genommen und als „Lebensmittel“ eingestuft wurde. Das Wattenmeer an der südkoreanischen Westküste gehört zu den fünf bedeutendsten Wattenmeeren der Welt. Das Salz aus dem Watt von Sinan, das 44% des gesamten Wattgebiets der Westküste einnimmt, hat einen besonders hohen Mineralgehalt und eine tiefe geschmacksnote, da die topographischen Merkmale der region für viel Sediment sorgen, sodass das Salz stark mit organischen Substanzen angereichert wird. Durch die dicken Wattschichten, die sich auf dem felsigen Untergrund gebildet haben, zieht sich ein adergleiches geflecht von Priele, die von den Inselbewohnern


Der Start war am kritischsten: Bei dem Salzgarten, den er geerbt hatte, war es schwierig, den rohstoff für die Salzproduktion, also das Meerwasser zu dem hoch gelegenen reservoir zu leiten, sodass er oft gar kein Salz produzieren konnte. Fünf Winter lang heuerte er arbeiter an und lieh ausrüstung wie Bagger aus, um neue Wasserwege anzulegen, durch die zweimal täglich das Meerwasser zum und aus dem reservoir hinein- bzw. hinausgepumpt werden konnte. als Ergebnis seiner Bemühungen wird in seiner Saline heute stets frisches Meerwasser verwendet, während in anderen Salinen große Meerwasservorräte im reservoir gespeichert und bei Bedarf verarbeitet werden. In den Wintermonaten, wenn die Salzproduktion ruht, sind einige wichtige aufgaben zu erledigen: Die Böden der Salzfelder, in denen das Salz das Jahr über produziert wurde, müssen wenigstens bis zu einer Tiefe von 10 cm umgegraben werden, um moosartige ablagerungen zu entfernen und die Luftzirkulation zu verbessern. Ist die Erntemenge dennoch enttäuschend, werden die Böden alle paar Jahre einmal mithilfe eines Baggers noch tiefer umgegraben. Darüber, wann das am besten geschehen sollte, gehen die Meinungen auseinander: Einige plädieren für november, wenn die Salzernte gerade unter Dach und Fach ist, aber Bak bevorzugt Ende Januar oder anfang Februar. Damit versucht er, die ablagerungen zu minimieren, die entstehen, wenn es regnet, bevor sich die Salzkristalle ordentlich formen können.

Der 65-jährige Bak Seong-chang, der auf der Insel Docho-do den nach ihm benannten Salzgarten Seongchang Yeomjeon betreibt, ist später als andere ins Salzgeschäft eingestiegen. Nachdem er lange Zeit als Grundschullehrer tätig war, kehrte er 2007 in seinen Heimatort zurück und übernahm die Meersaline seines Vaters. Sein später Einstieg hat sein Engagement und seine Entschlossenheit, qualitativ hochwertiges und schmackhaftes Salz, dessen Qualität die Kunden überzeugt, zu produzieren, nur entsprechend vervielfacht. bak Seong-chang von der Saline Seongchang Yeomjeon auf docho-do

In der ca. 330m2 großen Trockenstätte, die sich neben dem 4 ha großen Salzgarten befindet, hängen reihen schwerer Säcke von je 1.200 kg gewicht herunter. anstatt des herkömmlichen Verfahrens zum abfließen der Meerwassermutterlauge, bei dem die Salzsäcke auf gelöcherte, flache Paletten gestellt werden, hat Bak sich diese Methode ausgedacht, bei der die Lauge aus den hängenden Säcken sickert. Bak sagt, dass es nur fünf Tage dauert, bis die ganze Lauge aus den aus einem Spezialmaterial gefertigten Säcken getropft ist. Es fallen aber auch Säcke mit der aufschrift „Jahrgang 2011“ ins auge. Solche Säcke, aus denen die Feuchtigkeit hinreichend entwichen ist, wiegen bis zu 650-750 kg. Der Salzbauer betont, dass für den geschmack des Salzes weniger der Prozess der Ernte als der Prozess des Lagerns und reifens ausschlaggebend sei. Die Saline Seongchang Yeomjeon hat das ISO 22000 Zertifikat für Lebensmittelsicherheit von der Korea Certification association erhalten. Bak wurde auch von der regierung der „Preis für neue Intellektuelle“ verliehen, der an Bürger geht, die „auf Basis vorhandenen Wissens neuen Mehrwert schaffen und herkömmliche arbeitsmethoden durch Laterales Denken innovieren“. Der Stolz darauf, als erster Salzbauer mit dem Titel des „neuen Intellektuellen“ ausgezeichnet worden zu sein, scheint Bak zu noch größeren Leistungen anzuspornen.

als „gaetgol“ bezeichnet werden. Diese Priele verleihen der Landschaft des Sinan-Wattenmeers ihre einzigartige note und stellen dank ihrer Selbstreinigungs- und Klärkraft quasi die Lungen des Watts dar.

Entstehung der Salzgärten von Sinan Traditionell wurde in Korea Salz gewonnen, indem man Meerwasser in einem Eisenkessel zum Sieden brachte und verdunsten ließ. Die herstellung von natursalz mithilfe von Sonne und Wind wurde 1907, drei Jahre vor der japanischen annexion, von den Japanern eingeführt, die im zur hafenstadt Incheon gehörigen Juan versuchsweise Salzgärten anlegten. Die ersten Meersalinen in Sinan wurden erst 1946, also ein Jahr nach der Befreiung, angelegt. Ein Mann namens Park Sam-man aus Bigeum-do, der nach seiner Zwangsrekrutierung durch die japanischen Besatzer in einem Salzgarten in der Provinz Pyeongannam-do (heute nordkorea) gearbeitet hatte, kehrte nach der Befreiung auf seine heimatinsel zurück,

2 1, 2 Eine Schubkarrenladung Salz wird in den Salzspeicher gebracht. Der Salzspeicher ist so gebaut, dass die Salzwassermutterlauge abfließen kann. Dafür wurden unter den holzplanken des Bodens abflusskanäle angelegt und hölzerne Stützpfosten angebracht.

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„Ich gehe morgens um sieben zur arbeit und komme bei Sonnenuntergang nach hause.“ Der über 80-jährige Yi Moon-seok hat trotz seines hohen alters immer noch einen geraden rücken und klare augen. Jeden Morgen geht er zum Salzgarten, macht seinen rundgang in dem von Tae Pyung Yeomjeon betriebenen Salzpflanzen-garten oder hilft bei der arbeit auf den Salzfeldern aus. Yi, der auf Jeung-do geboren wurde und nie woanders gelebt „Zuerst arbeitete ich bei der hat, weiß aus den Erzählungen Nationalen Landwirtschaftlider alten Inselbewohner, dass die chen Genossenschaft Nonghyup. Salzbauern früher ganz anders Da ich aber in der Nähe eines gearbeitet haben: Um den SalzSalzgartens lebte, dachte ich, es gehalt zu bestimmen, probierwäre besser, dort zu arbeiten, te man die Sole einfach mit der statt ständig die lange Pendelei Zunge; eine andere Methode war, auf mich zu nehmen. Eigentausgehöhlte Mungobohnen oder lich wollte ich nicht lange in der nüsse mit Kiefernharz zu füllen Saline arbeiten, aber jetzt sind es und auf der Sole schwimmen zu schon 40 Jahre. Die Salzbauerlassen, um an der geschwindigarbeit ist so schön friedvoll und keit ihres Sinkens den Salzgehalt beständig...“ abzuschätzen. heutzutage verwendet man dafür ein SalimeYi Moon-seok von der Saline ter namens „Ppomae“ (falsche tae Pyeong Yeomjeon auf Jeung-do aussprache des Erfindernamens Baumé). Die alten Wasserräder, mit denen man früher das Meerwasser zum reservoir transportierte, wurden durch motorgetriebene Wasserpumpen ersetzt. Und während das Salz früher mit Schubkarren transportiert wurde, übernehmen diese arbeit nun auf Schienen laufende Karren. auch die Strohsäcke, in denen früher das Salz transportiert wurde, sind verschwunden. Man braucht das Salz nicht einmal mehr auf eine Tragbahre zu schaufeln, denn das auf das Transportband geladene Salz wird automatisch zu den Karren befördert. Obwohl Yi harte Zeiten erlebt hat, habe er keine besonderen ratschläge für die jüngeren Salzbauern. Er sagt in gelassenem Ton: „Das sind alles Dinge, die im arbeitsalltag vor Ort gelernt werden.“ Vielleicht dachte er, dass seine antwort nun doch zu kurz ausgefallen ist, jedenfalls fügt er hinzu, dass er es eher als der Wetterdienst verspüre, wenn es plötzlichen regen geben soll. über sein gesicht huscht dabei ein flüchtiges, aber doch recht deutliches Lächeln des Stolzes. Wenn der vom Meer her wehende Wind den brackigen Wattgeruch herübertrage, bedeute das regen. Wie sollten sich solche Dinge in mündlicher oder geschriebener Form weitergeben lassen? Sein Wunsch sei, den rest seines Lebens wie Salz zu leben: Salz mag den Dingen Feuchtigkeit entziehen, aber es verändert sie nicht an sich.

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1 Der arbeitstag eines Salzbauern beginnt um drei oder vier Uhr früh. Da die Salzgewinnungssaison höchstens fünf Monate pro Jahr dauert, muss jede Minute ausgenutzt werden. 2 Im Kristallisierungsbecken beginnt sich eine dünne Kruste zu bilden. Die „Salzblumen“, die sog. Salzsamen, blühen und wachsen, um dann allmählich auf den Boden zu sinken und sich in richtige Kristalle zu verwandeln.


„Die Geschichten der Sinan-Inseln auch nach dem Hinscheiden der älteren Inselbewohner lebendig zu halten und die in unseren Dörfern tradierte Kultur wiederzubeleben und weiterzugeben – meiner Meinung nach ist es gerade dieses Streben, das das anhaltende Prosperieren der Meersalinen garantieren kann.“

wo er, die gelernten Techniken anwendete. nach der anlage von gurim Yeomjeon, der als „erster Salzgarten der honam-region“ (honam: die Provinzen Jeollanam- und Jeollabuk-do) anerkannt ist, entstanden weitere Salzgärten in der Umgebung. 1948 wurde eine genossenschaft aus 450 haushalten gegründet, die die über 100 ha große Saline Daedong Yeomjeon anlegte. Laut den angaben des Sinan-Bezirksamtes erzielen die 226 Salzgärten auf Bigeumdo einen Jahresumsatz von ca. 10 Mrd. KW (rd. 7,7 Mio. Euro). 1953, kurz nach Ende des Koreakriegs, wurde auf der Insel Jeungdo im rahmen der hilfsmaßnahmen für Kriegsflüchtlinge ein großprojekt zur Landgewinnung durchgeführt, bei dem die Wasserstraße zwischen den Inseln Jeon(Vorder)-Jeung-do und hu(hinter)-Jeung-do aufgefüllt wurde. auch diejenigen, die es während des Kriegs auf die Inseln verschlagen hatte und die nach Kriegsende nicht in ihre heimatorte zurückkehren konnten, halfen dabei, im Wattenmeer zwischen den Inseln Deiche aufzubauen und Salzfelder anzulegen. So entstand in harter arbeit und ohne anständige Werkzeuge der Daepyeong Yeomjeon, der Vorgänger von Tae Pyung Yeomjeon, der heute mit 300 ha größte Salzgarten des Landes. Mit einer Jahresproduktion von 16.000 Tonnen stellt er ca. 6% der landesweiten Salzproduktion.

Vom Meerwasser zum Salz In einem Salzgarten wird das Meerwasser mithilfe von Sonne und Wind verdunstet. Dafür wird es zunächst in einem reservoir gestaut, damit sich Verunreinigungen am Boden sammeln. anschließend wird es aus einem höheren Verdunstungsbecken in ein etwa 5cm tiefer gelegenes gepumpt. Während dieser Vorgang in 10 bis 20 Schritten in weiteren Verdunstungsbecken wiederholt wird, steigt der Salzgehalt des Meerwassers: Beträgt der Salzgehalt im reservoir nur ca. 3%, so liegt er bei ankunft im Kristallisierungsbecken (Endverdunstungsbecken) bei bis zu 25%. Es dauert ungefähr 20 Tage, bis das Meerwasser den Weg vom ersten Verdunstungsbecken bis zum Kristallisierungsbecken zurückgelegt hat und aus Wasser Salz geworden ist. Im Kristallisierungsbecken bildet sich zunächst eine feine, hauchdünne Salzkristallschicht: D.h. die „Salzblumen“ beginnen zu „blühen“. haben sie eine gewisse größe erreicht, sinken sie zu Boden. Es hängt von den jeweiligen klimatischen Bedingungen ab, aber an heißen Sommertagen versinken die Salzblüten bereits 30 Minuten nach der Bildung. Die ursprünglich hohlen Innenräume der wachsenden hexaedrischen Salzkristalle füllen sich mit der Zeit. Die Salzkristalle, die bei diesem inneren und äußeren ausfüllprozess risse KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 25


1 1 Im Salzpflanzengarten der Saline Tae Pyung auf der Insel Jeung-do wachsen Salzpflanzen wie Meerfenchel, Japanisches Blutgras und Strand-Sode, die wunderschöne Landschaftsbilder zaubern. 2 In der Erlebniszone des Salzmuseums der Saline Tae Pyung versuchen sich die Besucher im Zusammenrechen von Salz.

erhalten, gelten als qualitativ hochwertig. Die risse sorgen dafür, dass die aufgenommene Feuchtigkeit wieder freigesetzt werden kann. Ohne risse lösen sich die Salzkristalle zwar in Wasser auf, aber es kommt – wie bei einem glaskorn – nicht zur Luftzirkulation. Während die Salzkörner reifen, weht mal der feuchte Süd- oder Südostwind, mal der trockene nord- oder nordwestwind. Feuchter Wind erhöht zwar die Produktionsquantität, schadet aber der Qualität. Beginnt es plötzlich zu regnen, muss das Meerwasser aus dem Verdunstungsbecken schnellstmöglich in Lagertanks geleitet werden, weshalb die Salzbauern ihre Salzgärten keinen Moment aus den augen lassen dürfen. Das gewonnene Salz wird eine Zeitlang gelagert, um den letzten rest Meerwassermutterlauge zu entfernen. Je länger dieser natürliche Verdunstungsprozess, desto intensiver der Salzgeschmack.

Weitergabe der Salzgartenkultur Mit dem agrarabkommen der Uruguay-runde wurde 1997 der

Um 1948, als auf der Insel Bigeum-do die Saline Insel verkauft wurden, immer noch im Besitz der Daedong Yeomjeon angelegt wurde, richtete man Inselbewohner und deren nachkommen. 2007 im gebäude der heutigen Bigeum grundschule wurde der Salzgarten zum „Besonders sehensdie „ausbildungsstätte für Solarsalzbauern“ ein, werten, lebendigen Kulturerbe der Moderne“ um arbeitskräfte für Meersalinen auf den nachbestimmt. barinseln auszubilden. Einer der großinvestoIm haus ihrer Schwiegereltern in der Ortschaft ren war Myeong Man-sul, zu der Zeit ein großer Jidang-ri auf Bigeum-do gibt es immer noch Schiffseigner. In den 1960er Jahren übernahm reichlich Spuren, die an Salinengründer Myeong Myeong dann die Saline. Man-sul erinnern. Dazu gehören z.B. die sau1981 heiratete Choi hyang-soon Myeongs zweiber quadratierten Steine, die für den Bau einer tältesten Sohn, Myeong O-dong, mit dem zusamSiedestätte gedacht waren. Daraus wurde aber „Ich zögere keine Sekunde, men sie heute den Salzgarten führt. als Choi nach nichts, weshalb die Steine später für den Bau der überall hinzugehen, wenn ich der heirat im Stammhaus bei den SchwiegerelEinfriedemauer des hauses und eines Lageretwas über die Herstellung tern lebte, hörte sie viele geschichten über ihren raums genommen wurden. von Solarsalz lernen kann. In Schwiegervater und die Meersaline. Sie erzählte, als Choi ihrem Mann auf die Insel folgte, wussGuérande in Frankreich war dass die Älteren der Familie im herbst in ihrem te sie so wenig über einen Salzgarten, dass sie ich schon zweimal, und auch die haus zusammenkamen und dass es unter ihnen glaubte, man müsse „das herumliegende Salz Salzgärten in Sizilien und Vietnicht nur Salzbauern gab, sondern auch Leute, nur mit einem Besen zusammenfegen“. heute ist nam habe ich schon besucht. die die Wasserräder für den Meerwassertranssie eine erfolgreiche Salzproduzentin, die letztes Eins wurde mir dabei völlig klar: Jahr zusammen mit ihrem Mann, der von anderen port oder die Strohsäcke zum Salztransport herAlles ist Solarsalz, aber diese stellten. Eine der geschichten, die Choi von ihrer aufgrund seiner überschäumenden Willens- und Länder sind in der SekundärverSchwiegermutter hörte, begeistert sie heute Tatkraft als „besessen“ bezeichnet wird, rund tauarbeitung weiter.“ noch: Die Saline gehörte zwar ihrem Schwiegersend 20Kg-Säcke Salz produzierte. Ein Salzgarten vater Myeong Man-sul, doch er sah sie nicht als bedarf beständiger Investitionen. Choi nimmt jede Choi Hyang-sun von der Saline sein Privateigentum, sondern als gemeinbesitz anstrengung auf sich, wenn es darum geht, mehr Namil Yeomjeon auf bigeum-do aller Bewohner der region, die durch ihrer hände über Solarsalz zu lernen. Was die Vertiefung in die arbeit die eigentlichen hersteller waren. Daher teilte er die SalzMaterie und die künftige richtung der Industrie betrifft, übertrifft felder auf und übergab das Eigentumsrecht an die Inselbewohihr leidenschaftlicher Ehrgeiz vielleicht auch den ihres Mannes. ner. Deshalb ist Daedong Yeomjeon, die durch die gemeinsamen Choi, die als erste Frau das amt des Dorfvorstehers von Biguemanstrengungen der Inselbewohner aufgebaut wurde, im gegendo innehatte, leitet heute ein Komitee zur Einrichtung einer Bigeum satz zu anderen Salinen, die an Drittpersonen von außerhalb der Solarsalz-region, zu der die fünf Dörfer von Jidang-ri gehören.

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koreanische Salzmarkt geöffnet und es kamen Zweifel an der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit des Sinaner Solarsalzindustrie auf. Einige Salzgärten mussten tatsächlich schließen. Doch da das Solarsalz in der traditionellen koreanischen Küche, die ohne fermentierte Lebensmittel wie Kimchi oder Sojasoße nicht denkar ist, eine Schlüsselrolle spielt, konnte die Krise gut überwunden werden. Manche Stärken des Solarsalzes sind aber leider nur schwer nachzuweisen: Beim Vergleich der Werte einer Komponentenanalyse von Stein-, Koch- und Solarsalz werden die indigenen Mikroben im Solarsalz, die eine wichtige rolle bei der Fermentierung spielen und seit jeher für unser körperliches Wohl sorgen, übersehen. auch die Tatsache, dass das koreanische Solarsalz fünf verschiedene geschmacksnoten hat, ist Menschen aus anderen Kulturen, die ihre eigenen kulturellen Präferenzen haben, nur schwer zu vermitteln. heutzutage ist die Saline Tae Pyung Yeomjeon die größte Touristenattraktion der Slow-City Jeung-do. Besucher können im Salzmuseum am Eingang der Saline das Wasserrad drehen und am Erleb-

nisprogramm zur Salzherstellung teilnehmen. Im Botanischen garten sind Salzpflanzen wie Queller, Silberhaargras und Soden zu besichtigen und die künstliche Salzgrotte im Salt Cave healing Center ist ein wunderbarer Ort zum Entspannen. Cho Jae-woo, geschäftsführer von Tae Pyung Yeomjeon, erklärt mit nachdruck: „Tae Pyung Yeomjeon bedient heutzutage drei Sektoren: den Primärsektor durch die Salzproduktion, den Sekundärsektor durch die Salzverarbeitung und den Tertiärsektor durch sein touristisches angebot wie Museumsführungen und Erlebnisprogramme. neben der Steigerung von Produktion und Mehrwert bemühen wir uns, den Fortbestand des gemeinwesens auf der Insel zu sichern, denn das Durchschnittsalter der Salzbauern steigt und das gemeinschaftsbewusstsein lässt nach. Die geschichten der Sinan-Inseln auch nach dem hinscheiden der älteren Inselbewohner lebendig zu halten und die in unseren Dörfern tradierte Kultur wiederzubeleben und weiterzugeben – meiner Meinung nach ist es gerade dieses Streben, das das anhaltende Prosperieren der Meersalinen garantieren kann.“

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SPEZIAL 4 Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

ERINNERuNGEN AN bIGEuM-dO Ich habe sieben Jahre meiner Jugend – also nur ein Zehntel meines gesamten Lebens – auf der Insel bigeum-do verbracht. doch jedes meiner Jahre dort ist in die tiefen meines Gedächtnisses eingeprägt. und die reichen Klänge des bigeum-dialekts meiner Kindheit sind ein teil von mir, der auf meinen Schreibstil als Literaturkritiker abfärbt. Hwang Hieon-san Professor Emeritus, Korea University, Literaturkritiker Fotos Cheon Gi-cheol

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eine heimat ist die Insel Bigeum-do in den Südküsten-gewässern vor der Provinz Jeollanam-do. Die Leute nennen sie „nak-do“, was „abgelegene Insel“ meint, aber bis zu meinem Studienabschluss wäre es mir nie in den Sinn gekommen, zu sagen, dass ich auf einer abgelegenen Insel aufgewachsen bin. Ich dachte, solche Inseln würden ganz woanders existieren. aber Bigeum-do? Eine abgelegene Insel? Von wo soll sie denn abgelegen sein?

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berge, weiße Strände, Sprache Ich habe nicht lange auf Bigeum-do gelebt. Meine Familie zog Ende des 19. Jhs, als die Stadt Mokpo im Zuge der hafenöffnung modernisiert wurde, von der Insel aufs Festland. 1950, als der Koreakrieg ausbrach, suchte sie vor dem Kriegschaos Zuflucht auf Bigeum-do. Zu der Zeit war ich noch ein Kleinkind, das bei der Flucht auf dem rücken getragen werden musste. als wir zurück nach Mokpo zogen, war ich gerade fertig mit der grundschule (6. Klasse), d.h., ich habe nur sieben Jahre auf der Insel gelebt. Doch diese sieben Jahre haben so tiefe Spuren in mir hinterlassen, dass für mich selbst heute noch, mit meinen über 70 Jahren, die Inselmaßstäbe als gradmesser für die Dinge der Welt dienen: Beispielsweise dient mir die Entfernung von 10 Li (ca. 4 km) zwischen der am Kai gelegenen Verwaltungsbehörde von Bigeum-do und meinem Elternhaus im Dorf Jahang als Maßstab für die Erfassung der mit rund 1.000 Li (ca. 400 km) hundertfach größeren Distanz, die zwischen den Metropolen Busan und Seoul liegt. Die höhe eines Berges schätze ich anhand der höhe des Berges Seonwang-san ab. Die größe alter Bäume vergleiche ich mit der der Zürgelbäume in den Westbergen der Insel. Die Landschaft, in der ich auf Bigeum-do aufwuchs, ist für mich der Prototyp aller Landschaften, und die Dinge, die damals meine kleine Welt bildeten, sind der Prototyp aller Dinge: Für mich ist ein weißer Sandstrand der Strand von Wonpyeong, und ein Meer das Meer, auf das ich vom Yongmeori-Felsen in der nähe des hanuneom-Strandbades herunterblickte. Das prägendste ist aber der Bigeum-Dialekt: Für mich ist Koreanisch der Dialekt der Provinz Jeolla-do, genauer gesagt, die Jeollado-Dialektvariante von Bigeum-do. Der Dialekt von Bigeum-do ist verfeinerter und ausdrucksstärker, verglichen mit dem scharf und hastig klingenden Mokpo-Dialekt und er ist nicht so träge wie die Mundart der Insel heuksan-do, die ebenfalls zum Kreis Sinan-gun gehört. Selbst bei einem von Bigeum-do stammenden, hochkoreanisch sprechenden Seouler kann ich aus seiner Sprechweise immer noch die herkunft heraushören. Eines Tages kam ein Monteur zu mir nach hause, um einen Einbauschrank zu installieren. In dem Moment, in dem er zu sprechen begann, schlug mein herz

Die Insel Bigeum-do, auf der sich die Salzfelder eingerahmt von den Bergen im Binnenbereich und der herrlichen Küstenlandschaft erstrecken, ist die erste Insel in Korea, auf der Salzfarmen angelegt wurden.

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höher. Ich fragte ihn nach seiner herkunft und er antwortete, dass er aus Sinan komme. Ich sagte, dass ich auch aus Sinan stamme und fragte, von wo genau er denn her sei, worauf er mit „Bigeum-do“ antwortete. Es stellte sich heraus, dass dieser herr Kim genau wie ich die Bigeum grundschule besucht hatte. auch danach noch haben wir seine hilfe im haus gern und dankbar in anspruch genommen.

Redewendungen, die das Inselleben widerspiegeln Wenn ich als Literaturkritiker anspruchsvollen theoretischen Darlegungen eine gewisse emotionale note verleihen kann, dann ist das den Klängen des Bigeum-Dialekts, der bis heute in mir weiterlebt, zu verdanken. Diese Klangfarben zu beschreiben, ist nicht einfach, aber es reicht schon, einige nur auf Bigeum-do gebräuchliche redewendungen und ausdrucksweisen vorzustellen, um ein gefühl für die einzigartige ausdruckskraft der dortigen Mundart zu vermitteln. hier einige Beispiele, an die sich, wie ich befürchte, nach meiner generation kaum noch jemand erinnern wird. „Ein nodae-Dieb muss auch auf nodae sein“. Das bedeutet, wenn etwas Ungutes wie ein Diebstahl passiert, dann muss dahinter ein „Insider“ oder eine dem Betroffenen nahe stehende Person stecken. Wie jeder Bigeumer weiß, ist nodae-do eine winzige Insel vor der Küste der Ortschaft gasan-ri. als Kind hörte ich, dass es auf der Insel nodae nur zwei haushalte gebe, weshalb die herkunft dieser redewendung nicht schwer zu erraten ist. normalerweise wurde sie folgendermaßen verwendet „Ein nodae-Dieb muss auch auf nodae sein und bestimmt nicht etwa auf Suchi oder Sachi (Inseln)“.

„Da hilft keine Sichel und kein Messer mehr“. Das sagt man, bei einem Fiasko, bei dem man nichts mehr tun kann, um etwas wieder in Ordnung zu bringen. Die geschichte dahinter: Ein alter Mann, der Durchfall hat, rennt nach draußen zum Plumpsklo, kann dann aber den gürtel seiner Stepphose nicht lösen. In panischer hast beschließt er, den gürtel durchzuschneiden und ruft seinem Sohn zu, ihm ein Messer zu bringen. Der kann aber auf die Schnelle kein Messer finden. „Dann bring mir 'ne Sichel!“, schreit der alte. auch das dauert seine Zeit und als der Sohn endlich mit der Sichel ankommt, meint der Vater resignierend, dass es für Sichel und Messer zu spät sei – daher die redewendung. „Wenn mir nur siebenhundert nyang (alte Währungseinheit) vom himmel fallen!“ Diese Wendung wird verwendet, wenn jemand, der finanziell in der Patsche sitzt, von jemand anderem nach geld gefragt wird und andeuten will, dass der andere warten soll, oder dass es unmöglich ist, ihm geld zu geben. Ich habe gehört, dass die Fischer beim Trinken mit hostessen auf dem schwimmenden Fischmarkt Pasi diese Wendung gebrauchten. Wenn die Mädchen sich an die gäste heranmachten und kostspielige geschenke verlangten, sei dieser Satz die antwort darauf gewesen. Diese Wendung bezieht sich also auf einen unrealistischen Wunsch.

Qualitätssalz von bigeum-do Bigeum-do war nicht nur die erste region in Südkorea, in der das sonnengetrocknete Meersalz hergestellt wurde, sondern auch einst die region mit der höchsten Produktionsmenge. auch heute, nachdem die meisten Salzgärten in reis- und ackerfelder umgewandelt worden sind, kommt das qualitativ hochwertigste Salz aus

Die Landschaft, in der ich auf Bigeum-do aufwuchs, ist für mich der Prototyp aller Landschaften, und die Dinge, die damals meine kleine Welt bildeten, sind der Prototyp aller Dinge: Für mich ist ein weißer Sandstrand der Strand von Wonpyeong, und ein Meer das Meer, auf das ich vom Yongmeori-Felsen in der Nähe des Hanuneom-Strandbades herunterblickte. 1 Durch das 400 Jahre alten Dorf naechon mit seinen urtümlichen Einfriedungsmauern erstreckt sich vor einem Felsenberg im hintergrund ein 3 km langer Pfad mit Blick auf weite Felder. 2 Strandbad hanuneom im nordwestlichen Teil von Bigeum-do ist ein kleines Strandbad mit 270m Küstenlinie und eigenem Campingplatz. Es erfreut sich wegen seiner herzförmigen Küstenlinie großer Besucherbeliebtheit.

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Bigeum-do. In meiner grundschulzeit haben die Fünftklässler mit hilfe der Lehrer den Solarsalz-herstellungsprozess untersucht, die Ergebnisse beim nationalen Jugendwettbewerb für naturwissenschaft und Technologie eingereicht und damit den ersten Preis geholt. Ich gehörte auch zu den nachwuchswissenschaftlern, habe aber keine große rolle bei dem Projekt gespielt: Während unsere Lehrer mit Pappmaché ein Salzgarten-Modell gestalteten, rührte ich die Klebemasse an und führte drei Monate lang Beobachtungsprotokoll über den Salzgarten. Doch dank dieser Erfahrung kann ich auch heute noch stundenlang über das Salzherstellungsverfahren wie die röstmethoden erzählen. nicht alle Solarsalze schmecken gleich oder weisen dieselbe Qualität auf. Die älteren Inselbewohner waren durchweg Experten in Sachen Salzgeschmack. Sie brauchten nur ein einziges Korn zu schmecken, um zu wissen, ob es aus einem Salzgarten im Osten oder Westen der Insel stammte, oder ob es im Frühsommer oder im Spätherbst geerntet wurde.

In den tiefen meines Gedächtnisses gespeicherte Zeiten In meinem fünften grundschuljahr verbrachte ich eine nacht bei Freunden, die in der hafenstadt Wonpyeong im nordwestlichen Teil der Insel wohnten. Sie nahmen mich zum Pasi-Fischmarkt mit, doch da die Saison für junge gelbfische bereits vorbei war, hatten die meisten Fischverkäufer bereits alles abgebaut. übrig waren nur noch ein paar provisorische Bauten, die den Fischern als Trinkstuben dienten. Meine Freunde, die von zu hause gerste als Tauschgut mitgebracht hatten, kämmten alle Stuben eine nach der anderen durch, doch sie fanden nichts, was sie für mich hätten „umtau-

schen“ können. In der lezten Stube konnten sie schließlich in einer Ecke noch eine Kiste „Cider“ (eine Limonadenmarke) ausfindig machen. Wenn ich mich recht entsinne, bekam jeder zwei Flaschen, ich als gast bekam eine Flasche extra. auch Limonade kann einen benebeln. Mir wurde schwindelig und schlecht, weshalb ich mich auf dem Sandboden ausstreckte. nach Sonnenuntergang war der himmel mit Sternen bestickt, und der Mond schien hell. Der Chorgesang meiner Freunde erklang gleich neben mir, aber mir kam es so vor, als ob er schwach aus einem weit entfernten Land an mein Ohr dränge. aus noch weiterer Ferne war das geräusch der brechenden Wellen zu hören. Den Sternen am himmel, die um mich herumkreisten, schienen lange Schweife gewachsen zu sein. Im Sand war noch die restwärme des Tages geblieben, die meinen Körper wohlig umhüllte. Es kam mir so vor, als ob ich auf einer riesenhand liegen würde, die mich unaufhörlich sanft wog, oder als ob mein Körper zu einem einzigen Sandkorn geschmolzen wäre und umgeben von anderen Sandkörnern auf den Flügeln des Windes getragen würde. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? als ich schließlich die augen öffnete, war es bereits nach Mitternacht und meine Freunde saßen um mich herum, ihre Blicke besorgt auf mich gerichtet. Dieses Erlebnis ist mir, der ich schreibe, in die tiefsten Tiefen des Bewusstseins eingebrannt. Mir kam es damals so vor, als ob ich kurz in eine andere Zeitdimension eingetreten und wieder zurückgekommen wäre. Ich bezeichne diese Zeitdimension als „die Zeit in der tiefsten Tiefe“. Für mich sind alle Jahre, die ich auf Bigeum-do verbrachte, die Zeiten, die in der tiefsten Tiefe meines gedächtnisses ruhen.

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SPEZIAL 5 Die Inseln von Sinan: Dialog mit unberührter natur

EIN SCHAtZSCHIff, 650 JAHRE LANG IM MEERESSCHLICK GEbORGEN 1323 ging ein Handelsschiff der Yuan-dynastie (1279-1368) auf dem Weg von China nach Japan unter. das Schiffswrack lag über sechseinhalb Jahrhunderte im Meeresschlick in den Gewässern von Sinan vergraben, bevor es nach elf unterwasserausgrabungsaktionen, die von 1976 bis 1984 durchgeführt wurden, schließlich geborgen wurde. das Schiff war beladen mit Artefakten, die Aufschlüsse über den im Mittelalter getätigten Seehandel in Ostasien geben. die bergungsarbeiten waren gewissermaßen der Stapellauf für die koreanische unterwasserarchäologie. 32 KoREANA Sommer 2016

Lee Kwang-pyo Leiter des Meinungsressorts, The Dong-a Ilbo Fotos Ahn Hong-beom


„bergung des Jahrhunderts“ In der annahme, dass an der Fundstelle ein altes Schiff auf dem Meeresboden liege, begann das Kulturerbeverwaltungsamt, ausgrabungspläne aufzustellen. In der Zwischenzeit verbreitete sich die geschichte, dass sich an der Stelle öfters chinesische Keramiken in Fischernetzen verfingen, was schließlich dazu führte, dass Plünderer organisierte Tauchaktionen unternahmen, um an die Schätze zu kommen. als sich die Lage ernsthaft zuspitzte, erklärte das Kulturerbeverwaltungsamt im Oktober 1976 die Stelle um das Schiffswrack bis zu einem Umkreis von 2 km zum Kulturerbe-Schutzgebiet und begann zügig mit den ausgrabungsarbeiten. Mit Unterstützung der Einsatzeinheit für Bergung und rettung aus Seenot (Sea Salvage & rescue Unit; SSU) der südkoreanischen Marine wurden bis 1984 insgesamt elf Bergungsrunden durchgeführt. Der Meeresboden gab Erstaunliches preis: Im rumpf des riesigen Schiffs, das nach links geneigt im Schlick feststeckte, häuften sich wertvolle artefakte. Während Deck und Takelage, die dem Meerwasser ausgesetzt gewesen waren, fast bis zur Unkenntlichkeit zerfallen waren, war der im Schlick vergrabene Teil weitgehend intakt geblieben. Bei seiner Entdeckung war das Schiff 28,4 m lang und maß am breitesten Punkt 6,6 m, der Tiefgang betrug 3,4-3,8 m. Die Unterwasserausgrabungen erwiesen

Das Museum für Maritime artefakte des nationalen Forschungsinstituts für Maritimes Kulturerbe bietet die seltene gelegenheit, ein altes Schiffswrack aus der nähe in augenschein zu nehmen. Die überreste der Sinan , eines chinesischen handelsschiffs aus dem 14. Jh, wurden nach der Konservierung in der Themenausstellungshalle „relikte vom Sinan-Meeresboden“ wieder zusammengesetzt.

sich nicht zuletzt auch deshalb als äußerst schwierig, weil die koreanischen archäologen bis dahin keinerlei Erfahrung mit einer Unterwasserbergung gehabt hatten. Die Sichtweite unter Wasser lag nahe null, die Wassertiefe betrug im Schnitt 20 bis 25 m und die Stromgeschwindigkeit war mit durchschnittlich 2,5 Knoten hoch. Selbst die gezeitenunterschiede waren groß, sodass ausgrabungsarbeiten nur ein- bis zweimal am Tag während der viermaligen kurzen Stauwasser-Perioden möglich waren. Die Taucher mussten mit Druckluftflaschen auf dem rücken den starken Wasserdruck aushalten. Das ausgraben der Keramiken, die tief in den Schlickschichten verborgen waren, war ebenfalls keine leichte arbeit: Es mussten geräte wie Druckluftheber eingesetzt und Luft eingepresst werden, um den harten Schlick aufzubrechen und die Keramiken an Land zu bringen. Die Unterwasserausgrabungen in Sinan, die ohne die Unterstützung des SSU unmöglich gewesen wären, waren trotz aller Widrigkeiten ein so großer Erfolg, dass sie als „Bergung des Jahrhunderts“ bezeichnet wurden.

Aufschlüsse über den Seehandel in Nordostasien Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Wrack um ein handelsschiff der chinesischen Yuan-Dynastie handelte. Es wird vermutet, dass das Schiff 1323 auf dem Weg von ningbo in China nach hakata und Kyoto in Japan vor der Küste Sinans unterging. anhand der Schiffsbautechnik, der herkunft des holzes, der von den Seeleuten benutzten Utensilien und der Charakteristika der Frachtstücke konnte das Schiff als von chinesischer herkunft identifiziert werden. Seine ursprüngliche Länge wurde auf etwa 34 m geschätzt, die Breite auf 11 m an der breitesten Stelle, der höchste Tiefgang auf 3,75-4,5 m und das gewicht auf 260 Tonnen. Später benannten die Wissenschaftler das versunkene Schiff nach dem Fundort „Sinan-seon (Schiff Sinan)“. Zu den im Schiff entdeckten artefakten gehörten Waren der unterschiedlichsten

art: über 20.000 Keramiken, ca. 28 Tonnen Münzen, 1.017 rosenholzstücke sowie diverse andere handelsgüter und alltagsgegenstände wie Metallwaren, Lackwaren aus holz, glaswaren, Steinwaren, Waren aus Bein und horn, verschiedene gewürze, Tusche, Tee und heilkräuter, Obstsamen usw. Daneben wurden auch Frachtkisten und anderes Packmaterial wie Papier und holzetiketten, die zur Kennzeichnung der Frachtinhalte an den Kisten angebracht waren, sowie Schiffswrackteile gefunden. auf den ca. 360 Mokchal-holzetiketten finden sich die namen von japanischen Tempeln wie Tofuku-ji und japanische Familiennamen wie hachiro, woraus sich schließen lässt, dass das Schiff auf dem Weg nach Japan war. Die geborgenen artefakte geben deutlichen aufschluss über einige aspekte des Seehandels der Zeit wie handelsvolumen, art des austausches, Lebensstil in der region und Beliebtheit chinesischer Kulturgüter. Dass eine erstaunliche Menge an Keramiken gefunden wurde, deutet darauf hin, dass Keramik damals das wichtigste handelsgut zwischen China und Japan war. Da Keramik auch unter Wasser nicht korrodiert, konnten die gefäße über so lange Zeit in gutem Zustand erhalten bleiben. Seladone aus den Longquan-Seladon-Brennöfen in der chinesischen Provinz Zhejiang machen 60 % der gesamten Keramikfunde aus, was die damalige Vorliebe der Japaner für Longquan-Seladon belegt. V.a. die hohe anzahl an Vasen, räuchergefäßen, Kannen und Teeutensilien wie Teeschalen, Teekannen und Teedosen bestätigte noch einmal, dass insbesondere die japanische adligen und buddhistische Mönche eine Vorliebe für Teegeschirr aus China hatten. Kupfermünzen waren ebenfalls ein hauptimportgut. Weil die Japaner zur damaligen Zeit nicht selbst Münzen gossen, importierten sie für ihre Wirtschaftsaktivitäten chinesische Münzen, die zudem auch für die herstellung von Buddhastatuen eingeschmolzen wurden. auch die artefakte aus rosenholz, das in subtropischen regionen produziert wird und KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 33


In diesem Jahr sind es 40 Jahre, dass die erste Unterwasserausgrabung in Sinan begonnen wurde. Aus diesem Anlass präsentiert das Koreanische Nationalmuseum von Juli bis September 2016 eine Sonderausstellung der Relikte, die aus dem Sinan-Wrack gehoben wurden. Die Besucher können Artefakte in Augenschein nehmen, die aus jahrhundertelangem Schlaf auf dem Meeresboden erweckt wurden und die Geschichte des Austausches zwischen Zivilisationen lebendig bezeugen.

als edles Möbelholz gilt, waren nicht korrodiert und hatten ihre ursprüngliche Form bewahrt, da sie luftdicht vom Schlick versiegelt gewesen waren. Die meisten artefakte stammten zwar aus dem chinesischen Yuan-reich, doch gab es auch Waren aus dem goryeo-reich (9181392) und Japan. Unter anderem wurden auch Seladon-Stücke aus goryeo entdeckt, was vermuten lässt, dass China sie aus goryeo importiert hatte und dann nach Japan ausführen wollte.

unterwasser-Ausgrabungen vor der West- und Südküste Die ausgrabungen bei Sinan bildeten quasi den auftakt für die koreanische Unterwasserarchäologie. Danach wurden vor der westlichen und südlichen Küste immer wieder wertvolle Kulturgüter entdeckt, u.a. über 30.000 goryeo-Seladon-Stücke, die 1984 in den gewässern von Wando-gun, Provinz Jeollanam-do, gefunden wurden. Wie im Falle des Sinan-Schiffs führten auch hier Zufallsfunde zu Unterwasserausgrabungen: Im april 2002 hob ein Fischer, der mit einem kleinen 9-Tonnen-Trawler unterwegs war, 243 goryeo-Seladone aus dem Meer vor der Insel Bian-do in Okdomyeon, Stadt gunsan. Im Zuge der offiziellen ausgrabungsarbeiten wurden schließlich an die 3.000 artefakte ans Tageslicht befördert. Im Mai 2007 fing ein Fischer vor der Insel Dae-seom in Taean-gun, Chungcheongnam-do, eine Minikrake, an deren Saugnäpfen ein Seladon-Stück klebte. Bei den anschließenden notausgrabungen wurden 23.000 goryeo-Seladon-Stücke und andere relikte zutage gefördert. andere ausgrabungen waren resultat der Verhaftung von Schatzjägern: Die Unterwas34 KoREANA Sommer 2016

ser-ausgrabungen von goryeo-Seladon, die von 2006 bis 2009 vor der Insel Yami-do in Okdo-myeon, Stadt gunsan, durchgeführt wurden, wurden durch die Verhaftung eines raubgräbers, der 500 Seladon-Stücke aus dem Meer geholt hatte, auf den Weg gebracht. Bei den aus dem Westmeer geborgenen artefakten handelt es sich hauptsächlich um goryeo-Seladon. Warum kam es ausgerechnet im Westmeer immer wieder zu solchen Funden? Im goryeo-reich (9181392) wurden die meisten Seladon-Stücke in gangjin, Provinz Jeollanam-do, sowie in Buan, Provinz Jeollabuk-do, im südlichen Teil der koreanischen halbinsel hergestellt und von dort landesweit vertrieben. Die Bewohner der damaligen, im norden des reiches gelegenen hauptstadt gaegyeong (das heutige gaeseong) – und darunter v.a. die Wohlhabenden von rang und namen – dürften eine Vorliebe für die edlen und wertvollen Stücke gehabt haben. Früher bevorzugte man für den gütertransport den Seeweg vor dem Landweg,

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da die Seerouten vergleichsweise sicher waren und größere Mengen auf einmal geliefert werden konnten. Deshalb wurde das Seladon aus gangjin und Buan per Schiff in die hauptstadt gebracht. Doch auf hoher See konnten hoher Wellengang und tobende Winde das Schiff zum Kentern bringen. Die Seladon-Stücke, die heutzutage im Meer gefunden werden, stammen von solchen Unglücksschiffen. aber nicht nur goryeo-Seladon wurden in den gewässern vor der Westküste geborgen. Vor der Insel Ma-do in Taean-gun, Provinz Chungcheongnam-do, wurden im Zuge mehrmaliger ausgrabungen etwa 1.400 alltagsgegenstände wie beschriftete Bambusstreifen, hirschhorn, Kämme usw. sowie nahrungsmittelreste wie reiskörner, Sojabohnenpaste, Sojabohnenblöcke, fermentierte Krabben, Minigarnelen und anschovis zusammen mit Seladon-Stücken ans Tageslicht gebracht. Vermutlich wollte man die regionalen Spezialitäten und alltäglichen Bedarfsgüter, die die Bewohner von gaegyeong bestellt hatten, zusammen


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mit dem Seladon transportieren. Von 2009 bis 2010 wurde zum Beispiel vor Ma-do ein Schiff geborgen, das für den Transport von getreide eingesetzt wurde. Die Bambusetiketten, die mit Informationen wie name von Sender und Empfänger, art der Lieferwaren usw. beschriftet sind, bestätigten, dass es sich um einen Frachter handelte, der im Februar 1208 mit reis, Bohnen, hirse, Buchweizen, fermentierten Meeresfrüchten, Kohle und getrockneten rochen aus haenam, naju und Jangheung in der Provinz Jeollanam-do nach gaegyeong unterwegs war.

Sonderausstellung anlässlich des 40. Jahrestags der Sinan-unterwasserausgrabungen Im Zuge der ausweitung der in Sinan gestarteten Unterwasserausgrabungen auf den Westküstenbereich ergab sich die not-

1 Die relikte, die eine breite Objektpalette von Kunstandwerksprodukten bis hin zu haushaltsartikeln umfassen, gewähren wertvolle Einblicke in den internationalen Meereshandel in Ostasien im späten Mittelalter. Der Seehandel florierte dermaßen, dass die handelsrouten als „Keramikstraße“ bekannt waren. 2 In der ausstellungshalle mit Wracks der goryeo-Zeit im Museum für Maritime artefakte sind auch die überreste der Dallido-seon zu sehen, eines koreanischen Schiffes, das im 13., 14. Jh im Westmeer gesunken sein soll. Es wurde im Wattenmeer von Dalli-do, einer Insel vor der Küste von Mokpo, ausgegraben.

wendigkeit einer Institution, die für die ausgrabungsarbeiten sowie für aufbewahrung, ausstellung und Erforschung der gehobenen artefakte zuständig ist. Das Museum für Maritime artefakte des nationalen Forschungsinstituts für Maritimes Kulturerbe (national research Institute of Maritime Cultural heritage) beherbergt ausstellungshallen u. a. zu den Themen „Schiffs-

wracks aus goryeo“, „Das Sinan Schiffwrack“, „Das Leben in Fischerdörfern“ sowie „geschichte der koreanischen Schiffe“, die einen Einblick in die geschichte von Schiffen, Seetransport und Unterwasserarchäologie gewähren. auf dem Freilicht-ausstellungsgelände können nachbauten verschiedener traditioneller Schiffe in Originalgröße besichtigt werden. Die Sammlung des nationalen Forschungsinstituts für Maritimes Kulturerbe umfasst etwa 50.000 artefakte verschiedenster art, darunter aus dem Meer geborgenes goryeo-Seladon und relevante Materialien. auch überreste sowie rekonstruierte Modelle gesunkener Schiffe wie das Wando-Schiff (Ende 11.-12. Jh in der goryeo-Zeit, entdeckt im Jahr 1984 bei Eodu-ri, Wando-gun, Jeollanam-do), Dallido-seon (13.-14. Jh in der goryeo-Zeit, entdeckt im Jahr 1995 im Wattenmeer der Insel Dalli-do, Mokpo-si, Jeollanam-do) ziehen die aufmerksamkeit auf sich. Das Sinan-Schiff ist ein wertvoller Fund, der aufschluss über den internationalen Seehandel in Ostasien im Späten Mittelalter gibt, der so florierte, dass die Seerouten als „Keramik-Straße“ bezeichnet wurden. Die überreste des aus dem Meeresbodenschlick gehobenen Schiffs wurden mit größter Umsicht konserviert und sind im Museum für Maritime artefakte ausgestellt, während die wichtigsten artefakte aus dem Schiffskörper im nationalmuseum in Seoul zu sehen sind, wo die permanente Themenausstellungshalle „relikte vom Sinan-Meeresboden“ eingerichtet wurde. In diesem Jahr sind es 40 Jahre, dass die erste Unterwasserausgrabung in Sinan begonnen wurde. aus diesem anlass präsentiert das Koreanische nationalmuseum von Juli bis September 2016 eine Sonderausstellung der relikte, die aus dem Sinan-Wrack gehoben wurden. Die Besucher können artefakte in augenschein nehmen, die aus jahrhundertelangem Schlaf auf dem Meeresboden erweckt wurden und die geschichte des austausches zwischen Zivilisationen lebendig bezeugen. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 35


fOKuS

GO, MENSCH, MASCHINE Im März verfolgte die ganze Welt mit Spannung das fünf-Partien-Match im asiatischen Strategiespiel Go (kor.: baduk) zwischen dem koreanischen Großmeister Lee Se-dol und der Künstlichen Intelligenz AlphaGo der Google-tochter deepMind technologies. Es waren fesselnde Momente, in denen die Menschheit mitverfolgen konnte, ob die alte Vorhersage, dass Künstliche Intelligenz (KI) einmal die menschliche Intelligenz übertreffen werde, wahr werden könnte. Cho Hwan-gue Professor, Department of Computer Science and Engineering, Pusan national University

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ndlich ging das Duell zwischen Mensch und Maschine – etwas, was bislang nur in SF-Filmen zu sehen war – zu Ende. Das Match im Strategiespiel go zwischen dem koreanischen 9-Dan-Spitzenspieler Lee Se-dol, (Profi-go-rang 9p, Platz 4 der Weltrangliste), auf dessen Schultern der flehentliche Siegeswunsch der Menschheit lastete, und alphago, der absoluten Spitze der künstlichen Intelligenz, war ein Meilenstein in der geschichte der Zivilisation. Dass eine Maschine die Menschheit im go, einem Spiel, dessen Prinzipien auf menschenspezifischen Eigenschaften wie Intuition und Kreativität beruhen, herausforderte, war ein epochemachendes Ereignis, das auf die Weichenstellung für die künftige richtung von KI hinweist.

E

Go: das Spiel mit den einfachsten Regeln Vermutlich gibt es kein Spiel, das so einfach aufgebaut ist wie go: Für westliche Brettspiele wie Backgammon braucht man spezielles Spielzubehör. auch für Schach oder die koreanischen Schachvariante Janggi benötigt man Figuren verschiedenster Form. Bei go jedoch genügen schwarze und weiße Steine und ein Brett mit waagrechten und senkrechten Linien. hat man keine Spielsteine zur hand, tun es auch Kiesel oder holzstücke. Vor kurzem sah ich auf einer Wissenschaftskonferenz im ausland, wie ein koreanischer Professor und ein ausländischer Wissenschaftler eine Partie go spielten, bei der sie mangels Spielsteinen ihre Züge einfach mit Bleistift auf einem karierten Blatt Papier markierten. Für kaum ein anderes Brettspiel dürften Papier und Bleistift ausreichen. auch die regeln sind so einfach, dass jeder sie in zehn Minuten lernen kann. Es gibt nur eine einzige regel für das Schlagen von Steinen, die sog. Ko(劫, Ewigkeit)-regel, die dazu dient, eine endlose Wiederholung der Stellung zu verhindern: Schlägt ein Spieler einen einzelnen gegnerischen Stein, darf der gegner im nächsten Zug nicht zurückschlagen, wenn dadurch wieder die gleiche anordnung von Steinen wie nach dem vorausgegangenen Zug entstehen würde. Es ist allgemein anerkannt, dass go aus China stammt, wo sich auch die ältesten go-Spielnotationen befinden. Laut einer Theorie soll ein Urkaiser das Spiel zur Bildung seiner Kinder entwickelt haben. Fest steht auf jeden Fall, dass go bereits in den chinesischen Klassikern wie den analekten des Konfuzius und im Menzius erwähnt wird, d.h. es erfreute sich bereits in der Zeit der Streitenden reiche (475–221 v. Chr.) Beliebtheit. In Korea soll es im 4.-5. Jh in der Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.) Verbreitung gefunden haben. Vor dem aufkommen von Computer und Internet galt go als bester Zeitvertreib. nur eine Partie go konnte Erwachsene stundenlag beschäftigen und reglos über einem Spielbrett brüten lassen. Ein weiterer Unterschied zwischen go und anderen Spielen besteht darin, dass das Instrumentarium strategischer Möglichkeiten immens ist und die Unterschiede zwischen alten hasen und anfängern enorm sind. So ist es eine echte Seltenheit, dass quasi ein Lehrling das anfängerglück hat, einen Meister schlägt. Seit jeher

sind die hürden zwischen den einzelnen rängen hoch und ein neuling hat so gut wie keine Chance, überhaupt gegen einen Fortgeschrittenen antreten zu können. go übte in allen ostasiatischen Ländern starken Einfluss auf die ganze Kultur aus und entwickelte sich zu einem Spiel, das den geist asiens repräsentiert: Die Welt des Meisters, der der anfänger sich nicht zu nähern wagt, Schwarz und Weiß, die Kontrastfarben der Steine, die für Yin und Yang stehen, die 361 Schnittpunkte, die auf die unzähligen himmelskörper des Kosmos verweisen – all dies besitzt hinreichend Symbolkraft, um die Mystik asiens zum ausdruck zu bringen. In Korea werden zudem viele go-Begriffe in Politik, Wirtschaft und Kultur verwendet. Der Begriff Cho-ilkgi (Sekunden zählen), der im go den 60-Sekunden-Countdown bis zum nächsten Zug bezeichnet, wird im alltag für Situationen gebraucht, in denen nur noch wenig Zeit bis zur endgültigen Entscheidung bleibt. Weitere Beispiele sind Kkonnori-pae (Spielsituation wie bei einem ausflug ins Blumenfeld) zur Beschreibung einer ungemein vorteilhaften Situation; Bokgi (die Partie zurückverfolgen) für Evaluierungsprozess; Chogangsu (gewagter Zug) für einen verzweifelten, allerletzten Versuch; Susun (Sequenz) für einen folgenden Schritt; hogu (Tigermaul) für eine ernsthafte Krise.

Von der dampfmaschine bis zur Künstlichen Intelligenz Das klassische westliche Weltbild, das oft eher mechanische und materialistische Züge aufweist, unterscheidet sich in mancher hinsicht vom asiatischen Weltbild, das gefühl und geist des Menschen besonders wertschätzt. Während z.B. die alten asiaten die Erinnerungen und die Wehmut, die das Klappern des kochenden Teekessels in ihnen erweckte, in der Literatur besangen, lag im Westen der Fokus eher auf der mechanischen Kraft, die den Kesseldeckel zum Klappern bringt. Die von James Watt erfundene Dampfmaschine, die die Industrielle revolution auslöste, beruhte auf solchen naturwissenschaftlichen Beobachtungen und führte einen historischen Wendepunkt herbei, an dem die maschinelle Kraft die menschliche Muskelkraft zu ersetzen begann. Zudem wurde mit der Erfindung des Computers die SF-Utopie der Maschinenzivilisation, in der die Vernunft des Menschen durch die Maschine ersetzt wird, ein Stück wirklicher. gleichzeitig wurde im Zuge des medizinischen Fortschritts schrittweise enthüllt, dass aktivitäten, die bis dahin als „seelisch-geistig“ beschrieben Der 9-Dan go-Champion Lee wurden, in Wirklichkeit das resultat Se-dol (rechts) beim Duell biochemischer Interaktion zwischen mit der Künstlichen Intelligenz alphago von googles den gehirnzellen sind. neue WisDeepMind. gegenüber von senschaftsrichtungen wie gehirnforLee sitzt aja huang, Deep schung und Kognitivwissenschaft entMinds Top-Programmierer und selbst 6-Dan-amateurstanden, als man feststellte, dass geisspieler, der die Steine für teskrankheiten kein Teufelswerk, sonalphago setzte. Lee verlor dern Ergebnis einer über- oder Unterdas Fünf-Partien-Match 1:4. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 37


funktion von neurotransmittern sind. So wurde die materialistische Sichtweise durch die Wissenschaft systematisiert und die Maschine machte sich nun daran, die geistigen Fähigkeiten des Menschen nachzuahmen. Das Konzept der Künstlichen Intelligenz kam zwar schon in den 1960er Jahren auf, doch realisiert wurde sie erst durch die Erfindung leistungsstarker hardware, die auf Computer- und halbleitertechnologie basiert. ausgeweitet wurde die Welt der Künstlichen Intelligenz dann durch den unbeschränkten Speicherplatz der Big Data-Technologie. Derzeit beweist sie in Bereichen wie Flugzeugsteuerung, unbemannte überwachung, gesichtserkennung, Spamfilterung, aktieninvestitionsberatung usw. ihr Können und stößt in verschiedene Industriebereiche vor. Es war der weltmarktführende IT-riese google, der als erster den Wandel witterte. Für 400 Mio. Pfund übernahm google das britische Unternehmen DeepMind Technologies, den Entwickler von alphago, und verschaffte sich damit einen Vorsprung in der Entwicklung von KI-Systemen der Zukunft.

Eine selbst für AlphaGo unberechenbare Lücke Zunächst wurde Schach als das Spiel ausgewählt, bei dem die Künstliche Intelligenz ihre überlegenheit am dramatischsten zur Schau stellen sollte. nach einigen misslungenen Versuchen besiegte schließlich 1997 IBMs Schachcomputer Deep Blue den Schachweltmeister garry Kasparov in einem offenen Wettbewerb – ein Erfolg, für den es nach dem Start der Mensch-Maschine-Schachduelle 30 Jahre brauchte. 2011 besiegte IBMs Supercomputer Watson in der berühmten Quizshow Jeopardy seine menschlichen Konkurrenten gnadenlos. Das waren jedoch keine allzu großen überraschungen, da viele Wissenschaftler prophezeit hatten, dass bei Wettkämpfen mit einer finiten Zahl an Lösungen, wie sie bei Schach oder Quizspielen gegeben ist, der Mensch keine Chance gegen den Computer habe. Damit wurde go, bei dem die Zahl der möglichen Spielzüge ins astronomische geht, zum nächsten Feld, auf dem Mensch und Maschine ihre Kräfte messen konnten. Lange herrschte der glaube, dass der Mensch sich beim go nicht so leicht von der Künstliche Intelligenz besiegen lasse, da bei diesem Spiel menschliche Intuition in Kombination mit traditionell asiatischen Denkmustern eine rolle spielen. In der Tat hatten bis dahin die go-Computerprogramme dem Menschen nicht das Wasser reichen können. Schwächen waren v.a. die mangelnde Fähigkeit

der Maschine, zu erfassen und die Intention des gegners zu lesen. Das änderte sich schlagartig mit alphago. Vom 15. Bis 19. März 2016 fand das Fünf-Partien-Duell zwischen dem koreanischen go-Champion Lee Se-dol und alphago statt. Das Ergebnis, das alle Expertenvorhersagen übertraf, war ein großer Schock für alle: alphago siegte souverän mit 4:1. Besonders groß war der Schock für die Profi-Spieler, die alphagos geschickte und kaltblütige Züge, auf die ein Mensch so nie kommen würde, in Erstaunen versetzten. anfangs hielten viele Live-Kommentatoren die manchmal ungewöhnlichen Sequenzen alphagos für Fehler, doch dann stellte sich heraus, dass es sich vielmehr um neue, weit vorausschauende Sequenzen handelte, die das resultat immenser Berechnungen waren. In den ersten drei Partien machte alphago keinen einzigen Fehler und gewann Schritt für Schritt die Oberhand, was Lee an Sicherheit verlieren und reihenweise Fehler machen ließ und der Maschine schließlich den Sieg brachte. Doch in der vierten Partie kam die riesenüberraschung: nach drei niederlagen in Folge begann Lee, alphagos Strategien zu analysieren und erkämpfte sich den Sieg. Damit bewies er, dass selbst alphago nicht jedes strategische Schlupfloch stopfen kann. alphago akkumuliert sein Wissen anhand der Spielnotationen, d.h. er analysiert alle bisherigen Strategien des Siegers, berechnet die Siegwahrscheinlichkeit jedes einzelnen Zuges und speichert alle diesbezüglichen Daten. Möglich wurden diese komplizierten Berechnungen durch ein riesiges netzwerk von hardware-Vorrichtungen. Die 1.200 Prozessoren und der Server von google Cloud speichert alle Züge, die go-großmeister jemals gemacht haben, und auch deren mögliche Varianten. auch in Bezug auf den Zeitfaktor ist alphago dem Menschen überlegen, da er diese Informationen rasch bearbeiten und sofort anwenden kann, ohne Zwischenrechnungen anstellen zu müssen. hauptstärke von alphago ist aber, dass es mithilfe der Monte-Carlo-Simulation, eines computerisierten mathematischen Modells, bei dem randomisierte algorithmen mit unabhängigen Zufallsbits wiederholt angewendet werden, die beste Strategie identifizieren kann. Ein Mensch kann höchstens 30 mögliche go-Züge pro Stunde prüfen, indem er einen Stein nach dem anderen auf das Brett legt, doch alphago kann diese Trial-and-Error-Methode in der selben Zeit über eine Million Mal anwenden, um den optimalen Zug zu bestimmen. als Ergebnis konnte die Maschine bei diesem Match erfolgreich mit völlig neuen Zügen aufwarten, auf die ein Mensch so schnell gar nicht hätte kommen können. Diese nach menschlichem Ermessen absurden

Lee Se-dols Aussage direkt nach dem Duell, dass es nun an der Zeit sei, „die herkömmlichen Go-Spieltheorien erneut zu prüfen“, ist wohl das zutreffendste Fazit des Matches. Mit dem Aufkommen der Künstliche Intelligenz steht der Mensch vor einem neuen Wendepunkt in der Geschichte der Go-Spieltheorie. 38 KoREANA Sommer 2016


Züge, die die Zuschauer zunächst sprachlos machten, entpuppten sich letztendlich als brillante Manöver.

Schüler verfolgen das Match zwischen Mensch und Maschine in der Lee Se-dol go academie in Seoul. Lee richtete diese Forschungsinstitution 2014 ein, um junge Talente zu entdecken und auszubilden.

AlphaGos Schwäche Lee Se-dols aussage direkt nach dem Duell, dass es nun an der Zeit sei, „die herkömmlichen go-Spieltheorien erneut zu prüfen“, ist wohl das zutreffendste Fazit des Matches. Mit dem aufkommen der Künstlichen Intelligenz steht der Mensch vor einem neuen Wendepunkt in der geschichte der go-Spieltheorien. Schade ist allerdings, dass die geistige und emotionale Verbundenheit – der sog. „hand-talk“ – zwischen den Spielern, die einen wesentlichen aspekt des Spiels darstellt, bei einem Match mit der Maschine verloren geht und das Spiel dadurch zu einer mathematischen aufgabe wird, bei der es auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung nur noch darum geht, zu siegen. Wie Lee bereits vor Matchbeginn bemerkte, „treten Computer ein Spiel an, ohne die wahre Schönheit des Spiels erkennen zu vermögen“. Die niederlage Lee Se-dols bedeutet nicht, dass die Würde des Menschen in der Welt des go-Spiels abhanden gekommen ist. auch besteht kaum die gefahr, dass das auf go spezialisierte alphago-Programm der Künstlichen Intelligenz schon bald in den Bereich des Menschen eindringen und die Kontrolle über die Menschheit übernehmen könnte. Das Match als gegen die Menschheit gerichtete Offensive der Maschine zu interpretieren, wäre eine übertriebene Fantasie. Wohl aber wurde bewiesen, dass die Maschine in der Lage ist, Berechnungen anzustellen, wie sie der Mensch anstellt. Doch Maschinen werden von Menschen bedient und sind so gesehen von den Intentionen des Menschen abhängig, d.h. letzten Endes geht es um die Beziehungen zwischen Menschen. Es geht hier nicht um die Dichotomie von Mensch und Künstlicher Intelligenz oder eine Entscheidung zugunsten des einen oder andern, sondern um die Suche nach einer angemessenen Koexistenz von beiden. Wie am Flop des 3D-TV abzulesen ist, können schlussendlich nur die Technologien, die den Menschen und seine Bedürfnisse verstehen, überleben. Damit bleiben alle wichtigen angelegenheiten letzten Endes „Menschensache“. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 39


INtERVIEW

REGISSEuR LEE JOON-IK

darcy Paquet Filmkritiker

LEIdENSCHAft füR GESCHICHtE, AuSGEdRüCKt duRCH fILME Regisseur Lee Joon-ik hat zweifelsohne seinen teil an kommerziellem Erfolg eingeheimst, angefangen mit seinem Rekordbrecher the King and the Clown (2005) bis hin zu jüngeren Werken wie the throne (2015). Aber es ist offensichtlich, dass seine Leidenschaft fürs filmemachen weit über reine Kassenerlöse hinausgeht. Während seiner gesamten Laufbahn hat er sich lange und intensiv mit der frage beschäftigt, was für Geschichten er erzählen möchte, und dadurch zum diskurs über Kultur in der koreanischen Gesellschaft beigetragen. 40 KoREANA Sommer 2016


nfang 2016 hat Lee Joon-iks Film Dong-ju: The Portrait of a Poet (Dong-ju: Das Porträt eines Dichters) eine ganz besondere art von Erfolg verzeichnet. Dieses biographische Werk, das als unabhängiger Film mit einem Budget von nur umgerechnet 440.000 Dollar gedreht wurde und das Leben von Yun Dong-ju (1917-1945), einem der beliebtesten Dichter Koreas, behandelt, wurde von Kritikern und Publikum gleichermaßen enthusiastisch aufgenommen. Der Schwarz-Weiß-Film erkundet, wie Yun während einer der dunkelsten abschnitte der koreanischen geschichte zum Erwachsenen heranwächst. Das Werk wirft einen unerschrockenen Blick auf den tragischen Tod Yuns, der in Japan gegen Ende der Kolonialzeit (1915-1945) als gedankenverbrecher verhaftet wird, und zelebriert gleichzeitig Yuns traurig-schöne gedichte, die den ganzen Film über eingestreut werden. Dank reger Mundpropaganda hatte Dong-ju eine ungewöhnlich lange Laufzeit für eine Indie-Produktion, mehr als 1,1 Mio. Eintrittskarten wurden verkauft. auch international erhielt er einige Publicity: Im Frühling 2016 wurde er im rahmen einer zielgerichteten Veröffentlichung in den USa herausgebracht und lief auch beim new York asian Film Festival. Im herbst soll Kinopremiere in Japan sein, wo Yun nicht wenige Fans hat. Wir haben regisseur Lee in seinem Büro in Chungmu-ro aufgesucht, also in dem Stadtbezirk Seouls, der in den vergangenen Jahrzehnten der Dreh- und angelpunkt der koreanischen Filmindustrie war.

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Historische fiktion und Hollywood-techniken darcy Paquet Aus Ihrer Filmographie geht hervor, dass Sie stark an Geschichte interessiert sind. Was zieht Sie zu Filmen, die in der Vergangenheit spielen? Lee Joon-ik Ich bin quasi mit hollywood-Filmen aufgewachsen und habe mir in meinen jungen Jahren auch viele japanische Klassiker angesehen. Durch europäische Filme und hollywood-Produktionen lernt man etwas über die geschichte Europas. als ich im Filmimport-geschäft arbeitete, wurde mir bewusst, dass Menschen aus anderen Ländern sehr wenig über Korea wissen. Sie waren über Japan und China und die geschichte dieser beiden Länder informiert, hatten aber nie ein Kulturprodukt zu gesicht bekommen, das ihr Interesse an Korea geweckt hätte. Eine Motivation fürs Filmemachen war also, diese Lücke zu füllen, und der Frage nachzugehen, was Korea von China oder Japan unterscheidet. So bin ich dazu gekommen, 2003 Once Upon a Time in a Batt-

regisseur Lee Joon-ik hat nach seinem Debüt 1993 11 Filme gedreht. Die Poster, die die Wand hinter seinem Schreibtisch in seinem Büro in Chungmu-ro, dem einstigen, in der Seouler Innenstadt gelegenen hub der koreanischen Filmindustrie, zieren, geben einen komprimierten überblick über sein Schaffen. Von links nach rechts zu sehen sind die Poster für The Throne (2015), Dong-ju: The Portrait of a Poet (2016), The King and the Clown (2005), radio Star (2006) und hope (2013).

lefield (hwangsanbeol auf Koreanisch) zu produzieren. Die Kreuzzüge in Europa sind allgemein bekannt, aber tatsächlich hatten im 7. Jh der Krieg zwischen den drei Königreichen Silla, Baekje und goguryeo und die Entscheidungsschlacht Schlacht von hwangsanbeol eine ähnliche größenordnung. Während dieses 30-jährigen Kriegs segelte eine gut 130.000 Mann starke armee aus Tang-China nach Silla, um das 50.000 Mann starke Silla-heer zu unterstützen. Wenn ich den Film jetzt machen würde, würde ich wahrscheinlich alles eine nummer größer aufziehen, aber damals beschlossen wir, uns der Thematik mit Komödienkomponenten zu nähern, um besser bei den Zuschauern anzukommen. Insgesamt hat das auch ganz gut geklappt. alles in allem waren art des humors und Inhalt des Films aber ziemlich regional geprägt, ich denke da z.B. an den Dialektgebrauch. Deshalb beschloss ich danach, mich an einem universaler ansprechenden Stoff zu versuchen. resultat war The King and the Clown. als Quelle diente zwar das Theaterstück Yi von Kim Tae-woong, aber ich habe viel Zeit damit verbracht, das Konzept der Clown-Figur zu erforschen. Es gibt den Pierrot in der Commedia dell'arte (Stehgreiftheater), und auch bei Shakespeare oder in Tarkowskis Film andrej rubljow (1966) spielen Clowns eine rolle. Ich habe lange über die Unterschiede zwischen den Clowns bzw. hofnarren in Europa und denen des Joseon-reichs (13921910) nachgedacht. Letztendlich denke ich, dass die Clowns der Joseon-Kultur weniger Kontrastfiguren oder Vehikel sind, die die gedanken des autors zum ausdruck bringen, als repräsentanten der Masse. Sie vertreten ihre eigene Meinung sehr vehement und ihre Beziehung zu mächtigen Personen wie dem König ist intensiver. Mit diesem Konzept im hinterkopf habe ich den Film gedreht und er war nicht nur in Korea ein Erfolg, sondern vermochte auch das ausländische Publikum anzusprechen. dP Ich bin ganz wie Sie der Meinung, dass die koreanische Kultur ihre eigenen distinktiven Züge besitzt, die sie deutlich von der Kultur Japans oder Chinas abhebt. Worauf beruht Ihrer Meinung nach diese Einzigartigkeit? LJ Während seiner ganzen geschichte wurde Korea auf unterschiedlichste Weise von seinen nachbarländern beeinflusst. Bis ins frühe 19. Jh war der Einfluss Chinas extrem stark, ab ungefähr 1900 war es dann Japan, das Korea beeinflusste. nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft 1945 und dem Koreakrieg (19501953) machte sich der starke Einfluss der USa breit und die kulturellen Einflüsse von drei großmächten vermischten sich im Laufe der Zeit. Darüber hinaus ziehen künstlerisch Schaffende einen großteil ihrer Energie aus starken gefühlen. Und weil die Koreaner eine so harte geschichte zu durchleiden hatten, brodelten in ihrem Inneren gleichermaßen immer Drangsal, Schmerz und groll. Was Filmproduktionen angeht, so sind in den USa, Japan und China oft Literatur und romane Inspirationsquellen, aber in der koreanischen Kultur gibt es weniger fiktionale geschichten, die man adaptieren könnte. Daher sind koreanische Filmemacher gezwungen, originäre geschichten zu entwickeln. Das machen sie oft, indem sie die KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 41


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Emotionen ihrer schweren Vergangenheit mit hollywood-Produktionstechniken kombinieren, sodass dann etwas neues entsteht.

1 Eine Szene aus Dong-ju . regisseur Lee Joon-ik sagt, dass er sich für eine Schwarz-Weiß-Produktion entschied, um Yun Dong-ju, von dem er nur SchwarzWeiß-Fotos gesehen hatte, so einfach und ehrlich wie möglich zu porträtieren. 2 regisseur Lee Joonik (dritter von links) beim Plaudern mit den Schauspielern während der Dreharbeiten zu Dong-ju: The Portrait of a Poet.

Ein Low-budget-Schwarzweißfilm dP Wie hat es mit dem Film Dong-ju: The Portrait of a Poet begonnen? LJ In den späten 1990er Jahren habe ich einen Film mit dem Titel The anarchists produziert, der im Shanghai der japanischen Besatzungszeit spielt. Das Drehbuch stammte von Park Chan-wook. Während der recherchen und Vorbereitungen für den Film habe ich mir viele gedanken darüber gemacht, wie ich diese Periode auf einer großen Leinwand darstellen sollte. Der Fim war letzten Endes kein Erfolg und ich habe mit anderen Projekten begonnen. 2011 war ich zu einem Filmfestival in Kyoto eingeladen, das historischen Filmen gewidmet war. Ich zeigte meine Filme Battlefield heroes (Pyeongyangseong auf Koreanisch) und Blades of Blood . Und weil ich gerade da war, beschloss ich, die Doshisha Universität zu besuchen, die letzte hochschule, auf die Yun Dong-ju ging. Wir schauten uns die gedicht-Tafeln an, die zu seinen Ehren errichtet worden waren, und wir spazierten auch die Brücke entlang, die in Jeong Ji-yongs gedicht apcheon (Kamogawa) vorkommt. Einige Jahre später saß ich dann auf der heimreise von einem Workshop des Interessenverbands der Koreanischen regisseure im Zug neben dem regisseur Shin Yeon-shick. Er ist ein Spezialist für Low-Budget-Filme, ich selbst hatte bis dahin nur kommerzielle Filme gedreht. Ich erzählte ihm, dass ich mit dem gedanken spielte, einen Film über Yun Dong-ju zu drehen, dass ein kommerzieller Film aber kaum möglich wäre. Diese historische Ära nachzuerschaffen, kostet viel geld und Investoren finanzieren so einen Film nicht, wenn sie nicht sicher sind, dass das Budget wieder eingespielt werden kann. Ich fragte ihn, ob er ein Drehbuch für eine Low-Budget-Produktion schreiben könnte. Er war von 42 KoREANA Sommer 2016

der Idee begeistert, weshalb ich ihm ein Zielbudget von 250 Mio Won ($220.000) nannte und vorschlug, Yuns Beziehung zu seinem Cousin Song Mong-gyu zu thematisieren. So begann alles. dP Wie würden Sie den Dichter Yun Dong-ju Menschen aus anderen Ländern, die ihn nicht kennen, vorstellen? LJ Yuns Werk wurde zwar in mehrere Sprachen übersetzt und veröffentlicht, aber er ist keine internationale Berühmtheit, weshalb seine gedichte nur wenigen bekannt sein dürften. generell sind nur sehr wenige koreanische Dichter international bekannt, ausgenommen vielleicht Ko Un. Yun Dong-jus Poesie an sich ist von Bedeutung, aber sein Leben und sein Tod haben nicht weniger Bedeutung. Die Kolonialisierung Koreas durch Japan ist außerhalb asiens weniger bekannt. aber meiner Meinung nach ist der Tod des Dichters Yun Dong-ju, der in einem gefängnis in Fukuoka an den Folgen medizinischer Experimente starb, nicht nur Teil der geschichte Koreas, sondern Teil der Weltgeschichte. Es gab jemanden, der zu diesen Experimenten anstiftete, nämlich generalarzt Shiro Ishii, der die Einheit 731 in der Kwantung-armee schuf und in der Mandschurei medizinische Experimente an 200.000 Menschen durchführte. Er war auch verantwortlich für die Experimente im Fukuoka-gefängnis, die dort an 1.800 Menschen durchgeführt wurden, darunter an Yun Dong-ju und Song Mong-gyu. Es steht außer Frage, dass Shiro Ishii genau wie diejenigen, die für die medizinischen Experimente der nazis verantwortlich waren, zur rechenschaft hätte gezogen werden müssen, aber er lebte ein bequemes Leben und starb in seinen 90ern an altersschwäche. Der Film handelt daher nicht nur vom Leben eines Dichters, sondern auch vom gewissen einer bestimmten geschichtlichen Ära. dP Was haben die beiden Protagonisten des Films, also Yun Dongju und Song Mong-gyu, gemeinsam und worin unterscheiden sie sich? LJ Sie wurden an ein und demselben Ort geboren und starben an ein und demselben Ort. Sie waren Cousins, enge Freunde und Konkurrenten. Yun Dong-jus Poesie entstand nicht auf die Weise, dass er alleine in seinem Zimmer saß und schrieb. In seiner ausdrucksweise ist der Einfluss der Menschen zu spüren, die ihn psychologisch und emotional am stärksten beeinflussten. allen voran war es aber der abschnitt der geschichte, in der er lebte, der den größten Einfluss auf ihn ausübte. Man kann allerdings auch argumentieren, dass – nachdem die beiden ihre heimat verlassen und sich auf ihre reise gemacht hatten – es Song Mong-gyu war, der Yun am nächsten stand und sein Werk am nachhaltigsten beeinflusste. Ein Dichter bringt den Schmerz einer bestimmten Zeit zum ausdruck. aber dieser Schmerz manifestierte sich auch in ihrer Freundschaft: in Minderwertigkeitsgefühlen oder antagonismus, oder manchmal auch in dem Sinne, dass der eine das Spiegelbild des anderen war.

Auf die Moderne zurückblicken dP Heutzutage gibt eine ganze Reihe von koreanischen Filmen, die in der Kolonialzeit spielen. In der Vergangenheit scheinen die


„Die Kolonialisierung Koreas durch Japan ist außerhalb Asiens weniger bekannt. Aber meiner Meinung nach ist der Tod des Dichters Yun Dong-ju, der in einem Gefängnis in Fukuoka an den Folgen medizinischer Experimente starb, nicht nur Teil der Geschichte Koreas, sondern Teil der Weltgeschichte.“ Regisseure diese Periode eher bewusst gemieden zu haben und nur sehr wenige Filme waren eine kommerzieller Erfolg. Was hat sich Ihrer Meinung nach geändert? LJ In der Vergangenheit wurde die Kolonialzeit von den Filmemachern weitgehend gemieden, weil es eine Zeit der Verzweiflung war. Wenn die Leute geld fürs Kino ausgeben, dann wollen sie eine art gefühl des Triumphes erleben. aber das ist mit Filmen, die in der Kolonialzeit spielen, schwer zu erreichen. In den Zeiten, in denen Korea sich durchkämpfen musste und das Leben der Menschen hart war, waren geschichten über Misserfolge nicht willkommen. In wirtschaftlicher hinsicht hat sich Korea jetzt aber stark entwickelt, weshalb es meiner Meinung nach möglich scheint, mit größerem Selbstvertrauen geschichten über die Fehlschläge in unserer Vergangenheit zu erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist Choi Donghoons Spionage-Thriller assassination (2015). Der Film spielt in den dunklen Zeiten der japanischen Kolonialherrschaft, aber die geschichte betont auch den persönlichen Triumph, so etwa, wenn die Widerstandskämpferin ahn Ok-yu, gespielt von Jun Ji-hyun, ihre Mission erfolgreich erledigt. Ich glaube, diese aspekte machten den Film erfolgreich. In gewissem Sinne haben solche Erfolge den koreanischen Filmemachern neue Möglichkeiten aufgezeigt, die geschichten aus der japanischen Kolonialzeit zu verfilmen. dP Woran arbeiten Sie gerade? Gibt es ein weiteres Filmprojekt?

LJ Ich arbeite an zwei, drei Drehbüchern. aber ich habe einige schwierige Themen gewählt, sodass ich im Moment vor einigen herausforderungen stehe. Was ich am liebsten machen möchte, ist ein Film, der sich mit Fragen der koreanischen Moderne beschäftigt. Im Falle der USa oder Japans war das Kommen der Moderne eine recht unkomplizierte Sache. aber das gilt überhaupt nicht für Korea. Im rahmen der Weltgeschichte wird es gewöhnlich so erklärt, dass Japan Korea kolonialisierte und dort das moderne Zeitalter auf den Weg brachte. Ich halte jedoch diese Sichtweise für problematisch. Ich persönlich denke, dass die Moderne ansetzte, als die gesellschaft der Joseon-Zeit auf den Katholizismus traf. Dadurch entstand die sog. Seohak-Bewegung, wörtlich die „Bewegung der Westlichen Lehre“, wodurch westliches gedankengut und Wissenschaft in die koreanische gesellschaft Einzug hielten. Letztendlich formierte sich als gegenbewegung die Donghak-Bewegung der „Östlichen Lehre“ und in vieler hinsicht führte der Konflikt zwischen diesen beiden Bewegungen zur Kolonialisierung Koreas durch Japan. Meiner Meinung nach könnte ein Film, der der Entwicklung von Seohak und später Donghak nachspürt, die zum Verlust der Souveränität Koreas führte, Interessantes über das Wesen der Moderne in Korea zum ausdruck bringen. aber vielleicht bin ich zu ehrgeizig, denn all dies in einem einzigen Drehbuch zu diskutieren, wäre vielleicht zu ambitioniert.

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HütER dES tRAdItIONELLEN ERbES

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alte Zelkoven wachen über die rund 800 Vorratskrüge, die auf einer anhöhe neben dem Myeongjae-haus in nonsan, Provinz Chuncheongnam-do, aufgereiht stehen. Wenn die Sojasoße in den atmungsaktiven Krügen reift, kreisen vom geruch angelockte Bienen darüber. Die Krüge mit der 300 Jahre alten Erb-Sojasoße werden separat hinter den Frauengemächern aufbewahrt.

Yun Gyeong-nam Hüterin eines 300-jährigen Familienrezepts für Sojasoße

Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung Joongang Ilbo Fotos Ahn Hong-beom

der beschauliche Hinterhof der frauengemächer eines traditionellen koreanischen Hanok-Hauses strahlt den unbeugsamen Geist eines alten konfuzianischen Gelehrten aus. An der Stelle, an der man normalerweise gepflegte Gartenbäume und Zierpflanzen erwarten würde, ziehen Reihen traditioneller Jangdok-Vorratskrüge („jang“: Würzpaste und –soße, „dok“: Krug) den blick auf sich. In diesen Krügen lässt die familie bereits seit über 300 Jahren Sojasoße reifen, wobei der Ssi-ganjang („ssi“: Samen, Saat, „ganjang“: Sojasoße), den Soßenresten vom Vorjahr, die jeweils frisch hergestellter Sojasoße hinzugesetzt wird.

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s ist ein Meisterwerk von einem haus, gelegen an einer geomantisch idealen Stelle: Das alte hanok-haus Myeongjae im Dorf gyochon-ri bei nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, ist berühmt für seine harmonie mit der natur. hier leben seit generationen die nachfahren von Yun Jeung (1629–1714), eines großen konfuzianischen gelehrten und rechtschaffenen Politikers der mittleren Joseon-Zeit (1392–1910). Das haus, ein Musterbeispiel für die traditionelle residenz eines adligen der Yangban-Oberschicht, liegt am Fuße eines runden hügels, was als eine geomantische Konstellation bekannt ist, bei der „die taoistische Fee auf einer geomungo-Zither spielt“. Das anwesen wurde nach geomantischen Prinzipien angelegt, die den gi-Energiefluss durch sorgfältige regulierung entweder unterdrücken oder stimulieren. an der östlichen Seite des hügels erheben sich drei Zelkoven majestätisch gen himmel, die zur regulierung der unausgeglichenen Energieverhältnisse gepflanzt worden sein sollen. Der große, viereckige künstliche Teich mit einer Insel, der in richtung Westen vor dem haus angelegt wurde, zieht ebenfalls den Blick des Besuchers auf sich. Die Insel wurde etwas seitlich platziert, um schlechte Energie, die durch den offenen raum ins haus strömen könnte, zu blockieren.

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Sojasoße mit tiefer, süßer Geschmacksnote Es gibt eine weitere Besonderheit, die Besucher des Myeongjae-hauses überrascht: Die rund 800 Vorratskrüge, die auf einer

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anhöhe neben dem haus in fein säuberlichen reihen im Schutz der alten Zelkoven stehen, weisen auf die geschichte dieses ungewöhnlichen Ortes hin. Ein niedriger holzzaun beschränkt den Zutritt Unbefugter. Jeden Tag lässt die siebzigjährige Yun gyeong-nam liebevoll ihren Blick über jeden einzelnen Krug schweifen. Yun beobachtete von Kindesbeinen an, wie ihre großmutter und Mutter Jang herstellten und traditionelle gerichte zubereiteten. als sich ihre Mutter Yang Chang-ho, in elfter generation älteste Schwiegertochter der Stammfamilie des Yun-Clans, altersbedingt aus der Küche zurückzog, ging das Familienrezept an Yun gyeong-nam über. „Unsere Sojasoße wird schon seit 1709, als das haus gebaut wurde, in den Vorratskrügen von einer generation an die nächste weitergegeben, weshalb wir sie als 'Erb-Sojasoße' bezeichnen“, erklärt Yun. Im hinterhof der Frauengemächer des anwesens werden die Krüge mit der Ssi(Samen)-ganjang separat aufbewahrt. Da der Ssi-ganjang schon seit 300 Jahren jedes Jahr neu zubereitete Sojasoße hinzugesetzt wird, tragen die Krüge theoretisch gesehen drei Jahrhunderte Zeit in sich. Die Ssi-ganjang, die Yun sorgfältig mit einer Flaschenkürbis-Schöpfkelle schöpft und mir reicht, hat einen tiefen, geheimnisvollen geschmack: Weniger salzig, mehr süßlich, von der Farbe her fast violett. Yun erzählt über längste vergangene Zeiten: „an dem Tag, an dem bei uns die Sojasoße abgekocht wurde, soll der geruch so weit gezogen sein, dass alle Bewohner der Dörfer in der Umgebung


„Früher wurde den Arbeitern, die unserer Familie im Sommer bei der Arbeit auf dem Bohnenfeld geholfen haben, zur Erfrischung nicht Makgeolli-Reiswein, sondern eine Schale kaltes Wasser mit ein paar Spritzern Sojasoße angeboten. Das hat nicht nur den Durst gestillt, sondern auch den Körper abgekühlt.“

herumschnupperten, um einen hauch zu erhaschen“. Die Erb-Sojasoße wurde auch bei kleineren Wehwehchen angewendet. Sogar aus den nachbardörfern kamen Besucher, um sie für jemanden mit Magenverstimmung zu besorgen. Sojasoße mit kaltem Wasser verdünnt soll schnelle abhilfe bei Magenverstimmungen verschafft haben. Vermutlich reinigen die in der Soße enthaltenen Enzyme den Magen. Zu der Zeit herrschte in der Küche stets ein chronischer Mangel an Sojasoßen-Dippschälchen, da die Soße ständig Besuchern zu therapeutischen Zwecken mitgegeben wurde.

gefüllt werden. Dann wird reichlich Salzsole darauf gegossen und eine abschließende, dicke Schicht Salz darüber gesprenkelt, bevor der Krug mit Stoff versiegelt und mit einem Deckel verschlossen wird. nach dem reifeprozess enthält der Krug eine flüssige und eine feste Substanz: die Sojasoße ganjang und und die Sojabohnenpaste Doenjang. Die „Jang-Trennung“ – der Krug wird geöffnet, die schwärzlich gefärbte, fest gewordene Salzschicht entfernt und der gereifte Inhalt nach ganjang und Doenjang geteilt – erfolgt in der regel rund 40 Tage nach der Füllung des Kruges, doch Familie Yun wartet etwa sechs Monate. Die 2 auf diese Weise frisch hergestellte ganjang 1 Seit die Familie Yun mit der Kommerzialisierung wird dann mit der Ssi-ganjang gemischt, Harmonie aus Salz, Wasser und Hinihrer Sojasoße und Sojabohnenpaste begonnen hat, wodurch sich der geschmack vertieft. gabe werden jedes Jahr im 10. Mondmonat 100 Sack Der Familientradition entsprechend wird Die wichtigste aufgabe des Jahres, die Sojabohnen gekocht, um daraus die Meju-Blöcke herzustellen. nach dem Einlegen der Meju-Blöcke ein die älteste Schwiegertocher dieser Jong2 Die gekochten Sojabohnen werden zerstoßen und Stück hanji-Maulbeerbaumpapier in die ga-Stammfamilie zu erledigen hat, steht zu Blöcken geformt, die dann eine Woche auf dem Form einer traditionellen koreanischen im zehnten Mondmonat an, wenn in einem mit Strohmatten ausgelegten holzdielenboden getrocknet werden, bevor man sie für rund einen Stoffsocke (Beoseon) geschnitten, mit den ersten arbeitsschritt die herstellung der Monat zum Trocknen unter die Dachtraufe hängt. Zeichen für „honigkrug“ beschriftet und fermentierten Sojabohnenblöcke Meju zu Die Meju-Blöcke kommen dann in Krüge, wo sie mit umgekehrt auf den Krug geklebt. Dahinter beaufsichtigen ist. Dafür werden sieben Sole übergossen und reifen gelassen werden, bis sich Sojasoße und Sojabohnenpaste scheiden. steht der Wunsch, dass die neue Sojasoße Säcke Sojabohnen aufgekocht, in Steinsüß wie honig schmecken möge. Was die mörsern zerstampft und zu ziegelsteinartiungewöhnliche Form des Papiers betrifft, so heißt es, dass früher gen Blöcken geformt. abgesehen davon, dass zur arbeitserleichtedas strapazierfähigste Papier, das in jedem haushalt leicht zu finrung der Steinmörser durch eine Mühle ersetzt wurde, hat sich an der traditionellen herstellungsmethode nichts geändert. den war, das Papierschnittmuster für Beoseon-Socken war. Bei der Meju- und Jang-herstellung ist hingebungsvolle Sorgfalt Das geheimnis der Erb-Sojasoße ist v.a. das Salz. Die Yun-Familie das allerwichtigste. Die Meju-Blöcke werden zunächst für gut eine verwendet nur Solarsalz allerbester Qualität, das aus dem WestWoche auf dem Boden der mit Strohmatten ausgelegten holzdiemeer gewonnen wird. Das Salz sollte durchscheinend glänzen, von leicht knuspriger Konsistenz wie frisch gemahlener reis sein, und, le trocknen gelassen. Dann werden sie mit Strohseilen umwickelt wenn man es in der Faust drückt, lose von den Fingern rieseln. und für einen Monat unter die Dachtraufe gehängt, bis sie von goldEin weiteres geheimnis ist das Wasser, das aus der Quelle im hof farbenen Schimmelpilzen bedeckt sind. anschließend trocknen sie des hauses kommt und so einzigartig schmeckt, dass es sogar in weitere zehn Tage an der Sonne. entfernten Dörfern der gegend bekannt ist. Bei solch einem süß Der zweite arbeitsschritt beginnt am ersten oder zweiten gaboschmeckenden Wasser kann die Jang nur gut schmecken! Tag (holz-Pferd-Tag nach der chinesischen himmelsstamm-Erd„auch heute noch kommen Leute zu uns, die den geschmack des zweigrechnung; der Tag soll frei von bösen geistern sein). Die hart Wassers nicht vergessen können. Früher wurde den arbeitern, die getrockneten Meju-Blöcke werden in einem Vorratskrug aufeinanunserer Familie im Sommer bei der arbeit auf dem Bohnenfeld der gestapelt, wobei die Lücken mit abgebrochenen Meju-Stücken KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 47


1 1 Besondere Delikatessen des haushalts sind reiskuchensuppe (links) und Sojasoßen-Kimchi, hergestellt mit der Erb-Sojasoße. 2 Leicht goldbraun gegrillt und in die Erb-Sojasoße gedippt ergeben die reiskuchenwürste einen leckeren Snack. 3 Yun gyeong-nam würzt ihren Sojasoßen-Kimchi mit Erb-Sojasoße.

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geholfen haben, zur Erfrischung nicht Makgeolli-reiswein, sondern eine Schale kaltes Wasser mit ein paar Spritzern Sojasoße angeboten. Das hat nicht nur den Durst gestillt, sondern auch den Körper abgekühlt“ – so Yun. Das letzte geheimnis ist jedoch Sorgfalt und hingabe. Dem weisen rat der Vorfahren folgend, „bei der Jang-herstellung die Soße wie eine gereizte Schwiegermutter zu behandeln“, wird jeder einzelne herstellungsschritt mit Konzentration und hingabe ausgeführt.

Jang-Kimchi und Gaji-Kimchi Sojasoße ist auch das geheimnis der Spezialitäten der Yun-Familie: Jang (Sojasoßen)-Kimchi und gaji (auberginen)-Kimchi. Für den Sojasoßen-Kimchi werden rettich- und Chinakohlstücke zusammen mit Wasserfenchel, Knoblauch, Kastanien und koreanische nashi-Birnen in eine mit Sojasoße abgeschmeckten Brühe gegeben, wobei der Kimchi gleich gegessen werden kann. Die Besonderheit von gaji-Kimchi ist, dass die auberginen nicht roh eingelegt, sondern blanchiert werden. Die aubergine wird in Stücke von angemessener Länge geschnitten, die an einer Seite kreuzweise eingeschnitten und dann blanchiert werden. Die Schnittstellen werden mit einer Mischung aus Knoblauch-Schnittlauch, Knoblauch, Ingwer, Chilipulver und Sojasoße gefüllt. nach der Yin-Yang-nahrungsmittel-Klassifikation haben auberginen eine kühlende und Knoblauch-Schnittlauch eine wärmende Wirkung, die durch die Sojasoße in Einklang gebracht wird. Yun erzählt: „Schon seit Kindesbeinen an bin ich daran gewöhnt, dass viele gäste zum Essen kommen. Deshalb gerate ich auch heute nicht in Panik, wenn ich viele gäste bewirten soll. Manchmal bedauere ich aber, dass ich nicht gelernt habe, wie meine großmutter und Mutter scheinbar mühelos Spezialitäten auf den Tisch zauberten. Meine Mutter hat z.B. verschiedene Zutaten fest mit blanchiertem Wasserfenchel umwickelt und diese in Blumenform arrangierten häppchen den gästen gereicht. Da ich oft genug zugesehen habe, war ich mir sicher, es auch zu können, aber jetzt beherrscht die Zubereitung keiner in der Familie mehr richtig.“ Mut zur Kommerzialisierung Der grundriss der Frauengemächer des Myeonjae-hauses ist Spiegel des respekts für die darin lebenden Frauen und ihre haushaltsarbeiten. Im Vergleich zur größe des anwesens ist der Weg zwischen Küche und herrengemächern relativ kurz und der Kochbereich großzügig geschnitten. an jeder Seite der Küche befindet sich ein Durchgang zu anderen räumen und die Zwischenmauer zwischen den Frauen- und den herrengemächern ist so niedrig gehalten, dass ein Blick aus den Frauengemächern reicht, um zu wissen, wie viele gäste gekommen sind. Yun gyeong-nam erzählt: „Ich erinnere mich noch daran, wie großmutter immer wieder in den Lager- und arbeitsraum hinter der Küche ging und mit einem herzerwärmenden Lächeln sagte: ‚Ich wollte nur mal nachschauen, wie es unserer edlen Erb-Sojasoße

geht’. Ich denke, dieser Stolz der hausherrin machte die Frauen hier im hause glücklich“. Sie fügt hinzu: „Mein großvater, der meine Mutter sehr schätzte, sagte ermahnend, dass nur eine böse Schwiegermutter der Schwiegertochter das Leben schwer mache. Selbst wenn meine Mutter einen ernsthaften Fehler gemacht hatte, sah er ohne Tadel darüber hinweg und erklärte, dass auch die Älteren, die sie nicht rechtzeitig gewarnt hätten, Schuld trügen. Es herrschte allgemein die Stimmung, dass auch Frauen sagen dürfen, was sie sagen möchten, weshalb bei uns zu hause Frauen nicht diskriminiert oder unterdrückt wurden“. Yuns Schilderungen lassen an folgende alte koreanische Spruchweisheit denken: „Eine Familie, deren ganjang süß schmeckt, ist eine glückliche Familie“. Die Kommerzialisierung von Sojasoße und -paste der Familie Yun, die lange nur in der Familie verteilt worden waren, ist hwang hye-seong zu verdanken, einer mittlerweile verstorbenen Expertin für traditionelle koreanische Küche. Sie hörte von der Erb-Sojasoße der Familie Yun und fragte, nachdem sie sie gekostet hatte, warum „etwas so gutes der Welt vorenthalten werde.“ anfangs zögerte Yun etwas, doch als ihre Bekannten, die den hervorragenden Jang-geschmack lobten, sie drängten, wagte sie vor einigen Jahren den großen Sprung. Unter dem namen gyodong („gyo“: Schule, „dong“: Osten; das haus Myeongjae liegt östlich einer ehemaligen konfuzianischen Dorfschule aus der Joseon-Zeit) wird Sojasoße in Flaschen von 900ml und 500ml und Sojapaste in Behältern von 450g und 900g verkauft. „Eines Tages besuchte mich eine Freundin mit ihrer Enkelin. Da ich nichts für die Kleine im haus hatte, brachte ich ihr weiße reiskuchenwürste mit Sojasoße zum Dippen. Da ich wusste, dass sie Fastfood mochte, befürchtete ich, dass sie den Snack nicht mögen würde, aber nach ein, zwei Bissen verputzte sie alles und sagte: ‚Das scheint gar keine Sojasoße zu sein. Das schmeckt ja süß!’ Ich war völlig überrascht“, erinnert sich Yun. Bis vor einigen Jahren wurden zuerst die Meju-Blöcke hergestellt und danach der Wintervorrat-Kimchi eingelegt, heute ist es umgekehrt, da Soßen- und Pastenproduktion gestiegen sind. Statt 7 werden heute über 100 Säcke Sojabohnen aufgekocht, ein großprojekt, das das ganze Dorf in aufgeregte Festtagsstimmung versetzt. Während der reifephase lockt der geruch, der den atmungsaktiven Tonkrügen entströmt, die Bienen an, die summend ihre Kreise ziehen. „Ich führe gespräche mit den Krügen. Jeden einzelnen Krug prüfe ich aufmerksam und lege einen kleinen Stein auf den Deckel. Die anzahl der Steine ist mein geheimcode. Meine aufgabe ist es, den in unserer Familie über generationen überlieferten Jang-geschmack getreu zu tradieren und mit immer mehr Menschen zu teilen. aber selbst wenn ich mein ganzes herz und meine ganze Zeit der herstellung dieser traditionellen gewürze widme, wird es nie genug sein können“.

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VERLIEbt IN KOREA

IRINA KORGUN RuSSISCHE WIRtSCHAftSExPERtIN uNd LIEbHAbERIN KOREANISCHER VOLKSMALEREI Kim Hyun-sook Leiterin von K-MovieLove Fotos Ahn Hong-beom

Prof. dr. Irina Korgun, die seit acht Jahren in Seoul lebt, fährt oft mit der u-bahn. denn für sie, die im Rahmen ihrer Wirtschaftsforschungen v.a. das Leben der koreanischen bevölkerung aufmerksam verfolgt, gibt es keinen lebendigeren Ort. Ihr traum ist, einmal als Expertin für koreanische Wirtschaft für eine internationale Organisation zu arbeiten. 50 KoREANA Sommer 2016


ünktlich erscheint Professorin Irina Korgun vor dem Hauptgebäude der Hankuk University of Foreign Studies (HUFS) zu unserer Verabredung. Wohl wegen ihrer zierlichen Gestalt fällt sie in der Menge koreanischer Studenten und Dozenten kaum auf. Sie hält ein Vitamingetränk in der Hand, das sie im gerade zu Ende gegangenen Unterricht von einem Studenten bekommen hat. „Er hat gerade seinen Militärdienst hinter sich. Im Gegensatz zu Russland, wo die Professoren eher autoritär sind, besteht in Korea ein weniger distanziertes Verhältnis zwischen Professoren und Studenten. Die Professoren müssen natürlich gut in der Lehre sein, aber sie hören auch den Interessen und Sorgen der Studenten zu und beraten sie in Bezug auf ihre künftige Laufbahn.“

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Am Menschen orientierte Vor-Ort-forschung Vier Jahre lang arbeitete Irina Korgun als Forschungsprofessorin am Institute of Russian Studies an der HUFS, bevor sie 2015 Assistenzprofessorin in der Abteilung für Russistik wurde. In diesem Frühling begann ihr zweites Semester. Sie unterrichtet Russisch für Fortgeschrittene und nutzt dabei wirtschaftsbezogenes Unterrichtsmaterial. „In meine Sprechstunde kommen viele Studenten der Graduiertenschulen, die Arbeiten zur koreanischen und russischen Wirtschaft schreibeobv, und Studierende, die einen Studienaufenthalt in Russland planen. An der HUFS soll die Einstellungsquote in der Russistik-Abteilung am höchsten sein.“ Betritt man ihr Büro, fallen einem zunächst die dekorativen Stücke mit Abbildungen von Tschechow, Tolstoi und Dostojewski auf. Die Liebe der Koreaner zur russischen Literatur erstaune sie, ihr persönliches Lieblingswerk sei Die Brüder Karamasow. „Die Vorliebe der Koreaner für russische Literatur rührt daher, dass quasi in den Seelen beider Völker das Gefühl des ‚Han‘ wohnt, eine Mischung aus Trauer, Schmerz, Erbitterung und Groll. Während die amerikanische Literatur auf Optimismus basiert, beruht die russische und koreanische Literatur auf Trauer“, so ihre Erklärung. Als weitere Gemeinsamkeit beider Länder nennt Frau Professor Korgun die aus eingelegtem, fermentiertem Chinakohl hergestellte koreanische Beilage Kimchi: „Auch in Russland wird nach der Ernte im Herbst Kohl für den Winter eingelegt, aus dem dann der herzhafte Eintopf Schitschi gekocht wird.“ Für Russen eher ungewöhnlich, studierte Korgun im Hauptfach Wirtschaft Koreas. Während ihres Studiums der Wirtschaft Ostasiens fühlte sie sich bald von der Wirtschaft Koreas fasziniert.

Sie interessierte sich besonders für die auf dem Export basierte, rasche Wirtschaftsentwicklung Koreas, über die sie dann ihre 2010 an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg eingereichte Dissertation schrieb. „Wachstum und Entwicklung der koreanischen Wirtschaft sind unter verschiedenen Aspekten ein interessantes Thema. Natürlich gibt es dazu bereits zahlreiche Studien von koreanischen Wirtschaftswissenschaftlern, aber diesbezügliche Forschungen aus der Sicht ausländischer Wissenschaftler sind ebenfalls von Bedeutung. Denn es gibt Unterschiede, ob eine Sache von innen oder von außen betrachtet wird.“ Zurzeit beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Rolle ausländische Wirtschaftshilfe spielte und analysiert diesbezüglich Position und Haltung Koreas als Empfängerland. Auch der Einfluss Japans auf Koreas wirtschaftliche Entwicklung interessiert sie. Zum Beispiel baute Japan während der Kolonialzeit (1910-1945) das Eisenbahnnetz in Korea auf und Korgun untersucht unter verschiedenen Aspekten, ob das Korea Nutzen oder Schaden brachte. Am Tag des Interviews legte sie – zwei Tage vor Fristablauf – letzte Hand an den von ihr verfassten Korea-Teil eines Sammelbandes über ausländische Direktinvestitionen in Russland. Im November wird das von fünf internationalen Experten verfasste Werk bei dem britischen Verlag Routledge erscheinen. Als Wirtschaftswissenschaftlerin, die zu Korea forscht, basiert ihre methodologische Herangehensweise auf soziokulturellen Beobachtungen. So unterscheiden sich ihre Arbeiten deutlich von anderen wissenschaftlichen Beiträgen aus Russland, die sich auf Fachliteratur stützen. Den Schlüssel ihres Verständnisses der koreanischen Wirtschaft bilden „Menschen“ und „ Vor-Ort-Beobachtungen“, denn sie forscht in Korea, in Koreanisch und zusammen mit koreanischen Wissenschaftlern. Korgun fährt stets U-Bahn und studiert die Menschen. „Mittlerweile ist es zur Gewohnheit geworden, auf die Handybildschirme meiner Sitznachbarn zu schielen und die SMS-Messages der älteren Frauen mitzulesen“, sagte sie lächelnd. Solche SMS-Kontakte der Frauen mit ihren Familien, Ladenschilder oder die Kulturzentren der Kaufhäuser geben ihr Aufschluss über Korea. Ab und zu schreibt sie Kolumnen für koreanische Tageszeitungen, wobei ihre Beobachtungen und Erfahrungen zu Themen wie Anti-Japan-Haltung, Anti-Großkonzern-Stimmung, Einstellung gegenüber China oder den USA, Power der Hallyu-Koreawelle, Wirtschaftskooperation zwischen Korea und Russland usw. vor allem. Resultat ihrer Beob-

Irina Korgun, die zuvor als Forschungsprofessorin am Institute of Russian Studies der Hankuk University of Foreign Studies (HUFS) arbeitete, wurde 2011 Assistenzprofessorin in der Russistik-Abteilung der HUFS.

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„Wenn ich am Wochenende in einem Café im Zentrum Seouls meinen Kaffee genieße, fühle ich mich wie in Moskau oder Paris. In Seoul kann ich mir leicht russisches Ballett anschauen oder Aufführungen von Orchestern aus aller Welt besuchen. Wenn ich mit dem Taxi fahre, suchen die Fahrer für mich Stücke von Rachmaninoff oder Tschaikowski heraus. Wie könnte ich da Seoul nicht lieben?“

achtungen und Interaktion mit der koreanischen Bevölkerung sind. Um mit den Menschen aus ihrer Umgebung ins gespräch zu kommen, hält sie immer ein Thema bereit. aus dem gleichen grund übernimmt sie auch gern die Moderation des an der hUFS ausgetragenen landesweiten russisch-Diskussionswettbewerbs. „Mir ist wohl bekannt, dass in Korea eine gewisse antipathie gegenüber „Jaebeol”, also den großkonzerne des Landes, herrscht. aber mich interessiert z.B., wie diese Konglomerate ihre Kaufhausketten managen. Im Lotte Department Store in Myeongdong in der Seouler Innenstadt gibt es z.B. eine kleine galerie. Dort besuchte ich eine kostenlose ausstellung von Drucken spanischer Maler wie Picasso und spürte, dass dieser Ort einfach eine Klasse für sich ist. Die Kulturzentren in den Kaufhäusern bieten viele kostenlose aufführungen und zudem für wenig geld gute Kurse an. Letztendlich zielen solche aktionen auf Kundenfang, aber man spürt gleichzeitig einen gewissen respekt vor dem Menschen an sich. So gibt es heutzutage auch mehr Bürgerzentren, Bibliotheken und soziale Einrichtungen für Behinderte und Senioren als in meiner anfangszeit in Korea.“

Lange Hingabe ans Koreanischlernen Professorin Korgun liebt Seoul, besonders am Wochenende. „Wenn ich am Wochenende in einem Café im Zentrum Seouls meinen Kaffee genieße, fühle ich mich wie in Moskau oder Paris. In Seoul kann ich mir leicht russisches Ballett anschauen oder aufführungen von Orchestern aus aller Welt besuchen. Wenn ich mit dem Taxi fahre, suchen die Fahrer für mich Stücke von rachmaninoff oder Tschaikowski heraus. Wie könnte ich da Seoul nicht lieben?“ an heiligabend im Jahr 2003 setzte sie das erste Mal ihren Fuß auf koreanischen Boden, um im Korean Language Institute der Yonsei Universität Koreanisch zu lernen. „An meinem ersten Tag in Seoul erschien mir die ganze Welt in Lichter getaucht. Ich ließ mich in der Seouler Innenstadt von den Menschenmassen treiben und kaufte mir ein Baskin-Robbins-Eis. Es war das erste Mal, dass ich diese Eismarke probierte.“ Danach kam sie bis 2007 in jeden Ferien nach Korea und besuchte 52 KoREANA Sommer 2016

Sprachkurse. 2007 erhielt sie ein Stipendium der Korea Foundation, sodass sie sich ein Jahr lang gezielt auf ihre Doktorarbeit vorbereiten konnte. Kurz vor Erhalt ihres Doktortitels stieß sie auf eine Stellenausschreibung des Institute of Russian Studies der HUFS, in der jeweils ein Forschungsprofessor aus den USA und einer aus Russland gesucht wurde. Sie bewarb sich umgehend und bekam eine Zusage. Seit 2011 arbeitet sie nun an der HUFS. „Die Satzstruktur im Koreanischen ist im Vergleich zum Russischen genau umgekehrt. Im Koreanischen kommt das Verb erst am Satzende. Ich musste meine bis dahin verinnerlichten Grammatikregeln total umkehren und mit der Grundgrammatik beginnen. Die Höflichkeitsendungen fielen mir am schwersten.“ Jetzt beherrscht sie Koreanisch fast perfekt. „Ich glaube, ich konnte die Sprache ordentlich lernen, weil es im Forschungsinstitut keinen einzigen Russen gab und ich mich an die gehobene Ausdrucksweise der koreanischen wissenschaftlichen Mitarbeiter gewöhnen musste.“

Eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die gerne malt Professorin Korgun stammt aus einer Architektenfamilie. Sie war eine intelligente Schülerin, die sich für Kunst, Musik und Ballett interessierte. In der Mittel- und Oberstufe bekam sie zusätzlich Privatunterricht und konzentrierte sich ganz auf das Lernen. Sie ist sprachbegabt und fühlt sich im Moment im Englischen noch immer etwas sicherer als im Koreanischen. Zurzeit lernt sie Chinesisch. Sie definiert sich selbst als jemand, der immer in Bewegung ist: „Mich irgendwohin zu bewegen, ist für mich sehr wichtig. Ein Mensch, der wandert, reist, fliegt – das bin ich.“ Acht Jahre hat sie nun schon in Korea gelebt, doch verbrachte sie auch vier Monate in Japan und sieben Monate in Großbritannien als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Das „Nomadentum“ steht auch in ihrem „Saju“ geschrieben, in den sog. „Vier Säulen des Schicksals“, aus denen man in Korea traditionell die Zukunft voraussagt. 2013, als sie sich in Paris und London auf wissenschaftliche Stellen bewarb, ließ sie einmal ihr Schicksal von einem berühmten Wahrsager deuten und erfuhr, dass sie wie „fließendes Wasser“ sei und


Sie ist der Meinung, dass ihr Leben lang „umherfließen“ der soziale Status von Frauwürde. „Mir wurde gesagt, dass Wirtschaft gut zu mir en in Korea niedriger als der passe. Ich kann da nur zustimvon Frauen in russland ist. Lächelnd meint sie, dass „auch men. Wirtschaftsbezogene auf Wissenschaftskonferenzen Forschungsaktivitäten sind und fast alle Teilnehmer männlich bleiben für mich interessant.“ sind.“ Zu den Freuden ihres Lebens als Expertin für Wirtschaftsin Korea gehört auch die Volksmalerei. Sie liebt traditionelle kooperation zwischen Korea Motive wie Kraniche, Lotusbluund russland fragte ich sie nach ihrer Beurteilung der men usw. Vielleicht entwickelwirtschaftlichen Tragbarkeit te sie bereits von klein an ein einer transsibirischen gaspipeInteresse an Farben, weil beide Elternteile architekten sind. line nach Korea. Es kam eine In ihrer Freizeit widmet sich Irina Korgun der koreanischen Volksmalerei. Fünf ihrer regelmäßig besucht sie das skeptische antwort: „Wegen Werke wurden bereits ausgestellt. atelier für Ostasiatische Kunst der rubel-Schwäche ist das im Seouler Stadtbezirk apgudas handelsvolumen auf einem Tiefstand. auch hat die russisch-koreanische Energie-Kojeong-dong und hat bisher schon fünf großformatige Bilder gemalt, die auch schon ausgestellt wurden. Eins davon ließ sie rahmen und operation an Fahrt verloren. nur 4% der koreanischen gasimporte schickte es ihrer Doktormutter in Sankt Petersburg als geschenk. kommen noch aus russland. Der grund hierfür ist, dass die beiZwei weitere gingen an ihre Mutter und ihre Schwester, eins hängt den Länder in der Energie-Kooperation unterschiedliche Ziele verbei ihr zu hause. Für ein Werk braucht sie rund fünf Monate. folgen. Korea will günstigere Preise, russland sucht SpitzentechIch traf Frau Korgun am 5. März, drei Tage vor dem Weltfrauentag. nologie-Transfer. Meiner Meinung nach sollte der bilaterale hanIhrer Meinung nach lässt sich an den Feierlichkeiten zum Weltdel nicht im Bereich gas, sondern im Bauwesen oder der Medizin angesiedelt werden.“ frauentag ablesen, ob ein Land kapitalistisch oder sozialistisch sei. Die Möglichkeit sei zwar gering, aber es sei ihr Traum, als Expertin In den letzteren Ländern werde der Tag großartig gefeiert, wähfür koreanische Wirtschaft in einer internationalen Organisation wie rend er in den ersteren kaum groß begangen werde. Sie zeigte mir der UnO, der OECD oder UnCTaD zu arbeiten. auf meine nachfraeine gratulationsnachricht, die sie morgens aus russland erhalten hatte, und erklärte, dass sie glücklich sei, als Frau geboren zu sein. ge, warum die Möglichkeit denn gering sei, antwortete sie lächelnd „nach der revolution ist kaum eine russische Frau als hausfrau mit einer gegenfrage: „Es gibt doch so viele Koreaner, die Experzu hause geblieben. Es kommt auch oft vor, dass Frauen Manageten für koreanische Wirtschaft sind. Wie hoch soll da die Wahrrinnen von Fabriken sind, die Maschinen herstellen. auch meine scheinlichkeit sein, dass man ausgerechnet jemand aus russland Mutter hat ihr Leben lang gearbeitet. Ich kann mich noch daran nimmt?“ erinnern, wie ich im Kindergarten bis spät abends auf sie gewartet habe.“ KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 53


EIN GANZ NORMALER tAG

EIN EINTÖNIGER, ABER INTENSIVER ALLTAG Kunstlehrerin Kim Won-gyo Sie ist Kunstlehrerin an einer Oberschule, an der sie mehr als zwölf Stunden täglich verbringt. Ihren Lebensmittelpunkt bilden die Schule, ihre tochter und ihre bilderwelt, die sie wiederentdeckte, als das unterrichten zur reinen Routine geworden war. Kim Seo-ryung Schriftstellerin, Leiterin des Old & Deep Story Lab Fotos Ahn Hong-beom

U h r : K i m Wo n - g yo wacht wie jeden Morgen durch das Klingeln des Weckers auf, macht leichte Dehnübungen und frühstückt. In der Schule gibt es zwar ein gemeinsames Mittagessen für alle, aber da sie Gemüse bevorzugt, bereitet sie ihre eigene Lunch-Box vor. Um 06:40 Uhr verlässt sie ihre Wohnung in Sanggye-dong im Nordostteil Seouls. Bis zur Schule sind es vierzig Autominuten. Frau Kim (51) ist Kunstlehrerin an der Kwangdong High School in Namyangju, Provinz Gyeonggi-do. Als sie Klassenlehrerin war, musste sie mehrmals zur örtlichen Polizeistation, um Problemkinder abzuholen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass Kinder oft nach den Eltern schlagen, sei es in Bezug auf Schüchternheit oder Raubeinigkeit. In diesem Jahr leitet Frau Kim keine eigene Klasse, sondern ist für die Abteilung für außercurriculare Schülerbetreuung zuständig, weshalb sie jeden Morgen in den engen, stark befahrenen Gassen vor der Schule dafür sorgt, dass die Schüler heil ankommen. Daher muss sie bereits um 07:30 Uhr in der Schule sein.

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Mitleid mit den Schülern Kims Auffassung nach sollte der Kunstunterricht dazu dienen, die Sensibilität zu fördern. Deshalb lässt sie weniger Landschaften oder Stillleben malen, sondern fordert die Schüler dazu auf, Gedichte oder Prosa zu lesen und die dadurch evozierten Gedankenbilder zu malen. „Wenn ich sehe, wie die Kinder ihre Lieblingsverse bildlich umsetzen, bin ich wirklich glücklich und stolz, Lehrerin geworden zu sein. Ich habe immer geglaubt, weniger talentiert als andere zu sein und versucht, das mangelnde Talent durch Fleiß wettzumachen, sodass ich schließlich gut malen lernte. Meinen Schülern möchte ich genau das beibringen, doch bei den Kindern heutzutage funktioniert das nicht so recht.“ Der Unterricht in der Oberschule fokussiert auf die Vorbereitung für die Hochschulreifeprüfung, sodass der Kunstunterricht, der in diesem Zusammenhang irrelevant ist, nach Gutdünken der jeweiligen Schulen angeboten wird. Die Schüler der Kwangdong High School haben nur im zweiten Oberschuljahr drei Wochenstunden Kunstunterricht. Daher ist die Stimmung in diesem regulären Unterricht verglichen mit dem extracurricularen Kunstunterricht


für Schüler, die sich an einer Kunsthochschule bewerben möchten, äußerst locker. Es gibt auch immer wieder Schüler, die wegen der ständigen, bis spätabends gehenden Privatstunden während Kims Unterricht über den Tisch gebeugt schlafen. Der anblick weckt in ihr tiefes Mitleid – „Wie erschöpft sie sein müssen...“ – weshalb sie nie jemanden weckt. genau so viel Mitgefühl hat sie mit Schülern, die ihre Zukunft zwar nicht in der Kunst sehen, aber völlig ins Malen vertieft sind, da diese Jugendlichen vor lauter Pauken kaum Zeit für das haben, was ihnen Spaß macht. Während ihres Studiums unterrichtete Kim an der Sungin Jugendschule im Seouler Bezirk Dongdaemu-gu, einer abendschule für Jugendliche, die aufgrund finanzieller Probleme keine reguläre Schule besuchen konnten. „Es waren Schüler, die tagsüber in Fabriken arbeiteten und abends lernten, um die Äquivalenzprüfung für den Eintritt in Oberschule bzw. hochschule zu schaffen. nach dem Unterricht verbrachte ich noch etwas Zeit mit ihnen.“ Völlig von Studium und Unterrichten in anspruch genommen, blieb Kim keine Zeit für einen Freund, sie lernte aber Unterrichtstechniken und erfuhr die Freude des Unterrichtens. „Ich heiße Won-gyo. Das chinesische Zeichen ‚Won (元)‘ steht für ‚das Beste‘, und ‚gyo (敎)‘ für ‚Unterrichten‘. Damals habe ich wirklich mit dem gefühl unterrichtet, die beste Lehrerin zu sein.“

Kim Won-gyo, Kunstlehrerin an der Kwangdong high School, im Kreise ihrer Schüler im 2. Oberschuljahr. Um besser mit den Schülern kommunizieren zu können, machte sie eine ausbildung zur Beratungslehrerin.

„Wenn du deinen Pinsel zehn Jahre nicht aus der Hand legst…“ Zurzeit unterrichtet sie ca. vier Stunden pro Tag. Wenn sie die aufsicht für das abendliche Selbststudium der Schüler und die extracurricularen Kurse hinter sich gebracht hat, ist sie gegen 21.00 Uhr wieder zu hause. So bleibt kaum Zeit für Sport oder fürs Malen. Dennoch hat sie bisher bereits vier ausstellungen veranstaltet. In der letzten ausstellung im Dezember 2014 im ganainsa art Center im Seouler Statteil Insa-dong wurden rund 50 ihrer Werke gezeigt. Darunter war auch das Bild einer Buddha-Statue, das mit 420 x 175cm eine ganze Wand einnahm. Dieses Werk mit dem Titel Blumengirlande in meinem herzen – Bekehrung zu avalokiteshvara zeigt das Bildnis des hauptbuddha in der Seokguram-grotte in gyeongju vor dem hintergrund eines immensen Patchwork-Designs nach art der traditionellen hanfleinenen Bojagi-Einschlagtücher. Bei genauer Betrachtung wirken die hanfleinenfasern geradzu lebendig. Kim erklärt: „Faser für Faser zu malen, war wie eine art gebet und kostete unglaublich viel Zeit. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 55


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„Ich spüre, dass es mir immer schwerer fällt, eine gute Lehrerin zu sein. Daher überlege ich mir in letzter Zeit manchmal, aufzuhören und mich nur noch aufs Malen zu konzentrieren. Aber dennoch: Wenn ich morgens meine Schüler treffe, bin ich wieder voller Energie.“ Jede freie Minute verbrachte ich im Kunstatelier der Schule und malte jede Faser einzeln. Es brauchte über zwei Jahre unermüdlicher arbeit, bis das Bild schließlich gestalt annahm.“ Die Besucher waren hingerissen. Einige meinten, das Betrachten des gemäldes hätte sie mit innerem Frieden erfüllt; manche buddhistische Mönche kamen drei, vier Mal in die ausstellung und standen versunken vor dem Buddha-Bildnis. „Won-gyo, erst wenn du den Pinsel zehn Jahre nicht niedergelegt hast, werden aus deiner hand Werke hervorgehen. Legst du ihn aber auch nur einmal beiseite, wird es schwer sein, ihn wieder in die hand zu nehmen“, sagte ihr einst Prof. hwang Chang-bae, Kims Lehrer und Mentor während des Studiums. Kim klammerte sich an diese Worten und ließ den Pinsel nie los, egal, wie viel arbeit in der Schule anstand. Die unterrichtsfreien Stunden verbrachte sie nicht mit Plauderei und wenn sie nach der Schule völlig erschöpft nach hause kam, malte sie weiter. nur deswegen, denkt sie, konnte sie ein so an 56 KoREANA Sommer 2016

den Kräften zehrendes Werk vollbringen. Diese Beharrlichkeit forderte ihren Tribut: „Da ich lange in der gleichen Position ausharrte, verkrümmte sich meine Wirbelsäule. Doch auch während meiner Skoliose-Therapie konnte ich nicht mit dem Malen aufhören.“

Mit dem Herzen einer Mutter Frau Kim wurde zudem nach einer entsprechenden ausbildung von der Schulleitung als Beratungslehrerin eingesetzt. „Viele Schüler stehen in einem inneren Konflikt zwischen Disziplin und Ordnung, die die Schule verlangt, und der in ihnen brodelnden Leidenschaft der Jugend. Meiner Tochter erging es in der Pubertät nicht anders. Sie hörte nicht auf mich und war auch nicht bereit, sich mir gegenüber zu öffnen. Ich dachte, dass meine Versuche, sie zum Kommunizieren bringen zu wollen, nicht ausreichen und beschloss, die ausbildung zur zertifizierten Beratungslehrkraft zu machen. Dabei lernte ich neben verschiedenen Kommunikationstechniken auch,


1 Für Kim ist Malen auch eine art akt des Betens. als sie mit dem Malen begann, betete sie für sich und die Menschen um sie herum. heute betet sie, dass die Welt ein glücklicherer Ort werden möge. 2 Ein ausschnitt aus Kims Werk Blumengirlande in meinem herzen – Bekehrung zu avalokiteshvara , das Darstellungen gnädiger Boddhisattva mit Patchwork-Designs der traditionellen Bojagi-Einschlagtücher verbindet.

eine Situation aus Sicht der Schüler zu betrachten und wie sie zu denken.“ Kim Won-gyo bemüht sich, für ihre Schüler eine zweite Mutter zu sein. Womöglich gibt es daher ab und zu Schüler, die heimlich zu ihr kommen und sie in ihre Probleme einweihen. „Wir hatten eine Schülerin, die während ihrer gesamten Mittelschulzeit von drei Jahren kein einziges Wort gesprochen haben soll. Sie war zart besaitet und einmal tief verletzt worden. Jeden Tag malte ich mit ihr zusammen. Ohne Fragen zu stellen oder gar Predigten zu halten, klopfte ich ihr ab und zu mal aufmunternd auf die Schulter oder hielt ihre hand. nach zwei Jahren kam sie dann eines Tages zu mir und sagte ‚Danke, Frau Kim‘. In dem Moment war ich unbeschreiblich glücklich. Kurz darauf begann sie, Freundschaften zu schließen.“

trost im Malen finden Kim Won-gyo führt ein einfaches Leben. Es besteht aus Schule, ihrer Tochter und Malen. Sie geht nicht oft aus, trifft selten Freunde und geht kaum shoppen. Diese Idiosynkrasie rührt zum Teil von ihrem Charakter, zum Teil von den Umständen. Schon sehr früh verlor sie ihren Ehemann. „Dass sie ihren Mann früh verlor und das einzige Kind allein erziehen musste, sind wichtige Punkte ihrer Biographie und ihrer Kunstwelt. nicht selten riet man ihr, wieder zu heiraten,

doch sie dachte nicht einmal im Traum daran, und zwar weniger wegen der Erinnerung an ihren Mann als wegen ihrer Leidenschaft fürs Malen. „Meine Ehe war wie jede andere. Es war keine Liebesheirat. Mein Onkel war Direktor einer Oberschule. Er stellte mir einen seiner früheren Musterschüler vor.“ Sechs Monate nach der ersten Begegnung war hochzeit, ein Jahr später kam die Tochter zur Welt. als die Tochter zwei Jahre alt war, verunglückte ihr Ehemann tödlich. Die meiste Zeit hatten sie eine Fernbeziehung gepflegt, da Frau Kim in Seoul als Lehrerin arbeitete und ihr Mann in Daegu promovierte. Sie war gerade 31, als das Unglück passierte, und konnte nicht glauben, dass ihr Mann nicht mehr da sein sollte. „Manchmal vergesse ich die Tatsache, dass ich überhaupt einmal verheiratet war, ich bin so fixiert aufs Malen, dass daneben nichts mehr zu existieren scheint.“ Ihre jüngere Schwester war ihr eine große hilfe bei der Erziehung der Tochter, die mittlerweile ein aufbaustudium macht und engeren Kontakt zur Tante als zur Mutter hat. als ihre Tochter noch klein war, kam sie eines Tages aus dem Kindergarten zurück und fragte: „Wieso habe ich keinen Vater?“ „auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Da mein Mann Professor hatte werden wollen, antwortete ich ohne groß zu überlegen, dass ihr Vater in die USa gegangen sei, um dort als Professor zu arbeiten. als sie zehn war, habe ich ihr dann die Wahrheit gesagt. Sie hat sehr geweint, seitdem aber keine einzige Frage mehr über ihn gestellt.“ als Frau Kim in der routine des Unterrichtens unterzugehen drohte, fand sie einen neuen Mentor: den für seine traditionellen Tuschemalereien bekannten Maler Park Dae-seong, dessen ausdrucksstarke Werke bei einem Besuch einer ausstellung einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatten. Sie suchte ihn in gyeongju auf, der Stadt der Buddha-Figuren und Pagoden mit ihrer tausendjährigen geschichte als hauptstadt des Silla-Königreichs (57 v. Chr. bis 935), und bat ihn, sie als Schülerin anzunehmen. „nachdem er mich angenommen hatte, fuhr ich zehn Jahre lang jedes Wochenende nach gyeongju. Zum Malen müsse man eine gewisse Kraft in den Pinsel legen und um das zu lernen, seien Kalligraphie-übungen gut, wies mich Meister Park an. Seitdem übe ich mich regelmäßig in Kalligraphie.“ neben Kalligraphie übte sich Kim auch in der Darstellung von Buddha-Statuen und Pagoden. alleine schon das Betrachten von Pagoden und Buddha-Statuen erfülle sie mit innerer ruhe und beim Malen erhalte diese Stille weiter an gewicht. „Ich spüre, dass es mir immer schwerer fällt, eine gute Lehrerin zu sein. Daher überlege ich mir in letzter Zeit manchmal, aufzuhören und mich nur noch aufs Malen zu konzentrieren. Doch wahrscheinlich kann ich das erst ernsthafter in Betracht ziehen, wenn ich in Pension gehe. Seit meine Tochter erwachsen ist, fällt es mir immer schwerer, auf augenhöhe mit meinen Schülern zu denken. aber dennoch: Wenn ich morgens meine Schüler treffe, bin ich wieder voller Energie. Ich bin ja die geborene ‚beste Lehrerin‘, wie mein name ‚Won-gyo‘ schon sagt.“ Ein breites Lächeln huscht über Kims ernstes gesicht. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 57


RuNd uM ZutAtEN

MU

Kim Jin-young Geschäftsführer, Traveler’s Kitchen Fotos Shim byung-woo

„GINSENG DES WINTERS“ UND DES REIS BESTER FREUND Auf einen typisch koreanischen Esstisch kommt neben dem Grundnahrungsmittel Reis so gut wie immer auch eine aus Mu (weißer Rettich) zubereitete beilage. Rettich ist nicht nur wegen seines Geschmacks, der gut mit dem von Reis harmoniert, beliebt, sondern auch, weil er früher im Winter, wenn frisches Gemüse rar war, als Hauptlieferant von Vitamin C diente. Heutzutage wird Rettich zu jeder Jahreszeit angebaut, doch Woldongmu (Winterrettich) der auf den Inseln in den südlichen Gewässern, wo die Winter relativ mild sind, angebaut wird, ist am schmackhaftesten.

eben Würzgemüse ist Mu eine der beliebtesten Gemüsesorten in Korea. Während in Europa roter Rettich (Radieschen) roh oder als Salatzutat gegessen wird und in Japan der als „Daikon“ bekannte weiße Rettich als Zutat für Fisch-Schmorgerichte, Soba-Buchweizennudeln oder Miso-Suppe (Suppe auf Sojabohnenpastenbasis) verwendet, als Pickle serviert oder roh und geschabt als Sashimi-Garnierung eingesetzt wird, nutzt man Rettich in Korea als Zutat für Kimchi, Suppen und Eintöpfe, aber auch als Grundbestandteil für Brühen der unterschiedlichsten Art. Zählt man Siraegi (getrocknete Rettichblätter) und Mumallaengi (in schmale Streifen geschnittener, getrockneter Rettich) hinzu, kann man sagen, dass Rettich so gut wie täglich auf dem koreanischen Speiseplan steht. Auch der Fakt, dass Rettich reich

an Amylase ist, einem Enzym, das Stärke auflöst und so verdauungsfördernd wirkt, erklärt, warum die Koreaner, deren Hauptnahrungsmittel Reis ist, seit jeher viel Rettich essen.

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1 Klare Rettichsuppe erfreut sich genereller Beliebtheit bei den Koreanern. Rindfleisch- und Rettichstücke werden in Sesamöl in der Pfanne kurzgebraten, mit Wasser und Sojasoße gekocht und mit Salz und Peffer abgeschmeckt. 2 Die Wurzel eines frisch aus der Erde gezogenen Rettichs ist knackig und süß. Die grünen Blätter werden getrocknet, um später in Sojabohnenpasten-Stews oder als Gemüsebeilage Verwendung zu finden.

„Winter-Ginseng“ – eine wertvolle Vitaminquelle Bis in die 1970er Jahre, als der Gewächshausanbau in Korea noch kaum entwickelt und Gemüse im Winter enstprechend rar und wertvoll war, wurde der im Herbst geerntete Rettich tief in der Erde vergraben, um ihn vor Frost zu schützen. Den ganzen Winter über wurden aus diesem Vorrat Beilagen zubereitet. Aber er wurde auch geschält und einfach roh gegessen. Auch wenn Rettich nicht so süß wie Obst schmeckte, war er doch wegen seines erfrischenden, süßlich-milden Geschmacks ein beliebter Mitternachtsnack. Dieser Winters-


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snack-rettich wurde auch „Dongsam“ (Winterginseng) genannt. Der Vergleich mit dem teuren ginseng, dem hohe heilkraft zugesprochen wird, ist der Tatsache zu verdanken, dass rettich gerade im Winter ein lebenswichtiger Vitamin-C-Spender war. heutzutage wird rettich zu allen vier Jahreszeiten angebaut, wobei die Jahresproduktion die jeder anderen gemüsesorte übersteigt. Unter den verschiedenen rettich-Sorten gilt der winterharte rettich als der schmackhafteste. In den südlichen regionen Koreas fällt die Temperatur auch in hochwinternächten nur selten unter null grad. Je mehr Winternächten mit Temperaturen zwischen null und zehn grad der rettich ausgesetzt ist, desto süßer schmeckt er. Bei dem Prozess, die tagsüber mittels Photosynthese gebildete Stärke zum Schutz vor der nächtlichen Kälte schnell in glucose verwandelt wird, intensiviert sich nämlich der süßliche geschmack. Seit Mitte der 1990er Jahre wird Woldongmu-Winterrettich in großen Massen produziert und in den Städten vertrieben. am bekanntesten ist der besonders schmack-

hafte Woldongmu-rettich von der Insel Jeju-do. „Jeju-Woldongmu“ wird bereits seit zehn Jahren säuberlich gewaschen und in Plastikbeuteln verpackt in die USa exportiert. Im Sommer hingegen wird rettich in höhenlagen von über 600m in der Provinz gangwon-do im Osten Koreas angebaut. Da in tieferen Lagen gemüse bei Temperaturen über 30˚C zu wachsen aufhört oder zu wuchern beginnt und so an Sukkulenz und Süße verliert, hat man den anbau in höhere Lagen, wo die Temperaturen nachts stark sinken, verlagert.

Yeolmu Guksu – eine sommerliche delikatesse Sommerzeit ist Yeolmu–Zeit, die Zeit des jungen rettichs. Yeolmu wird früher als andere Sorten geerntet und ist bekannt für seinen knackig-frischen geschmack. „Yeolmu guksu“ ist ein kaltes, erfrischendes nudelsuppengericht, für das Yeolmu-Kimchi-Sole mit anschovis-Brühe gemischt und gekühlt wird, bis eine dünne Eisschicht entsteht. In die eiskalte Brühe kommen Somyeon-Engelshaarnudeln. Diese preis-

werte Delikatesse erfreut sich besonders im Sommer großer Beliebtheit und ist auch in preiswerten Imbissrestaurants zu haben. Die kalte, süßsaure Brühe mit dem knackigen Yeolmu-Kimchi und den zarten nudeln – mit diesem geschmack auf der Zunge lässt sich die sommerliche hitze für kurze Zeit vergessen. Spricht man von Sommer-nudelgerichten mit rettich, darf naengmyeon nicht vergessen werden. hierbei handelt es sich um ein traditionelles koreanisches gericht aus Buchweizennudeln in einer eiskalten Brühe aus rind-, Schweine- oder hühnchenfleisch, garniert mit dünnen Scheiben gurke und rindfleisch sowie einem halben gekochten Ei. Dabei darf Mu Chojeorim (in Essig eingelegter rettich) als garnierung nicht fehlen. Für Mu Chojeorim wird rettich in 2-3 mm dünne Streifen geschnitten und in Salz, Chilipulver, Essig und Zucker eingelegt. Für die Tradition, Buchweizennudeln zusammen mit rettich zu verzehren, gibt es einen grund: In der Schale des Buchweizens sind giftstoffe wie Salicylamin und Benzylamin enthalten, die durch die Enzy-

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1 Für Dongchimi (rettich-Wasserkimchi) werden kleine, rundliche rettiche gesäubert und nur mit wenigen gewürzen wie Salz, Knoblauchknollen, Ingwerscheiben, Schnittlauch und roten Chilis eingelegt. Ist der Kimchi gereift, wird der rettich in bissfertige Stücke geschnitten und in der gekühlten Flüssigkeit serviert. Früher wurde der Dongchimi-Krug im hof vergraben und lieferte den ganzen Winter über eine erfrischende Beilage. 2 Für Kkakdugi (rettichwürfel-Kimchi) wird rettich in bissfertige Würfel geschnitten und mit Salz besprenkelt eine Weile ruhen gelassen, bis er mit einer Würzmischung aus Sardellensoße, fermentierten garnelen und Klebreis-Paste vermischt und mit gehacktem Schnittlauch zum Verfeinern eingelegt wird. gut gereiftes Kkakdugi gilt als perfekte Beilage für diverse Fleischsuppen-gerichte.

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Sommerzeit ist Yeolmu–Zeit, die Zeit des jungen Rettichs. Yeolmu wird früher als andere Sorten geerntet und ist bekannt für seinen knackig-frischen Geschmack.

me im rettich neutralisiert werden. aus dem gleichen grund wird in Japan das kalte Buchweizennudel-gerichte Soba zusammen mit geriebenem rettich serviert.

Kkakdugi: einfach zuzubereitender Rettich-Kimchi Kkakdugi, dessen hauptbestandteil rettich ist, gilt unter den unzähligen Kimchi-Sorten als besonders einfach in der Zubereitung. Chinakohl-Kimchi verlangt eine Vielzahl von Zutaten und die herstellung ist sehr kompliziert, sodass ich mich nicht ans Einlegen wage, aber wenn meine 13-jährige Tochter Kkakdugi essen möchte, nehme ich mir die Zeit dafür: Im Supermarkt vor dem haus kaufe ich einen rettich, der dann in Würfel von ca. 2 bis 3cm geschnitten wird. Die Würfel werden mit Salz bestreut und etwa zwei Stunden ziehen gelassen. Das Salz entzieht dem rettich Wasser, sodass er knackiger wird. anschließend fügt man Sardellensoße, eingesalzene Shrimps, Chilipulver und eine weiße Paste aus aufgekochtem Klebreis und Wasser

hinzu (letztere ist optional, wenn man Zeit sparen will) und vermischt alles. Klein geschnittener Schnittlauch intensiviert den geschmack. nach zwei Tagen Fermentierung ist der rettich-Kimchi verzehrfertig. Zu Fleischsuppen wie Dakbaeksuk (Eintopf mit gefülltem hühnchen), galbitang (rinderrippen-Suppe), oder Seolleongtang (rinderkreftbrühe) passt zwar auch Chinakohl-Kimchi, aber gut gereiftes Kkakdugi ist die perfekte Beilage. rettich hilft bei der Verdauung fettiger gerichte, sodass die Kombination eines gerichts mit rettich gesundheit und geschmack befördert. Eine besondere Sorte rettich-Kimchi ist „Bollak-Mu-Kimchi“ (rettich-Kimchi mit Stachelkopf (Sebastes inermis), einer rotbarsch-art), eine Spezialität der südlichen Küstenregionen wie Tongyeong in der Provinz gyeongsangnam-do. Dafür legt man einen ganzen Stachelkopf in rettich-Kimchi ein. anfänglich verströmt es einen starken Fischgeruch, doch nach ca. zweimonatiger Fermentation verschwindet der fischige geruch und durch das gereifte Fischeiweiß

entsteht ein ganz besonderes und appetitanregendes aroma. Wird rettich-Kimchi mit Stachelkopf auf einer Platte serviert, mag der anblick vielleicht nicht besonders appetitanregend sein, aber schon mit dem ersten Bissen weicht die Skepsis dem Erstaunen: Durch den Fermentierungsprozess werden die harten gräten des Fisches zart, wobei das Fischfleisch jedoch seine feste Konsistenz behält, sodass der gaumen nicht mehr Kimchi schmeckt, sondern ein gourmet-Fischgericht. gemeinsam mit einer Schüssel dampfendem reis wird dieses besondere Kimchi-gericht schnell verspeist sein. In Euljiro in der Seouler Stadtmitte kann man diese Kimchi-Spezialität im Frühling im restaurant „Chungmu-Jip (Chungmu-haus)“, das auf die regionale Küche von Tongyeong spezialisiert ist, probieren. Welches der vielen Mu-gerichte auch immer Ihren geschmacksvorlieben am nächsten kommen mag: rettich, eine wichtige Zutat der koreanischen Küche, verspricht kulinarische höhenflüge. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 61


LIfEStYLE

JEONSE VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT EINES MIETSYSTEMS Jeonse, dieses koreatypische Wohnraummietsystem, steckt in der Krise, weil die faktoren, die das System am funktionieren hielten – hohes Wirtschaftswachstum, kontinuierlich steigende Wohnimmobilienpreise und hohe Zinsen – augenscheinlich verschwunden sind. Kim Bang-hee Direktor des „Center for Economic research of Everyday Life“

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estohlene armut (a Poverty That is Stolen), eine Erzählung von Park Wan-suhs (1931-2011) beschreibt das Leben einfacher Leute im Strudel der raschen Industrialisierung und Modernisierung Koreas in den 1970er Jahren. Die geschichte spielt in einem am Berghang gelegenen armenviertel in Seoul. Die Protagonistin ist gezwungen, sich ein Zimmer mit ihrem Freund zu teilen, um an Monatsmiete zu sparen. Eine grausame Laune des Schicksals brachte sie in diese Situation. Ursprünglich aus besseren Verhältnissen, läuft zunächst das geschäft ihres Vaters nicht gut, doch bleibt der Familie wenigstens noch ein haus. Eine Freundin empfiehlt ihr, ein Zimmer zu Jeonse-Konditionen zu vermieten und mit der Kaution einen Lebensmittelladen zu eröffnen. aber die Mutter lädt weitere Schulden auf sich, um mit dem geliehenen geld ihrem Mann zu helfen. Doch der Vater macht erneut Bankrott. Die Eltern und der ältere Bruder, die keinen Sinn mehr im Leben sehen, wählen aus Verzweiflung den gemeinsamen Selbstmord. Die Protagonistin, die plötzlich alleine dasteht, macht sich ohne einen Pfennig in der Tasche auf die Suche nach einer Bleibe und findet schließlich für 4.000 Won Monatsmiete (heute ca. 3 Euro) ein Zimmer in einem Barackenviertel am Berghang. In dieser Erzählung verläuft der soziale abstieg der Protagonistin von hauseigentum über Jeonse-Mietkaution bis hin zur Monatsmiete. aus der Tochter einer Mittelschicht-Familie wird eine armenschicht-Waise. Im Korea zur Zeit der Industrialisierung wurde der soziale Status einer Person über seine Wohnsituation – Besitz oder Miete, und die Mietform – definiert. Dieses Klassenbewusstsein ist bis heute in der Psyche der Koreaner haften geblieben.

Mietform namens „Jeonse“ Jeonse ist eine spezielle Form der Miete, die nur in Korea existiert. Der Wohnimmobilien-Eigentümer erhält bei abschluss des Mietvertrages für ein haus, eine Wohnung oder ein Zimmer vom Mieter eine sog. Jeonse-Pauschalkaution. Dafür hat der Mieter für die Laufzeit des Vertrags keine Monatsmiete zu entrichten und bekommt beim auszug die Jeonse-Kaution in voller höhe zurück. Dieses ungewöhnliche Mietsystem hat eine weit über hundert Jahre alte geschichte. Es gibt zwar Theorien, nach denen die Ursprünge des Jeonse-Systems bis in die Joseon-Zeit (1392-1910) zurückreichen, allgemein nimmt man jedoch an, dass es mit der Öffnung der koreanischen häfen in der zweiten hälfte des 19. Jhs aufkam. aber erst ab den 1960er Jahren fand das System landesweit Verbreitung, da die Landbevölkerung im Zuge der Industrialisierung geballt in die Städte strömte, wo es an Wohnraum entsprechend stark mangelte. Zu der Zeit war Jeonse das ideale Mietsystem, bei dem sich die Interessen von Vermieter und Mieter trafen. Ein Vermieter konnte nie sicher sein, ob der Mieter – normalerweise fremde Personen vom Land, deren Identität schwer zu überprüfen war – stets pünktlich die Monatsmiete zahlen würde. Die Jeonse-Kaution stellte die Mietzahlungen sicher. Der Mieter wiederum besaß in der regel hinreichend geld aus dem Verkauf von grund-

stücken oder haus in seinem heimatort. Und der Jeonse-Vertrag bot die ideale Lösung, dieses Saatkapital sparen zu können und gleichzeitig das Unterkunftsproblem zu beseitigen.

Kontinuierlich steigende Wohnimmobilienpreise und hochgradiges Wirtschaftswachstum Wie konnte ein solches System, bei dem keinerlei Wohnraum-nutzungsgebühren gezahlt werden, landesweit für so lange Zeit als Mietform Bestand haben? Wie konnte es gedeihen, wenn der Mieter eine enorme Pauschalsumme als Kaution zahlen musste und darauf zu vertrauen hatte, dass das geld beim auszug in voller höhe rückerstattet würde? Die antwort darauf findet sich in den wirtschaftlichen gegebenheiten der letzten Jahrzehnte. Korea erzielte von den 1960er Jahren bis zur Millenniumwende ein hochgradiges Wachstum von durchschnittlich über 8% pro Jahr. Es war die Zeit des komprimierten Wirtschaftswachstums, in der Korea innerhalb von nur 40 Jahren den aufstieg zum Industrieland, für den die alten Industrienationen 100 Jahre gebraucht hatten, schaffte. Da während dieser Zeit des rasanten Wachstums das angebot der nachfrage hinterherhinkte, schossen die Wohnimmobilienpreise in ungeahnte höhen. In den späten 1980er Jahren, als der breite wirtschaftliche aufschwung durch die ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul zusätzlich beflügelt wurde, verdoppelten sich die Wohnimmobilienpreise innerhalb von nur vier Jahren. Zu dieser Zeit versuchten die meisten Koreaner, Wohneigentum zu erwerben, selbst wenn sie sich dabei übernahmen. Die Kaufinteressenten, die Schwierigkeiten mit der Kreditaufnahme hatten, verwendeten die Jeonse-Kaution ihres Mieters für den Erwerb einer Wohnimmobilien-Einheit. auf diese Weise brauchten sie nur noch den Differenzbetrag zwischen Jeonse-Kaution und dem Wohnimmobilienpreis aufzubringen. Viele kleine Leute, die auf diese Weise Wohneigentum erwarben, lebten tatsächlich selbst in einer bescheidenen Jeonse-Mietwohnung, bis sie genug geld zusammen hatten, um ihrem Mieter die Kaution voll zurückzahlen zu können. Mit anderen Worten war das Jeonse-System eine Mietform, die gleichzeitig die Funktion eines Privatdarlehens erfüllte, mit dem der Vermieter über seinen Mieter an das nötige geld kam. Es war ein ganz spezielles Finanzierungsmittel, das vor der Entwicklung des hypothekenmarktes in Korea den Traum von den eigenen vier Wänden verwirklichen half. In den Zeiten des kontinuierlichen anstiegs der Wohnimmobilienpreise profilierte sich der Wohneigentumerwerb als repräsentatives Instrument der Vermögensvermehrung, das ohne arbeit hohen gewinn versprach. Während der Periode des hochgradigen Wachstums galt als Formel für private geldanlagen: „Wenn du wenig geld hast, steck es in die Bank; wenn du etwas mehr geld hast, steck es in eine Wohnung.“ Ein weiterer Faktor, der das Jeonse-System am Leben hielt, waren die zu der Zeit zweistelligen Zinsen. Der Eigentümer einer Wohnimmobilie, der gleichzeitig Vermieter war, konnte über die JeonKoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 63


se-Kaution höhere gewinne erzielen als über monatliche Mieteinnahmen. Der Marktzinssatz von jährlich 12%, der lange Zeit als Index für die Berechnung der Monatsmiete galt, beweist diese Tatsache: Eine Jeonse-Kaution in höhe von 10 Mio. Won (ca. 7.600 Euro) entsprach einer Monatsmiete von 100.000 Won (ca. 76 Euro). Umgekehrt galt auch: Bei einer Monatsmiete von 100.000 Won erhöhte sich die Jeonse-Kaution auf 10 Mio. Won. In der Zeit des hochgradigen Wachstums war die Kapitalnachfrage entsprechend groß und entsprechend hoch lagen die Zinssätze.

Wird Jeonse zu einer Erinnerung an vergangene Zeiten? Die akuten Veränderungen, die die koreanische Wirtschaft in letzter Zeit durchmacht, erschüttern den Jeonse-Markt bis ins Mark, da die Säulen, auf denen das System ruht, am Zusammenbrechen sind. Die Zeiten der hohen Wirtschaftswachstumsraten sind vorbei: Seit der Millenniumwende ist die jährliche Wachstumsrate mit ausnahme von 2001 unter 3% geblieben. nach der asien-Devisenkrise 1997 und der globalen Finanzkrise, die zehn Jahre später die Welt erschütterte, ist niedrigwachstum normalität geworden. Sogar die Wohnimmobilienpreise, die bislang allen Wirtschaftskrisen zu trotzen schienen, begannen zu bröckeln. außerdem übertrifft seit 2010 die offizielle Wohnraumversorgungs-

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quote die 100-Prozent-Marke. Die akute Wohnraumknappheit, die während der Industrialisierung in den Städten herrschte, wurde komplett beseitigt. nicht nur das Wirtschaftsumfeld, sondern auch demografische Faktoren lassen kaum Positives für die Wohnimmobilienpreise hoffen. Mit dem rückgang der Bevölkerungszahl und der alterung der gesellschaft kann die nachfrage nach Wohnimmobilien auf Dauer nur zurückgehen. Mit Blick darauf sagen einige gar einen drastischen Preisrückgang vorher. heutzutage ist Kauf und Verkauf von Wohnimmobilien keine anlagestrategie mehr. Vielmehr wird zur Vorsicht geraten: „Wenn es unbedingt notwendig ist und du es dir leisten kannst, dann kauf eine Wohnimmobilie.“ Tatsächlich steigt die anzahl der gut Betuchten, die mit dem Kauf von Wohneigentum zögern und erst einmal abwarten. auch die Entwicklung der Wohnraumfinanzierungsmöglichkeiten und die anhaltende niedrigzinsphase fressen am Fundament des Jeonse-Systems. Obwohl es noch viele regulierungen zur Eindämmung von Spekulationskäufen im Immobilienkreditbereich gibt, können Kaufinteressierte relativ leicht ein Darlehen aufnehmen. Es besteht also keine notwendigkeit mehr, mit der Kaution des Mieters den eigenen Wohnraum zu finanzieren. Für die Eigentümer ist es heute praktisch unmöglich geworden, mit der Jeonse-Kaution höhere gewinne zu erzielen als mit einer Monatsmiete. Die in


an Wohnimmobilien interessierte Besucher besichtigen das Modell eines hochhaus-Wohnkomplexes, der in einem Seouler randbezirk entstehen soll. In den gebieten, in denen die Jeonse-Mietpreise verglichen mit den Kaufpreisen in die höhe geschnellt sind, heizt sich der Markt für neue Wohnimmobilien auf.

Jeonse ist ein ganz spezielles Finanzierungsmittel, das vor der Entwicklung des Hypothekenmarktes in Korea den Traum von den eigenen vier Wänden verwirklichen half. In den Zeiten des kontinuierlichen Anstiegs der Wohnimmobilienpreise profilierte sich der Wohneigentumerwerb als repräsentatives Instrument der Vermögensvermehrung, das ohne Arbeit hohen Gewinn versprach.

rente gegangenen Babyboomer und ältere Menschen, die für ihr Einkommen ganz auf ihren Wohnimmobilienbesitz angewiesen sind, bevorzugen mittlerweile deutlich die monatlich eingehenden Mietzahlungen. Der anteil der Jeonse-Verträge an den gesamten Wohnimmobilien-Miettransaktionen, die 2015 vom Ministerium für Land, Infrastruktur und Verkehr registriert wurde, beträgt 58,9%. Damit ist er im Vergleich zur 2011 mit 69% um über 10% gesunken. Droht dem Jeonse-System langfristig gesehen das Schicksal, zu verschwinden? In einem Seminar am 23. Februar 2016, in dem über die Staatsaufgaben gesprochen wurde, machte Präsidentin Park geun-hye diesbezüglich eine Äußerung, die für Schlagzeilen sorgte. Sie erklärte nämlich: „Das Jeonse-System wird zu einer Erinnerung an vergangene Zeiten werden.“ Dies sagte sie im Zusammenhang mit der Werbung für die von der regierung vorangetriebene „new Stay“-Wohnimmobilieninitiative, in deren rahmen Wohnungen, für die eine Monatsmiete zu zahlen ist, mit Langzeit-Mietverträgen und strikten grenzen für Mieterhöhungen angeboten werden. auf lange Sicht dürfte sie wohl recht behalten. Der grund für die aufregung über Parks Äußerung war allerdings nicht die genauigkeit ihrer Voraussage, sondern die Tatsache, dass mit keinem Wort erwähnt wurde, ob es im Zuge des Verschwindens des Jeonse-Systems nebenwirkungen geben könnte und wie etwaige diesbezügliche gegenmaßnahmen der regierung aussehen würden.

Schock der Monatsmiete Seit einigen Jahren wird die ganze Metropolregion Seoul von einer beispiellos tiefen und anhaltenden „Jeonse-Krise“ heimgesucht. Das angebot an Jeonse-Mietobjekten ist zwar drastisch gesunken, doch gibt es nicht wenige Mieter, die das Jeonse-System bevorzugen, weil für sie die Zahlung von Monatsmieten eine Belastung darstellt. aufgrund des Ungleichgewichts von angebot und nachfrage sind die Jeonse-Preise in die höhe geschossen. Es ging so weit, dass der durchschnittliche Jeonse-Mietpreis in Seoul im März 2016 auf über 70% des Kaufpreises stieg und in manchen regionen sogar die 80%-Marke erreichte. Mit der Zunahme der Mittel- und Unterschichthaushalte, die aufgrund der monatlich zu zahlenden Miete nun ausgaben von 500.000 Won (ca. 383 Euro) bis 1,5 Mio. Won (ca. 1.150 Euro) zu verkraften haben, sank auch die Kaufkraft dieser haushalte entsprechend stark. Dieser sog. „Schock der Monatsmiete“ verursachte zusammen mit dem Problem der haushaltsschulden die lang anhaltende inländische rezession. Es stellt sich auch die Frage, ob nach dem Verschwinden der Jeonse-Miete hinreichend angemessener Wohnraum mit niedriger bzw. mittlerer Monatsmiete angeboten werden kann. Wenn nicht, wird auf dem Wohnimmobilienmarkt nach der Wohnimmobilienpreis- und der Jeonse-Krise eine „Krise der Monatsmiete“ folgen. Eins aber steht fest: Wenn das Jeonse-System verschwindet, bleiben nur noch zwei Optionen: Entweder man kauft eine Wohnimmobilie oder man zahlt Monatsmiete. Interessanterweise sind es dieselben Faktoren, die einerseits das Jeonse-System aushöhlen und andererseits das frühere Wohimmobilien-Kauffieber abkühlen. Das kann nur zur Folge haben, dass die bislang ungewöhnliche Obsession der Koreaner in puncto Wohneigentumbesitz nachlassen wird. Wenn es soweit kommt, wird das Erbe der Ära der Industrialisierung, in der – wie in der eingangs geschilderten Erzählung zu sehen – Wohneigentumbesitz bzw. die Form des Mietverhältnisses den sozialen und wirtschaftlichen Status eines Individuums definierten, für künftige generationen kaum noch verständlich sein. genauso wenig, wie heutzutage vielen Menschen aus anderen Ländern verständlich ist, wie das koreaspezifische Jeonse-System funktioniert. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 65


REISEN IN dIE KOREANISCHE LItERAtuR

REZENSION

Karnevaleske Karnevaleske Karnevaleske Herangehensweise Herangehensweise Herangehensweise an anan Schwere Schwere Schwere und und und Leichtigkeit Leichtigkeit Leichtigkeit Choi Jae-bong Journalist, The Hankyoreh

nichts.“ ee gehört zur sog. „IWF-Genedie Erzählung Alle mögen Girls’ Vaterfiguren, Metadiskurse, Wahrration“, denn er wurde um die Generation ist ein Klamaukstück, das Zeit volljährig, als Korea zur heiten, Gott: diese Dinge bilden die während des G20-Gipfels in Seoul Überwindung der Devisenkrise beim Grundlage, auf der die Bedeutung der in einer riesigen unterirdischen Internationalen Währungsfonds (IWF) Existenz erklärt und Ziele im Leben ein Finanzrettungspaket beantragen abgesteckt werden. Gleichzeitig sind es Einkaufsmeile in der Nähe des unter musste. Diese Devisenkrise war die aber auch Werte, die für „das Alte und höchster Sicherheitsbewachung erste schwere Wirtschaftskrise, mit Unterdrückende“ stehen, das die vor stehenden Kongresszentrums spielt. der Korea, das seit den 1960er Jahren mutigem Tatendrang überschäumende Laut Kritiken zeigt Autor Lee Youngan aufeinander folgende erstaunliche Generation zum Objekt des BekämpWirtschaftserfolge gewöhnt gewesen fens macht. Lees Generation wurden hoon in diesem Werk, „wie man war, konfrontiert wurde. Für die jungen jedoch solche Bedeutungen und Werte, Schweres leicht macht und triviales Menschen, die damals gerade ihr Stusei es nun in positiver oder in negativer mit strukturellen Absurditäten Hinsicht, nicht mitgegeben. Die Väter dium aufnehmen oder ins Berufsleben verbindet“. dieser jungen Menschen wurden angeeintreten wollten, war es ein schwerer Schlag, der nicht heilen wollende innesichts der einschneidenden Umstrukturierungen infolge des IWF-Rettungsre Wunden hinterließ. Das IWF-Hilfspakets gezwungen, die Rolle als Familienoberhaupt und programm bedeutete nicht nur einfach das Einknicken Ernährers aufzugeben. Die Abwesenheit der Vaterfigur, der steilen Wachstumskurve, sondern wurde auch als an die man glauben und auf die man sich verlassen kann, Zeichen dafür verstanden, dass allgemein auf politischer bedeutete auch, dass die alten Werte als Zielscheiben des und gesellschaftlicher Ebene Fortschritt und Entwicklung Bekämpfens und Überwindens verschwunden waren. gebremst wurden. Die Literatur beschäftigt sich mehr mit Konflikt als mit VerLee Young-hoons Debüt kam 2008, als er mit dem Munhaksöhnung. Dies gilt nicht nur für literarische Werke an sich, dongnae-Literaturpreis für Nachwuchsschriftsteller aussondern auch für den größeren Rahmen des literarischen gezeichnet wurde. 2012 wurde seine Erzählung Alle mögen Feldes. Ein Schriftsteller braucht ein Kampfobjekt, um sich Girls‘ Generation mit dem Munkhakdongnae-Literaturpreis selbst beweisen und literarische Bedeutung erlangen zu für junge Schriftsteller gekürt. Im selben Jahr erhielt er für können. Für Lees Generation jedoch wurde nicht nur der sein Werk Die Nachfahren des Changeking den 18. MunKampf in Bezug auf die reale Welt, sondern auch im gröhakdongnae-Literaturpreis für Romanliteratur. Aus dem genannten Werk stammen die folgenden Sätze: ßeren Rahmen des literarischen Feldes eingeschränkt, „Wir leben einfach so wie die anderen auch leben. Kinofilauch wenn er nicht ganz unmöglich war. Einmal überraschme und Comicstreifen nachahmend. Wir haben keine Väter, te mich Lee beim Trinken mit dem Wunsch, noch einmal keine Geschichten, die Orientierung geben könnten, keine an einem Romanwettbewerb teilzunehmen. In Korea ist Wahrheiten, an die wir glauben und die uns Leitfaden sein es nicht üblich, dass sich ein Schriftsteller, der sich bereits könnten. Wir haben keinen Gott, keine Philosophie, absolut durch den Erhalt eines Preises für einen Roman profiliert

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hat, noch einmal an einem ähnlichen Wettbewerb teilnimmt. Da ich nicht verstand, was er meinte, fragte ich ihn nach dem Beweggrund. Seine antwort lautete: „Weil ich fürchte, inner- und außerhalb der Literaturkreise vergessen zu werden.“ Obwohl Lee im Vergleich zu Schriftstellern seines alters bereits relativ viele Preise und aufmerksamkeit eingeheimst hatte, fühlte er sich in Bezug auf seine Stellung in der Literaturszene unsicher. Das hängt meiner Meinung nach auch mit seiner Identität als Zugehöriger der „IWF-generation“ zusammen. Das obige Zitat aus Die nachfahren des Changeking stammt aus dem Mund des 32-jährigen Min, eines hikikomori (jap.: „sich einschließen“; Mensch, der sich aus der gesellschaft zurückzieht), der eine Obsession für die Spezialeffekte einer Kinder-TV-Sendung hat. Der Protagonist Yeongho, der gleichaltrig mit Min ist, studiert intensiv die Spezialeffekte der Kindersendung Changeking, der König der Verwandlung , um seinen Stiefsohn Sam, einen Mittelschüler, der der Sendung total verfallen ist, besser zu verstehen. Lee Young-hoons generation wuchs inmitten einer Bewegtbilder-Flut von TV-Sendungen, Kinofilmen, Computerspielen usw. auf. Während Min sich nicht aus dem Morast der digitalen Welt herausarbeiten kann, ist Yeongho jemand, der sich abquält, um in die reale Welt zu entfliehen. Sein ausruf „Ich werde der Vater dieses Jungen werden!“ zeigt seine diesbezügliche Entschlossenheit. Kurz zusammengefasst ist Lees literarisches Thema: „Vater der generation zu werden, die ohne Väter aufgewachsen ist“. Die Erzählung alle mögen girls’ generation zieht schon allein deswegen die aufmerksamkeit auf sich, weil der Titel den namen der populären koreanischen Mädchengruppe girls‘ generation enthält (auch wenn die girls’ generation in der Erzählung nur sieben statt neun Mitglieder hat und die namen der Mädchen anders sind) und die COEX Mall (Trade Center), das Symbol des koreanischen Kapitalismus, als Schauplatz fungiert. Der Protagonist, der in einem restaurant in der COEX Mall mit einer Frau verabredet ist, die er durch eine heiratsvermittlungsagentur kennengelernt hat, gerät in arge not, als er plötzlich heftigen Stuhldrang verspürt. Eiligst sucht er nach einer Toilette, aber alle Toiletten in der nähe sind wegen des bevorstehenden g20-gipfels geschlossen. als er in dem unterirdischen Einkaufsmeilen-Labyrinth auf der Suche nach einem Ort zum Stillen

seines biologischen Bedürfnisses herumirrt, begegnet er einem Mann in Polizeiuniform, der ihm helfen möchte. Während der Suche nach einer geöffneten Toilette entspinnt sich zwischen dem Protagonisten und dem Uniformierten ein gespräch über die girls’ generation, während dessen mirakulöserweise die Bauchschmerzen des Protagonisten verschwinden. „Wir führten unsere Unterhaltung schüchtern lachend wie zwei junge Knaben weiter. girls‘ generation wirkte wirklich wie ein Wunderwesen: Selbst meine Unterleibschmerzen flauten während des gesprächs unversehens ab.“ auf seine Frage, warum ein mit vielen Dienstpflichten belasteter Polizist einem einfachen Bürger bei der Lösung eines solch dringenden privaten geschäfts helfe, antwortet der Uniformierte, bei dem unklar ist, ob er wirklich ein Polizist ist oder nicht: „Wir mögen doch beide girls‘ generation, nicht wahr?“ aber die Populärkultur-Illusion namens girls’ generation vermag das körperliche Bedürfnis des Protagonisten nicht ganz zu stillen. Kaum wird das gesprächsthema gewechselt, setzen auch die Bauchschmerzen, die kurz verschwunden waren, wieder ein, und das Durchhaltevermögen des Protagonisten wird auf eine kritische Probe gestellt. Obwohl ein Stoff, dem eine gewisse Peinlichkeit anhaftet, im Conte-Stil behandelt wird, enthält diese Erzählung ein äußerst gewichtiges Problembewusstsein. Während der Uniformierte den Protagonisten zu einer Toilette bringt, sagt er: „Eigentlich, kann man doch hier überall scheißen.“ Dieser Satz, geäußert in einer modern-stilvollen raum, hat einen unerwarteten Effekt. Den Symptomen von Durchfall, denen zu jeder anderen Zeit leicht abhilfe geschaffen werden kann, werden zu einem schwerwiegenden Problem, weil alle Toiletten wegen des g20-gipfels aus Sicherheitsgründen geschlossen sind. übertrieben formuliert: Die globale angelegenheit des g20-gipfels hat die Wirkung, das natürliche, körperliche Bedürfnis eines Individuums zu unterdrücken. Für die generation von Lee Young-hoon, deren Identität durch die „IWF-Krise“ geformt wurde, ist der g20-gipfel sozusagen die neu aufgelegte, zeitgenössische Version dieser Krise. In diesem Kontext kann das karnevaleske Ende der Erzählung als ein akt der herausforderung und der persönlichen Kampfansage Lee Young-hoons in Bezug auf die Bedingungen, die IWF und g20 für seine generation geschaffen haben, gelesen werden. KoREANIScHE KuLtuR uND KuNSt 67


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