2020 Koreana Winter(German)

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WINTER 2020

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST

SPEZIAL

Volksmalerei

Minhwa

Böse Geister vertreiben und Glückseligkeit bringen; Meine Liebe zu Minhwa; Geschichten des Lebens in Symbolen; Minhwa: Volksmalerei des 21. Jahrhunderts

ISSN 1975-0617

JAHRGANG 15, NR. 4

Malereien fürs Glück


IMPRESSIONEN

2020

Als Mund und Nase verschwanden


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020 bedeckten große Stoffstücke die Gesichter der Menschen, Mund und Nase verschwanden, nur noch zwei ängstliche Augen blieben. Was anfangs noch wie eine Szene aus einem Albtraum anmutete, ist längst fester Bestandteil des Alltags geworden. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen an Unglück ist irgendwie zum Schaudern. Bei „Masken“ denke ich eigentlich an die Eiserne Maske aus einem Roman, an die Masken auf Theaterbühnen oder an Maskenbälle. Allerhöchstens kämen mir noch die maskierten Gesichter protestierender Studenten auf dem Uni-Campus oder in den Straßen in den Sinn. In den letzten Jahren ist jedoch aufgrund der Luftverschmutzung durch Abgase, Gelben Sand usw., der die Koreanische Halbinsel aufgrund ihrer geografischen Lage besonders ausgesetzt ist, das Interesse an Masken gestiegen und auch ich habe außer Haus oft eine KF94-Maske getragen. Solche Präventivgewohnheiten scheinen eine Rolle bei Koreas bislang vergleichsweise erfolgreichem Kampf gegen die COVID19-Pandemie zu spielen. Masken haben mittlerweile über den rein persönlichen, dem Ermessen des Einzelnen überlassenen Selbstschutz hinaus den Charakter eines „öffentlichen Gutes“ angenommen. Sie sind vom KANN zum MUSS für das öffentliche Gemeinwohl geworden, zu etwas, auf das der Einzelne Anspruch hat, und gleichzeitig zu einem Versorgungsgut, für dessen Bereitstellung der Staat verantwortlich ist, weswegen sogar der Begriff „öffentliche Maske“ auftauchte. Das Frühjahr 2020, als die Menschen vor den Apotheken Schlange standen, um gegen Vorlage ihrer ID-Karte die ihnen zustehende Anzahl von Masken zugeteilt zu bekommen, wird schmerzhaft in Erinnerung bleiben. Darüberhinaus sind Masken zu einer Art sozialer Norm geworden. Denn das Bewusstsein verbreitete sich, dass Masken nicht nur Kranke vor Viren schützen, sondern auch das effektivste Mittel sind, um Gesunde vor asymptomatischen und leicht symptomatischen Trägern, die für das Coronavirus charakteristisch zu sein scheinen, zu schützen. Wer gegen die „Pflicht“ verstößt, an öffentlichen Orten eine Maske zu tragen, dem droht eine Geldstrafe. Im Zuge der sich rasant entwickelnden Maskenkultur entstand die Unterscheidung zwischen „KF Gesundheitsmasken“ (partikelfiltrierende Halbmasken) und den für den Sommer geeigneten „KF-AD Masken (AD: anti-droplet, dt.: Tröpfchenschutz)“, dann kam Zubehör wie Halsbänder oder -ketten auf, die Abnehmen und Aufsetzen bequemer machten. Es gibt sogar ein Verbrauchersegment, das Modemasken gegenüber Gesundheitsmasken bevorzugt. „Look at my eyes!“ – in letzter Zeit sind immer mehr Frauen mit auffällig geschminkten Augen zu sehen. Die Verkaufszahlen von Eyeliner, Lidschatten und Mascara sind emporgeschnellt, während Kosmetika für die von der Maske bedeckten Gesichtspartien einen Einbruch erleben. Aber wann werden Mund und Nase wieder befreit, sodass wir das Gesicht unseres Nachbarn wieder in seiner Gänze sehen können – samt strahlendem Lächeln?

Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts © Yonhap News


Von der Redaktion

Geistige Vakzine: Eine Botschaft der Hoffnung Zum Jahresende 2020 befindet sich die Menschheit immer noch in einem verheerenden Kampf gegen COVID-19. Nach Angaben der Johns Hopkins Universität sind zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags weltweit 68.014.594 Infektionsfälle und 1.553.169 Tote zu beklagen. Die Länder wissen noch nicht, wie die Infektionswellen gestoppt werden können. Südkorea ist fassungslos angesichts steigender Fallzahlen, die seine frühen Erfolge im Kampf gegen die Pandemie verblassen lassen. Die gute Nachricht ist, dass mit Impfungen begonnen wurde, auch wenn zunächst nur eingeschränkt und mit Ungewissheit in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit. So beginnt eine neue Phase im Kampf gegen die Pandemie. In der Hoffnung, diesen Kampf zu gewinnen, konkurrieren die einzelnen Regierungen um Lieferungen sicherer und wirksamerer Impfstoffe. Danach stellt sich die bohrende Frage: Werden auch die Menschen in den ärmeren Ländern in den Genuss von Impfungen kommen können? Wie überall auf der Welt, so fordert das Virus auch in Korea einen hohen Tribut von allen Teilen der Gesellschaft. Das Ausmaß des Schadens wird dabei mit jeder Sprosse weiter unten auf der Leiter von Einkommens- und Beschäftigungsstatus katastrophaler. Mit Treffen und Reisen das ganze Jahr über auf Eis gelegt, sah sich auch KOREANA mit bislang unvorstellbaren Schwierigkeiten konfrontiert. Die Wahl des Themas für die SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe „Minhwa: Malereien fürs Glück“ kann als Versuch, sich mit der erdrückenden Situation zu arrangieren, verstanden werden. Doch – und das ist weit wichtiger – ist es ein Versuch, unseren Wunsch auszudrücken, dass die Menschheit so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren möge. Die LeserInnen sind eingeladen, die faszinierende Welt der koreanischen Volksmalerei zu entdecken und nachzuempfinden, wie von unzähligen namenlosen Malern gefertigte Kunstwerke den Menschen Freude brachten und positive Energie versprühten in Zeiten, als Krankheiten und Unglücke allgemein als außerhalb der Kontrolle des Menschen liegend betrachtet wurden. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST WINTER 2020

Published quarterly by THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea https://www.koreana.or.kr

Elstern und Tiger Unbekannter Meister Frühes 20. Jh. Tusche und Farbe auf Papier, 88 × 52 cm Gahoe Museum

VERLEGER Lee Geun REDAKTIONSDIREKTOR Kang Young-pil CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sin LEKTORAT Ji Geun-hwa, Ham So-yeon KUNSTDIREKTOR KIm Ji-yeon DESIGNER Jang Ga-eun, Park Jung-in, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN

Kim’s Communication Associates

240-21, Munbal-ro, Paju-si, Gyeonggi-do 10881, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-31-955-7413 Fax: 82-31-955-7415 ÜBERSETZER

Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Park Ji Hyun Eom Yuseong

Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 88. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr

GEDRUCKT WINTER 2020 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2020 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.


Minhwa Malereien fürs Glück

04 SPEZIAL 1

20 SPEZIAL 3

Böse Geister vertreiben und Glückseligkeit bringen

Geschichten des Lebens in Symbolen

Chung Byung-mo

12 SPEZIAL 2 Meine Liebe zu Minhwa Yoon Yul-soo

Im Doo-bin

30 SPEZIAL 4 Minhwa: Volksmalerei des 21. Jahrhunderts Moon Ji-hye

© Nationales Volksmuseum von Korea

36 FOKUS

50 GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

70 REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Neue Startlinie für K-Pop Musikvideos

Geschichten vergessener Kinder dokumentiert

Initiationsritural: Aufregend und verwirrend

Kim Hak-soon

Choi Jae-bong

Kim Yoon-ha

40 KUNSTKRITIK Park Re-hyun: Leben und Kunst Kim Hyo-jeong

Schwindelgefühl

56

UNTERWEGS

Meditation über einen Bergweg Lee Chang-guy

46 HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES Makgeolli: Veredelung eines Volksgetränks Kang Shin-jae

66 LIFESTYLE Campen im eigenen Auto Kim Dong-hwan

Kim Se-hee


SPEZIAL 1

Minhwa: Malereien fürs Glück

BÖSE GEISTER VERTREIBEN UND GLÜCKSELIGKEIT BRINGEN Die Volksmalereien Minhwa , in der namenlose Maler ihre Wünsche in Bezug auf ein glückliches Leben zum Ausdruck brachten, spiegeln positives Denken und Widerstandsfähigkeit der Koreaner in harten Zeiten wider. Ihr ursprünglich schamanistischer Zweck mag weitgehend verloren gegangen sein, aber sie bringen auch heute noch vielen Menschen Glück und Freude. Chung Byung-mo Gastprofessor, Abteilung für Kulturgüter, Gyeongju University

Vierteiliger Wandschirm mit Strauchpfingstrosen. 19. bis frühes 20. Jh.; Tusche und Farbe auf Seide. 272 × 122,5 cm (je Paneel). Nationales Palastmuseum. Strauchpfingstrosen gelten seit alter Zeit als Symbol für Reichtum und Ehre. Als beliebtes Kunstmotiv zieren sie auch Möbel und Kleidungsstücke. Wandschirme mit Strauchpfingstrosen bestehen meist aus sechs bis acht Paneelen. Sie schmücken Innenräume und werden oft bei Hochzeitszeremonien verwendet.

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I

n der fernen Vergangenheit galten Epidemien als das Werk böser Geister. In diesem Glauben brachten koreanische Haushalte am Neujahrstag nach Mondkalender Abbildungen von Cheoyong, dem Sohn des Drachenkönigs (Gottheit des Ostmeers), an ihren Eingangstüren an, um den Seuchengott Yeoksin zu vertreiben. Dieser Brauch geht auf die Zeit des Vereinigten Silla-Reiches (676-935) zurück, genauer gesagt, auf die Regierungszeit von König Heongang (reg. 875-886), als die Koreanische Halbinsel nach der Vereinigung der drei Königreiche durch Silla im 7. Jh. beispiellosen Frieden und Prosperität genoss. Der Legende nach befand sich König Heongang im Küstendorf Gaeunpo (das heutige Ulsan), als der Himmel plötzlich hinter dichten Wolken und Nebel verschwand. Der König dachte, das könne nicht mit rechten Dingen zugehen und bat den Hofastrologen um eine Erklärung. Der antwortete: „Das ist das Werk des Drachenkönigs. Er muss besänftigt werden.“ Als der König daraufhin gelobte, einen Tempel für den Drachengott zu errichten, lichteten sich Wolken und Nebel sofort. Als Dank sandte der Drachenkönig seinen Sohn Cheoyong nach Silla. Nachdem König Heongang eine Heirat für ihn arrangiert hatte, betraute er

ihn mit einem hohen Regierungsposten. Aber die Schönheit von Cheoyongs Frau war ein Problem. Sie war so bezaubernd, dass selbst der Seuchengott sie begehrte. Als Cheoyong in einer hellen Mondnacht spät nach Hause kam, entdeckte er seine Frau zusammen mit dem Seuchengott im Bett. „Sie ist zwar mein, aber was nur mit dem, der sie genommen hat?“ – seine Ratlosigkeit singend zum Ausdruck bringend, vergab er den beiden. Von soviel Großmut beeindruckt, schwor der Seuchengott, sich keinem Haus mit Cheoyongs Konterfeit an der Tür zu nähern.

Ursprung und Symbolik

Der Beginn der Volksmalerei Minhwa lässt sich zwar schon auf prähistorische Felszeichnungen zurückführen, aber die Darstellungen von Cheoyong sind die ersten, die sich in schriftlichen Quellen finden. Auch Cheoyongs Art und Weise, den Seuchengott zu vertreiben, ist bemerkenswert. Statt sich zum Schaudern furchterregend zu gebärden, bringt er den bösen Gott mit mildem Edelmut dazu, sich zu verflüchtigen. In der Joseon-Zeit (1392-1910) waren auch Abbildungen von Drachen und Tigern am Hauseingang beliebt. Am ersten Tag des neuen Mondjahres

1. Die Maske von Cheoyong, Sohn des Drachenkönigs, trägt einen mit Strauchpfingstrosen und Pfirsichen geschmückten Hut. Illustrationen von Maske und Kostüm, die beim Tanz von Cheoyong getragen werden, sind in Band 9 des 1493 von der Königlichen Musikakademie des Joseon-Reiches veröffentlichten Kanons der Musik (Akhak gwebeom) zu sehen. 1

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2. Chaekgeori. 19. Jh., Tusche und Farbe auf Papier. 45,3 × 32,3 cm. Privatsammlung. Charakteristisch für ChaekgeoriMalereien sind die Glückssymbole: Bücher stehen für Erfolg, eine Wassermelone für zahlreiche männliche Nachkommen, ein Pfirsich für Langlebigkeit und eine Lotusblüte für Glück.


wurde auf die eine Seite der Eingangstür das Bild eines Drachen und auf die andere das eines Tigers geklebt. Der Tiger sollte böse Geister, die dem Haushalt schaden könnten, abwehren, der Drache Segen bringende Geister anziehen. Sie brachten also ein und denselben Zweck unterschiedlich zum Ausdruck: auf magische Weise Frieden und Glück in der Familie bewahren. Mit der Entwicklung des Handels im 19. Jh. stieg in allen Schichten der Gesellschaft die Nachfrage nach Volksmalereien, wodurch sich die Palette von Minhwa-Motiven und Darstellungsweisen erweiterte. Augenfällig ist dabei, dass der Wunsch nach Glück durch bestimmte Bildmotive ausgedrückt wurde. Dies veranlasste den japanischen Kunsthistoriker Fumikazu Kishi, Professor an der Doshisha University, vorzuschlagen, Minhwa als „Bilder des Glücks“ zu bezeichnen. Ähnliche Charakteristika wie bei den JoseonMinhwa finden sich in den Volksmalereien anderer ostasiatischer Länder, wie China, Japan und Vietnam. Diese Kunstwerke, die meist chinesische Schriftzeichen enthalten, drücken die üblichen Wünsche nach Glück, Erfolg und Langlebigkeit aus. So symbolisieren z.B. Strauchpfingstrosen, Lotusblumen, Drachen, Bonghwang (mythischer Wundervogel) und Fledermäuse Glück; Wassermelonen, Granatäpfel, Trauben und Lotussamen stehen für den Wunsch nach zahlreichen Söhnen; Silber-Brandschopf, Pfauenschwanz, Bücher und Karpfen sind Ausdruck des Wunsches nach Erfolg, während Bambus, Kraniche, Sonne, Mond, Schildkröten, Hirsche und der Pilz der Unsterblichkeit für Langlebigkeit stehen. Diese allen Volksmalereien Ostasiens gemeinsame Eigenheit unterscheidet sie von westlichen Malereien, die nicht nur Glück thematisieren, sondern auch Liebe, Angst und Tod. Die Strauchpfingstrose als Symbol für Reichtum und Adel stammt aus der Schrift Rechtfertigung meiner Vorliebe für Lotusblumen von Zhou Dunyi, einem bekannten neokonfuzianischen Philosophen der Nördlichen Song-Dynastie. In diesem chinesischen Gedicht wird die Strauchpfingstrose als „Mann des großen Reichtums“, die Chrysantheme als „Eremit unter den Blumen“ und der Lotus als „Edelmann“ beschrieben. Im Joseon-Reich war die Pfingstrosen-Symbolik jedoch nicht akzeptabel. Der von den Joseon-Literaten verehrte Kon-

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fuzius hatte nämlich gesagt: „Gewöhnliche Speise zur Nahrung, Wasser als Trank und den gebogenen Arm als Kissen: auch dabei kann man fröhlich sein; aber ungerechter Reichtum und Ehren dazu sind für mich nur flüchtige Wolken.“ Daher hielten Joseon-Gelehrte es für beschämend, über Dinge wie weltlichen Reichtum und Ehre zu sprechen.

Konfuzianische Tugenden

Das 19. Jh. brachte einen radikalen Wandel: Die Strauchpfingstrose wurden zum beliebtesten Blumenmotiv der Malerei. In der Hoffnung, das Zuhause in einen Hort des Glücks zu verwandeln, wurden prachtvolle, mit Pfingstrosen geschmückte Paravents aufgestellt, bei festlichen Anlässen bildeten sie eine Glanz und Stimmung der Veranstaltung unterstreichende Kulisse. Es scheint, dass die konfuzianischen Gelehrten die Dinge realistischer zu sehen begannen, als das Joseon-Reich die Invasio-

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nen der Japaner (1592-1598) und danach der Mongolen (1627, 1636-1637) zurückschlagen musste. Diejenigen, die die würdevoll-feierlichen Tugenden betont und sich philosophischen Debatten gewidmet hatten, wurden sich nun realistischerer Wünsche materieller Art bewusst. Die Joseon-Gesellschaft schloss sich dem „Streben nach Glück“ einen Schritt hinterherhinkend an, wünschte es sich dann aber noch viel inbrünstiger herbei als andere ostasiatische Völker. Doch Minhwa konnte sich nicht vollständig von der konfuzianischen Ideologie befreien. Es wurde immer noch im Rahmen konfuzianischer Modalitäten um Glück gebetet, die Volksmalerei bot dafür neue Ausdrucksmöglichkeiten. Ein typisches Beispiel ist Munja-do (Schriftzeichen-Malerei). Auch in anderen Ländern Ostasiens waren ideographische Darstellungen chinesischer Schriftzeichen mit verheißungsvollen Bedeutungen wie Glück, Erfolg und Langlebigkeit populär, aber allein in Joseon wurden die acht Tugenden des Konfuzianismus – kindliche Pietät, brüderlich-nachbarliche Zuwendung, Loyalität, Vertrauenswürdigkeit, soziale und rituelle Umgangsformen, Gerechtigkeit, Integrität und Schamgefühl – weiterhin hochgeschätzt. Im Laufe der Zeit schwanden die in der Schriftzeichen-Malerei enthaltenen konfuzianischen Ideale allmählich und ideographische Darstellungen von Blumen und Vögeln kamen auf. Dies sorgte für das sonderbare Phänomen, dass die Malereien nach außen hin konventionelle Tugenden propagierten, aber voller Symbolik für die profanen Wünsche nach Glück waren. In diesem Sinne kommt den ideographischen Malereien die besondere Bedeutung zu, dass in ihnen die konfuzianische Ethikgrundsätze verkörpernde Symbolik nicht mehr als Unterdrückungsmechanismen des weltlichen Verlangens, sondern als Symbolik für die Erfüllung des Verlangens nach Glück fungierte.

Heitere Stimmung

Den Wunsch nach Glück reflektierend, vermitteln Minhwa mit ihren hellen Farben und ihrem Sinn für Humor eine heitere Stimmung. Sie beglücken nicht nur mit der in ihnen enthaltenen Symbolik, sondern auch durch die Helle und Leichtigkeit der Darstellung an sich. Im späten 19. Jh. stand Joseon vor politischen

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Mit der Entwicklung des Handels im 19. Jh. stieg in allen Schichten der Gesellschaft die Nachfrage nach Volksmalereien, wodurch sich die Palette von Minhwa-Motiven und Darstellungsweisen erweiterte.

und wirtschaftlichen Herausforderungen. Als die westlichen Mächte wie Russland, die USA, Großbritannien und Frankreich in Joseons Gewässer eindrangen, ging das Reich seinem Untergang entgegen und geriet schließlich unter japanische Kolonialherrschaft. Aber seltsamerweise sind Minhwa aus dieser finsteren Zeit fast frei von düsteren Spuren und wirken eher heiter und frohgemut. Sie vermitteln das Bestreben der Menschen von damals, Widrigkeiten mit einer positiven Einstellung zu überwinden. Damit sind sie „Bilder des Glücks aus einer düsteren Geschichte“. Überraschenderweise reitet die Volksmalerei der Joseon-Zeit auf einer Retro-Welle und ist wieder beliebt. Das Malen traditioneller Minhwa begann als Zeitvertreib für Frauen, entwickelt sich derzeit aber zu einem regelrechten Genre zeitgenössischer Kunst. Mit dem raschen Anstieg der Zahl der Minhwa-Künstler und der daraus resultierenden Entwicklung moderner Minhwa erlebt diese Kunstgattung eine zweite Blütezeit. Hauptgrund für die Renaissance ist sicherlich die Erkenntnis, dass diese Volksmalereien uns Glück schenken. Ihr Ursprung mag zwar in schamanistischen Vorstellungen liegen, aber von diesen hellen, fröhlichen Bildern geht eine heilende Energie aus. Die schönste „Tugend“ der Minhwa ist ihre ansteckende positive Kraft.

Drache und Tiger (Detail). 19. Jh., Tusche und Farbe auf Papier. Jeweils 98,5 × 59 cm. Privatsammlung. Der Drache soll böse Geister verjagen können. Im Buddhismus galt er als Hüter des Dharma, der kosmischen Ordnung und Gesetze, was ihn zu einem beliebten Motiv der Tempelkunst machte. Hier ein Ausschnitt aus einem Wandschirm mit zwei Paneelen. Die zweite Paneele schmückt ein Tiger. Die Tiere wirken eher ergötzlich als furchterregend.


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Leidenschaft eines Architekten Es gibt einen Namen, der unweigerlich mit der koreanischen Volksmalerei Minhwa verbunden wird: Zo Zayong (1926-2000). Der als „Mr. Tiger“ bekannte Mann, dem jegliche Verbindung zur Kunst fehlte, sammelte und erforschte als Erster Minhwa-Malereien und unternahm gezielte Bemühungen, sie der Welt vorzustellen. Chung Byung-mo Gastprofessor, Abteilung für Kulturgüter, Gyeongju University

B

edenkt man Bildungshintergrund und berufliche Laufbahn

Dachziegel, ein charakteristisches Kernelement vormoderner Ge-

von Zo Zayong, fragt man sich, woher sein starkes Interesse

bäude, zu sammeln.

für die koreanische Volksmalerei rührt. Er ging 1947 in die USA, um

an der Vanderbilt University Bauingenieurwesen zu studieren, und erwarb später einen Master in Architekturingenieurwesen an der Harvard University.

Kkachi Horangi (Elster und Tiger) 1967 kaufte Zo zufällig in einem Geschäft im Seouler Antiquitätenviertel Insa-dong Reiskuchenformen. Das eine Blatt Papier, mit

1954 kehrte er in das vom Krieg zerstörte Korea zurück, wo er

dem der Verkäufer die Reiskuchenformen verpackte, veränderte

sich an zahlreichen Wiederaufbauprojekten beteiligte, bei denen er

sein Schicksal. Er war so fasziniert von dem darauf abgedruckten

Erfolge und Fehlschläge erlebte. In dieser Zeit erregte das kulturel-

Minhwa-Werk mit dem Titel Kkachi Horangi , dass er begann, sich

le Erbe der Nation sein Interesse.

der koreanischen Volksmalerei zu widmen.

Im Tempel Beomeo-sa in Busan war Zo beim Anblick des Ein-

Die modern anmutende Malerei erinnerte ihn an Picasso und

gangstors Ilju-mun davon beeindruckt, wie die vier in einer Reihe

das dümmlich und vertraut wirkende Gesicht des Tigers fesselte

stehenden Steinsäulen das schwere Dach zu stützen vermochten.

ihn. Durch dieses Bild wurde er auf die Tiger in den Sansin-do

Das inspirierte ihn dazu, auf der Suche nach weiteren Beispielen

(Darstellungen der Berggottheit Sansin) und die Verbindung zum

traditioneller koreanischer Architektur durchs Land zu reisen und

Volksglauben aufmerksam: Der Tiger ist eines der vier Tiere, die seit alter Zeit als Schutzgottheiten abgebildet werden. Das Bild

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Elster und Tiger , das zu Hodori, dem Tiger-Maskottchen der Olympischen Spiele 1988 in Seoul inspierte, gilt heutzutage als eines der repräsentativsten Minhwa-Werke. Das nächste Werk, das Zo faszinierte, war Geumgangsan-do (Malerei des Gebirges Geumgang-san). Darin entdeckte er nicht

1. Elster und Tiger. Spätes 19. Jh., Tusche und Farbe auf Papier. 91,5 × 54,5 cm. Leeum, Samsung Kunstmuseum. Das ist das Werk, das Zo Za-yong faszinierte und sein Leben in eine neue Richtung lenkte. Der Tiger diente als Inspiration für Hodori, das Maskottchen der Olympischen Winterspiele in Seoul 1988. 2. Achtteiliger Wandschirm mit Gebirge Geumgang-san (Detail). Nicht datierbar. Tusche und Farbe auf Papier. 59,3 × 33,4 cm (je Paneel). Nationales Volksmuseum von Korea. Volkskunst wie auf diesem Wandschirm mit einer Darstellung des Gebirge Geumgang-san vermittelt den einzigartigen Stil der Jingyeong sansuhwa (Landschaften von realen Gegenden), der von Jeong Seon (1676-1759), einem Hofmaler des Joseon-Reichs, auf den Weg gebracht wurde. Dieses Paneel zeigt den Guryong Pokpo (Neun-Drachen-Wasserfall).

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nur, wie die Koreaner das Universum wahrnahmen, son-

schichte, die Minhwa und Hofmale-

dern auch einen originär koreanischen Malstil. Anstatt

rei als zwei unterschiedliche Katego-

die Landschaft realistisch auszudrücken, zeigt das Werk

rien betrachteten.

die legendären zwölftausend hoch aufragenden Gipfel, was Zo als Darstellung der Erschaffung des Universums verstand. Er erkannte darin den Geist von Minhwa und

Glaube an die Samsin Zo Zayongs Interesse und Liebe

Animismus.

zur Volksmalerei führte ihn zur tie-

Bilder für praktische Zwecke

hand von Minhwa erkundete er die

fen Reflexion über ihren Geist. AnDanach setzte Zo sich nachhaltig dafür ein, Wert und

Ursprünge der koreanischen Kunst

Schönheit der Volksmalerei allseits bekannt zu machen,

und versuchte, die Grundlagen der

indem er 17 Ausstellungen im Inland und 12 im Ausland

spirituellen Welt des Volkes, auf

plante und ausrichtete. Besonders beachtenswert sind

denen seine Kultur ruht, auszuma-

seine Ausstellungen und Vorträge in den USA und Japan.

chen. Letztendlich kam er zu dem

Treasures from Mt. Geumgang (East-West Center der

Schluss, dass alles auf dem schama-

University of Hawaii, 1976), Spirit of the Tiger: Folk Art

nistischen Glauben an die Samsin (Drei Göttinnen der Ge-

of Korea (Thomas Burke Memorial Washington State

burt) basiert. In Bezug auf seine leidenschaftliche Suche

Museum, Seattle 1980), The Eye of the Tiger (Mingei In-

nach den Ursprüngen der koreanischen Kultur sagte er:

© Park Bo-ha

ternational Museum, San Diego 1980), Blue Dragon and

„Während ich auf der Suche nach Kobold, Tiger, Schild-

White Tiger (Oakland Museum of California, 1981) und

kröte und dem Berggott Sansin herumirrte, offenbarte

Guardians of Happiness (Craft and Folk Art Museum, Los

sich, wenn auch nur schwach, die Kultur meiner Eltern.

Angeles 1982) – die Titel dieser Ausstellungen unterstrei-

Ich fand die kulturellen Wurzeln unseres Volkes in dem,

chen die Aspekte der koreanischen Volksmalerei, die Zo

was ich „Minmunhwa (Volkskultur)“ nenne. [...] Dafür

für das ausländische Publikum hervorheben wollte. Darü-

ständig nach historischen Überresten suchen, Materialien

ber hinaus veröffentlichte er Bücher und Kataloge zu den

sammeln, Museen errichten, unsere Volkskultur im Aus-

Ausstellungen, nicht nur in Koreanisch, sondern auch in

land bekannt machen, schließlich den Tempel Samsin-sa

Englisch und Japanisch.

bauen und die Bewegung zur Wiederbelebung der verlo-

Aus Zos Perspektive geht es bei Minhwa um das ur-

renen Dorfkultur initiieren – alles, was dabei geschah und

sprüngliche Wesen des Menschen. Zo stellte die Volks-

sich ergab, habe ich zusammengetragen.“ (Zo Zayong:

malerei in den größeren Kontext des Lebens an sich und

Auf der Suche nach den Wurzeln der koreanischen Kul-

der menschlichen Natur. In die von ihm abgesteckte Min-

tur . Ahn Graphics, 2000)

hwa-Kategorie fallen daher auch Hofmalereien, die für

Im Jahr 2000 verwirklichte er mit Königskobold, Drache

praktische Zwecke wie Dekorieren verwendet wurden,

und Tiger , einer Ausstellung für Kinder im Daejeon Expo

sowie rituelle Darstellungen im religiösen Kontext von

Park, einen lange gehegten Traum. Aber er erlag auf dem

Buddhismus und Schamanismus. Durch diese Erweite-

Ausstellungsgelände seiner Herzkrankheit und verstarb

rung der Bedeutung der Volksmalerei versuchte er, ihre

umgeben von seinen geliebten Minhwa-Malereien. 2013

Wichtigkeit festzuschreiben und zu erhöhen.

Zo Za-yong, der Konstruktiven Ingenieursbau in den USA studierte, war gerade beim Kompilieren eines herausragenden Portfolios, als er sich in die von einem unbekannten Maler gefertigte Tigerdarstellung verliebte. Er verbrachte den Rest seines Lebens mit der Erforschung der koreanischen Volkskunst.

wurde zur Würdigung seiner Leistungen der Verein zum

Sein Konzept unterscheidet sich damit von der „Kunst

Gedenken an Zo Zayong gegründet, der seit 2014 zu Be-

des Volkes“, das William Morris, einer der Begründer des

ginn jeden Jahres das Daegal Cultural Festival im Insa Art

Arts and Crafts Movement in England, vorschlug, und

Center in Insa-dong veranstaltet. Möge Zo noch lange für

weicht ebenfalls ab von der Definition, die der japanische

seine außerordentliche Leistung erinnert werden, die der

Kunstkritiker und Mitbegründer der Volkskunst-Bewe-

koreanischen Kultur zugrunde liegenden elementaren Ur-

gung Yanagi Muneyoshi vorlegte. Zudem stand es auch

sprünge durch die Volksmalerei zu erforschen und diese

in Konflikt mit den Kreisen der koreanischen Kunstge-

in der Welt bekannt zu machen.

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SPEZIAL 2

Minhwa: Malereien fürs Glück

MEINE LIEBE ZU MINHWA Yoon Yul-soo widmete sein ganzes Leben Sammlung, Forschung und Ausstellung der koreanischen Volksmalerei. 1973 begann er seine Karriere als Kurator im Emille Museum, wo er sich in diese Volkskunst verliebte. Er blickt gern zurück auf die Tage, in denen er mit den zahlreichen Tigern, Drachen, Elstern, Strauchpfingstrosen und Lotusblumen in Minhwa-Werken weinte und lachte. Yoon Yul-soo Direktor, Gahoe Minhwa Museum

N

amwon, eine kleine Stadt in der Provinz Jeollabuk-do, in der ich geboren und aufgewachsen bin, war strategisch bedeutend für die alten koreanischen Reiche Baekje (18 v. Chr.–660 n. Chr.) und Silla (57 v. Chr.–935 n. Chr.). Deswegen war es nicht schwer, Relikte aus der Zeit der Drei Königreiche zu finden. Beim Pflügen der Felder wurden nicht selten Tongefäßscherben und sogar fast noch intakte Gefäße in ihrer ursprünglichen Form gefunden. Als Kind sammelte ich herumliegende Tonscherben auf und nahm sie mit nach Hause. Das wurde zur Angewohnheit und seitdem bin ich Sammler. Meine Sammelleidenschaft begann mit Briefmarken. Als Grundschüler häufte ich über die Jahre eine große Sammlung an, die mir aber leider eines Tages gestohlen wurde. Sehr enttäuscht überlegte ich, was denn wohl kaum jemand stehlen würde, und Bujeok kamen mir in den Sinn. Diese Papieramulette waren perfekte Sammelobjekte, da fast an jedem Haus eins klebte, und so begann ich, sie leidenschaftlich zu sammeln.

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Meine Sammlung wuchs erheblich während meiner Militärzeit. Die mir unterstehenden Soldaten, die mein Hobby kannten, brachten mir vom Heimaturlaub immer mal wieder welche mit, sodass ich viele verschiedene Bujeok aus dem ganzen Land sammeln konnte. Im April 1973, kurz nach der Entlassung aus dem Militärdienst, fing ich als Kurator im von Dr. Zo Zayong gegründeten Emillle Museum an. So begann meine schicksalhafte Verbundenheit mit der Volksmalerei.

Emillle Museum

Zo, ein Architekt, der in den USA studiert hatte, besaß fundierte Kenntnisse über die traditionelle koreanische Kultur und Kunst. Er interessierte sich besonders für Minhwa und war ein eifriger Sammler. Ich war zwar der Kurator, wusste aber kaum etwas über Minhwa. Zo und ich setzten uns fast jeden Tag zusammen und diskutierten über die Details einzelner Stücke. Nachdem ich auf diese Weise mehrere hundert Darstellungen unter die Lupe genommen hatte,


Elster und Tiger. 20. Jh., Tusche und Farbe auf Papier. 98,3 × 37 cm. Gahoe Museum. Mit der im Vordergrund vertikal ausgerichteten Darstellung von Elster und Tiger vor einem Hintergrund aus Bergspitzen und Strauchpfingstrosen weist dieses Werk eine eher ungewöhnliche Komposition auf.

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begann ich Minhwa zu verstehen und verliebte mich so auf natürliche Weise in die Bilder. Im November 1975 startete Zo mit 32 Gemälden aus seiner Museumssammlung eine Wanderausstellung in den USA. Die siebenjährige, in Hawaii eröffnete Tour war die erste, die die koreanische Volksmalerei der Welt vorstellte. Seit der von mir kuratierten Ausstellung im Oakland Museum of California im Jahr 1981 war ich mit den praktischen Aufgaben betraut. Angesichts der begeisterten Reaktionen der Menschen vor Ort war ich von einer neuen Zukunftsvision für die koreanische Volksmalerei überzeugt. Als das Emillle Museum 1983 von Deungchondong in Seoul in das in der Provinz Chungcheongbuk-do gelegene Gebirge Songni-san im Kreis Boeun verlegt wurde, gab ich zwar meinen Posten auf, aber nicht meine Liebe zu Minhwa. Auch während meiner Tätigkeiten in anderen Museen setzte ich mein systematisches Studium der Volksmalerei fort. Ich reiste unermüdlich durchs ganze Land, um so viele Werke wie möglich zu sehen – meiner Meinung nach der beste Weg des Lernens. In der Zwischenzeit wuchs meine Sammlung Stück für Stück.

Gahoe Minhwa Museum

Mit den Kenntnissen und Erfahrungen aus meiner 30-jährigen Karriere als Kurator hatte ich immer davon geträumt, eines Tages selbst ein Museum zu betreiben. Dieser Traum ging völlig unerwartet in Erfüllung. Nur einen Tag vor Ablauf der Bewerbungsfrist stieß ich auf eine Stellenausschreibung der Seoul Housing and Communities Corporation, die für ein Museum in Bukchon, einen touristischen Hotspot mit vie-

General Zhang Fei. 19. Jh. Tusche und Farbe auf Papier. 111 × 64 cm. Gahoe Museum. Der chinesische Klassiker Die Geschichte der Drei Reiche dramatisiert und romantisiert historische Ereignisse und Charaktere, die oft zu didaktischen Zwecken bildlich dargestellt wurden. Zhang Fei, ein furchtloser General, der dem Kriegsfürsten Liu Bei bei der Gründung des Reiches Shu Han half, wird humorvoll dargestellt.

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Minhwa ist eine Kunstform, die die Empfindungsund Gefühlswelt des koreanischen Volkes am besten verkörpert. Für mich war es ein großes Glück, ein MinhwaMuseum im Bukchon Hanok-Dorf, wo das Ambiente der Vergangenheit noch gut erhalten ist, zu leiten.

len traditionellen Hanok-Häusern in Seoul, einen Direktor suchte. Meine Frau und ich bereiteten hastig die notwendigen Bewerbungsunterlagen vor. Ich ergriff diese goldene Gelegenheit, die mir erlaubte, das zu tun, was ich liebte und gut kannte. Minhwa und Hanok – das war eine nahezu perfekte Kombination. Minhwa ist eine Kunstform, die die Empfindungs- und Gefühlswelt des koreanischen Volkes am besten verkörpert. Für mich war es ein großes Glück, das Minhwa-Museum im Bukchon Hanok-Dorf, wo das Ambiente der Vergangenheit noch gut erhalten ist, zu leiten. 2002 wurde das Museum endlich in einem kleinen Hanok eröffnet. Meine Frau und ich diskutierten viel über den Betrieb, angefangen beim Namen des Museums bis hin zum Ausstellungsstil. Wir beschlossen, die Zimmer zu einem einzigen Raum zu verbinden und eine Fußbodenheizung zu installieren, damit die Besucher ihre Schuhe ausziehen können. Das war einfacher gesagt als getan. Da ich einen Großteil meines Gehalts für den Kauf alter Minhwa-Stücke ausgegeben hatte, fehlten mir die finanziellen Mittel. Ohne die engagierte Unterstützung und Ermutigung meiner Frau würde es das Gahoe Minhwa Museum nicht geben. Geboren und aufgewachsen in Seoul, studierte meine Frau koreanische Geschichte und verstand daher die besondere Bedeutung eines Minhwa-Museums in dem alten Hauptstadtviertel. Das Thema unserer ersten Ausstellung war „Abwehr von bösen Geistern“. Unter den Papieramuletten und Minhwa-Malereien, die ich

über die Jahre gesammelt hatte, suchte ich die zu dem Thema passenden heraus. Es gibt verschiedene Arten von Amuletten, darunter Dangsaju, die die Schicksalsentwicklung eines Menschen bildlich darstellen, sodass selbst Analphabeten sie verstehen können. Die Pinselführung erinnert stark an die der Volksmalerei, und auch wenn Stil und Zweck von Dangsaju und Minhwa sich deutlich unterscheiden, so ist ihnen doch der tiefe Blick ins Herz des Menschen gemeinsam. Während die Dangsaju mit Mitgefühl die verwundeten Herzen berühren, spiegeln die Volksmalereien Hoffnungen und Wünsche nach Glück, die der kleine Mann hegt, wider. In dieser Hinsicht schienen die Dangsaju auch eine gute Wahl für die erste Ausstellung des Museums zu sein. Während es bereits Minhwa-Ausstellungen zum Thema „Abwehr von bösen Geistern“ gegeben hatte, war dies die erste Sonderausstellung, die koreanische Volksmalerei und Papieramulette zusammen präsentierte. Ich brachte die Papieramulette dicht nebeneinander auf Paneelen und Wänden an, aber schon bald reichte der Platz nicht mehr aus. Also klebte ich den Rest an die Querbalken und Sparren, so wie es die Menschen früher tatsächlich gemacht hatten. Um die Bilder zu betrachten, mussten die Besucher sich auf den Boden legen. Das machte die Ausstellung zu einem ungewöhnlichen Hanok-Erlebnis, da die Besucher sich nicht nur die Exponate anschauen, sondern auch ihre Schuhe ausziehen, sich hinlegen und so in die Atmosphäre eines Hanok eintauchen konnten. In dieser Ausstellung wurden unter den Bildern zur Abwehr von bösen Geistern

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besonders solche präsentiert, die die Essenz der Minhwa veranschaulichen und Tiger, das Symbol der ursprünglichen Wurzeln der koreanischen Kultur, thematisieren, um zu zeigen, dass der Tiger vom koreanischen Volk seit alter Zeit als mystisches und zugleich vertrautes Wesen betrachtet wurde.

Ausstellungen im Ausland

Unsere erste Ausstellung zog viele Besucher an, darunter koreanische Volkskundler und an koreanischer Volkskunst und Volksglauben interessierte Ausländer. Seitdem richte ich jedes Jahr Sonderausstellungen aus. Da die Exponate aus meiner persönlichen Sammlung stammen, ist der Umfang zwar begrenzt, aber ich empfinde es als lohnenswert, Stücke zu bestimmten Themen präsentieren zu können. Ausstellungen sind auch immer gute Anlässe, meine Sammelstücke noch

einmal systematisch zu ordnen. Bislang habe ich über 20 Ausstellungen kuratiert, darunter Munja-do (Schriftzeichen-Malerei) – Die Tugenden der konfuzianischen Kultur (2003), Auf der Suche nach dem Ursprung der Volksreligion – Malereien des Schamanismus (2004), Fische: zurückgekehrt in den Cheonggyecheon-Fluss (2005), Gemälde von Strauchpfingstrosen (2006) und Schöne Landschaftsmalereien (2007). Ich war auch aktiv an Ausstellungen außerhalb von Seoul beteiligt. Jedes Mal, wenn ich mich eingehender mit einem Thema beschäftigt hatte, wurden die Ergebnisse in Kunstkatalogen dokumentiert. Von den bescheidenen Anfängen in unserem kleinen Museum haben wir den Sprung ins Ausland geschafft. Zu den denkwürdigsten Ausstellungen gehören Traditionelle koreanische Onggi und Volksmalerei (2006) im Fine Arts Zanabazar Museum in Ulaanbaatar, Mongolei, die Humor und Gewitztheit der koreanischen Volksmalerei einfing; Koreanische Volksmalerei und Bilderbücher (2010) im Otani Memorial Museum in Nishinomiyashi, Japan; Schamanistische Malereien (2010), veranstaltet vom Koreanischen Kulturzentrum in Paris und Koreanische Volksmalerei: Heraufbeschwörung von Langlebigkeit und Wohlbefinden (2012) im Sayamaike Museum in Osaka. Von Januar 2013 bis Juli 2015 haben wir zudem acht Ausstellungen in verschiedenen Städten Australiens durchgeführt. 2018 wurde im State Museum of Oriental Art in Moskau eine Minhwa-Ausstellung, die erste ihrer Art überhaupt in Russland, eröffnet, gefolgt von einer weiteren im The National Art Museum of the Republic of Belarus in Minsk.

Sonderausstellung zum Thema Tiger

Das Gahoe Museum öffnete 2002 in einem traditionellen Hanok-Haus in Bukchon im Herzen Seouls. Die Sammlung umfasst rund 2.000 Artefakte, darunter Volksmalereien und Glücksbringer. Im Zuge der Sanierung des Stadtviertels zog das Museum 2014 in ein nahe gelegenes Gebäude modernen Stils um.

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Meine erste Begegnung mit Minhwa liegt nun schon 47 Jahre zurück. Zurzeit ist mein Ziel, 100 Tigerbilder für eine Sonderausstellung zu sammeln. Dafür bedarf es einiger logischer und systematischer Forschungsarbeiten, die in einem Katalog dokumentiert werden sollen, um den Menschen noch über viele Jahre hinweg Freude zu bereiten. Mit Blick auf dieses große Ziel lege ich gerade eine Verschnaufpause ein.


Ein halbes Leben der Chaekgeori-Malerei gewidmet 1973 reiste Kay E. Black nach Korea und verliebte sich in Chaekgeori , die auf Faltwände aufgezogenen Malereien, die Bücher und andere für Gelehrte typische Utensilien zeigen. Danach widmete sie ihr Leben dem Studium dieser traditionellen koreanischen Kunstform. Im Juni 2020 wurde in Seoul ein Buch veröffentlicht, das von ihrer sich fast über ein halbes Jahrhundert erstreckenden Leidenschaft und harten Arbeit zeugt.

Lee Eun-ju Journalistin, Tageszeitung JoongAng Ilbo

I

n diesem Juli landete ein Buch auf mei-

sie kürzlich in den USA verschieden war.

zur koreanischen Kunst und ihrem leiden-

nem Schreibtisch. Als Kunstjournalistin

„Sobald das Buch herauskam, haben wir

schaftlichen Engagement für das Studium

erhalte ich öfters Neuerscheinungen, aber

ihr eine Kopie geschickt“, sagte die Redak-

der koreanischen Chaekgeori-Malerei.“

dieses Buch hob sich von anderen Publika-

teurin mit trauriger Stimme.

Nach meinen aus verschiedenen Quellen

tionen ab. Das auf Englisch veröffentlichte

„Sie war schon schwerkrank und bett-

gesammelten Informationen lebte Black

Werk trug den Titel Cháekkori Painting: A

lägerig, aber wir haben gehört, dass sie

als Hausfrau in Denver, Colorado, als sie

Korean Jigsaw Puzzle . Die Autorin war Kay

sich sehr freute, das Buch endlich in den

1973 zusammen mit anderen Kunstlieb-

E. Black.

Händen zu halten. Leider ist sie kurz darauf

habern nach Korea reiste. Während dieser

gestorben.“

Reise besuchte sie das Emillle Museum.

Aus Neugier schlug ich das Buch auf, und eine schöne Abbildung erschien vor

Die Redakteurin erklärte, dass das Buch

Dort sah sie zum ersten Mal eine Faltwand

meinen Augen. Als ich Seite für Seite um-

Ende Juni 2020 per Expressversand an die

mit einer Chaekgeori-Malerei, die sie sofort

blätterte, war ich hingerissen. Erstaunlich,

in San Francisco lebende Black zugestellt

faszinierte. Zurück in den USA, teilte sie ih-

dass eine Ausländerin schon in den 1970er

worden sei, sie aber zehn Tage später, am

rer Familie mit, dass sie wieder die Univer-

Jahren den Wert dieser Malereien aus dem

5. Juli, die Augen für immer geschlossen

sität besuchen wolle, um sich dem Studium

Joseon-Reich erkannt und sie zum Gegen-

habe. Sie war 92 Jahre alt.

der Chaekgeori zu widmen. Sie schrieb

stand ihrer lebenslangen Forschungsarbeiten gemacht hatte.

Liebe auf den ersten Blick

Um mir eine genauere Vorstellung ma-

sich im Magisterstudiengang der Abteilung

chen zu können, sah ich mir das Werk, eine

für Asienwissenschaften der Universität

beeindruckende akademische Studie über

Denver ein. Mit 45 Jahren setzte sie erneut

Chaekgeori-Malereien, genauer an. Das

einen Fuß auf einen Hochschulcampus.

Ich rief den Verlag an, um mehr über die

Geleitwort von Ahn Hwi-joon, Professor

Autorin zu erfahren, wurde aber von der

emeritus an der Seoul Nationaluniversi-

unerwarteten Nachricht überrascht, dass

tät, bot eine freundliche Vorstellung der

Chaekgeori sind auf Faltwände gemalte

Autorin: „Ich traf Kay E. Black zum ersten

Stilleben von Regalen, die mit Büchern und

Kay Black, die sich auf ihrer Koreareise 1973 Hals über Kopf in die koreanische Volksmalerei verliebte, widmete sich bis zu ihrem Tode im Juli 2020 dem Studium von Chaekgeori-Werken.

Mal im Herbst 1996 während meines For-

anderen Objekten wie Keramiken, Schrei-

schungsjahrs an der Universität Berkeley

butensilien und Weihrauchbrennern gefüllt

in Kalifornien. [...] Bei unserem Treffen war

sind. Diese auch als Chaekga-do bekann-

ich beeindruckt von ihrer wahrhaften Liebe

te Kunstgattung war um das 18. Jh. am

Zusammenarbeit

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Königshof beliebt, bevor sie sich dann mit

rigiert und widerlegt wurden, sind viele der

University, dafür, dass er sie Wagner just

beginnendem 19. Jh. auf die Minhwa-Volks-

von ihnen vorgebrachten Hauptpunkte nach

zum richtigen Zeitpunkt vorgestellt hatte. Sie

malerei verbreitete. In den 1970ern noch un-

wie vor wertvoll.“

fügte hinzu: „Es war eine Pionierarbeit und

erforschtes Terrain, erfuhr diese Kunstform

Im Vorwort des Buches schrieb Black:

ich hoffe, dass sie andere dazu inspiriert,

in den letzten Jahren durch groß angelegte

„Ich hatte die Ehre, zwölf Jahre lang mit Ed-

sich dem Thema zu widmen und das Puzzle

Ausstellungen eine Neubewertung.

ward W. Wagner (1924-2001), Professor und

zu vervollständigen.“

Umso erstaunlicher ist es, dass sich eine

Begründer der Koreanistik an der Harvard

ausländische Besucherin schon damals in-

University, an diesem Projekt zu arbeiten.“

tensiv mit dem Sujet beschäftigte. Ab Mitte

Sie dankte auch Gari Ledyard, King Sejong

Um mehr über diese bemerkenswerte

der 1980er Jahre untersuchte Black zahlrei-

Professor für Koreanistik an der Columbia

Autorin zu erfahren, erkundigte ich mich

che Chaekgeori-Malereien und fotografierte bedeutende Werke nicht nur in Korea, sondern auf der ganzen Welt, darunter in Amerika, Europa und Japan. Wenige Jahre darauf begann sie mit Edward W. Wagner (1924-2001), damals Professor für Koreanistik an der Harvard University, zusammenzuarbeiten. Wagner, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Genealogie der Joseon-Zeit, half Black dabei, die komplizierten Stammbäume verschiedener Chaekgeori-Meister zu entwirren. In den 1990er Jahren verfassten sie eine Reihe gemeinsamer Aufsätze. In Bezug auf die Bedeutung von Blacks Werk erklärte Ahn: „Chaekgeori wurden lange Zeit als von namenlosen Malern angefertigte Werke betrachtet, die den Geschmack des einfachen Volkes widerspiegelten. Mit Hilfe von Edward Wagner räumte Kay Black mit diesem Vorurteil auf, indem sie nachwies, dass eine Reihe von Hofmalern an den Chaekgeori gearbeitet hatten und dass diese Malereien sich bei der herrschenden Klasse bis hin zu Angehörigen der königlichen Familien großer Beliebtheit erfreuten.“ Black kategorisierte die Chaekgeori in drei Gruppen. Ahn schrieb weiter: „Nach der Veröffentlichung der ersten Forschungsbeiträge von Kay Black und Edward Wagner sind eine Reihe von Studien koreanischer Gelehrter erschienen, die das Thema auf der Grundlage umfangreicherer schriftlicher Quellen behandeln. Auch wenn die von Black und Wagner vorgestellten Ideen manchmal kor-

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2

Mut und Ausdauer


nach der E-Mail-Adresse ihrer Tochter Kate

Vorbild für mich. Ich habe von ihr gelernt,

die vielen Tage und Nächte vor, die Black

Black. Die 64-Jährige studierte Architektur

dass ich alles, was ich will, auch schaffen

mit der Erforschung der Chaekgeori-Ma-

am MIT und ist derzeit Direktorin für Stadt-

kann, wenn ich es nur will. Nachdem mei-

lereien verbracht haben musste. Wie viele

planung in Piedmont. Da es noch nicht so

ne Schwester und ich auf die Universität

Anhaltspunkte und Puzzleteile haben wir

lange her war, dass sie ihre Mutter verlo-

gekommen waren, erforschte sie 47 Jahre

in den Bildern nicht bemerkt? In ihrem

ren hatte, war ich mit meinen Fragen sehr

lang die koreanische Kultur und Kunst und

Buch fordert Black uns auf, nach der Tür

vorsichtig, aber von ihr kam schon bald

bereiste die Welt auf der Suche nach Chaek-

zu suchen, die uns in die geheimnisvolle

eine rührende Antwort.

geori-Werken. Ich habe größte Achtung

Welt der Chaekgeori führt, und über unser

vor ihrem Mut und ihrer Ausdauer.“

faszinierendes kulturelles Erbe nachzuden-

„Es war wirklich ihr Lebenswerk“, schrieb sie. „Meine Mutter war ein großartiges

Als ich das Buch schloss, stellte ich mir

ken.

1

2

1. Chaekgeori. Yi Eung-rok (1808-1883). 19. Jh., Tusche und Mineralpigmente auf Papier. 163 × 276 cm. Asian Art Museum, San Francisco. Chaekgeori ist ein auf einem Wandschirm angebrachtes Stillleben mit von Gelehrten genutzten Utensilien wie Büchern, Keramiken, Schreibgeräten und Räuchergefäßen. Diese Kunstform war besonders in der späten Joseon-Zeit beliebt. Die Malerei inkorporiert die im Westen übliche perspektivische Sicht, was zur damaligen Zeit eher eine Seltenheit war. 2. Kay E. Blacks Ch’aekkori Painting: A Korean Jigsaw Puzzle, (Chaekkori-Malerei: ein koreanisches Puzzle), veröffentlicht im Juni 2020 von der Sahoipyoungnon [Gesellschaftskritik] Academy in Seoul, ist eine umfassende akademische Studie über diese Kunstform. Das Buch ist die Kulmination ihrer umfassenden, mehr als 30 Jahre langen Forschungsarbeiten. Fester Einband, 336 Seiten.

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SPEZIAL 3

Minhwa: Malereien fürs Glück

GESCHICHTEN DES LEBENS IN SYMBOLEN Die koreanische Volksmalerei Minhwa , die sich vor allem Ende der Joseon-Zeit (1392-1910) verbreitete, wurde vom einfachen Volk geschaffen und genossen. Da diese Bilder von Amateuren stammen, mögen sie im Vergleich zu Werken aus Meisterhand zwar etwas ungeschickt wirken, dafür kommen darin kollektive Wertvorstellungen, Fantasien und die ganz profanen Wünsche des einfachen Mannes frei zum Ausdruck und kreieren eine ganz eigene, faszinierende Welt, wobei jedes Motiv-Set eine andere Thematik repräsentiert. Im Doo-bin Kunstkritiker

LANDSCHAFTSMALEREI Basierend auf konfuzianistischen, buddhistischen und taoistischen Prinzipien besteht in Ostasien die lange Tradition, Mensch und Natur als eins zu betrachten. Aus diesem Gefühl der Urvertrautheit und des Einseins mit der Natur, das diesem Kulturraum gemeinsam ist, entstand das Landschaftsmalerei-Genre Sansuhwa (wörtlich: Malerei von Bergen und Wasser). Sie war entsprechend weit verbreitet und für viele Maler das bedeutendste Sujet. In der koreanischen Volksmalerei begann die Landschaftsdarstellung zunächst mit der Nachahmung von traditionellen Malereien und Stiltechniken, allen voran von Jeong Seons (1676-1759) Jingyeong sansuhwa (Bild einer real existierende Landschaft). Dieser Stil war von Amateurmalern, die die subtilen Darstellungstechniken der traditionellen Malerei nicht imitieren konnten, vergleichsweise leicht zu kopieren, da die Landschaften in wagemutigen, einfachen Pinselstrichen eingefangen wurden.

Geumgang-san. Spätes Joseon-Reich. Tusche und leichte Farben auf Seide. 50,2 × 34,6 cm. Sun Moon Universitätsmuseum.

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BLUMEN UND VÖGEL Die traditionelle Blumen- und Vogelmalerei Hwajo-do gab die Schönheit der Natur naturgetreu wieder. Dagegen wurde den Minhwa-Darstellungen von Blumen und Vögeln die Symbole für Eheglück hinzugefügt, was ihnen sowohl dekorativen als auch magisch-beschwörerischen Charakter verlieh. Beliebte Motive waren dabei Pflanzen wie Strauchpfingstrosen, Granatapfelblüten mit den Samenfrüchten, Lotusblüten, Pflaumenblüten, Chrysanthemen, Narzissen, Kobushi-Magnolien und Orchideen sowie Tiere wie Fasane, der mythische Wundervogel Bonghwang, Kraniche, Gänse, Enten, Hühner, Nachtreiher, Mandarinenten, Schwalben, Schwarznackenpirole und Sperlinge. Das meist verbreitete Blumenmotiv war die Strauchpfingstrosen, die Wohlstand und Glück symbolisierte. Der Granatapfel mit seinen unzähligen Samen stand für viele Kinder. Bei Fasanen, Mandarinenten und Enten wurden stets Männchen und Weibchen als Paar gezeichnet, was Liebe und Eheglück symbolisierte.

Blüten und Vögel. Spätes Joseon-Reich. Tusche und Farbe auf Papier. 69,1 × 41,2 cm. Sun Moon Universitätsmuseum.

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DIE ZEHN SYMBOLE DER LANGLEBIGKEIT

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Die Malerei der zehn Symbole der Langlebigkeit Sipjangsaeng-do brachte den universellen Wunsch nach Gesundheit und Langlebigkeit durch Motive wie Schildkröten, Kraniche, Kiefern, Pilze der Unsterblichkeit, Hirsche, Berge, Felsen, Wasser, Wolken, Sonne, Pfirsiche oder Bambusse zum Ausdruck. Diese Malerei entwickelte sich wahrscheinlich aus frühgeschichtlichen, auf dem Schamanismus basierenden Urreligionen, die Natur und Naturgeister verehrten. In den frühzeitlichen Gesellschaften hatte der Schamanismus oft den Charakter einer Staatsreligion mit absoluter Macht über sowohl herrschende Oberschicht als auch Volk. Die schamanistische Denkweise prägte sich tief ins Unterbewusstsein der Koreaner ein und wahrte selbst nach der Verbreitung des Buddhismus weiterhin ihren Einfluss. Die zehn Symbole der Langlebigkeit dürften vor diesem Hintergrund entstanden sein. Sie zeichnen sich im Vergleich zu anderen Genres durch ihre kräftigen, prachtvollen Farben aus und geben Aufschluss über das koreatypische Farbempfinden.

Zehnteiliger Wandschirm mit den zehn Symbolen der Langlebigkeit. Zweite Hälfte des 18. Jhs. Tusche und Farbe auf Seide. 210 × 552,3 cm. Leeum, Samsung Kunstmuseum.

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SINSEON: DIE TAOISTISCHEN UNSTERBLICHEN Die Vorstellungen von Taoistischen Unsterblichen haben in Korea eine lange Geschichte und gehen auf das Zeitalter von Gojoseon (2333-108 v. Chr.), des ersten Reiches auf der Koreanischen Halbinsel, zurück. Der Legende nach soll auch Dangun, der mythische Gründer der Nation, zu einem Unsterblichen geworden sein. Die Koreaner betrachteten die Unsterblichen nicht als mythische Wesen, sondern glaubten, dass auch der Mensch Unsterblichkeit erlangen könne, indem er sich von der profanen Welt löst und durch eine tiefgehende Schulung von Körper und Geist, die ihn sich selbst und die Welt betrachten lässt, die endgültige Erkenntnis erlangt. Die Darstellungen von Taoistischen Unsterblichen repräsentieren die Hoffnungen auf eine friedliche Existenz im Einklang mit der Natur und frei von Leiden. Zwölfteiliger Wandschirm mit Taoistischen Unsterblichen (Detail). Choe U-seok (1899-1964). Datum unbekannt. Tusche und Farbe auf Seide. 181,5 × 285 cm. Nationales Volksmuseum von Korea.

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PIKTOGRAPHISCHE MALEREIEN Die Schriftzeichen-Malerei Munja-do ist in ihrer Form einzigartig: Sie besteht aus einem chinesischen Schriftzeichen, das jeweils eine der acht konfuzianischen Tugenden verkörpert, und entsprechenden symbolhaltigen Illustrationen aus alten Volkserzählungen, mit denen der freie Raum inner- oder außerhalb des Schriftzeichens verziert wird. Am häufigsten sind die folgenden acht Zeichen: 孝 (kindliche Pietät), 悌 (brüderliche Liebe), 忠 (Loyalität), 信 (Vertrauen), 禮 (soziale und rituelle Verhaltensformen), 義 (Gerechtigkeit), 廉 (Integrität) und 恥 (Schamgefühl). Diese wurden jeweils mit den entsprechenden Sinnbildern in Form von Tieren, Blumen oder Gegenständen geschmücht. So erscheinen auf Bildern mit dem Schriftzeichen „悌” für brüderliche Liebe oft Stelzen als Symbol für Geschwister, die in der Not immer füreinander da sind, oder die Blüten der Koreanischen Blaubeere (Vaccinium koreanum) als Symbol des harmonischen Miteinanders. Ideographische Volksmalereien sind für ihre originäre und harmonische Kombination aus abstrakter und realistischer Darstellung bekannt. 1. Schriftzeichen: 悌 (Bruderliebe). Frühes 20. Jh. Tusche und Farbe auf Papier. 55 × 33 cm. Privatsammlung. 2

2. Schriftzeichen: 忠 (Treue). 19. Jh. Tusche und Farbe auf Papier. 99 × 33 cm. Privatsammlung.

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SPEZIAL 4

Minhwa: Malereien fürs Glück

MINHWA VOLKSMALEREI DES 21. JAHRHUNDERTS Die koreanische Volksmalerei des 21. Jhs löst sich von den tradionellen Farben und Designs des Genres, indem sie aktuelle Interessen und Sehnsüchte zum Ausdruck bringt. Moon Ji-hye Journalistin, Monatsheft Minhwa

B

is vor einigen Jahrzehnten noch wurde Minhwa nur von einem beschränkten Kreis wertgeschätzt. In den 1970ern und 1980ern kaufte lediglich ein bestimmter Kundenkreis wie ausländische, meist japanische Kunsthändler und namhafte Hotels im Inland traditionelle Minhwa-Bilder mit Strauchpfingstrosen, mit den zehn Symbolen der Langlebigkeit oder mit Elster und Tiger. Heute spricht Minhwa ein größeres Publikum an: Viele betreiben das Malen als Hobby, und Mode- oder Kosmetikmarken bringen neue Produkte in Kollaboration mit Minhwa-Künstlern auf den Markt. Losgetreten haben diesen Trend Minhwa-Künstler mit kleinen Werkstätten, die in den frühen 1990ern damit begannen, die Volksmalerei in den Hochschulen angegliederten Einrichtungen für lebenslanges Lernen oder in den von großen Kaufhäusern betriebenen Kulturzentren bekannt zu machen. Dort wurden Malvorlagen eingesetzt, was auch völligen Grünschnäbeln in Sachen Minhwa die Teilnahme erleichterte. In der Anfangsphase der Formierung professioneller Minhwa-Kreise stand also das Nachzeichnen von traditionellen Minhwa-Werken im Vordergrund. Nach der Millenniumwende wuchs die Zahl der Minhwa-Künstler, die ihr Können entfalteten und originelle Werke kreierten, rapide, wobei zeitgemäßere Ausdrucksmöglichkeiten erforscht wurden. Seitdem experimentieren Moderner Tiger. Keum Goang-bok. 2020. Tusche und Pigmente auf Maulbeerbaumpapier (Lackstiftfarben, Erdpulverfarben, Tubenfarben, Chinesisches Weißpulver). 130 × 160 cm.

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1. Freunde auf den ersten Blick. Kwak Su-yeon. 2010. Tusche und Farbe auf Maulbeerbaumpapier. 162 × 131 cm.

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immer mehr Künstler damit, Formen und Formate der traditionellen Minhwa aufzulösen und stilistisch neu zu gestalten, um Empfindsamkeit und Wertvorstellungen der Gegenwart adäquater zu reflektieren.

Narrative der Gegenwart

Der Künstler Keum Goang-bok, der nicht nur gewandt im traditionellen Minhwa-Stil ist, sondern sein Können auch durch originelle Werke beweist, versucht z. B. anhand des Motivs des Tigers, der nach altem Volksglauben böse Geister vertreibt, auf humorvolle Weise Botschaften zur Erhaltung der koreanischen Kultur zu senden. Er betont: „So wie Minhwa ganz natürlich im Alltagsleben unserer Vorfahren entstanden ist, so müssen die Werke von heute auch die Geschichten der Gegenwart erzählen. Für eine kontinuierliche Entwicklung der Minhwa-Kunst müssen sie über

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2. Spielraum No.5. Choi Seo-won. 2020. Mixed media auf Leinwand. 91 × 116,8 cm.

glücksbringende Botschaften hinaus auch das historische Bewusstsein zum Ausdruck bringen können.“ Die Künstlerin Ahn Seongmin, die sowohl in Seoul als auch in New York arbeitet, nutzt Eingangstüren und Fenster der für New York repräsentativen Brownstone-Stadthäuser als Motive in ihren Minhwa-Werken, was ihnen einen surrealistischen Touch verleiht. In ihrer auch als „Landschaftsnudeln“ bekannten Malerei wird die Natur, die den menschlichen Geist anregt, in Form von ganz alltäglichen Nudeln dargestellt. Die auf Jeju-do lebende Künstlerin Kim Saeng-a ist bekannt dafür, in ihren Werken die Landschaften dieser Insel wiederzugeben. In ihre Bilder lässt sie die Volkserzählungen von Jeju-do einfließen und verwendet zu dem Zweck auch Glasscherben, die sie beim Sammeln von angespültem Meeresmüll an den Stränden der Insel findet und


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anschließend im Brennofen brennt. Dadurch bringt sie die Botschaft zum Ausdruck, dass „sogar ein kleiner Schritt wie das Sammeln von angetriebenen Scherben am Strand zu einem bedeutenden Wandel für die schöne, unter Umweltverschmutzung leidende Insel beitragen kann.

Neue Experimente

Stilexperimente mit Minhwa-Formensprache wie die z. B. auf Tapeten übliche wiederholte Verwendung bestimmter Muster oder fiktionaler Charaktere wirken auf den Betrachter erfrischend und wecken Neugier. Die Künsterlin Lee Jee-eun erzeugt z. B. in ihrer Reihe Kkot-gil (Blumenweg), deren Grundmotiv ein Schädel ist, eine multistabile Wahrnehmung. Das Werk zeugt von Lees Tiefsinnigkeit und außerordentlichem Kunstsinn in Bezug auf ihr Sujet. Lee erklärte dazu: „Der Schädel wird gewöhnlich mit Tod ver-

bunden und erweckt daher negative Assoziationen, aber ich habe das Bild mit dem Gedanken gemalt, dass ein Mensch, der ein schönes Leben geführt hat, doch auch einen schönen Schädel hinterlassen wird.“ Die vergrößerte Darstellung eines Auszugs aus einem existierenden Gemälde ist ebenfalls eine Besonderheit der modernen Volksmalerei. Der Künstler Yoon In-soo wählt aus Chaekgado-Gemälden (Volksmalerei von Bücherregalen, Papierwaren und anderen Gegenständen, auch Chaekgeori genannt) die Stellen mit Blumenvasen aus und gibt sie in voller Größe wieder, ganz so, als hätte man sie herangezoomt. Dadurch werden Farben und gestalterische Schönheit der Vasen, die im Originalgemälde kaum ins Auge fielen, betont und eine Wirkung ganz besonderer Art erzielt. Yoon, der ein intensives Training in einer Werkstatt hinter sich hat, sagt seinen Schülern stets, dass „eine erfolgreiche

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Die Tatsache, dass auch zeitgenössische Künstler unabhängig von ihrem Studienhintergrund in westlicher oder östlicher Malerei gerne Elemente der Volksmalerei verwenden, zeigt, wie hoch derzeit die Wellen der Popularisierung von Minhwa schlagen. kreative Arbeit erst dann möglich ist, wenn man traditionelle Stile gemeistert hat.“ Unter den Minhwa-Künstlern gibt es auch einige, die bestimmte Figuren in ihren Werken zu einer Art Personae stilisieren. Andere setzen bekannte fiktive Figuren wie den Kleinen Prinzen aus Saint-Exupérys gleichnamiger Erzählung ein, um ihre Werke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Künstlerin Kwak Su-yeon hingegen ist bekannt für ihre Haustier-Reihe. Die humorvolle Darstellung von Hunden und Katzen in ihren Bücherregal-Malereien oder Malereien mit den Zehn Symbolen der Langlebigkeit bringen den Betrachter zum Schmunzeln.

Über die Tradition hinaus

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In Minhwa-Kreisen lösen sich immer mehr Künstler von der Formel „traditionelle Farbpigmente auf traditionellem Hanji-Maulbeerbaumpapier“ und experimentieren stattdessen mit einer selbst zusammengestellten Materialpalette, um ihre eigene Gestaltungssprache zu schaffen. Diese Künstler teilen die Ansicht, dass es im Zeitalter der Globalisierung sinnlos ist, zwischen östlichen und westlichen Kunstmaterialien zu unterscheiden. So sieht man öfters zeitgenössisch angehauchte Minhwa-Werke, bei denen z. B. Acrylfarben, Wachs- und Buntstifte auf Leinwand verwendet wurden, oder Collagen aus Alltagsmaterialien wie Textilien oder gemusterten Tapeten. Auch gibt es Künstler, die sich ganz von der Zweidimensionalität abwenden und mit verschiedenen Formaten wie Installationen oder Kombinationen mit Medienkunst experimentieren. Die Künstlerin Lee Don-ah war ursprünglich


bekannt für Malereien, in denen sie Minhwa-Motive aus ihren traditionellen Hintergründen löste und in Kombination mit geometrischen Figuren wie Sechsflächnern, Vierecken sowie rechteckigen Bilderrahmen präsentierte. Seit 2015 inkorperiert sie in ihre Werke auch Medientechniken wie Videobilder, Lentikulardrucke und Medienfassaden. Die Tatsache, dass auch zeitgenössische Künstler unabhängig von ihrem Studienhintergrund in westlicher oder östlicher Malerei gerne Elemente der Volksmalerei verwenden, zeigt, wie hoch derzeit die Wellen der Popularisierung von Minhwa schlagen.

Glokalismus

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1. Designer Yang Heill von dem Modelabel HEILL stellte dieses Minhwa-inspirierte Kleid während der Pariser Modewoche im September 2019 im Le Bristol Paris vor. 2. Strauchpfingstrosen-Topf-Macaron 02 (Dessert Bouquet Serie). Ahn Seong-min. 2015. Tusche und Farbe auf Maulbeerbaumpapier. 75 × 50 cm.

Das Interesse an Minhwa verbreitet sich nun über die Kunstwelt hinaus auch in die Schönheits-, Mode- und Lifestyle-Industrie. Minhwa diente stets dem Zweck der Innenausstattung und besitzt über den praktischenn Wert hinaus zugleich eine dekorative, vom koreanischen Schönheitssinn geprägte Note, was ideal für ein differenziertes Markenbranding ist. Die koreanische Kosmetikmarke Sulwhasoo zeigt größtes Interesse an Minhwa. Schon seit langem bringt sie ihre neuen Produktreihen in Kolloboration mit bekannten Minhwa-Künstlern heraus. 2019 veranstaltete Sulhwasoo zudem eine Sonderausstellung von zeitgenössischen Interpretationen traditioneller koreanischer Muster. Künstler von heute brachten Motive aus den beiden Volksmalerei-Genres Hojeop-do (Minhwa mit Schmetterlingen) und Hwajoyeongmo-do (Minhwa mit Blumen, Vögeln und Tieren) auf verschiedenen Objekten an, darunter Innenraumausstattungen, Möbeln und Modeartikeln. Die Haute-Couture-Marke HEILL präsentierte für die Saison Frühjahr/Sommer 2020 in Paris eine Kollektion, bei der Motive von traditionellen Faltfächern, wie sie sich in der Volksmalerei finden, eingearbeitet wurden. Vor Beginn der Modenschau bezeichnete sich Designer Yang Heill als glücklich, weil „Korea mit Minhwa über ein Reservoir wunderschöner Ressourcen verfügt“. Eine seiner Kreationen trug First Lady Kim Jung-sook bei der Amtsantrittszeremonie von Präsident Moon Jae-in im Jahr 2017. Dass Marken von solch globaler Reichweite für ihre Produkte auf Motive der Volksmalerei Minhwa zurückgreifen und sie geschickt anwenden, ist ein Beweis dafür, dass Minhwa eine Schönheit besitzt, die zwar koreatypisch ist, deren Reiz aber weltweit ankommt. Die Botschaften des Glücks sowie die sehnlichen Wünsche, für die die Minhwa-Motive stehen, sprechen universell an, was vermutlich einer der Gründe für den jüngsten Boom sein dürfte. Es ist zu hoffen, dass dieses zeitlose, aus endlosen Versuchen und Experimenten geborene Genre eines Tages als „K-Art“ eine neue Koreanische Welle anführt.

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FOKUS

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1. Blackpink beim Posieren für die Schlussszene des Musikvideos für DDUDU DDU-DU, der Hauptsingle von Square Up, ihrer ersten, im Juni 2018 veröffentlichten EP. Das Video wurde 1,4 Millionen Mal auf YouTube angeklickt (Stand: 23 Nov. 2018), eine absolute Rekordzahl in der Geschichte des K-Pop. 2. Das Musikvideo für How You Like That, Blackpinks Hit-Single von 2016, die den kräftigen Takt und die umwerfenden Bewegungen der Gruppe gekonnt verband, stellte einen neuen Weltrekord für die schnellsten 100 Millionen YouTube-Klicks auf.

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3, 4. Das Musikvideo für DNA, der Hauptsingle der BTS-EP LOVE YOURSELF: Her, erreichte am 1. Juni 2020, knapp drei Jahre nach der Veröffentlichung, eine Milliarde YouTube-Klicks. Das Video fängt den Moment des Sich-Verliebens in hell leuchtenden Farben und frisch-lässigen Bildern ein.

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Neue Startlinie für K-Pop Musikvideos K-Pop-Musikvideos mit ihren enormen globalen Fangemeinden von Gruppen wie Blackpink und BTS dominieren die View-Rankings auf YouTube. Diese Produktionen modellieren ein neues Genre, das ein Fest fürs Auge bietet und mit genialen Konzepten, umwerfenden Kostümen und Kulissen sowie fesselnden Aufführungen für astronomische Zuschauerzahlen sorgt. Kim Yoon-ha Popmusik-Kritikerin

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m 8. September 2020, nur 73 Tage nach der Veröffentlichung des Musikvideos zur neuen Single How You Like That knackte Blackpink, die derzeitige Nr. 1 unter den koreanischen Girlgroups, auf YouTube die 500-Millionen-Marke und brach damit ihren 2019 mit Kill This Love erreichten Rekord um 43 Tage schneller. Nur 32 Stunden nach dem ersten Upload am 26. Juni hatte das Video zu dem Song die 100-Millionen-Schwelle übertroffen – ebenfalls ein Novum in der Geschichte. Das Quartett erzielte insgesamt fünf Guinnessbuch-Weltrekorde, was für Schlagzeilen sorgte. Zum ersten Mal in der K-Pop-Geschichte übertraf Blackpinks Hit-Song Ddudu Ddu-du diese Zahl im April 2019, dicht gefolgt von DNA von BTS und Gangnam Style von Psy.

100 Millionen Views

Um die Dominanz von K-Pop-Videos in einen Kontext zu bringen, muss man berücksichtigen, dass eine Million eine Traumzahl für nicht-koreanische Künstler ist. Sicherlich profitieren Blackpink und BTS von ihren Millionen Fans weltweit (die sich möglicherweise ein Video mehrmals ansehen) und von ihren Welttourneen, aber auch andere K-Pop-Gruppen sind nicht zu unterschätzen. Ihr Mindestziel für ein einzelnes Video liegt nämlich bei 100 Millionen Views. Das erste K-Pop-Musikvideo mit 100 Millionen Klicks war das von der Hit-Single Gee der Girlgroup Girls’ Generation, die im Januar 2009 herauskam. Das im Juni auf YouTube hochgeladene Video überschritt im April 2013, also drei Jahre und zehn Monate später, die 100-Millionen-Schwelle, was damals nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Branche für Furore sorgte. Doch das war erst der Anfang. Um diese Zeit gewann K-Pop auf den internationalen Märkten immer mehr an Bedeutung, und der Aufstieg der visuellen Sprache verlieh dem Wachstum des Genres ein erstaunliches Momentum. Zahlreiche Idolgruppen wie BIGBANG, EXO, Seventeen und Twice waren die treibenden Kräfte hinter dem weltweit aufkeimenden K-Pop-Fieber, wobei die Aktivitäten von Solo-Künstlern wie G-Dragon, Taeyang, HyunA, Taeyeon und IU das Ihrige dazu beitrugen. Das Erreichen der 100-Millionen-Marke ist nun ein symbolischer Indikator für den Beliebtheitsgrad eines K-Pop-Hits geworden.

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Idolgruppen

Anfang der 1980er Jahre rückte die Bedeutung von Musikvideos in der koreanischen Popindustrie verstärkt in den Vordergrund. Mit der Gründung des amerikanischen Musikkabelsenders MTV im Jahr 1981 wandten sich Augen und Ohren aller Popmusikfans völlig den die Musik begleitenden Videos zu, ganz so, wie es in dem Hit-Song Video Killed the Radio Star der britischen New-Wave Gruppe The Buggles quasi prophezeit wurde. Die Erfolgsspirale der „Visualisierung des Klangs“, die bis dahin nur in der Fantasie existiert hatte, war nicht aufzuhalten und revolutionierte die Musiklandschaft. Die glamourösen und provokanten, rund um die Uhr pausenlos laufenden Musikvideos brachten reihenweise Weltstars wie Madonna, Michael Jackson und Prince hervor, die in den 1980er Jahren auf dem amerikanischen Pop-Markt für Sensationen sorgten. Dass britische Gruppen wie Duran Duran, Culture Club und Eurythmics, die auch in Korea hochpopulär waren, weltweite Erfolge genossen, hängt eng mit dem Durchbruch von Musikvideos zusammen. Für Musiker sind seitdem Musikvideos kein Kann mehr, sondern ein Muss. Dass rund 40 Jahre später ausgerechnet das Genre des K-Pop am meisten vom Zusammenspiel zwischen Musik und Video profitiert, ist hoch interessant. „K-Pop“ steht im Grunde genommen für „Idol-Pop Koreas“. Tatsächlich achten die meisten K-Pop Idolgruppen schon bei der Gründung besonders auf das Visuelle und sorgen dafür, dass es in der Gruppe wenigstens ein Mitglied mit umwerfendem Aussehen oder außergewöhnlichem Tanztalent gibt. Anzeichen für solche Überlegungen über „visuelle Musik“ finden sich leicht in den Musikvideos der sog. Idolgruppen der 1. Generation wie H.O.T., S.E.S., Fin.K.L. oder Sechs Kies. Grundlegend war dabei die Verwendung intuitiv ansprechender Bilder, die den Betrachter sofort in ihren Bann schlagen. Typische Beispiele dafür sind sinnlich reizvolle Aufnahmen, die die Stärken der einzelnen Gruppenmitglieder optimal einfangen, sei es durch Close-up-Aufnahmen des Gesichts oder Performance-Details. Im Laufe der Zeit erschienen dann Videos, die von Erlebnissen einzelner Gruppenmitglieder erzählten oder Botschaften an ihre Generation im Drama-Format hervorhoben wie z.

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B. H.O.T.s Hope und Fin.K.L.s Now. Besonders die dramenartigen Musikvideos, die oft zur nachdrücklichen Unterstreichung von Botschaften eingesetzt wurden, entwickelten sich weiter, wobei auch die Anwendungsbereiche vielfältiger wurden. Dass diese Videos dann über Kurzdarstellungen zu einem einzigen Song hinausgingen und als „Weltanschau-

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ungs-Videos“ ein ganzes Album einnahmen, begann 2012 mit der Boygroup EXO. Um dem Publikum ihr Narrativ überzeugend zu vermitteln, machten sie in einem virtuellen, außerhalb des Sonnensystems gelegenen Raum namens „Exoplanet“ von ihren jeweiligen Superkräften Gebrauch und entwickelten verschiedene Ideen, um ihre Fantasiewelt möglichst effektiv zu „kommunizieren“. Computergraphiken wurden eingesetzt, um die Superkräfte der Mitglieder zu veranschaulichen, und unzählige High-Tech-Videos diverser Arten und Formen herausgebracht, um die „parallele Welt“ der Gruppe, zu der auch ein Baum des Lebens und zwei Sonnen gehörten, darzustellen. Das Narrativ war so hintergründig und zugleich abstrus, dass Fans ulkten, man müsse nochmal studieren und einen Abschluss in „EXO-logie“ machen, um diese alternative Realität verstehen zu können.

Künftige Herausforderungen

Die Welt der Jugend in der Serie The Most Beau-


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1. EXO im Musikvideo für Power, dem Titelsong ihres Studioalbums The Power of Music. EXO gehörte zu den ersten, die Musikvideos mit einem durchgehenden Narrativ oder einer universellen Botschaft auf einem einzigen Album kompiliert herausbrachten. 2. Das Musikvideo für Tempo, den Titelsong auf EXOs Studioalbum DON’T MESS UP MY TEMPO. Die Gruppe führte ein Weltsicht-Konzept ein, das Elemente wie Parallelwelten und übernatürliche Mächte einschließt. 3. Rapper G-Dragon in dem Musikvideo für Crooked, dem Haupttitel seines 2013 herausgebrachten Albums COUP D’ETAT. Das in London gefilmte Video, das am selben Tag wie das Album herauskam, erreichte im Januar 2017 eine Milliarde YouTube-Klicks. G-Dragons Modestil erregte genau so große Aufmerksamkeit wie seine Musik.

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tiful Moment in Life (HYYH), die die Weichen für den immensen globalen Erfolg von BTS stellte, kann nicht ohne Erwähnung der Musikvideos HYYH Teil 1, HYYH Teil 2 sowie EPILOGUE: Ewig Jung erklärt werden. Dasselbe gilt für Blackpink. Das starke Image, das die Videos zu den Liedern Whistle und Boombayah auf ihrer Debüt-Single propagieren, ruht auf zwei soliden Säulen: Die eine ist das coole und hippe Image, das v. a. den von der Agentur YG Entertainment hervorgebrachten Stars eigen ist, und das schon vor der „K-Pop Invasion“ auf rückhaltlose Resonanz bei amerikanischen und britischen Fans stieß. Die zweite Säule ist die visuelle Präsentation des Quartetts als Trends bestimmende Fashionistas und starke Influencer, die mit einer enormen Follower-Zahlen ihre Präsenz behaupten. Man kann durchaus sagen, dass die K-Pop-Musikvideos inzwischen weit mehr als rein untermalende Begleitinhalte zur Musik sind und sich zu einem beeindruckenden repräsentativen Medium entwickelt haben, das strukturelle Veränderungen des globalen Musikmarktes auf den Weg bringt. Nachdem 2012 Psys Meghahit Gangnam-Style auf YouTube viral gegangen war und sein Pferdetanz die Welt erobert hatte, begann Billboard, die View-Zahlen von Musikvideos in den Single-Charts Billboard Hot 100 zu berücksichtigen. Dies erwies sich als segensreiche Hilfe für K-Pop-Künstler, die davon träumen, auf den US-Markt vorzustoßen. Der kometenhaft gestiegene Status von K-Pop bringt jedoch auch Verantwortung mit sich. Die Produzenten koreanischer Musikvideos verfolgen wohl das gemeinsame Ziel, schnell auf aktuelle Trends zu reagieren oder sich durch die Schaffung origineller und innovativer Contents mit einem bislang in dieser Art noch nie dagewesenen gewissen Etwas eine Nasenlänge Vorsprung vor der Konkurrenz zu verschaffen. Angesichts dieses enormen Drucks besteht das Risiko rücksichtslosen Plagiierens oder mangelnden Verständnisses einer bestimmten Kultur oder kultureller Inbesitznahme, was Kritik hervorrufen kann. Das sind Fragen, die angesichts der verschiedenen neuen Rekorde, die K-Pop immer wieder aufstellt, umsichtig angegangen werden müssen. In diesem Sinne stehen K-Pop-Musikvideos jetzt an einer neuen Startlinie.

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KUNSTKRITIK

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PARK RE-HYUN LEBEN UND KUNST „Ein Leben wie eine pausenlose Achterbahnfahrt und ein Dokument des Siegs des Menschen durch Kunst und Liebe.“ So beschrieb die Künstlerin Park Re-hyun (1920-1976) ihr eigenes Leben. Das Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst gedenkt ihres 100. Geburtstags mit einer beeindruckenden Retrospektive. Kim Hyo-jeong Unabhängige Kuratorin

1. Park Re-hyun erforschte bei ihrem Unterfangen, Gemälde von typisch koreanischem und gleichzeitig modernem Design zu schaffen, zahlreiche Materialien und Techniken. Ihre bahnbrechenden Druckarbeiten sind Resultat eines leidenschaftlichen Strebens nach einer eigenen, profunden Kunstwelt. 2. Work. 1966-1967. Tusche und Farbe auf Papier. 169 × 135 cm. Museum SAN. Park schuf dieses Werk um die Zeit, als sie sich der abstrakten Malerei zu widmen begann.

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ie Ausstellung Park Re-hyun Retrospective: Triple Interpreter in der Deoksugung-Zweigstelle des Nationalmuseums für Moderne und Zeitgenössische Kunst (24. 9. 2020–3. 1. 2021) beleuchtet die Kunstwelt der Malerin anhand der Werke aus drei Jahrzehnten. Die vierteilige Retrospektive zeigt figurative Werke der 1940-50er Jahre hauptsächlich mit Frauen als Motiv, Stücke aus gemeinsamen Ausstellungen mit ihrem Mann Kim Ki-chang (1913–2001), schriftliche Zeugnisse, die Einblick in ihre private Gedankenwelt geben, abstrakte Gemälde der 1960er und Druckgrafiken der 1970er Jahre. „Triple Interpreter“ im Ausstellungstitel referiert auf Parks Rolle als „Dolmetscherin“ für Koreanisch, Englisch und Lippenlesen für ihren hörbehinderten Mann. Die Ausstellung bietet die seltene Gelegenheit, sich näher mit Parks intensiv gelebtem Leben sowie Kunstschaffen, das oft vom Leiden ihres Mannes, eines ebenfalls gefeierten Künstlers, überschattet wurde, zu befassen.

Mutige Veränderungen

Mit Kunst begann die 1920 geborene Park Re-Hyun während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945). Am Gyeongseong College of Education (heute: College of Education, Seoul National University) studierte sie Malerei bei Keishiro Eguchi. 1940 schrieb sie sich an der Frauenakademie für Kunst in Tokio ein, womit sie sich ernsthaft auf eine Laufbahn als Künstlerin vorzubereiten begann. Ihr Debütwerk ist Make-up, für das sie 1943 bei der 22. Chosen Art Exhibition (Joseon Kunstausstellung) mit dem Preis des Generalgouverneurs ausgezeichnet wurde. Die in starken Farbkontrasten gehaltene Darstellung eines Mädchens im schwarzen Kimono vor einem roten Schminktischchen folgt zwar dem üblichen japanischen Stil, lässt aber bereits die Anfänge ihrer sinnlichen und kühnen Kompositionen, die all ihren Werken eigen sind, erkennen. 1950, als der Koreakrieg ausbrach, zog Park mit ihrem Mann nach Gunsan, eine am Westmeer gelegene Hafenstadt im Südwesten Koreas, wo ihre Eltern lebten. In den vier Jahren bis zu ihrem Umzug nach Seoul konnte sich das Paar trotz des Kriegsgeschehens der Kunst widmen und neue gestalterische Ansätze erforschen. Produkte ihres Schaffens in dieser Zeit sind Early Morning (1956) und Open Stalls (1956), für die Park bei zwei nationalen Ausstellungen jeweils mit dem Präsidentenpreis geehrt wurde. Bis Mitte der 1950er Jahre waren Frauen das Hauptmotiv ihrer Werke. Im Zuge von Parks Erfahrungen mit Krieg und Flüchtlingsleben nahmen die weiblichen Gestalten in ihren Bildern immer ärmere und einfacherer Züge an. Verglichen

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mit ihrem Debütwerk Make-up weisen die 13 Jahre später entstandenen Bilder Early Morning und Open Stalls große Veränderungen auf, was angesichts der Umbrüche in ihrem Leben nur verständlich ist: Geografischer Raum, ihre private Situation nach der Heirat und die politische Lage in der Heimat – alles hatte sich verändert. Die beachtenswerteste Veränderung betraf jedoch ihre Haltung zur Kunst und ihren Malstil. „Ich kam dazu, die Verschmelzung von Form und Farbe und die durch Änderung der Farben zu erreichende formbezogene Einheit auf der Leinwand in Betracht zu ziehen und manchmal über durch bestimmte Linien andeutbare Plastizität nachzudenken.“ Diese Passage stammt aus ihrem Essay Abstrakte östliche Malerei, das sie 1965 für eine Monatszeitschrift verfasste. Die darin enthaltenen Überlegungen übersetzte sie in einen prägnanten, plastischen Ausdruck von Objekten durch eine angemessene Konvergenz von Linien und Farben. Dieser neue Stil hatte sich bereits in ihrem Werk Schwestern (1955) abzuzeichnen begonnen: Vordergründig betrachtet scheint es sich um eine einfache Darstellung von zwei Mädchen zu handeln, aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Farben von Haut und Jeogori (Bolero-artiges Hanbok-Oberteil) der älteren Schwester nicht zu unterscheiden sind und auch


Besonders in Work (1966-1967) ist klar zu erkennen, dass Park zwar den Informalismus annahm, aber nicht die von anderen Künstlern angewandten prächtigen, dynamischen Linien. 1. Makeup. 1943. Tusche und Farbe auf Papier. 131 × 154,7 cm. Privatsammlung. Dieses Werk brachte Park während ihres Studiums in Tokio an der privaten Frauenakademie für kunst in Tokio eine Auszeichnung bei der Chosen [Joseon] Kunstausstellung ein. 2. Open Stalls. 1956. Tusche und Farbe auf Papier. 267 × 210 cm. Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst. Für diese Arbeit, die einen neuen, kubistisch beeinflussten Stil vorstellt, wurde Park 1956 bei der Nationalen Kunstausstellung mit dem Präsidentenpreis ausgezeichnet.

nicht klar ist, wo der Rock der Jüngeren beginnt und endet. In der traditionellen koreanischen Malerei wird Tusche hauptsächlich für die Umrisse des Objekts gebraucht, aber Park verwendete die dunklen Pinselstriche völlig unkonventionell sowohl für Umrisse, als auch zum Kolorieren. Der von ihr selbst benutzte Terminus „Plastizität“ referiert auf den Kubismus, der seit Mitte der 1950er Jahre von der koreanischen Kunstszene aufgenommen wurde. Park betrachtete z. B. Picasso als Künstler, der „die sich stets verändernde Frische der Jugend zum Ausdruck bringt“. Als Hommage an den im April 1973 verstorbenen Maler fertigte sie eine Druckgrafik-Collage mit Bildern seiner Werke und Nachrufen an.

Abstraktion und Druckgrafik

Bis in die späten 1950er Jahre wurden die Objekte in Parks Malereien immer einfacher. Im Januar 1960 besuchte sie als Mitglied von Baegyanghoe (Baegyang: Weiße Sonne), einer Künstlergruppe, die für die gemeinsame Erkundung neuer Richtungen der koreanischen Malerei gegründet worden war, Taiwan, wo die für sie erste Auslandsausstellung Korean Contemporary Artists stattfand. Diese Gruppenausstellung wurde im folgenden Jahr auch in Tokio und Osaka präsentiert. Ihre Besuche im Ausland

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in dieser Zeit führten sie zu der Erkenntnis, dass viele ihrer Zeitgenossen traditionellen Stilrichtungen skeptisch gegenüberstanden und sich nach neuen Ausdrucksformen sehnten. In den 1960er Jahren war der beherrschende Stil der koreanischen Malerei die sog. art informel, die „Informelle Kunst“. Es war eine Richtung der europäischen Kunst, die aus der Rebellion gegen den akademischen Stil der geometrischen Abstraktion entstand. Der Informalismus betonte die lyrische Seite der Abstraktion und nutzte gezielt die spezifische Textur dicker Ölfarbe als Ausdrucksmittel. Park schloss sich diesem Trend an, begann aber gleichzeitig, unter Ausnutzung der speziellen Eigenschaften der in der traditionellen koreanischen Malerei eingesetzten Materialien Werke ganz eigener Note zu schaffen. Dieser Wandel war deutlich erkennbar in den Exponaten der sechsten genneinsamen Ausstellung mit ihrem Mann, die im Dezember 1962 stattfand. In vielen der präsentierten Werke hatten die Objekte ihre konkreten Formen verloren und waren rotbraunen Farbklumpen gewichen. Verglichen mit den Arbeiten anderer Künstler ihrer Zeit, deren informalistische Experimente sich meist in rhythmischen, über die Leinwand gezogenen Linien ausdrückten, stachen ihre originären Werke zweifelsohne hervor. Park zerknitterte das ihr als Leinwand dienende Papier

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und fuhr mit Tusche darüber, um Abdrücke auf den Falten zu hinterlassen. Sie goss Farben auf das Papier, ließ sie zerfließen und kleksen, um später Effekte mit vermischter Tusche und Farbe zu erzeugen. Solche Experimente führte sie von 1961 bis etwa 1963 durch. 1966 begann sie dann damit, feine, sich unzählig wiederholende Tuschelinien hinzuzufügen, wodurch ein höherer Grad der Vollendung erreicht wurde, der z. B. in einer Reihe ihrer Arbeiten der sog. Straw Mat Series zum Ausdruck kommt. Besonders in Work (1966-1967) ist klar zu erkennen, dass Park zwar den Informalismus annahm, aber nicht die von anderen Künstlern angewandten prächtigen, dynamischen Linien. Stattdessen malte sie feine Linien auf dünn-feines, aber belastbares traditionelles koreanisches Papier, in das sie die Tinte sickern ließ. Damit war aber ihre Reise noch nicht zu Ende. 1969 ging sie nach New York, um am Pratt Graphics Center weiter zu studieren und am Bob Blackburn Printmaking Workshop Program teilzunehmen. Ihre älteste Tochter besuchte zur selben Zeit das Pratt Institute. Zunächst verwendete sie hauptsächlich Ätztechniken, um ihre früheren Werke im asiatischen Malstil in Druckgrafiken umzuwandeln. Nach Symbol of Joy (1970-1973) erforschte sie eigens die besonderen Eigenschaften der Druckgrafik und schuf später den plastischen Textureffekt, der sich deutlich von asiatischen Malereien unterschied. Im Gegensatz zur Malerei kann der Künstler bei der Druckgrafik die Eigenschaften des Materials taktil erkunden, weshalb Parks charakteristisch subtiler Touch sofort im Endergebnis zu erkennen gewesen sein dürfte. Der ganze Arbeitsprozess wird ihr viel Freude bereitet haben.

Zeit der Ruhe

Park Re-hyun hat über drei Jahrzehnte lang ihre eigene Kunstwelt durch das ständige Ausprobieren von etwas Neuem aufgebaut. Es ist aber auch ein Faktum, dass sie in der Öffentlichkeit besser als „Kim Ki-changs Frau“ bekannt war. 1943, als sie ihn kennen lernte, hatte sich Kim – bei der Joseon Kunstaustellung mehrere Mal mit dem Großen Preis ausgezeichnet – bereits einen Namen als Künstler gemacht. Ihre Hochzeit drei Jahre später sorgte in der koreanischen Kunstszene für einiges Aufsehen, da Kim, wie er es einmal selbst formulierte „schwerhörig, arm und nur wenig gebil-

det“ war, während sie, die älteste Tochter eines Landbesitzers, die beste Bildung der Zeit genossen hatte. Vielleicht traf Park diese Entscheidung, weil sie tief im Inneren spürte, dass sie ihr Leben als Künstlerin mit Kim an ihrer Seite würde fortsetzen können. Es war auch ihr Ehemann, der ihren Künstlernamen wählte. Sein Künstlername „Unbo“ enthielt das chinesische Schriftzeichen für „Wolken“, weshalb er seiner Frau einen dazu passenden Namen geben wollte. Er entschied sich für „Uhyang“ , was „Regen im Heimatort“ bedeutet, also Regen, der den Samen zum Keimen bringt und zu einer reichen Ernte verhilft. Während Park Re-hyun vier Kinder aufzog, brachte sie

1. Recollection. 1970-1973. Kupferplattendruck. Ätzlavierung. 60,8 × 44 cm. Privatsammlung. Dieser Kupferplattendruck kombiniert die unterschiedlichsten Motive, darunter die Maske eines weiblichen Charakters aus einem traditionellen Maskentanz, eine Gebärmutter, Korn und antike Goldohrringe. Park thematisierte geschickt ihre unterschiedlichen Interessensgebiete wie Geschichte, Leben und Erde.

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2. Kim Ki-chang und Park Re-hyun sorgten mit ihrer Heirat im Jahr 1947 für Aufsehen. Ab dem Jahr darauf gaben die beiden Künstler insgesamt zwölf gemeinsame Ausstellungen. Kim erweiterte den Horizont der koreanischen Malerei mit seinem idiosynkratischen Stil, der Traditionelles und Modernes, Abstraktes und Figuratives umfasste.

ihrem Mann fünf Jahre lang das Lippenlesen bei, bis er sich alleine verständigen konnte. Dieser Wille und diese Hingabe machten sie eher als lebendiges Symbol der „weisen Ehefrau und guten Mutter“ denn als hervorragende Künstlerin bekannt. Als eine Frauengruppe ihr in Anerkennung ihrer Hingabe als Mutter und Ehefrau 1974 den Sin-Saimdang-Preis verlieh, erklärte Park, ihr Leben sei wie eine Achterbahnfahrt gewesen und ein Dokument des Sieges des menschlichen Geistes durch Kunst und Liebe, die ihren Mann schließlich zum „Reden“ gebracht habe. Die Kunst war für sie vielleicht eine kostbare Nische, wo sie eine Weile Ruhe finden konnte, ein Ort der Zuflucht, wo sie in ihrer eigenen Welt versinken konnte.

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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Makgeolli

Veredelung eines Volksgetränks Die Bar Baekgom (Weißer Bär) Makgeolli im Herzen des Seouler Südviertels Gangnam ist mehr als nur eine auf traditionelle Alkoholika spezialisierte Bar, die Hunderte von einheimischen Spirituosen anbietet: Im Keller des Gebäudes befindet sich auch eine Brauanlage. Gründer und CEO Lee Seung-hoon versucht, Makgeolli (trüber, gegorener Reiswein) neues Leben einzuhauchen, um das abgenutzte Image eines „billigen Bauerngetränks“ abstreifen zu können. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor

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Fotos Ahn Hong-beom

ee Seung-hoon begann unser Gespräch mit der Nachricht, dass erst vor kurzem eine auf traditionelle alkoholische Getränke spezialisierte Bar in einer Kleinstadt schließen musste: „Der Inhaber soll mehrfach von den Gästen am Kragen gepackt worden sein, weshalb er die Bar schließlich aufgegeben habe. Aus Kundensicht ist es natürlich nicht nachvollziehbar, für eine Flasche Makgeolli, die man im Laden für 2.000 bis 3.000 Won (rund 1,50 –2,30 €) bekommen kann, 10.000 Won (7,40 €) zu zahlen. Der Preis kollidiert mit der Vorstellung, dass Makgeolli als alkoholisches Getränk des kleinen Mannes billig ist.“ Zurückgedrängt durch Bier und Soju (koreanischer Reisschnaps), beträgt der Marktanteil von Makgeolli unter den alkoholischen Getränken derzeit nur 5-6 %, doch noch bis Mitte, Ende der 1980er Jahre war er der beliebteste Alkohol im Land. Koreaner mittleren Alters dürften sich noch an die Zeiten erinnern, als ihre Väter nach Feierabend mit einer schwarzen Plastiktüte in der Hand nach Hause kamen, aus der sie eine Flasche Makgeolli und einen Block Tofu zogen – eine beschei-

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dene Belohnung am Ende eines erschöpfenden Arbeitstages. Es waren Zeiten, in denen die Leute in einer Kneipe zu zweit oder dritt beisammen saßen und eine verblichene Metallkanne mit dem milchig trüben Reiswein aufgefüllt und wieder geleert wurde – genau wie ihre Sorgen, die kamen und gingen. Dieses mit herzerwärmenden Erinnerungen an alte Zeiten und einen erschwinglichen Preis verbundene Alkoholgetränk erfährt jetzt einen Wandel. „Bis noch vor zehn Jahren wurden die Märkte in den einzelnen Regionen von einer repräsentativen lokalen Sorte Makgeolli dominiert, sodass die Verbraucher keine Wahl hatten“, erklärt Lee. „Ich habe heute mehr als 60 verschiedene Sorten zu deutlich höheren Preisen im Sortiment meiner Bar, eine Flasche kostet zwischen 15.000 und 25.000 Won. Noch bis vor kurzem verkauften sie sich so gut, dass es für einige Sorten ein Verkaufslimit pro Tag gab.“ Baekgom Makgeolli, im Zentrum von Apgujeong-dong im Seouler Südviertel Gangnam gelegen, verzeichnete selbst inmitten des sprunghaften Anstiegs der COVID-19-Infektionszahlen im

1. Baekgom Makgeollis Symbol und Logo. Baekgom (Weißer Bär) ist der Spitzname von CEO Lee Seung-hun. 2. 2016 eröffnete Lee Baekgom Makgeolli im Seouler Südviertel Apgujeong-dong, eine Bar für traditionelle alkoholische Getränke. Sein Ziel ist Verbreiterung der Verbraucherschicht für traditionelle koreanische Alkoholika und Unterstützung der lokalen Erzeuger.


Juli noch Rekordverkäufe. Zurückzuführen ist dies aber nicht nur darauf, dass Lees Bar unter den auf traditionelle Alkoholika spezialisierten Bars die größte im Land ist und das Sortiment über 300 verschiedene Sorten umfasst. Ausschlaggebender ist, dass sich – ähnlich wie schon beim Bier, wo der Trend weg von Produkten aus der Bierfabrik zum handgebrauten Bier geht – auch bei Makgeolli die Kundenpräferenzen auf höhere Qualität und größere Auswahl verlagern.

Vielfältiger, hochwertiger

Die Vielfalt des Makgeolli-Angebots ist enorm gestiegen und umfasst beispielsweise Champagner-Makgeolli mit zugesetzter prickelnder Kohlensäure, Zuckerwatte-Makgeolli, eine Kombination aus traditionellem Makgeolli, Früchten und Joghurt, gekrönt mit Zuckerwatte, und Premium-Makgeolli, bei dem die Betonung auf den besonders hochwertigen Zutaten liegt. Eine weitere bedeutende Veränderung ist, dass auf traditionelle Alkoholika spezialisierte gehobenere Etablissements, die bislang nur in den Hauptgeschäftsvierteln Seouls zu finden waren, jetzt auch in Landkreisen und Kleinstädten aufmachen. Geschäftsführer Lee ist der Kapitän, der auf den Wellen des Wandels schwimmt und die Kraft des Windes in seinem Segel sammelt. Er erklärt, „Makgeolli sollte im großen Kontext der kore-

anischen Esskultur verstanden werden.“ Es ist ein auf Getreidebasis hergestelltes Getränk: Gedämpftem Getreide wie Chapssal (klebriger Reis), Mepssal (nicht-klebriger Reis), Gerste oder Weizen werden Nuruk (Weizenhefe mit diastatischen Enzymen) und Wasser zugesetzt. Die nach der Fermentierung oben schwimmende klare Flüssigkeit ist Cheongju (klarer Reiswein), die trüb-milchige Flüssigkeit, die durch Filtern und Drücken der Rückstände durch ein Sieb gewonnen wird, Makgeolli. Anzumerken hierbei ist, dass der aus Reis, einem Grundnahrungsmittel der Koreaner, gebraute Alkohol mehr als nur ein Getränk war: Es war ein Teil ihrer Kultur, der ihr Leben beinhaltete. „Japanischer Sake wird seit der 2 Edo-Zeit (1603-1868) hauptsächlich in Brauereien hergestellt. Es ist nicht so, dass wir keine Brauereien gehabt hätten, aber es war einfach üblich, dass jede Familie ihren eigenen Reiswein braute, der jeweils etwas anders schmeckte, genau so, wie es bei hausgemachtem Kimchi und Gewürzpasten der Fall ist.“ Tatsächlich war das Heimbrauen bis noch vor etwa einem Jahrhundert üblich. Je nach Fingerspitzengefühl des Brauers und Geheimrezept der Familie entstanden Weine mit distinktivem Aroma und Geschmack. Obwohl nur aus Reis und Weizenhefe hergestellt, wiesen erstaunlicherweise nicht wenige ein blumiges oder fruchtiges Aroma auf. Der Reiswein wurde bei Familienanlässen wie Ahnenverehrungszeremonien und Hochzeiten verwendet, die Rezepte über Generationen weitergegeben. Leider konnte diese Kultur nicht weiter tradiert werden. Während der japanischen Besatzung im frühen 20. Jahrhundert war es nur noch lizenzierten Brauereien erlaubt, Alkohol zu produzieren und zu verkaufen, worauf eine Alkoholsteuer erhoben wurde. Nach der Befreiung von der Kolonialmacht war Reis Mangelware, weshalb jegliche Herstellung traditioneller Getreidealkoholsorten durch das Getreideverwaltungsgesetz verboten wurde. „Seit den frühen 1960er Jahren war die Herstellung von Alkohol nicht nur aus Reis, sondern auch aus anderen heimischen Getreiden fast 30 Jahre lang untersagt, weshalb man auf importiertes Weizenmehl oder Maisstärke zurückgriff. Da eine ganze Generation lang die Verwendung hei-

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mischer Zutaten verboten war, gingen die relevanten, in der Familie tradierten Braufertigkeiten und die diesbezügliche Kultur verloren.“ Als dann die Reisernteerträge stiegen und der Reisverbrauch infolge veränderter Ernährungsgewohnheiten sank, wurde das Verbot der Makgeolli-Produktion aufgehoben. Aber da waren die alten Rezepte für Makgeolli mit dem Geschmack von einst fast vergessen. 1995 wurde das private Brauen zwar auch wieder erlaubt, aber die Tradition des Familienbrauens war schon verblasst, im Umlauf war nur noch Makgeolli, der von einer Handvoll Hersteller massenproduziert wurde. Billige Varianten aus 70-80 Prozent Importreis, synthetischen Süßstoffen wie Aspartam und künstlich kultivierter Hefe statt Weizenhefe wurden en masse auf den Markt geworfen und die Verbraucher gewöhnten sich an den Geschmack.

Verbreitung

Gegen Ende der 2000er Jahre erfuhr der bis dahin von wenigen Anbietern dominierte Makgeolli-Markt starke Veränderungen: Die regionalen Brauereien begannen ihren Marktanteil auszubauen, noch dazu erlebte Makgeolli einen Boom vor allem unter japanischen Touristen. Als die Stimmung der Zeit für ein Neuentdecken von Geschmack und Wert des traditionellen Reisweins reif war, stieg die Zahl derer, die sich für Braukurse einschrieben. „Ruheständler und Menschen, die einen Berufswechsel planten, begannen mit dem Heimbrauen. Wichtig hierbei war, dass es ihnen nicht genügte, ihren Wein zu Hause im stillen Kämmerlein zu genießen. Vielmehr wollten sie die Kultur des Heimbrauens verbreiten. So entstanden viele nach traditionellen Methoden gebraute Produkte, die vielleicht qualitätsmäßig noch nicht perfekt waren, aber gut genug, um

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mit Sake oder westlichem Wein konkurrieren zu können. Einige von diesen Leuten haben auch eigene Brauereien, auf traditionelle Alkoholika spezialisierte Bars oder Restaurants eröffnet.“ Der Heimbrau-Trend erreichte seinen Höhepunkt um 2016. In dem Jahr eröffnete auch Lee seine Bar Baekgom Makgeolli, das Resultat seiner ab 2010 unternommenen Anstrengungen für traditionelle Alkoholika, in deren Rahmen er landesweit über 400 Brauereien besucht hatte. Er fand einen Weg, wie er den Brauereibetreibern, die „nicht wussten, wie gut ihr Reiswein ist“ und „noch nie darüber nachgedacht hatten, wie sie ihn verkaufen sollten“, helfen konnte. „Ich wählte einige der besten Makgeolli-Sorten aus dem ganzen Land und kutschierte sie in meinem Wagen herum, um sie bei einem Abendessen hier und einem Treffen da vorzustellen oder Pop-Up-Events in verschiedenen Läden abzuhalten“, erzählt Lee. „Und die ganze Zeit habe ich davon geträumt, meine eigene Bar aufzumachen, wo ich zu allen Zeiten hochwertigen Makgeolli anbieten kann.“ Als er seinen Laden schließlich eröffnet hatte, suchte Lee nach Wegen, um einen Beitrag zur Verbreitung und Weiterentwicklung traditioneller Alkoholika zu leisten. Zunächst vergrößerte er die Auswahl, indem er seine Produktpalette erweiterte. Immer wieder setzte er sich mit Gästen, die ihn um eine Bewertung ihrer selbst herstellten Alkoholika baten, zusammen. Traf er

1. Vor COVID-19 gab es mehr ausländische als einheimische Barbesucher. Die lokale Kundschaft besteht v. a. aus jungen Leuten in ihren 20ern und 30ern, für die der Genuss traditioneller Alkoholika ein neues, unterhaltsames Erlebnis ist. 2. Mit über 300 unterschiedlichen traditionellen Alkoholsorten, darunter 60 verschiedene Sorten Makgeolli, ist Baekgom Makgeolli in puncto Diversität die größte traditionelle Bar. Weit verbreitete Massenprodukte gehören nicht zum Sortiment, da Qualität und Diversität des Angebots bewahrt werden sollen.


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auf eine vielversprechende Sorte, half er dem Brauer bei der Kommerzialisierung, wobei er seine eigenen Kontakte und Netzwerke nutzte, um Kanäle für Markteinführung und Vertrieb aufzubauen. „Es gibt Grenzen für das, was ich in meiner eigenen Bar verkaufen kann. Deshalb versuche ich, sie als eine Art ‚Verbindungsknoten‘ zu nutzen, um andere Sorten vorzustellen und die Vermarktung zu unterstützen.“ Lee nutzt sein Laden auch, um Personal für die Branche der traditionellen Alkoholgetränke auszubilden. Seine Mitarbeiter sind bekannt für ihre Fachkenntnisse und Erfahrungen, die so umfassend sind, dass sie bei nationalen Sommelier-Wettbewerben für traditionelle Alkoholgetränke fast alle Preise gewinnen. Das Training in einer Umgebung mit zahlreichen traditionellen Alkoholsorten und Kunden unterschiedlichster Art trägt gewiss zur Steigerung ihrer Fähigkeiten bei, aber auch Lees außergewöhnlich großzügige Unterstützung seiner Mitarbeiter spielt eine entscheidende Rolle. Seien es nun Seminare an Universitäten, Lehrveranstaltungen des Academic Credit Bank System oder die in Japan angebotenen Kurse zum Erwerb von Sake-Sommelier-Zertifikaten – er fördert jeden, der sich weiterbilden will. Er scheut keine Anstrengungen, um Fachleute in allen mit traditionellen Alkoholika zusammenhängenden Bereichen zu unterstützen, angefangen bei Forschung und Brauen über Sommelier-Ausbildung bis hin zu Existenzgründungen.

Verbraucherbedürfnisse

Für jemanden, der alle Drinks, die er in die Hände bekommen konnte, auf ihren Geschmack geprüft und analysiert haben muss, war seine Antwort auf die Frage nach dem ide-

alen Makgeolli-Geschmack überraschend schlicht: „Anstatt über Tiefe oder Subtilität des Geschmacks zu reden, möchte ich lieber den Kontaktpunkt zwischen Bar und Verbraucher betonen. Ich mache mir mehr Gedanken darüber, wie ich mich den Kunden nähern kann, statt meine Vorlieben zu propagieren. Die Frage ist, ob ein bestimmtes Getränk eine breitere Öffentlichkeit anspricht und sich verkaufen lässt. Ich versuche, nicht in die Expertenparadox-Falle zu tappen.“ Daher hat er auch seine eigenen Ansichten in Bezug auf die Bemühungen, traditionelle Alkoholika nur streng nach den in historischen Werken beschriebenen Methoden herzustellen. „Bei Herstellung auf rein traditionelle Weise entsteht ein für heutige Begriffe etwas süßlicher Beigeschmack. Selbstverständlich sind Bemühungen um die Erhaltung des echten Urgeschmacks erforderlich, aber ich denke, Traditionen sollten auch neu erschaffen werden, um den Bedürfnissen des modernen Verbrauchers und Marktes zu entsprechen.“ Als er während seiner früheren Tätigkeit als Verkaufsplaner für Meeres- und Viehprodukte bei CJ Freshway die Erzeugerregionen im ganzen Land besuchte, wurde er darauf aufmerksam, wie bestimmte Speisen mit bestimmten Getränken kombiniert wurden. Ein Beispiel: „Soju aus Süßkartoffeln von der Insel Yokji-do in Tongyeong passt ideal zu einer Anju-Beilage aus Dreischwanzbarsch, einer lokalen Spezialität aus den Küstengewässern von Tongyeong“. In jüngster Zeit wächst Lees Interesse am Großhandelvertrieb traditioneller Alkoholika. „Wirbt eine Bar z. B. für ein bestimmtes alkoholisches Getränk, verkaufen sich die anderen Sorten schlechter. Aber im Großhandel ist es anders: Man kann bei einer Bar eine Sorte vermarkten und bei koreanischen und westlichen Restaurants andere Sorten. Je nachdem, wie sehr man sich bemüht, kann man eine gute Brauerei retten, die sonst pleite gehen würde. Auf diese Weise Brauereien im ganzen Land zu helfen, ihr Geschäft zumindest am Laufen zu halten, scheint mir eine lohnende Sache zu sein.“ Lee hofft schließlich darauf, die Abende verändern zu können, die nach einem halben Dutzend Flaschen billigem Makgeolli im Vollrausch enden. Er möchte, dass die Menschen z. B. die subtile Geschmacksvielfalt einer Flasche des klaren Reisweins Yakju, bei dem ein leichter Vorgeschmack von einer blumigen Aromanote abgelöst wird und anschließend der Frische von Weißwein weicht, in aller Langsamkeit genießen. Und er möchte aus Abenden eine Zeit machen, in der man in der schlichten, natürlichen Süße eines Makgeolli, wie er im Joseon Reich in einer Taverne am Straßenrand hätte verkauft werden können, versinken kann.

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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

1 Courtesy by Kim Deog-young

Geschichten vergessener Kinder dokumentiert Kim Il Sungs Kinder (Kim Il Sung’s children) , ein Dokumentarfilm, dessen Fertigstellung 16 Jahre beanspruchte, bringt eine vergessene Seite des Koreakrieges ans Licht: die Geschichte Tausender nordkoreanischer Kriegswaisen, die zu Bildungs- und Erziehungszwecken nach Osteuropa geschickt wurden. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Fakultät für Medien und Kommunikation, Korea University Fotos Ha Ji-kwon

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952, auf dem Höhepunkt des kriegerischen Auseinandersetzungn zwischen den beiden Koreas, erreichte ein Sonderzug voller Kinder die rumänische Kleinstadt Siret, wo sie herzlich empfangen wurden. Aufgeregt steckten sie die Köpfe aus den Fenstern und winkten. Bei diesen um die zehn Jahre alten Kindern, die mit der Transsibirischen Eisenbahn vom östlichen Ende des eurasischen Festlandes gekommen waren, handelte es sich um Kriegswaisen aus Nordkorea. Rund 5.000 Kinder sollen in fünf osteuropäische Länder (Rumänien, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien) verschickt worden sein, um dort als Pflegekinder „kommissionierte Bildung“ zu erhalten. Im Zuge des Koreakrieges verloren mehr als 100.000 Kinder auf der Koreanischen Halbinsel ihre Eltern. Während weithin bekannt ist, dass südkoreanische Kriegswaisen in die USA oder nach Europa vermittelt wurden, wissen nur wenige, dass nordkoreanische Waisenkinder nach Osteuropa geschickt wurden. Der 2020 herausgebrachte Film Kim Il sungs Kinder beleuchtet die Schicksale dieser nordkoreanischen Kriegswaisen, die zu „Bildungszwecken“ nach Osteuropa geschickt wurden. Die Dokumentation ist das Ergebnis von Fleiß und Ausdauer des Filmregisseurs Kim Deog-Young (geb. 1965), der seit 2004 nicht nur über 50 Mal zwischen Osteuropa und Korea hin- und herreiste, sondern auch die Kosten aus der eigenen Tasche bezahlte. Nachdem der Regisseur durch seinen Berufskollegen Park Chan-wook von den unfassbaren Geschichten der Waisenkinder gehört hatte, beschloss er, nach Rumänien zu gehen. „Ich erfuhr von der Geschichte einer rumänischen Großmutter, die über 40 Jahre auf die Rückkehr ihres norkoreanischen Ehemanns wartete. In dem Moment wurde ich erstmals auf die Frage der nordkoreanischen Kriegswaisen aufmerksam.“

Grundschuleinrichtung in Siret, etwa 100 km von der rumänischen Hauptstadt Bukarest entfernt. Dort lernte sie Cho Jung-ho kennen, einen jungen, damals 26-jährigen Lehrer, der als Betreuer der nordkoreanischen Waisenkinder entsandt worden war. Die beiden, die ihre Liebesbeziehung geheim gehalten hatten, heirateten 1957 mit Genehmigung ihrer jeweiligen Staaten. Als Nordkorea die Waisenkinder zwei Jahre später plötzlich wieder zurückbeorderte, ging Georgeta 1959 mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter nach Pjöngjang. Cho wurde jedoch schon kurz darauf im Zuge einer politischen Säuberungsaktion in ein abgelegenes Kohlebergwerk verbannt. Als dann Anfang der 1960er Jahre die nord1. Ein nordkoreanisches koreanische StaatsiKind beim Beantworten deologie Juche (Juche: einer Frage in einer Selbständigkeit) fesGrundschule in Budapest, ten Fuß gefasst hatte, Ungarn, in den 1950er Jahren. Foto mit begannen Kampagnen freundlicher Genehmigung zur Ächtung von Ausvon Kim Deog-Young. ländern, in deren Zuge 2. Aus der Inschrift auf selbst die Ehepartder Gedenktafel vor der Zentralen NationalschuleⅡ ner nordkoreanischer im polnischen Plakowice Staatsbürger ausgewiegeht hervor, das dort sen wurden. Mircioiu von 1953 bis 1959 und ihre Tochter mussnordkoreanische Kriegswaisen lernten. ten 1962 nach Rumäni-

Ein Ehepaar

Die 18-jährige Georgeta Mircioiu, die gerade ihre Lehramtsausbildung abgeschlossen hatte, trat 1952 ihre erste Stelle als Kunstlehrerin an, und zwar an einer nordkoreanischen

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Regisseur Kim Deog-Young hofft, dass sein Dokumentarfilm Kim Il Sungs Kinder dazu beiträgt, Menschen in aller Welt ein besseres Verständnis der nordkoreanischen Gesellschaft zu vermitteln.

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Vor ihrer Rückreise nach Nordkorea hinterließen einige Kinder Spuren an den Orten, an denen sie gelebt hatten. In den Wäldern in der Nähe ihrer ehemaligen Schulen stehen Obelisken oder Stelen, auf denen ihre Namen eingeritzt sind.

en zurückkehren. Als dann ab 1967 jegliche Einreise verweigert wurde, brach der Kontakt zu Ehemann und Vater gänzlich ab. Seitdem hat die heute 87-Jährige unzählige Bittgesuche an die nordkoreanischen Behörden gerichtet und darum gefleht, sie wenigstens wissen zu lassen, ob ihr Mann noch lebt. Aber alles, was sie seit 1983 von den nordkoreanischen Behörden an Informationen erhielt, ist nur die knappe Antwort „vermisst“. Selbst heute noch schreibt sie von Bukarest aus, wo sie mit ihrer inzwischen 61-jährigen Tochter lebt, in sehnsüchtiger Erwartung einer Antwort Bittgesuche an internationale Organisationen. Sie trägt immer noch ihren goldenen Ehering mit der Gravur „Jung-ho 1957“. Um ihre Liebe zu bewahren, begann sie Koreanisch zu lernen und hat sogar ein Wörterbuch Rumänisch-Koreanisch (130.000 S tichwörter) und ein Wörterbuch Koreanisch-Rumänisch (160.000 Stichwörter) verfasst. Die herzzerreißende Geschichte der beiden wurde von Regisseur Kim Deog-Young verfilmt und 2004 auf KBS TV als Sondersendung unter dem Titel Mircioiu, mein Mann heißt Cho Jung-ho am Jahrestag des Ausbruchs des Koreakrieges ausgestrahlt. Während Kim in fünf osteuropäischen Ländern den Spuren der Waisenkinder folgte, stieß er im rumänischen Filmarchiv wie durch ein Wunder auf eine viereinhalbminütige Videoaufnahme, die nordkoreanische Kinder beim Aussteigen aus der Transsibirischen Eisenbahn zeigt. Als die inzwischen alte Dame den Film sah, erinnerte sie sich mit Tränen in den Augen genau an den Namen jedes einzelnen Kindes. In dem Moment dachte Kim: „Über diesen Teil der Geschichte darf man nicht einfach hinwegse-

hen“. Er ließ keine Mittel und Wege unversucht. Doch so sehr er sich auch bemühte, war es alles andere als leicht, überhaupt irgendwelche Unterlagen, Fotos oder Filmaufnahmen zu Nordkorea aus der Zeit vor einem halben Jahrhundert zu finden. Auch an mündliche Berichte war nur schwer zu kommen, da die meisten Zeitzeugen mittlerweile verstorben waren. Kim machte sich daher selbst zum Recherchieren nach Osteuropa auf und durchkämmte in der Hoffnung auf Zufallsfunde alle möglichen Dokumentenarchive, Schulen und Wohnheime. Schließlich gelang es ihm, Personen ausfindig zu machen, die ihre Kindheit mit den nordkoreanischen Kindern verbracht hatten – darunter Historiker und Journalisten – und hielt ihre Erinnerungen fest. Kim geht mittlerweile davon aus, dass über 10.000 nordkoreanische Waisenkinder nach Osteuropa geschickt wurden, wenigstens doppelt so viele, wie in den offiziellen Unterlagen ausgewiesen.

Zurückbeorderung und Abschied

Kim Il Sungs Kinder enthält eine lebendige Schwarzweiß-Aufnahme von nordkoreanischen Kindern, die zusammen mit einheimischen Altersgenossen lernen und spielen. Szenen aus ihrem Gruppenleben sind ebenfalls enthalten, darunter auch eine Szene, in der die Kinder nach dem Aufstehen pünktlich um 6.30 Uhr der nordkoreanischen Nationalflagge mit dem Konterfeit des Großen Führers ihren Gruß entbieten und dazu das Lied von General Kim Il Sung singen. Selbst heute noch, mehr als sechzig Jahre später, können ihre rumänischen und bulgarischen Klassenkameraden das Lied, das mit den Worten „Rot floss das Blut, Blut floss herab vom Berge Jangbaek

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(Baekdu) ...“ beginnt, auf Koreanisch singen. In Nordkorea ist die Hymne nach wie vor so wichtig, dass sie zu Beginn jeder bedeutenderen Veranstaltung gesungen wird. Zeitzeugnissen zufolge soll der Alltag der Kinder jedoch nicht nur aus Zucht und Ordnung bestanden haben. „Damals haben wir zusammen Fußball oder Volleyball auf den Hügeln und so gespielt. Wir waren wie Brüder“, erzählt der Bulgare Veselin Kolev. Die nordkoreanischen Kinder hätten die Lehrer „Mama“ und „Papa“ genannt. Dianka Ivanova, eine der Lehrerinnen, zeigt ein verblasstes Foto. Sie kann sich noch an die Namen erinnern: „Das hier ist Cha Gi-sun, der mir immer hinterher gelaufen ist.“ Kim erfuhr, dass einige der aus dem Wohnheim geflüchteten Kinder sich irgendwo in der Nähe niederließen, Einheimische heirateten und z. B. vom Taxifahren lebten. Er versuchte, sie aufzuspüren, jedoch ohne Erfolg. Das „Pflege“-Bildungsprogramm soll die Sowjetunion, unter deren Einfluss die osteuropäischen Länder damals standen, entworfen haben. Es war Teil der Propaganda zur Demonstration der Überlegenheit des kommunistischen Systems. Regisseur Kim vermutet, dass Nordkorea damit einverstanden war, weil es sich erhoffte, dass Kinder, die in den technisch und kulturell weiterentwickelteren osteuropäischen Ländern ausgebildet wurden, einmal nützlich beim Aufbau des Landes sein könnten. Die nordkoreanischen Kinder, die sich langsam an

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das Leben in der Fremde gewöhnten, wurden jedoch 1956 plötzlich nach Nordkorea zurückbeordert und mussten von ihren Freunden und Lehrern Abschied nehmen. Sie wurden von 1956 bis 1959 nacheinander zurückgeholt. Grund dafür war, dass in den osteuropäischen Staaten wie z. B. der Volksrepublik Ungarn der Wind der Freiheit und damit auch der Auflehnung gegen die Sowjetunion zu wehen begonnen hatte. Zudem ereignete sich 1956 während Kim Il Sungs Bulgarienbesuch in Nordkorea der sog. „Fraktionsvorfall vom August“, ein gescheiterter Versuch, den nordkoreanischen Machthaber zu stürzen. Und in Polen wurden zwei nordkoreanische Waisenkinder bei der Flucht nach Österreich ergriffen.

Objektive Informationen

„In ihren Briefen an ihre Freunde und Lehrer schrieben die nach Nordkorea zurückgekehrten Kinder, dass, sobald der Zug die Grenze überquert hatte, an jeder Station jeweils zwei oder drei von ihnen aussteigen mussten. Die nordkoreanische Führung fürchtete offenbar, dass diese Kinder mit mehreren Jahren Auslandserfahrung sich zusammentun und in Gruppen aktiv werden könnten“, so Regisseur Kim. Innerhalb von weniger als drei Jahren kam der Briefverkehr aufgrund der Zensurmaßnahmen allmählich zum Erliegen, 1961 wurde er ganz eingestellt. In einem der letzten Briefe schreibt ein Kind: „Ich wünschte, ich hätte Kleider zum Anziehen.


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1. Georgeta Mircioiu, eine Rumänin, die Bildende Kunst an der Schule des Koreanischen Volkes unterrichtete, mit ihrem nordkoreanischen Ehemann Cho Jung-ho. Cho beaufsichtigte und unterrichtete die Kinder an dieser Schule. 2

Bitte schick mit Hefte, damit ich etwas habe, auf das ich schreiben kann.“ Und am Schluss jedes Briefes stand: „Mama, ich vermisse dich.“ Vor ihrer Rückreise nach Nordkorea hinterließen einige Kinder Spuren an den Orten, an denen sie gelebt hatten. In den Wäldern in der Nähe ihrer ehemaligen Schulen stehen Obelisken oder Stelen, auf denen ihre Namen eingeritzt sind. Auf einer Gedenktafel vor der Zentralen Nationalschule Ⅱ im polnischen Plakowice ist zu lesen: „Wir, Waisen des Koreakrieges, haben von 1953 bis 1959 an dieser Schule gelernt“. Die Namen der Kinder sind auf Koreanisch und Polnisch eingraviert. Auf einem mittelalterlichen Obelisken in der Nähe des tschechischen Dorfes Valeč (dt. Waltsch) sind zwei Namen ganz deutlich zu sehen. Kim sagt: „Dass die Kinder heimlich auf den etwa zehn Meter hohen Obelisken kletterten, um ihre Namen in den harten Stein zu gravieren, ist beredter Beweis für die Verzweiflung, die so kurz vor dem Abschied empfunden haben“. Der Regisseur sagt, er habe bei der Produktion des Films besonders darauf geachtet, jegliche ideologi-

2. Die Osteuropäer erinnern sich immer noch gut an ihre nordkoreanischen Klassenkameraden, mit denen sie vor über 60 Jahren zusammen lernten und spielten.

sche Färbung oder 3. Ein Gruppenfoto von politische Position Kindern und Lehrern, das außen vor zu lasin den 1950er Jahren an der Kim Il Sung Schule sen, weshalb er sich in der Tschechoslowakei nicht aufs Hörenaufgenommen wurde. sagen verließ, sondern zur Vermeidung etwaiger Kontroversen um die Sicherstellung möglichst vieler objektiver Informationen bemüht war. Das Ergebnis wurde zwar rechtzeitig zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Koreakrieges veröffentlicht, aber der COVID-19-Lockdown schmälerte die Chancen auf einen Box-Office-Hit. Doch dank eines koreanisch-amerikanischen Unterstützers wurde es möglich, per Netflix ein breites Publikum in rund 130 Ländern zu erreichen. Trotz der eher lauwarmen Reaktionen in Korea schaffte der Film es in die offizielle Auswahl von 13 internationalen Filmfestivals – darunter das New York Film Festival, das Nice International Film Festival und das Polish International Film Festival – und zog so die Aufmerksamkeit der Welt auf sich.

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UNTERWEGS

MEDITATION ÜBER EINEN BERGWEG Die Tempel Seonam-sa und Songgwang-sa, die sich auf der östlichen bzw. westlichen Seite des Gebirges Jogye-san in der Provinz Jeollanam-do befinden, stehen repräsentativ für zwei Hauptordensgemeinschaften des koreanischen Buddhismus. Der Bergpfad, der die beiden Tempel verbindet, zieht Wanderfreunde und buddhistische Gläubige gleichermaßen an. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker

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Fotos Ahn Hong-beom

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ibt man in einer koreanischen Suchmaschine „Songgwang-sa“ ein, erscheint „Weg vom Songgwang-sa zum Seonam-sa“ als möglicher Suchvorschlag. Bei der Eingabe „Seonam-sa“ wird umgekehrt „Weg vom Seonam-sa zum Songgwang-sa“ angezeigt. Diese automatisch vervollständigten Suchvorschläge, die u. a. von der Häufigkeit der Eingabe abhängig sein sollen, scheinen dringlich darauf hinzuweisen, dass das Gesuchte nicht am gerade eingegebenen Ziel selbst, sondern auf dem Weg dahin zu finden sein wird. Wir befinden uns wieder in der Herbstmitte. Das Navigationsgerät ist an. Von wo aus wollen wir starten?

Trost

Der Jogye-san ist von verschiedenen Laubbaumarten bedeckt, was größtenteils den vom Südmeer her wehenden warm-feuchten Winden zu verdanken ist. Der 6,5km lange, von Ost nach West führende Weg, der diese beiden, an dicht bewaldeten Berghängen gelegenen Tempel von Ost nach West verbindet, ist unser Ziel. Dass zwei Tempel ähnlicher Größe auf der jeweils gegenüberliegenden Seite eines Berges liegen, ist nichts Ungewöhnliches. Es kommt jedoch selten vor, dass Tempel-Holzbauten wie die des Songgwang-sa und des Seonam-sa die Zeitläufte unbeschädigt überdauern. Auf der Karte erscheint es auf den ersten Blick so, als ob die beiden Tempel den gemeinsamen Weg, der durch den mittleren Teil des Bergs verläuft, gleichsam teilen, wobei der am östlichen Berghang gelegene Seonam-sa näher an der Bergspitze liegt. Stärker angewiesen auf diesen Weg ist der Songgwang-sa, denn für die Bewohner des am Tempeleingang gelegenen Dorfes Oesong bot er eine Abkürzung in die Suncheoner Innenstadt – jedenfalls noch zu Zeiten seltener Busverbindungen. Heute fährt Bus Nr. 111 im 30-Minuten-Takt vom Bahnhof Suncheon zum Songgwang-sa. Den Bergpfad nahmen früher nur Kräutersammler, brandrodende Kleinbauern oder die Bewohner nahe gelegener Bergdörfer, die es besonders eilig hatten. Erst in den 1980ern, nachdem der Jogye-san zum Provinzpark erklärt worden war, machte er sich einen Namen als Tagesausflugsziel für Bergwanderer. Heute wird er jährlich von 400.000 Menschen besucht. Seonam-sa und Songgwang-sa, die entlang dieser Route liegen, sind keine gewöhnlichen Bergtempel. Beide rühmen sich nicht nur einer langen Geschichte von über 1.000 Jahren, sondern zählen auch zu den wenigen renommierten Tempeln, die alle essentiellen buddhistischen Lehrinstitutionen wie Gangwon (Schule zum Studieren buddhistischer Schriften) und Seonwon (Meditationszentrum) umfassen. Der Songgwang-sa gehört außerdem zu den repräsentativen Drei-Juwelen Tempeln des Landes, die für die drei Juwelen des Buddhismus – Buddha, Dharma und Sangha – stehen, und brachte als Tempel der Sangha die meisten ehrwürdigen Mönche hervor. Seonam-sa wurde für seinen kulturellen Wert hinsichtlich der Fortführung der koreanischen buddhistischen Tradition anerkannt und 2018 in die UNES-

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1. Der rund 6,5 km lange Weg über den Gulmok-jae, den Hügel zwischen dem Tempel Seonam-sa auf der östlichen Seite des Jogye-san und dem Tempel Songgwang-sa auf der westlichen, entstand auf natürliche Weise, da die Mönche beider Tempel den Hügel ständig überquerten. Heutzutage ist es ein Wanderweg, der jedes Jahr Zehntausende von Besuchern anzieht. 2. Entlang des Pfades über den Gulmok-jae stehen Jangseung, eine Art Totempfähle. Diese Wächtergottheiten finden sich normalerweise an Dorfeingängen, aber manchmal auch an Bergpfaden, wo sie als Wegweiser dienen.

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CO-Welterbeliste aufgenommen. Allein schon der Gedanke, dass er den Spuren von Asketen folgt, die – auch wenn sie keine großen Mönche waren – sich von den Beziehungen und Sorgen der profanen Welt trennten und nach neuen Erkenntnissen suchend diesen Weg beschritten, rührt dem Wanderer ans Herz. Seien es nun kränkelnde Reisende, die den Steilweg hochkeuchen und sich am liebsten selbst ihres eigenen beschwerlichen Schattens entledigen würden, oder in Vereinen organisierte alte Wanderhasen, die auf Fragen nach dem Weg schulmeisterlich Auskunft geben, um dann eifrig weiterzustapfen, als hätten sie etwas Dringendes zu erledigen: Die Menschen, die sich auf diesem Weg begegnen, werden für kurze Zeit zu Weggefährten, die ihre persönlichen Sorgen und Nöte beiseite lassen und einander von Trost und Heilung, die der Weg ihnen mitgibt, erzählen. Nichts auf diesem Weg – weder der kleinste Stein noch eine namenlose Wildblume – ist dabei für sie ohne Belang. Doch Trost ist immer etwas Flüchtiges.

Frieden

Wenn Sie vom Bahnhof Suncheon aus starten, stellt sich die große Frage, zu welchem Tempel man zuerst gehen sollte. Wenn Sie sich für den Seonam-sa entscheiden, werden Sie von dem Pfad, der sich geradlinig in die entgegengesetzte Richtung des reißenden Bachlaufs erstreckt, und von der frischen Energie der kräftig in die Höhe geschossenen Hinoki-Scheinzypressen, die diesen Pfad säumen, überwältigt sein. Und wenn dann kurz darauf die Steinbrücke Seungseon-gyo, die den Bach wie ein Regenbogen einrahmt, in Sicht kommt, haben Sie schon das „Reine Land“ betreten. Im Frühling können Sie die prächtigen Pflaumenblüten unterschiedlichster Form und Farbe entlang der Steinmauer hinter der Haupthalle des Tempels bewundern. Diese an heimischen, über 400 Jahre alten Pflaumenbäumen wachsenden Blüten rühmen sich als „alte Pflaumenblüten von Seonam-sa“. Sollten Sie es nicht zur Pflaumenblüte schaffen, warten etwas später liebliche Kirschblüten auf Sie. Am Tempeleingangstor Iljumun empfing meine Gefährten und mich der zarte Duft der Süßen Duftblüten, der sich 1.000-Li (ca. 400 km) weit verbreiten soll. Die immergrüne Süße Duftblüte ist ein Baum, der der Legende nach im Reich des Mondes steht. Der Hof war im Herbst bedeckt mit ihren kleinen weißen Blüten. Der Seonam-sa ist eine Tempelanlage, bei der das hohe Tor, der Teich und die bescheidenen Gebäude fein versetzt zwischen den verschiedenen Blütenbäumen angeordnet sind und zusammen quasi ein kleines Dorf bilden. Das Gegenstück der Seungseon-gyo ist die Brücke Samcheonggyo im Tempel Songgwang-sa. Vielleicht dachte man, dass noch ein gewisses Etwas fehle, weshalb auf der Brücke der Pavillon Uhwa-gak (uhwa: federleicht werden) errichtet wurde, dessen

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1. Die Brücke Seungseon-gyo führt zum Gelände des Tempels Seonam-sa, eines der sieben koreanischen Bergtempel, die auf der UNESCO-Welterbeliste stehen. In der Mitte des Brückenbogens springt auf der Unterseite das Relief eines Drachenkopfes ins Auge. 2. Die Brücke Samcheong-gyo im Tempel Songgwangsa ist zwar kleiner als ihr Gegenstück im Seonam-sa, aber von ganz eigenem Reiz. Hinter Uhwagak, einem auf der Brücke errichteten Pavillon, befindet sich der Vorderhof des Tempels.

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Name die Besucher ermahnt, mit leichtem Herzen vor Buddha zu erscheinen. Es ist ein ganz besonderer Ort und Platz zum Ausruhen, der sich so nur im Tal des Songgwang-sa findet. Bunt gefärbte Blätter, die tief in den Bergen verborgen vor fremden Blicken einsam gewachsen sind, wurden vom Bach fortgetragen, um sich schließlich unterhalb des Pavillons zu sammeln. Das Wasser wirkt kalt. Im Songgwang-sa bildet der breite Hof vor der Haupthalle den Mittelpunkt. Wenn Sie vom Seonam-sa losgegangen sind und gegen Sonnenuntergang im Songgwang-sa ankommen, sollten Sie einmal von einer möglichst hohen Stelle auf den Tempel hinunterblicken. Die angenehm ruhige, einsame Stille des Moments, wenn sich in der Dämmerung das Abendrot über die Hügel auf den im Dunkeln liegenden Ziegeldächern des Tempels ausbreitet, wird Ihnen lange in Erinnerung bleiben. Der dezent-zurückhaltende Grundriss ist das Ergebnis der nach dem Ende des Koreakriegs (1950-1953), als der Tempel in Schutt und Asche lag, durchgeführten Restaurationsarbeiten. Welchen Tempel Sie auch als Startpunkt nehmen mögen: Versuchen Sie, dort so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Denn auch Frieden ist etwas Flüchtiges.

Gerstenreisrestaurant Gulmokjae

Bricht man am Seonamsa-Tempel auf, geht dann durch den Hinoki-Scheinzypressenwald und vorbei an dem Felsen, auf dem einst ein Tiger, das Kinn auf die Pfote gestützt, gesessen und Herz und Gedanken der Vorbeigehenden gelesen haben soll, ist der erste Hügel, zu dem man kommt, der „Keun Gulmok-jae“ (Großer Gulmok-Hügel). Entlang dieser Route hat man die Spitze des Jogye-san auf seiner nördlichen Seite. Der Aufstieg ist ziemlich steil, aber hat man den Hügel erst einmal hinter sich, wird das Terrain wieder flacher. Kommt man aus entgegengesetzter Richtung vom Songgwang-sa, führt der Weg die meiste Zeit durchs Tal am Bach entlang, wo man zunächst eine stabile Holzbrücke überquert. Nachdem man dann den legendären Felsen, den ein buddhistischer Mönch mit seiner spirituellen Kraft gestoppt haben soll, als er heruntergerollt wurde, um den Weg zu versperren, hinter sich gelassen hat, trifft man auf einen Markierungsstein mit der Gravur

„Gulmok-jae“ (Songgwang-sa). Dieser Gulmok-jae, genauer „Jageun Gulmok-jae“ (Kleiner Gulmok-hügel bei Songgwang-sa), den man hinaufgehen muss, wenn man von Songgwang-sa aus in Richtung Seonam-sa wandert, bildet zusammen mit dem Großen Gulmok-jae die Wasserscheide des Jogye-san, die Teil des Honam-Gebirges ist, das sich von der Jeollabukdo- über die Jeollanamdo-Provinz erstreckt. Vom östlichen Hang fließt das Wasser in Richtung der Suncheon-Bucht, vom westlichen Hang ins Meer vor der Stadt Beolgyo-eup im Kreis Boseong-gun. Geht man den abwärts führenden Weg hinter dem Hügel hinab, stößt man unerwartet auf ein Gerstenreis-Restaurant. Schwarzem Roggenbrot in Europa und grobkörnigem Gerstenreis in Korea haften dieselben Status-Assoziationen an: Während früher die wenigen Wohlhabenden weißes Brot aus Weizen bzw. weißen Reis aßen, galten Roggenbrot und Gerstenreis als Grundnahrungsmittel der Armen, das sie vor dem Hungertod rettete. Heutzutage wird Gerste als Gesundheitskost vermarktet, die nostalgische Erinnerungen hervorruft. Einmal eine Art Schutzhütte für verirrte Bergwanderer, die in einem Gebiet, wo einst brandrodende Kleinbauern lebten, errichtet wurde, geht heute fast niemand mehr an diesem Restaurant vorbei, es ist vielmehr fast fester Bestandteil eines Reisepakets für Wandertouren in den Bergen Jogye-san. Der in einem gusseisernen Kessel gedämpfte Gerstenreis wird mit Wildgemüse-Beilagen aus der Umgebung und im eigenen Küchengarten angebauten Gemüsen serviert.

Zwei Steinpagoden aus der Zeit des Vereinigten Silla-Reichs (676-935) nehmen den Hof vor der Daeungjeon, der Haupthalle des Tempels Seonam-sa, ein. Die beiden dreistöckigen Pagoden auf dem zweistufigen Sockel wurden zum Nationalschatz Nr. 395 bestimmt.

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Seonam-sa und Songgwang-sa sind keine gewöhnlichen Bergtempel. Beide dieser über tausend Jahre alten Tempel sind renommierte Chongnim (wörtlich: dichter Wald), d. h., sie verfügen über alle essentiellen buddhistischen Lehrinstitutionen wie Gangwon (Schule zum Studieren buddhistischer Schriften) und Seonwon (Meditationszentrum) .

Dazu gibt es eine auf Sojabohnenpastenbasis zubereitete Suppe mit getrockneten Rettichblättern – eine bescheidene Mahlzeit, aber für jemanden, der an die zwei Stunden zu diesem 600m über dem Meeresspiegel liegenden Ort gewandert sind, ein wahres Festmahl. Es gibt auch Besucher, die extra den 20-minütigen Aufstieg von Jangan-eup aus auf sich nehmen, um hier zu essen. Tatsächlich ist es am schnellsten, mit dem Wagen durch die sich schlängelnden Gässchen hochzufahren, am Ende des Städtchens zu parken und von dort aus den 20-minütigen Aufstieg zum Restaurant in Angriff zu nehmen. Der Gerstenreis-Geschmack ist schwer zu beschreiben, aber jeder leert im Nu seine Schüssel, weshalb das Restaurant auch als „leckerstes seiner Art“ gepriesen wird. Doch egal, ob früher oder heute: Das Gefühl des Sattseins nach dieser Mahlzeit ist nicht gerade angenehm. Aber nicht, weil man das Gefühl hat, mehr als sonst gegessen zu haben, oder wegen der raschen Verdauung kurz darauf schon wieder hungrig wird. Vielmehr rührt es vom Sinnieren darüber, ob man nicht bereits „zum Hungerstillen dressiert“ ist.

Geschichte

Allen Wegen haftet etwas Vergängliches an, so auch dem Trost, dem Frieden und dem Gefühl des Sattseins. Die Sage von dem Felsen, auf dem einst ein Tiger gesessen und Herz und Geist der Wanderer unter die Lupe genommen haben soll, und die Legende von dem Mönch, der allein mit seiner spirituellen Kraft einen herunterrollenden Felsen gestoppt haben soll, sind mehr als nur einfach Erzählungen. In ihnen verbirgt sich in komprimierter Form die Geschichte des Weges über Gulmok-jae, die über mehr als tausend Jahre unzählige Male abgebrochen und wieder fortgesetzt worden sein wird. In der koreanischen Gegenwartsgeschichte wird der Begriff „Ppalchisan“ meistens für Angehörige der kommunistischen Partisanen-Einheiten verwendet, die sich während des Koreakriegs

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im Süden des Landes formiert hatten. Jogye-san war eine wichtige Passage zum Gebirge Jiri-san, wo sich ihr Hauptquartier befand, und gleichzeitig ein wichtiger Stützpunkt. Das nicht weit weg vom Songgwangsa gelegene Tal Hongol war eins der Verstecke der Partisanen, wo bis zum Schluss heftige Kämpfe ausgetragen wurden, denen nicht wenige ältere Menschen, die sich zu der Zeit im Songgwang-sa aufhielten, zum Opfer fielen. Dieser Weg, auf dem die Menschen von damals aus Überzeugung und schierem Überlebenswillen ihre Feinde jagten und gejagt wurden, ist Teil der hier vorgestellten Route. Das Vorkommnis, das einen noch fundamentaleren und dauerhafteren Konflikt als der Koreakrieg ausgelöst hat, folgte allerdings später. 1954, kurz nach Kriegsende, forderte der damalige Präsident Rhee Syng-man verheiratete Mönche mit der Begründung, dass sie „Überbleibsel“ der japanischen Kolonialherrschaft seien, zum Ablegen der Kutte auf. Im koreanischen Buddhismus gab es zwar keine Tradition, die den Mönchen das Heiraten erlaubt hätte, aber Ende der Joseon-Zeit (1392-1910) wurde es allgemein üblich, Laien, die sich um die im Zuge der

1. Der Songgwang-sa ist neben dem Haein-sa und dem Tondgo-sa einer der Drei Juwelentempel Koreas. Er hat 16 ehrwürdige Mönche hervorgebracht, die Nationale Präzeptoren wurden, weshalb er auch als „Tempel des Sangha-Juwels“ bekannt ist. 2. Imgyeongdang, links von Uhwagak, bietet einen der schönsten Anblicke im Songgwang-sa. Das Gebäude besitzt große Fenster, die die Aussicht besonders spektakulär machen.


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1. Jenseits des Gipfels des Gulmok-jae bietet auf dem Weg den Hügel hinunter ein 40 Jahre altes Gerstenreis-Restaurant einen willkommenen Anblick. Gerstenreis vermischt mit gewürzten Gemüsen der Saison und roter Peperonipaste gehört zu den besonderen Freuden auf diesem Wanderweg.

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staatlichen Unterdrückung des Buddhismus verschlechterten hauswirtschaftlichen Angelegenheiten des Tempels kümmerten, als Mönche anzusehen. Durch den Einfluss des japanischen Buddhismus, der nach der Meiji-Restauration dem Beispiel protestantischer Priester folgend Mönchen das Heiraten erlaubte, gab es in Korea kurz vor der Befreiung von der Kolonialherrschaft viel mehr verheiratete als zölibatäre Mönche. Der koreanische Mönch und Dichter Han Yong-un (1879-1944) schrieb bereits in seinem Buch Zur Reform des Buddhismus in Joseon (1913), dass es „Unsinn sei, zu behaupten, dass ein mit einem physischen Körper Geborener keinen Appetit auf Essen oder Geschlechtsverkehr verspüre“, und forderte, dass jeder Mönch frei für sich entscheiden sollte. Diese Einmischung der staatlichen Gewalt in eine Angelegenheit, die die buddhistische Gemeinschaft unter sich hätte klären müssen, brachte schwerwiegendere Schäden für die Tempelgemeinschaften als die im Zuge des Krieges erlittenen Zerstörungen mit sich. Der Disput endete schließlich 1969 mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofes, das alle Autorität ausschließlich in der Hand ordinierter, zölibatärer Mönche liege. Aus Protest gegen diesen Beschluss wurde der Taego-Orden des koreanischen Buddhismus gegründet, dessen Haupttempel der Seonam-sa ist. Der Tempel Seonam-sa ist also die Geburtsstätte des Taego-Ordens und Songgwang-sa die des Jogye-Ordens der zölibatären Mönche. Damit endeten die Zeiten, als die Mönche dieser beiden Tempel auf der Suche nach Lehrmeistern und Glaubensbrüdern einander aufsuchten, voneinander lernten und Austausch pflegten. Der Streit zwi-

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2. In der Einsiedelei Buril-am auf dem Hügel hinter dem Songgwang-sa lebte der Ehrwürdige Beopjeong (1932-2010), der für seinen aufrechten Charakter und seine Selbstdisziplin verehrt wird, von Mitte der 1970er bis in die frühen 1990er Jahre. Hier verfasste er seine berühmte Essay-Sammlung Musoyu (Nicht-Besitz).

schen den beiden Orden um das Eigentumsrecht am Seonam-sa ist bis heute nicht beendet.

Schicksalhafte Begegnung

Die Morgenandacht im Songgwang-sa hat etwas Ehrfurchtsgebietendes und Feierlich-Getragenes. Ihre erhabenen Klänge und Musikalität verwandelte der Gugak-Musiker (Gugak: traditionelle koreanische Musik) Kim Young-dong in Meditationsmusik. Den Klängen der vier Percussion-Instrumente (Tempeltrommel Beopgo, Tempelglocke Beomjong, Fischgong Mogeo und wolkenförmiger Metallgong Unpan) des Songgwang-sa sowie den Rezitationen des Gebets zu Ehren Buddhas, des Bittgebets und der Herz-Sutra fügte Kim die Klänge der Daegeum (große Bambusquerflöte) und der Sogeum (kleine Bambusquerflöte) sowie Synthesizer-Musik hinzu. Resultat war die LP The Buddhist Meditation Music of Korea, 禪 (Die Buddhistische Meditationsmusik Koreas, Zen. 1988). Jedem, der gerne Kirchenmusik wie Gregorianischen Chorälen lauscht, sei der letzte Track The Prajñaˉpaˉraˉmita Sutra (Die Herz-Sutra) empfohlen. Sie ist auf völlig andere Art und Weise bewegend als herkömmliche Meditationsmusik im New Age Stil. Daneben gibt es noch ein CD-Album mit Klängen vom Songgwang-sa, das der Toningenieur Hwang Byeong-joon 2010 herausgab. Es


unterscheidet sich von Kims Werk dadurch, dass alle Naturgeräusche wie Wasser- oder Windesrauschen völlig ausgespart wurden, um die reinen Klänge und ihr Nachhallen in einem alten Holzgebäude einzufangen. Während der Charme von Kims Musik darin

besteht, sich auf der Suche nach den versteckten Klängen der Natur in eine neue Welt davongetragen zu fühlen, entführt Hwangs Musik den Hörer in eine spurlos verschwindende Zeit. Kim erzählte, dass sein Treffen mit dem Ehrwürdigen Beopjeong (1932-2010) in Buril-am, einer der Klausen des Songgwangsa, ihn zu diesem Musikalbum inspirierte. Der Ehrwürdige Beopjeong wurde für seine Philosophie des „Nicht-Besitz“ und sein in diesem Sinne geführtes Leben von vielen unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Die chinesischen Zeichen für „Nicht-Besitz“ sind 無所有, wobei 有 für „vorhanden sein“ das wesentlichste Sem, also das kleinste bedeutungstragende Element, dieses Begriffs ist. Es entwickelte sich aus einem Zeichen der alten 2 chinesischen Orakel-Schriftzeichen in Form einer Hand, die ein Stück Fleisch hält. 2020 jährte sich der Tod des Ehrwürdigen Beopjeong zum zehnten Mal. Vor Buril-am steht noch ein Stuhl, den der Mönch eigenhändig aus Eichenholz gefertigt haben soll. Darauf ruht an seiner Stelle das trockene Blatt einer Kobushi-Magnolie. Bei diesem Anblick hätte er wohl ausgerufen: „Liebes Blatt, ruh dich aus! Wie mühsam es für dich gewesen sein muss, am Baum zu hängen!“

Sehenswürdigkeiten in den Bergen Jogye-san Berge Jogye-san Tempel Songgwang-sa

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Tempel Seonam-sa Jogyesan-Provinzpark 2 Offene Filmkulisse Suncheon

Rathaus von Suncheon

2

3 Nationalpark Suncheon-Bucht

1 Stadtfestung Nagan und Dorf 4 Naturreservat Suncheon-Bucht

Seoul 3

4

330km Suncheon Südmeer

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LIFESTYLE

Campen im eigenen Auto

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„Car-Camping“ ist eine neue Freizeitbeschäftigung in Korea, die Reiselustigen auch ohne die Anschaffung eines teuren Wohnmobils Campen ermöglicht, und zwar im eigenen Auto. Angesichts der mit COVID-19 aufgekommenen Notwendigkeit der sozialen Distanzierung erfreut sich diese Outdoor-Aktivität großer Beliebtheit in Korea. Kim Dong-hwan Reporter, The Segye Times

„S

chieben Sie zuerst die Vordersitze möglichst weit nach vorne. Dann klappen Sie die Sitze in der zweiten Reihe in dieselbe Richtung um“, erklärt ein YouTuber und zeigt dabei auf den Innenraum seines Stadtgeländewagens (SUV). In weniger als 30 Sekunden schafft er so mehr Platz und fügt hinzu: „Bevor ich die Isomatte ausrolle, messe ich zunächst Länge und Breite des frei gewordenen Raums, um zu sehen, ob ich mich auch hinlegen kann.“ Zwei Meter lang, einen Meter breit. Passt. „Jeder erwachsene Mann kann sich hier bequem hinlegen“, sagt er mit einem Lächeln. „Und auch mit Freund oder Freundin ist es noch gemütlich.“ Das im Juli letzten Jahres auf YouTube hochgeladene Video verzeichnete im Oktober 2020 bereits über 100.000 Aufrufe. „Car-Camping“ bedeutet Übernachten im Auto. Da denkt man zunächst einmal an ein Wohnmobil mit Bett und Kücheneinrichtung, doch bei diesem Ein Car-Camper am See Chungju. Car-Camping macht einfaches Entspannen fern von regulären Campingplätzen möglich, für die es oft Wartelisten gibt.

neuen Camping-Stil verreisen Sie mit nur minimaler Grundausstattung und übernachten im eigenen Wagen. SUVs bieten sich aufgrund ihres größeren Innenraums besonders dafür an. Wenn Sie die hinteren Sitze ausbauen, entsteht hinreichend Schlafraum für eine Übernachtung. Diese neue Form des Reisens mit leichtem Gepäck lockt mit echtem Abenteuerfeeling.

Neue Freizeitkultur

Laut einem Bericht der Korea Automobile Manufacturers Association stieg der Absatz von Pickups, die die Vorzüge von LKW und PKW kombinieren, von rd. 22.000 Einheiten im Jahr 2017 auf ca. 42.000 im Folgejahr. Nach Angaben der Korea Agency of Camping and Outdoor Industry wuchs das Volumen der heimischen Camping-Branche im gleichen Zeitraum von 2 Bio. Won (rd. 1,5 Mrd. €) um über 30% auf 2,6 Bio. Won (rd. 1,9 Mrd. €). Auch der Campingausrüstung-Markt verzeichnete 2020 ein explosives Wachstum. Eine Umsatzanalyse des Online-Einkaufszentrums SSG.com für den Zeitraum Juni/Juli zeigt, dass der Umsatz von Auto-Anbauzelten und Luftmatratzen gegenüber den

© Lee Jung-hyuk

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Der größte Pluspunkt beim Car-Camping ist, dass man egal wo auch immer übernachten kann und sich nicht erst um einen Stellplatz auf einem ausgewiesenen Campingplatz oder im Erholungswald kümmern muss.

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beiden Vormonaten jeweils um satte 664% bzw. 90% stieg. Die Verkaufszahlen von Kühlboxen, einem weiteren wichtigen Camping-Zubehör, haben sich mehr als verzehnfacht. Einer Analyse der Discounter-Kette Lotte Mart zufolge stieg der Umsatz von Camping-Möbeln einschließlich Stühlen und Tischen im selben Zeitraum um 103,7% im Vergleich zum Vorjahr; bei Camping-Bettzeug wie Schlafsäcke und Luftmatratzen betrug der Anstieg 37,6%, bei Zelten 55,4% und bei Kochutensilien 75,5%. Das Übernachten im Auto ist seit etwa 2018 ein breites Gesprächsthema und ein entsprechend beliebter Stoff für Fernsehsendungen. Im März 2020 wurde in einer Folge von I Live Alone, einer repräsentativen Reality-Show des Senders MBC TV, ein junger Schauspieler gezeigt, der mit dem Mitglied einer Boygroup Car-Camping am Strand genoss. Er hatte die Rückbank komplett ausgebaut und schuf mit Glühbirnenketten eine heimelige Atmosphäre. Nach der Ausstrahlung tauchte „Car-Camping“ auf den Portalseite-Listen der Echtzeit-Suchbe-

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griffe auf und in den Sozialen Medien wurden unzählige Beiträge mit begeisterten Reaktionen hochgeladen. Wenn Sie auf Instagram nach dem Hashtag „Car-Camping“ suchen, werden Hunderttausende von Treffern erscheinen.

Auf und los!

Es gibt mehrere Gründe für das rasante Wachstum dieser Auto-orientierten Freizeitbeschäftigung. Zuallererst können Sie von jetzt auf gleich ohne groß zu planen starten. Am Freitag können Sie nach Arbeitsschluss beschließen, an den Strand zu fahren oder am nächsten Morgen irgendwo frische Waldluft zu genießen. Eine YouTuberin erhielt für ein einziges Video über Car-Camping mehr als 400.000 Aufrufe. Sie sagte, dass es für diejenigen, die bewusst Zeit alleine verbringen möchten, nichts Schöneres gibt als eine Nacht im Auto. Außerdem brauche man keine spezielle Ausrüstung. Ein paar Fertiggerichte und eine Flasche Wein, und schon ist alles bereit für einen Camping-Ausflug. Außerdem erübrigt es sich, einen Platz auf einem regulären Camping-

1. Das Innere eines SUV, ausgestattet nach dem Geschmack eines Campers. Eine Schlafmatte ist das A und O. Das Innere kann dann je nach Geschmack spartanisch oder auch aufwändig dekoriert sein. 2. SUVs sind wegen ihres breiten Innenraums die bevorzugte Wahl für Car-Camping. Die Besitzer normaler PKWs klappen ihre Sitze zurück und machen es sich auf dem etwas engerem Raum bequem.


2 © Kim Nam-jun

platz zu reservieren, was wegen der hohen Nachfrage bei registrierten Campingplätzen mit langen Wartezeiten verbunden sein kann. Bei Car-Camping können Sie überall dort übernachten, wo Sie Ihr Fahrzeug parken dürfen. Der Ausbruch von COVID-19 dürfte zu diesem Camping-Boom beigetragen haben. Denn in der gegenwärtigen Situation, in der persönliche Kontakte möglichst vermieden werden sollten, hilft Car-Camping – sei es nun alleine oder mit der Familie – dem Corona-Stress zu entkommen. Ein Beweis dafür ist, dass die Mitgliederzahl des Car Camping Club, Koreas größter Online-Community von Car-Campern auf der Portalseite Naver, von rd. 80.000 Ende Februar 2020 auf ca. 170.000 Anfang September emporgeschnellt ist. Aber es gibt auch Kehrseiten. So sind Luftmatratzen nicht so bequem wie Standardmatratzen, weshalb die Übernachtung im Auto für empfindliche Schläfer nicht gerade ideal sein dürfte. Hinzu kommt, dass ein erholsamer Schlaf in der Regel eine ebene Oberfläche voraussetzt. Mit der 2020

© gettyimages

erfolgten Überarbeitung des Kraftfahrzeugmanagement-Gesetzes ist in Korea die Umwandlung von PKWs in Camping-Fahrzeuge zwar erlaubt, aber es ist nicht immer einfach, für eine flache Oberfläche zu sorgen. Und natürlich ist das Übernachten im Auto keine attraktive Alternative für diejenigen, die aufs Duschen nicht verzichten wollen.

Gesunde Campingkultur: eine Marktnische

Im Sommer ist es im Wagen heiß, im Winter kalt, was die Bequemlichkeit beeinträchtigt. Es kann aber gefährlich sein, Klimaanlage oder Heizung im Auto lange Zeit eingeschaltet zu lassen. Möchte man solch wetterbedingten Unbequemlichkeiten entgehen, wird empfohlen, sich mit Ladegeräten oder Standheizungen auszurüsten. Darüber hinaus: Um sich im Camper vor unerwünschten Insekten zu schützen, ist die Anschaffung eines Moskitonetzes ratsam. Hat man erst einmal mit dem Kaufen der Grundausrüstung begonnen, wächst die Versuchung, mit dem Blick

auf höherem Komfort für den nächsten Trip in noch hochwertigeres Equipment zu investieren. Ein YouTuber gestand, dass er wegen seiner Leidenschaft für High-End-Ausrüstung ganz mit dem Car-Camping aufgehört habe. Der größte Pluspunkt beim CarCamping ist, dass man egal wo auch immer übernachten kann und sich nicht erst um einen Stellplatz auf einem ausgewiesenen Campingplatz oder im Erholungswald kümmern muss. Die meisten Car-Camper bevorzugen mit öffentlichen Toiletten ausgestattete Parks, Strände oder Flussufer. Dem Trend entsprechend gibt es viele beliebte Autocamping-Plätze. Doch immer mehr solche öffentlichen Plätze regulieren den Zugang aufgrund der Probleme, die freies Zelten und Kochen verursachen. So ist es z. B. vorgekommen, dass bei einem unerwarteten Ansturm illegal Müll entsorgt und die Umwelt geschädigt wurde. Wenn sich jedoch eine gesunde Kultur etabliert, kann Car-Camping sich zu einer vernünftigen und preisgünstigen Art des Reisens im Corona-Zeitalter entwickeln.

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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

K

im Se-hees Erzählwerke können insofern als „Initiationsliteratur“ kategorisiert werden, als dass sich die Protagonistinnen in der Lebensphase befinden, in der sie ins Arbeitsleben eintreten oder mit einem neuen Job beginnen. Der Einstieg verläuft jedoch nicht reibungslos mit Beglückwünschungen und wohlwohlender Aufnahme. Sozioökonomische Unsicherheiten und Verwirrungen sowie Angst vor einer ungewissen Zukunft prägen das Geschehen in Kims Erzählungen. Vor der Thematisierung ihrer Erzählungen sei kurz auf Kims einzigen Roman Liebe in der Hafenstadt (2019) eingegangen. Dieser Roman, der auf Kims eigenen Erfahrungen beruht, thematisiert die Kultur der „pseudo-lesbischen“ Liebe von Teenagerinnen. Der Titel weist auf die Hafenstadt Mokpo hin, in der Kim aufwuchs. Die Protagonistin besucht eine reine Mädchenmittel- und oberschule, wo die Schülerinnen Fanfiction schreiben und lesen, also Texte, in denen Idolsängerinnen als lesbische Paare erscheinen und Mitschülerinnen zu Objekten ihres Begehrens machen. Denn „einen Schüler daten galt als Überlaufen zur anderen Seite“. Die Liebe zwischen Mädchen wird als eine Angelegenheit „dieser Seite“, d. h. als etwas Normales, gesehen, während heterosexuelle Liebe bedeutet, auf „der anderen Seite“ und damit anormal zu sein – so die „Liebesgrammatik“ der Mädchen. Der Plot des Romans erforscht Wesen und Bedeutung der Leidenschaft, die die Mädchen damals packte, aus Sicht der Protagonistin, die einige Jahrzehnte später als Schriftstellerin auf diese Zeit zurückblickt. Die Autorin rekonstruiert in dem Roman die unter Schülerinnen üblichen Umgangsformen wirklichkeitsnah und betont auf dieser Grundlage die Notwendigkeit eines offenen Blicks auf die Liebe. Damit liegt der Roman auf der gleichen Linie wie jüngst veröffentlichte koreanische Erzählwerke, die durch die Thematisierung gleichgeschlechtlicher Liebe die diesbezüglichen gesellschaftlichen Diskussionen und damit das Blickfeld erweitern. Davor wurde im Februar 2019 vom Verlag Mineumsa Kims erster Erzählband Ruhige Tage veröffentlicht, der der Autorin den Shin Dong-yup Literaturpreis für Nachwuchstalente einbrachte. Der erste Satz der Titelerzählung Ruhige Tage ist recht aufschlussreich: „Am Sonntag vor meinem ersten Tag auf meinem ersten Arbeitsplatz traf ich ganz zufällig Jaehwa im Viertel Daehangno.“ Im koreanischen Original ist das erste Wort dieser Erzählung „cheot (erster)“, ein Zahlwort, dass das Nomen „Chulgeun (Aufbruch zur Arbeit)“ attribuiert. Was könn-

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REZENSION

Initiationsritural Aufregend und verwirrend

Kim Se-hee, geboren 1987, beschreibt in ihren Erzählwerken Erfahrungen und Sorgen der jungen Menschen ihres Alters auf realistische Weise. Ihre Schilderungen der generationstypischen Probleme wie Daten, Heiraten, Jobsuche, Wohnung usw., mit denen die ins gesellschaftliche Leben Einsteigenden konfrontiert sind, finden großen Anklang bei ihrer Generation. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh

te ein Initiationsritual besser darstellen als „das erste Zur-Arbeit-Gehen“. Doch die Firma und die Gesellschaft, die auf die Protagonistin „Ich“ warten, sind ihr keineswegs wohlgesonnen. Im Koreanischen sind „hoesa (Firma)“ und „sahoe (Gesellschaft)“ jeweils zweisilbige Wörter mit identischen Silben, die nur umgedreht sind. Auf der Oberfläche scheinen „Firma“ und „Gesellschaft“ der Protagonistin gegenüber durchaus freundlich gesinnt zu sein. Ihre Fähigkeiten finden Anerkennung, sie hat das Gefühl, etwas zu leisten, und ist insgesamt zufrieden, auch wenn sie wegen Überbelastung oft erschöpft ist. Ihre Arbeit besteht darin, unter fiktiven Namen Internetblogs zu führen und dort Fake-Kundenbewertungen für Produkte zu schreiben, für die ihre Firma Werbeaufträge bekommt. Die Erkenntnis, dass diese Marketingmethode an sich, bei der einer Vielzahl von Blogbesuchern zwecks Bewerbung bestimmter Produkte Kundenbewertungen vorgetäuscht werden, unethisch ist, und die Reue darüber kommen „zu spät“.


Kim Se-hee:

„Wenn ich zurückblicke, dann hat mir die Literatur immer den Mut gegeben, das, was ich tragen muss, auch tragen zu wollen.“ © Marie Claire

Unter den Benutzern des in ihrem Blog hochgepriesenen Desinfektionsmittels kommt es nämlich zu Todesfällen und irreparablen Lungenschäden. Das erinnert an ein tatsächliches Unglück, bei dem es 2011 in Korea durch Luftbefeuchter-Desinfektionsmittel zu 1.500 bestätigten und bis zu 14.000 geschätzten Todesfällen kam. Das ist zwar nicht der direkte Anlass, aber die Protagonistin kündigt schließlich ihren ersten Job und vermeidet es, Näheres über ihre Arbeit dort zu erzählen. Die Erzählung Schwindelgefühl in demselben Erzählband befasst sich mit den Sorgen und der Odyssee der jungen Generation in Bezug auf Daten, Heiraten und Wohnen. Die Protagonistin Wonhui und ihr Freund Sangnyul, mit dem sie in einem Einzimmerapartment zusammenlebt, beschließen, in eine Zwei-Zimmer-Wohnung umzuziehen, weil ihr unterschiedlicher Alltagsrhythmus Probleme verursacht. Während Wohnungssuche, Umzug und Besorgung von Gebrauchtmobiliar kommen die bis dahin verdrängten Probleme an die Oberfläche: Repräsen-

tativ sind Vorurteile und Kritik ihres Umfelds in Bezug auf Zusammenleben ohne Trauschein und Scham über die Mittellosigkeit, die sie dazu zwingt, ihre Wohnung mit Gebrauchtgegenständen einzurichten. Aber diese Probleme führen Wonhui zu unerwarteter Einsicht in die Lage, in der sie sich befindet. All das wird in der Erzählung mit „Schwindelgefühl“ zusammengefasst: „Es gibt Momente, in denen einem schwindlig wird, Momente, in denen man der Realität ins Gesicht sehen muss. Wenn ein Szenario, das man noch nicht anzunehmen vermochte, das man noch nicht in sein Bewusstsein hatte eindringen lassen, sich urplötzlich wie von Scheinwerfern angestrahlt entblößt, sodass man zwar die Augen schließen und das Gesicht wegdrehen möchte, aber nicht einmal das erlaubt ist. Ein solcher Moment war jetzt.“ „Schwindelgefühl“, der Titel der Erzählung, beruht auf dieser Passage und erinnert an den Terminus „Epiphanie“, der in Interpretationen der Erzählwerke von James Joyce verwendet wird. Aber während Epiphanie ein plötzliches Erkennen durch eine Offenbarung und die darauf folgende Erweiterung der Gedanken bedeutet, ist das Schwindelgefühl in Kims Erzählung eher eine durch Erkennen hervorgerufene Verwirrung und Verzweiflung. Der letzte Satz „Sie fragte sich, wie sie sich in der fernen Zukunft an diesen Umzug, an diesen Moment erinnern würde“ ist auf der Oberfläche betrachtet sowohl für eine positive als auch eine negative Entwicklung offen, aber auf der tieferen Ebene scheint die negative Einschätzung ihrer aktuellen Lage zu überwiegen. Die Autorin hat einmal auf die Frage nach der Quelle ihres literarischen Schaffens geantwortet, dass „irgendetwas, was nicht gelöst ist, sich zu einer Erzählung zu entwickeln scheint.“ „Wenn etwas ungelöst in mir zurückbleibt, bedeutet das wohl, dass dort etwas ist. Es gibt etwas, das nicht gelöst ist, was sich aber auch nicht genau bestimmen lässt. Also versuche ich daraus, die eine oder andere Geschichte zu machen. Beim Prozess des Kreierens, Arrangierens und Niederschreibens entdecke ich manchmal dieses Etwas und manchmal scheinen sich ihm Bedeutungen beimessen zu lassen“. Im Nachwort des Erzählbandes sagt die Autorin: „Ich konnte mich in allen Augenblicken offen halten, weil ich Erzählungen schrieb. Wenn ich zurückblicke, dann hat mir die Literatur immer den Mut gegeben, das, was ich tragen muss, auch tragen zu wollen.“ Das ist wohl der Grund, warum Kim See-hee gerade bei ihrer Generation Anklang findet.

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