Koreana Summer 2018 (German)

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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST SOMMER 2018

MIT SONDERBEITRÄGEN ZUM 50. JUBILÄUM DER DEUTSCHEN AUSGABE

SPEZIAL

DIE INSEL JEJU-DO

ISSN 1975-0617

JAHRGANG 13, NR. 2

Eine Insel der Steine Legenden und Geschichten Das historische Erbe der Steinmauern von Jeju-do ; Jeju Stone Park: Erbe eines Pioniers ; Wächter an der Grenze zum Jenseits ; Steine von Jeju-do treffen Erde und Feuer

Jeju-do


IMPRESSIONEN

Hagwon

Kampfarenen des Lernens Kim Hwa-young

Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts


D

ie Prüfungen beginnen morgen, doch bereits seit dem frühen Abend vernebelt mir die Müdigkeit den Kopf. Ich bitte meine Mutter, mich genau in einer Stunde zu wecken, damit ich weiterlernen kann, und lege mich hin. Doch als ich aufwache, steht die Sonne hoch am Himmel! Mir wird schwarz vor Augen. Auch heute noch träume ich gelegentlich von solchen Malheurs aus meiner schon Jahrzehnte zurückliegenden Schulzeit. Wenn ich aus so einem Traum aufwache, schlafe ich sofort wieder ein, beruhigt durch den Gedanken, aus dem Schulprüfungsalter heraus zu sein. Aber für koreanische Schüler von heute gibt es weder Erleichterung noch Schlaf. In einigen anderen Ländern blickt man zwar mit einem gewissen Neid auf das Bildungsfieber der Koreaner, doch in Wirklichkeit zwingen die bildungsorientierte Gesellschaft und die Tatsache, dass Bildung als reines Mittel zum beruflichen Erfolg und gesellschaftlichem Aufstieg gesehen wird, Schüler und Eltern zu einem Langstreckenmarathon des unbegrenzten Wettbewerbs. Dieser beginnt bereits im Kita-Alter, setzt sich über Prüfungsetappen in Grund-, Mittel- und Oberschule fort, die den Leistungsrang jedes einzelnen Schülers messen, und findet seinen Höhepunkt in der „Hölle der Hochschulaufnahmeprüfung“, die über die Zulassung zu den Elite-Universitäten entscheidet. Doch selbst danach geht der Marathon noch weiter mit Prüfungen für ein Auslandsstudium, einen Arbeitsplatz usw. Dieses gnadenlose, auf Ranking fokussierte öffentliche Bildungssystem hat ein Umfeld geschaffen, in dem schon vor langer Zeit die als „Hagwon“ bekannten privaten Lerninstitute aufblühten. Ihren verlockenden Versprechen von höheren Punktzahlen und damit Konkurrenzvorsprung ist nur schwer zu widerstehen. Die Kosten sind zwar oft exorbitant, aber die Eltern fühlen sich im Namen der Investition in die Zukunft ihrer Kinder zu dieser Geldausgabe verpflichtet. Somit hat Bildung immer weniger mit dem Stillen von Wissensdurst zu tun und immer mehr mit Konkurrenzsucht. Laut Statistiken des Bildungsministeriums betrugen 2017 die privaten Bildungsausgaben für Grund-, Mittel- und Oberschüler 18,6 Milliarden KW (ca. 14,6 Mio. Euro), was monatlichen Ausgaben in einer Rekordhöhe von 271.000 KW (ca. 213 Euro) pro Schüler entspricht. Die tatsächlichen Ausgaben zzgl. der nicht erfassten Hagwon-Ausgaben liegen jedoch weitaus höher und übertreffen schon seit langem das Gesamtbudget für öffentliche Bildung, was insbesondere für einkommensschwache Haushalte ein Problem darstellt. Die berühmte „Hagwon-Straße“ im Seouler Südviertel Daechi-dong gilt als Mekka der privaten Bildung. Gegen 22.00 Uhr, wenn der Unterricht endet, bricht in der Gegend ein Verkehrschaos aus, da alle Eltern ihr Kind abholen wollen. Wenn die Kinder aus den Hagwons strömen, herrscht zehn Minuten Chaos auf den Straßen, bevor wieder Ruhe einkehrt. Konfuzius sagte einst: „Besser als die Wahrheit zu kennen, ist die Wahrheit zu lieben, und besser als die Wahrheit zu lieben, ist die Wahrheit zu genießen.“ Ist diese Weisheit heute nur noch leeres Gerede? © Heo Dong-wuk


Von der Redaktion

Zum Jubiläum der deutschen Ausgabe „Jeju-do“, so lautet diesmal das Thema der Spezial-Reihe, das normalerweise hier im Vorwort vorgestellt wird. Bevor ich dazu komme, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, der treuen Leserschaft zu danken, die die deutsche Ausgabe der Koreana über zwölf Jahre lang begleitet hat. Diese Sommerausgabe, das 50. Heft der deutschen Ausgabe, möchte daher mit einer eigens konzipierten Sonderrubrik das Jubiläum feiern. Nach einem Vowort werden die Glückwunschadressen der Botschafter unserer Adressatenländer sowie Gratulationen von Leserseite präsentiert. Wir haben uns sehr darüber gefreut und bedanken uns an dieser Stelle ganz herzlich. Anschließend werden in Umkehr des normalen Konzepts von Koreana keine „einheimischen“ Kunst- und Kulturschaffenden vorgestellt, sondern vier „Brückenbauer“, die beruflich und privat auf ganz spezielle Weise Brücken zwischen Korea und den deutschsprachigen Ländern schlagen. In den Spezial-Beiträgen geht es, wie erwähnt, diesmal um die Steine auf der Insel Jeju-do: Überall auf Jeju-do sind Steine zu finden. Der schwarze Basalt harmoniert und kontrastiert auf reizende Weise mit dem blauen Meer, dem grünen Gras und den gelben Rapsblüten. Die allgegenwärtigen Basaltfelsen erzählen vom Ursprung der Insel, die vor zwei Millionen Jahren aus Vulkanasche geboren wurde. 2007, als die Vulkaninsel Jeju-do und ihre Lavaröhren ins Weltnaturerbe aufgenommen wurde, bemerkte das UNESCO Welterbe-Komitee, dass Jeju-do über seine beeindruckende natürliche Schönheit hinaus Aufschluss über Geschichte, formative Prozesse und geologische Besonderheiten des Planeten Erde gebe. 2011 wurde die Insel, die 2002 von der UNESCO als Biosphärenreservat anerkannt wurde, zum UNESCO Global Geopark erklärt, was sie zum weltweit ersten Gewinner der Triple-Crown-Auszeichnung der UNESCO macht. Dieser Titel erinnert an Jeju-dos bekannten Beinamen Samda-do, „Insel der drei im Überfluss vorhandenen Dinge“: Steine, Wind und Frauen. Die SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe ist den Steinen von Jeju-do und ihrer Bedeutung für die Insel und ihre Bewohner gewidmet. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Kang Young-pil CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Park Do-geun, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR Kim Do-yoon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZER

Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Park Ji-hyoung

Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 100. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr The Korea Foundation West Tower 19F Mirae Asset CENTER1 Bldg. 26 Euljiro 5-gil, Jung-gu, Seoul 04539, Korea

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST SOMMER 2018

Viertejährlich publiziert von THE KOREA FOUNDATION 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 06750, Korea http://www.koreana.or.kr

Meer – Felsen

Kang Yo-bae 2012, Acryl auf Leinwand, 89,4 × 130 cm.

GEDRUCKT SOMMER 2018 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2018 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.


SPEZIAL

Jeju-do, eine Insel der Steine: Legenden und Geschichten

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SPEZIAL 1

Das historische Erbe der Steinmauern von Jeju-do

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SPEZIAL 3

Wächter an der Grenze zum Jenseits Kim Yu-jeong

Lee Chang-guy

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SPEZIAL 2

Jeju Stone Park: Erbe eines Pioniers

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SPEZIAL 4

Steine von Jeju-do treffen Erde und Feuer Jeon Eun-ja

Heo Young-sun

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ZUM 50. JUBILÄUM DER DEUTSCHEN AUSGABE

Vorwort zur Sonderrubrik Ahn In-kyoung

Glückwunschbotschaften zum 50. Jubiläum Sonderbeiträge zum 50. Jubiläum Dreißig Jahre voller Spannung Hans-Alexander Kneider

Mit Ausstellungen kulturelle Brücken bauen Felix Park

Zwischen den Welten Phillipp Jundt

Der Ausländer, der keiner ist Daniel Tändler

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FOKUS

Wandel durch urbane Erneuerung Yoon Hee-cheol

72 UNTERWEGS Jeong Yak-yongs Heimatstadt: Wiege geistiger Eminenz Lee Chang-guy

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INTERVIEW

„Meine Stärke liegt im Detail“ Chung Jae-suk

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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Feine Bambusblenden seit fünf Generationen Kang Shin-jae

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RUND UM ZUTATEN

Auberginen: Symbol des heißen Sommers Jeong Jae-hoon

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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Schicksal als unheilbare Krankheit Choi Jae-bong

Unheilbar Kang Young-sook


SPEZIAL 1

Jeju-do, eine Insel der Steine: Legenden und Geschichten

Das historische Erbe der Steinmauern von Jeju-do Jeju-do, die größte der rund 3.300 zu Korea gehörenden Inseln, ist etwa 1,7 Mio. Jahre alt. Die Hänge des Halla-san — ein ruhender Schildvulkan und mit 1.950 m ü. d. M. der höchste Berg in Korea — laufen in sanften Linien aus. Überall auf Jeju-do, sei es zu ebener Erde oder darunter, finden sich Spuren erkalteter Lava. Das dunkle Balsaltgestein mit seinen zahlreichen Löchern bestimmt die liebliche Landschaft dieser malerischen Insel. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom

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Während der Joseon-Zeit wurden steinerne Einfriedungen, „Jat-seong“ genannt, um staatliche Gestüte angelegt, um die Pferde innerhalb dieser Einpferchungen grasen zu lassen. Am Fuße der Berge sind aufgrund von Entwicklung und Zerstörung nur noch wenige Reste dieser Steinzäune erhalten, aber in den mittleren Höhenlagen sind sie als Zeugen der traditionellen Nutztierhaltung noch weitgehend intakt.

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teine besiegen die Zeit. Deshalb verwendet man Steine für Monumente, die an Heldentaten erinnern, oder stapelt sie aufeinander, um Grenzen zu markieren. Jeju-do ist voller Steine, die die Insulaner vielfältig zu nutzen verstanden: um das Betreten verbotenen Terrains zu verhindern, um Wasser zu stauen, um den Wind umzuleiten und um Pferde einzupferchen. In diesem Sinne liegt die legendäre Magie der Steine von Jeju-do in ihrer Fähigkeit, das Übermaß an Flüchtigkeit der Zeit und Unbeständigkeit der Natur zu bezwingen. Aber das wäre nicht ohne mühsame Anstrengungen möglich gewesen. Daher der Gründungsmythos von Großmuter Seolmundae, einer Riesin, die ihren Rock schürzte und mit Erde füllte, um den 1.950 m hohen Halla-san zu errichten und so die Insel zu erschaffen. Die uralten Steine von Jeju-do stehen eingehüllt in tiefes Schweigen vor blauem Meer und Himmel. Ihre Oberfläche ist rau, ihre Farbe schwarz. Ihre losen Linien und groben Löcher offenbaren ihre Identität. Mauern errichtet aus Steinen, einen auf den anderen geschichtet von den Händen unbekannter Menschen. Steinhaufen, in denen die Steine sich Schulter an Schulter ineinander graben und sich umarmen. Sanft gerundete Steine, die hier und da verstreut liegen. Bronzefarbenes Moos auf Steinen, die wie Tatoos wirken. Das silberne Schilffeld mit Büscheln von Rapsblüten, die zusammen mit den Steinen an eine jüngere Schwester erinnern, die halbbedeckt mit dem Rücken zum Betrachter liegt. Alles, was wir noch tun können, ist, die nur wenigen noch vorhandenen historischen Quellen durchzusehen oder die auf den Steinen hinterlassenen Spuren zu untersuchen, seien es nun Narben oder Zeichen der Freundschaft. Wir hoffen jedoch, die in ihnen schlummernde Wärme zu spüren und ihre Geschichten als stumpfe Zeugen der Zeit zu erfahren. Steinwehre mit reichem Fang Bedenkt man, dass der Fischfang lange vor dem Erscheinen des modernen Menschen existierte, dann dürften die ersten Steinmauern auf Jeju-do Steinwehre gewesen sein, auf Koreanisch „Wondam“ oder „Gaetdam“. Es handelt sich um niedrige, etwa ein Meter hohe Dämme, die an der Küste durch loses Aufeinanderschichten von Steinen errichtet wurden und als große Netze fungierten. Die Fischschwärme, die mit der steigenden Flut zur Küste kamen, blieben bei zurückweichendem Wasser in den Mauerlöchern gefangen. Charakteristisch für das Meer von Jeju-do ist das felsige Terrain zwischen Küste und Ozean. Diese topographische Besonderheit enstand durch die Lavaströme, die sich bei einem Vulkanausbruch ins Meer ergossen. An einigen Stellen flossen die Lavaströme bis zu zwei Kilometer ins Meer. Die Insulaner nennen diesen Streifen des Meeresbodens „Geolbadang“. Die Geolbadang sind ein

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Die Wondam-Steinwehre nutzen die natürliche Topographie und die Gezeiten für den Fischfang aus. Einst waren Hunderte dieser steinernen Netze entlang der Küste zu finden, heute sind nur noch wenige in ihrer ursprünglichen Form erhalten.

Grund dafür, warum die originäre Steinwehr-Fischmethode, die an den Riaküsten der koreanischen Halbinsel sonst selten zu finden ist, entstand. Steinwehre weisen je nach den topographischem Gegebenheiten der Küste unterschiedliche Formen auf. In einer Bucht, die sich wie ein Bogen ins Land hinein biegt, baut man Steinmauern, um die Landspitzen zu verbinden. An Küsten mit einem inselartig hoch in der Mitte aufragenden Felsen werden die Steinmauern an beiden Seiten errichtet. In Senken, in denen selbst bei Ebbe das Wasser steht, reicht der Bau einer niedrigen Steinmauer, um ein großartiges Fischernetz zu erhalten. In jedem Dorf sind etwa 10 bis 20 solcher Wehre zu sehen. Die Fische, auf die die Insulaner in jeder Fangsaison besonders warten, sind 10 bis 20 cm lange Anchovis, im Jeju-Dialekt „Mel“ genannt. Jedes Jahr im August, wenn Anchovischwärme in den Steinwehren herumschwimmen, kommen alle Dorfbe-


© i love jeju

wohner mit Keschern oder Schöpfkellen, um die Fische zu fangen. Da das Wehr Eigentum der Dorfgemeinschaft ist, die es gemeinsam baut und auch instandhält, wird der Fang gerecht aufgeteilt. Die Anchovis werden gewürzt und dann gekocht oder gebraten. Anchovis-Suppe (Mel-guk) gehört zu den Lieblingsgerichten der Bewohner von Jeju-do. Die hauptsächlich aus frisch gefangenen Anchovis, Chinakohlblättern und roten Peperoni zubereitete Suppe schmeckt leicht und pikant. Übrig gebliebene Anchovis werden getrocknet oder eingesalzen und finden als Gewürz oder Beilage Verwendung. Durch den Bau von Küstenstraßen wurden die Steinwehre im Laufe der Jahre beschädigt und da immer mehr Fischer den Fang gleich an Deck ihrer Kutter behandeln und trocknen, bleibt das Steinwehrfischen größtenteils den älteren Menschen überlassen. Der Anblick der sich schlängelnden schwarzen Steinwände, die bei Ebbe ihre Gestalt zwischen den weißen

Wellenkronen entblößen, lässt an die Zeiten denken, als das ganze Dorf einen reichen Fang feierte. Schutz vor Wind und Wetter Auf Jeju-do gibt es eine heilige, aus drei großen Erdlöchern bestehende Stätte namens „Samseonghyeol“. Laut Mythos sollen drei Halbgottheiten, die Gründerväter von drei Clans, diesen Löchern entstiegen sein und fünf Arten von Getreidesamen auf der Insel verbreitet haben. Wann genau das gewesen sein soll, ist unbekannt, aber es wird angenommen, dass gewisse Volksstämme, die im Besitz entwickelter Anbaumethoden waren, auf die Insel kamen und die Herrschaft über das Reich Tamna, das heutige Jeju-do, übernahmen. Das Königreich Tamna unterhielt tributpflichtige Beziehungen zum GoryeoReich (918-1392), unter dessen Kontrolle es stand. 1105 wurde das Tamna-Reich von Goryeo annektiert und offiziell als

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© TOPIC

„Landkreis Tamna“ dem Großreich einverleibt. Aufzeichnungen aus dieser Zeit berichten von Gim Gu (12111278), einem hohen Verwaltungsbeamten von Jeju-do, der die erste „Batdam“ (Feld-Einfriedung) auf der Insel errichten ließ. „Die Felder auf Jeju-do hatten ursprünglich keine Grenzmarkierungen, sodass die Starken und Mächtigen Stück für Stück in die Gebiete von anderen eindrangen und den Untertanen das Leben schwer machten. Nach seiner Amtseinsetzung ließ sich Gim Gu von der Not der Bürger berichten und Steinmauern als Grenzmarkierungen errichten, was den Menschen viele Erleichterungen bescherte.“ – Auszug aus Dongmungam (Sammlung koreanischer Schriften) Mit wachsender Bevölkerung dehnte sich die landwirtschaftliche Anbaufläche langsam von den niederen Ebenen zu den Mittelgebirgsgebieten aus. Aber der größte Teil des Landes war mit Felsen, Steinen und Vulkanaschenerde bedeckt, sodass trotz des reichlichen Regens das gesamte Wasser im Boden versickerte. „Ackerbau mit Brachperioden“ war die vorherrschende Methode der Landbestellung während der Goryeo-Zeit. Nach einem Jahr Bewirtschaftung wurden die Anbauflächen ein oder zwei Jahre ruhen gelassen, damit der Boden sich regenerie-

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ren konnte. Während dieser Zeit veränderten Graswuchs und Regenfälle das Gelände, sodass die Grenzen zum Nachbarfeld nicht mehr deutlich auszumachen waren. Dies führte zu Landstreitigkeiten und die lokal Einflussreichen nutzten die Situation aus, um die Schwächeren um ihren Besitz zu bringen, was Gim Gu zu der Anweisung veranlasste, die Feldgrenzen mit Steinmauern von einheitlicher Höhe zu markieren. Gim bekleidete sein Amt von 1234 bis 1239. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit dienen als Grundlage für eine ungefähre Bestimmung des Zeitraums, wann diese Art von Steinmauern, „Batdam“ genannt, auf der Insel vorherrschend waren. Nach dem Bau der Feldmauern Batdam wurde vieles anders: Die Grenzstreitigkeiten gingen zurück, ebenso die Ernteschäden, die Pferde und Kühe anrichteten. Die Batdam beförderten auch das Wachstum der Feldfrüchte, da sie Bodenerosion infolge von Starkregen verhinderten und Schutz vor heftigen Winden boten, was zur Erhaltung der Bodenfeuchtigkeit beitrug. Da die Bewirtschaftung der Felder jetzt weniger Arbeitseinsatz erforderte und höhere Ernteerträge brachte, machte man sich daran, auch das einst felsige und karge Hochland in Ackerland zu verwandeln, das den Lebensunterhalt der Familien sicherte.


1. Die mit auf den Ebenen gesammelten Basaltsteinen gebauten Batdam-Einfriedungen boten Schutz vor starkem Wind und verhinderten Bodenerosion. Die Gesamtlänge der Steinmauern, die sich über die Insel ziehen, wird auf 22.108 km geschätzt. 2014 wurden sie von der Welternährungsorganisation ins Weltagrarkulturerbe aufgenommen. 2. Auf von niedrigen Mauern umgebenen Feldern werden kleinwüchsige Pflanzen wie Kartoffeln und Möhren gezüchtet, während auf den von hohen Mauern umgebenen Nutzflächen Getreide wie Hirse und Gerste wachsen. Die scheinbar plan- und systemlos errichteten Mauern sind in Wahrheit das Werk von geschickten Steinmetzen

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Verglichen zu anderen Regionen Koreas, kommt wirtschaftlich gesehen auf Jeju-do der Landwirtschaft der größte Anteil zu, und hier wiederum der Feldwirtschaft. Die Insel ist berühmt für ihre süßen Gamgyul (Mandarinen), aber auch für Wintergemüse wie Rettich, Karotten, Brokkoli und Weißkohl. Karotten und Brokkoli aus Jeju-do stellen 70 % der Gesamtproduktion des Landes, Rettich, Weißkohl und Herbstkartoffeln rund 40 %. Die Batdam-Steinmauern von Jeju-do, die die widrigen Umweltbedingungen überwinden halfen und eine wichtige Rolle in der landwirtschaftlichen Entwicklung der Insel spielten, wurden 2014 von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zum „Weltweit wichtigen landwirtschaftlichen Erbe“ designiert. Aus diesem Anlass wird jedes Jahr ein „Batdam Festival“ auf der Insel veranstaltet. Laut einer Studie haben die in den letzten tausend Jahren auf verschiedene Weise gebauten Batdam eine Gesamtlänge von 22.108 km. Die Batdam, die die Insel spinnennetzartig von der Küste bis zu den Hügeln überziehen, werden nicht nur wegen ihres landwirtschaftlichen Werts und ihrer Schönheit anerkannt, sondern auch als wichtiges Kulturerbe der Insel.

Batdam-Feldmauern: umfunktioniert für Verteidigungszwecke Die Bewohner von Jeju-do, die ihre Tage mit dem Ernten von Meeresfrüchten oder Kabbeleien mit den Nachbarn über Ackerlandgrenzen verbrachten, sahen sich im späten 13. Jh. mit turbulenten Regionalkonflikten konfrontiert, nachdem Kublai Kahn, Herrscher des Mongolenreichs und Enkel von Dschingis Khan, Song-China erobert und die Yuan-Dynastie gegründet hatte. Das Goryeo-Reich, das aufgrund der Mongolenangriffe gezwungenermaßen die Insel Ganghwa-do zur provisorischen Hauptstadt erklärt hatte und als Kriegsstützpunkt nutzte, beschloss – erschöpft vom langen Krieg – sich den Mongolen zu ergeben und in die Hauptstadt Gaegyeong (heute Gaeseong in Nordkorea) zurückzukehren. Aber die Sambyeolcho, Goryeos drei Elite-Kampfeinheiten, widersetzten sich der pro-mongolischen Regierungspolitik und mobilisierten die Widerstandsgruppen auf der vor der Südwestküste gelegenen Insel Jin-do. Im September 1270 schickte die Regierung Militäreinheiten nach Jeju-do, wohin sich die Sambyeolcho der allgemeinen Einschätzung nach zurückziehen würden, und befahl den Bau von Steinmauern an der Küste, um ihre Landung zu verhindern. Die erste militärische Küstenbefestigung wurde errichtet, indem man die seit alter Zeit bestehenden, als Wellenbrecher und Ankerstellen fungierenden Steinmauern miteinander verband und verstärkte. Die Steine an der Küste sind rund und verwittert von den Wellen, weshalb sie schlecht wie bei den Feldmauern Batdam einfach aufeinandergestapelt werden konnten. Und um der Verteidigung dienen zu können, mussten sie in mehrlagiger Breite hochgezogen werden. Diese harte Arbeit wurde natürlich den Einheimischen aufgebürdet. Die ehrgeizigen Pläne der Goryeo-Regierung wurden jedoch vereitelt, als sie dem Gegenangriff der Sambyeolcho, die drei Monate später auf Jeju-do landeten, nicht standhalten konnten. Die Insulaner, die Zwangsarbeit und jahrelange Ausbeutung durch die Regierung übelnahmen, stellten sich auf die Seite der Sambyeolcho. Sie wandelten die Batdam-Feldmauern zu Ver-

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Die „Batdam“, die die Insel spinnennetzartig von der Küste bis zu den Hügeln überziehen, werden nicht nur wegen ihres landwirtschaftlichen Werts und ihrer landschaftsgestalterischen Schönheit anerkannt, sondern auch als wichiges Kulturerbe der Insel. teidigungsstellungen um, doch sie vermochten den Mongolenattacken letztendlich nicht zu widerstehen. Nach einer schweren Niederlage auf der Insel Jin-do im darauffolgenden Jahr formierten sich die Sambyeolcho-Truppen auf Jeju-do zu neuen Widerstandsaktionen, wurden aber von der Offensive der vereinten Goryeo-Mongolen-Streitkräfte im Februar 1273 geschlagen. Für weitere Hunderte von Jahren von der späten Goryeo-Zeit, als das Yuan-Reich zu verfallen begann, bis zum Ende der Joseon-Zeit verteidigten die Steinmauern die Insel Jeju-do gegen Angriffe von japanischen Piraten, die Wasser- und Nahrungsvorräte plünderten. Während der Joseon-Zeit wurden wegen den Piraterie Japans meist Militäroffiziere zu Gouverneuren von Jejudo ernannt. Im 19. Jh. legten auch westliche Schiffe an Jeju-dos Küsten an, deren Absichten – zwei Seiten hatten: Kulturaustausch und Ausbeutung. Die Hwanhae-jangseong, die „Große Umfassungsmauer“, kann beim Wandern entlang der Ollegil-Wanderwege von Jeju-do besichtigt werden. Leider ist nur noch ein Bruchteil der Mauer intakt, sodass ihre einstige Imposanz nur noch schwer vorstellbar ist. Doch der Blick auf die Steinmauern aus dem historischen Signalfeuerturm Byeoldo-yeondae

in Hwabuk auf Route 18 des Olle-gil erinnert an die verzweifelte Lage der Bewohner von Jeju-do, die nirgendwohin fliehen konnten. Einfriedungen zum Grasen Die Beziehungen zwischen Jeju-do und den Mongolen waren zwar unweigerlich von Konflikt und Konfrontation geprägt, aber der Menschen- und Güteraustausch brachte in den rund einhundert Jahren viele Veränderungen für die Gesellschaft von Jeju-do. Ein Beispiel ist die Viehzucht. Die Beweidung durch Rinder und Pferde war so alt wie die Landwirtschaft selbst, aber die erste Pferdefarm entstand erst 1276, als das YuanReich die Sambyeolcho besiegte und Jeju-do seiner direkten Kontrolle unterstellte. Zusammen mit 160 Pferden schickten die Mongolen auch Viehzüchter nach Jeju-do und errichteten in Seongsan die Tamna-Pferderanch. Das war der Beginn der Pferdezucht auf Jeju-do. Die Auseinandersetzungen zwischen umherziehenden Nomaden und Siedlern, die Kontrolle über das Land gewinnen wollten, verstärkten sich jedoch, als die Insel nach dem Zusammenbruch des Yuan-Reiches dem Joseon-Reich eingegliedert 1. Diese Festung wurde 1271 von den Sambyeolcho, den Elite-Kampfeinheiten des Goryeo-Reichs, in Aewol-eup als letzte Bastion des Widerstands gegen die Mongolen errichtet. Die „Hangpadu-seong“ genannte Festungsanlage besitzt eine doppelte Mauer: Die äußere, 6 km lange Mauer besteht aus Erde auf einem flachen Steinsockel; im mittleren Teil des inneren, 800 m langen Festungswalls wurden Steine aufeinander gestapelt. Ein Teil der Verteidigungsanlage ist noch erhalten. 2. Die Küste wurde zur Abwehr von Invasionen zu Wasser mit Steinwällen geschützt. Überreste der einstigen Hwanhae-jangseong (Große Umfassungsmauer) sind noch in 19 Küstenorten zu sehen. Der Mauerabschnitt in Hwabuk-dong an der Nordostküste ist noch weitgehend erhalten. Die Überreste der 2,5 m hohen Mauer erstrecken sich über 620 m. 1

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wurde. 1429 erreichten die Ernteschäden durch grasende Pferde und die Dispute über den Mangel an Weideflächen ein solches Ausmaß, dass Go Deuk-jong (1388-1452), ein lokaler Regierungsbeamter, König Sejong Maßnahmen für die Stallhaltung von Pferden vorschlug: Die auf Mittelgebirgshöhe gelegenen Flächen des Berges Halla-san sollten in zehn Zonen eingeteilt werden, in denen jeweils staatliche Pferdeweiden eingerichtet werden sollten. Kernpunkt des Plans war der Bau von Steinmauern, um zu verhindern, dass die auf den hügeligen Gebieten grasenden Pferde in die landwirtschaftlichen Nutzflächen in der Küstenregion eindrangen. So wurden etwa 1,2 bis 1,5 m hohe Steinmauern – „Jat“ oder „Jat-seong“ genannt – rund um die Insel errichtet. Auf den Höfen weideten Pferde aus Staats- und Privatbesitz. Die Pferdezucht blühte auf der Insel. Die hier gezüchteten Pferde wurden hauptsächlich im Militär eingesetzt oder der königlichen Familie geschenkt. Ein Pferdezüchter namens Gim Man-il (1550-1632) züchtete auf seiner privaten Ranch im gebirgigen östlichen Teil von Jeju-do Tausende von Pferden. Während der japanischen Invasion (1592-1598) spendete er dem Land 500 Pferde und auch in den nachfolgenden Kriegen setzte er seine Hilfe fort, sodass König Seonjo ihm dem Ehrentitel „Verdienstvoller Untertan, der Pferde spendete“ verlieh. Die Steinmauern Jat (Pferdezucht-Zäune) wurden ständig erweitert und instand gesetzt. Die Mauern in den Hochgebirgslagen, die verhinderten, dass sich die Pferde in den tiefen

Wäldern verirrten oder erfroren, wurden „Sang-Jat“ (Obere Pferdefarm-Zäune) genannt, die in den mittleren Regionen, wo man jedes zweite Jahr zwischen Landwirtschaft und Pferdeweidewirtschaft wechseln konnte, hießen „Jung-Jat“ (Pferdefarm-Zäune auf mittlerer Ebene). Die staatlichen Weiden wurden während der japanischen Besatzungszeit (1910-1945) in kommunale Viehfarmen umgewandelt. Ein altes Erbe der Viehzuchtkultur auf Jeju-do ist die Verwendung von Kuhdung und Pferdedung als Brennmaterial. Große Teile der steinernen Pferdehof-Einfriedungen, die sich rund um den Berg Halla-san gezogen hatten, fielen Entwicklung und Vernachlässigung zum Opfer, sodass heutzutage nur noch rund 60 km erhalten sind. Betrachtet man die Batdam-Feldmauern von Jeju-do genauer, so haben sie sich im Laufe der Zeit verändert, will sagen, Form und Zweck haben sich mit den Veränderungen von Lebensstil und Umwelt gewandelt. So hat man zum Schutz der Mandarinenbäume Steinmauern hochgezogen und Steinmauern dienen als Barrieren auf beiden Seiten der sich ständig ausdehnenden Straßen. Um die Mauern stabiler zu machen, wurden sie mit Drahtgeflecht ummantelt, Lücken zwischen den Steinen wurden mit Zement gefüllt. Aber einige Dinge bleiben unverändert: Die Mauern wirken nach wie vor mürrisch, weil sie komplexe Gefühle hegen, hin- und hergerissen sind zwischen dem Wunsch, alte Werte zu bewahren, und der Notwendigkeit, Veränderungen zu akzeptieren. Diese Duplizität der Wünsche ist auch ein altes Erbe der Insel Jeju-do.

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Jeju-do, eine Insel der Steine: Legenden und Geschichten

Jeju Stone Park: Erbe eines Pioniers In Jocheon-eup auf der Insel Jeju-do befindet sich auf einer weitläufigen Fläche von ca. 3,3 Mio. m2 der Jeju Stone Park. Dass es dort einen Stein-Themenpark gibt, ist für viele geradezu selbstverständlich, da die Steine die Grundsubstanz der Vulkaninsel ausmachen. Doch ohne Weitsicht und hartnäckige Bemühungen einer bestimmten Person würde dieser traumhafte Park voller Volkserzählungen und heimischer Steine nicht existieren. Heo Young-sun Dichterin Fotos Ahn Hong-beom

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Im Jeju Stone Park finden sich Steinobjekte, die von Geschichte, Folklore und Mythen der Insel erzählen. Für den Bau des Parks hat die Regierung der Insel Jeju-do das Grundstück und finanzielle Unterstützung beigesteuert, Baek Un-cheol schenkte seine Sammlung von Steinmonumenten und Volkskunde-Objekten und unterstützte das Projekt durch seine geistreichen Ideen und Dienste als Leiter des Planungsausschusses. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13


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aek Un-cheol, der Ende der 1960er Jahre sein Theaterregie-Studium am Seoul Institute of the Arts unterbrach und seinen Wehrdienst bei einem Ingenieurkorps in den tiefen Bergen der Provinz Gangwon-do ableistete, stieß wie auf einen Fingerzeig des Schicksals hin auf den wunderbaren Anblick Jahrhunderte alter Bäume. Beim Ausgraben toter Bäume ging er, um ja nur kein Wurzelhaar zu beschädigen, so behutsam zu Werke, dass eine Eintagesarbeit über eine Woche beanspruchte. Doch die Realität, mit der dieser umweltfreundliche Mann nach seiner Entlassung aus dem Militär konfrontiert wurde, war beklagenswert: Im Rahmen der Saemaeul-Bewegung (Bewegung Neues Dorf), einer regierungsinitiierten Kampagne zur Modernisierung der ländlichen Gebiete, veränderte sich die Landkarte Koreas radikal, was mit massiven Umweltschäden einherhing. Holz- und Steingarten „Die unter rein wirtschaftlichen Zielsetzungen vorangetriebene Modernisierungsbewegung, die die Natur maßlos zerstörte, ließ eine wilde Wut in mir aufsteigen. Ich beschloss, das in meiner bescheidenen Macht Stehende zu tun, um sie zu schützen.“ Getrieben von diesem Entschluss eröffnete Baek zu einer Zeit, als Straßen über Nacht verschwanden oder entstanden, den Tamla Wood Park (Tamla/Tamna: alter Name Jeju-dos) im Zentrum der Insel, wo er seine Sammlung von Holzskulpturen, für die er sich die Hacken abgelaufen hatte, präsentierte. Die Anlage wurde später um einen Steinskulpturpark (Tamla Wood Stone Park) erweitert. Baek, der sich der Bedeutung der Natur schon früh bewusst war, schuf einen Garten aus Steinen und Bäumen, wobei er, seiner Kreativität freien Lauf lassend, auch Storytelling ins Design einbaute: So setzte er z.B. mittels Steinskulpturen und Holzobjekten die alte Liebesgeschichte von Gap-dol und Gap-sun, deren Inhalt auch durch das Volkslied Gap-dol und Gap-sun und den gleichnamigen Film bekannt ist, szenisch um. Zu der Zeit, als Jeju-do noch DAS Hochzeitsreiseziel war, war der Park eine Pflicht-Sehenswürdigkeit, insbesondere für Flitterwöchler. Die Gartenanlage mit diesem außergewöhnlichen Konzept wurde in Monumental Annuel 2001: Jardins historiques, herausgegeben von der Abteilung für Architektur und Denkmalschutz des französischen Kulturministeriums, als einer der zwölf sehenswertesten Gärten vorgestellt. Doch Baek beschloss, das erfolgreiche Projekt aufzugeben und sich einem neuen zu widmen. Dieser Plan nahm 1988 Gestalt an, als Baek, der auch als Fotograf aktiv war, zur Eröffnung

© Jeju Stone Park

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seiner Fotoausstellung nach Paris reiste. Dort wurde er sich bewusst, wie hoch seine Heimatinsel Jeju-do in der Kunst- und Kulturmetropole Paris geschätzt wurde. Er kehrte mit einem Gefühl der Scham über seine eigene Unwissenheit nach Hause zurück. Unmittelbar danach machte er den Führerschein und legte in den folgenden zehn Jahren ca. 1,2 Mio. km auf der Suche nach Volkskunstobjekten und natürlichen Steinmonumenten zurück. Eines Tages, als er wie gewohnt die Küstenstraße entlangfuhr, hatte er eine Art Offenbarung, die ihm die Tränen in die Augen trieb: „Berührt von der spirituellen Atmosphäre der Landschaft von Jeju-do mit ihren Steinen verschiedenster Formen und Farben, die die Lava auf ihrem Weg zum Meer hinterlassen hatte, entdeckte ich die Schönheit dieser Insel, auf der ich geboren wurde und aufgewachsen war, mit neuen Augen.“ Steine, die Mythen erzählen Dieser Moment der Erleuchtung ließ Baek den Wood Stone Park, der ihm so viel bedeutet hatte, aufgeben und das Konzept für einen „Steinkultur-Park für die nächsten hundert Jahre“ entwerfen. Als Baek das Gelände, auf dem der heutige Jeju Stone Park steht, besichtigte, wurde ihm noch wärmer ums Herz und er beschloss, „diesen von der Zerstörung bedrohten Ort zu schützen“ und dort Seolmundae Halmang zurück ins Leben zu rufen. Seolmundae Halmang (Großmutter Seolmundae) ist die Riesengöttin aus dem Gründungsmythos von Jeju-do. Diesem Mythos zufolge gebar sie 500 Söhne, bekannt als „Obaek Janggun“ (Fünfhundert Generäle), für die sie während einer schweren Dürre Brei kochte, beim Umrühren aber in den Riesenkessel fiel und starb. Baek sah in der Seolmundae Halmang das Urbild der Frauen von Jeju-do, deren Leben bis heute von harter Arbeit bestimmt ist, und einer großen Mutterliebe, die im weiteren Sinne als Menschenliebe verstanden werden kann. Er wählte diese beiden Elemente als Kernthemen für den Jeju Stone Park. Baek schenkte seine ganze Sammlung von Volkskunstobjekten bis hin zum letzten Stein der Insel, wofür die Kommunalverwaltung ihm eine ca. 3,3 Mio. m2 große Fläche zur Verfügung stellte und zusicherte, in Zukunft alle für den Steinkulturpark anfallenden Kosten zu übernehmen. 1999 schloss er mit der Provinzregierung einen Vertrag ab, in dem er sich bereit erklärte, für die kommenden 20 Jahre als Projektleiter Ausstellungen und Präsentationen zu managen. Der 2006 eröffnete Jeju Stone Park ist immer noch nicht fertiggstellt. Der Raum unter der Erde, wo sich einst eine Mülldeponie befunden hatte, wurde in ein Museum verwandelt, über der Erde liegen die Galerie der Fünfhundert Generäle, in der auch Vorführungen stattfinden, ein nachgebildetes Dorf aus traditionellen strohgedeck-

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1. Diese steinerne Wächterfigur an Route 1 des Jeju Stone Park wurde laut Schätzungen vor rund 300 Jahren gefertigt. Der „Dol-hareubang“ (Stein-Großvater) weist alle für diese Art von Statuen typischen Merkmale auf: riesige, hervorquellende Augen und geschürzte Lippen, einen Beamtenhut und auf den Bauch gepresste Hände. 2. Baek Un-cheol entdeckte die Schönheit und die Seele von Jeju-do, wo er geboren wurde und aufgewachsen ist, durch Steine in allen Formen und Farben neu. Derzeit steckt er seine ganze Energie in den Bau einer Ausstellungshalle für Seolmundae Halmang, die Riesengöttin aus dem Schöpfungsmythos der Insel. Die Fertigstellung ist für 2020 geplant.

ten Häusern und ein Erholungswald. Die Ausstellungshalle für Seolmundae Halmang befindet sich aber noch im Bau, und die Eröffnung ist für 2020 geplant. Baek, der allein in einer 17 m2 großen Unterkunft innerhalb der Parkanlage lebt, lässt mit Blick auf die Gestaltung der Halle weiterhin seine Vorstellungskraft und Intuition walten: „Denkt eine Spinne beim Spinnen etwa nach? Die Fäden kommen einfach so heraus. Bei mir ist es quasi genauso“, sagt Baek, der jetzt die Endspurt-Phase zur Verwirklichung seiner Jahrzehnte alten Träume erreicht hat. „Ich möchte in der Ausstellungshalle den Strom der Geschichte einfangen, um sie

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„Wir leben auf dem Stein, wir sterben auf dem Stein. Genau genommen sind die Sterne am Himmel auch Steine und damit ist das Universum an sich eine Ansammlung von Steinen.“ an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Volkskultur, Mythen und Geschichte sind im Grunde nichts anderes als drei Dinge in einem bzw. ein Ding aus dreien, jeweils in unterschiedlicher Form, aber mit demselben Ursprung. Im Falle von Jeju-do ist das der Stein. Wir leben auf dem Stein, wir sterben auf dem Stein. Genau genommen sind die Sterne am Himmel auch Steine und damit ist das Universum an sich eine Ansammlung von Steinen.“ Der koreanische Name des Parks enthält nach Baeks Erklärungen den Begriff „Steinkultur“, um zu betonen, dass „die ganze Kultur der Einwohner von Jeju-do auf Steinen aufgeblüht ist“. Baek erläutert seine Ideen flüssig weiter: „Den Rest meines Lebens möchte ich damit verbringen, mit Steinen als grundlegendem Medium zum Frieden beizutragen, in Form von Meditieren und Heilen. Steine an sich sind spirituelle Wesen. Die Menschen von heute streben zu sehr nach materiellen Dingen, da ist es wichtig zu wissen, dass auch noch andere Welten existieren.“ Der weltweit berühmte mexikanische Architekt Ricardo Legorreta (1931-2011) sagte einmal über den Jeju Stone Park: „Es muss eine enorme Herausforderung gewesen sein, das Museum mit all den Steinen zu füllen. Doch die topographischen Besonderheiten der Mittelgebirgsregion wurden gut erkannt und genutzt, um eine Harmonie mit der natürlichen Umgebung herzustellen. Vor allem der Mythos von Seolmundae Halmang ist äußerst interessant.“ Der französische Fotograf Léonard de Selva beschrieb seinen

Die Nachbildung eines Dorfes mit 50 traditionellen strohgedeckten Häusern entlang Route 3 gibt Einblick in die tradionelle Lebensweise der Insulaner von einst. Für das Volkskundedorf wurden die Einzelteile von rund 200 alten Häusern verwendet. © Jeju Stone Park

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Eindruck vom Park wie folgt: „Die Steine von Jeju-do strahlen eine gewisse Energie aus. Ich denke, dass der Jeju Stone Park an sich zu einem Mythos auf dieser Insel der Steine werden kann, ähnlich wie die berühmten gigantischen Moai-Steinstatuen der Osterinseln, deren Herkunft und Entstehung ungeklärt ist.“ Ein Leben, dem Stone Park gewidmet Projektleiter Baek Un-cheol sagt, dass er mit einem scharfen Blick gesegnet sei. Er sei geboren „mit Augen, die Juwelen im Abfall und menschliche Ausdrücke auf den Gesichtern von Steinen zu entdecken vermögen, die andere nicht sehen.“ So wie Jeju-do von der Göttin Seolmundae Halmang geschaffen wurde, so verdankt auch Baek seinen Erfolg der Kraft von Frauen. Seine Mutter, eine willensstarke Frau, baute für den Sohn in ihrem Obstgarten einen 100 m2 großen Lagerraum, um ihm bei der Verwirklichung seiner Träume zu unterstützen. Einige mögen einen erwachsenen Mann ohne besondere berufliche Qualifikation, der Berge und Felder nach irgendwelchen Steinen absuchte, nicht für ganz voll gehalten haben, aber seine © Lee Jae-hong

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Mutter war ihm stets eine treue Partnerin und Fördererin, die ihm seinen ersten Ausstellungsraum schuf. Unter ihren sieben Kindern stand Baek ihr besonders nahe, weshalb sie immer vor Freude klatschte, wenn er mit einem besonderen Stein nach Hause kam. Und natürlich ist da noch seine Frau, die ihm bei all seinen schwierigen Unternehmungen stets klaglos zur Seite stand. „Jeju-do ist eine aus Stein geschaffene Insel. Steine bilden die Grundlage der Gotjawal, der immergrünen, Jeju-typischen Urwälder an den Hängen des Halla-san. Die Steineinfriedungen um die Häuser und Nutzflächen der Insel dürften aneinandergereiht länger als die Chinesische Mauer sein“, erklärt Steinkenner Baek. „Die Steine haben eine spirituelle Atmosphäre geschaffen. Die 48 Dol-hareubang, die überall auf der Insel verstreuten basaltsteinernen Großvater-Statuen, sind unser wertvollster Schatz. Solche Statuen aus vulkanischem Basalt finden sich sonst nirgends auf der Welt. Die riesigen Glubschaugen dieser gestrengen Wächterstatuen, die vor japanischen Invasoren schützen sollten, sind besonders nachts furchterregend. In jedem der steinernen Wächter, die alle von namenlosen Steinmetzen


gehauen wurden, wohnt eine eigene Seele.“ In den Dongjaseok (Grabwächterstatuen in Gestalt von Kindern) sehe er zudem „etwas über die Menschenwelt Hinausgehendes“, erzählt Baek weiter. „Dol-hareubang und Dongjaseok sind die Symbole von Jeju-do, die jeweils für das Ästhetische bzw. für das Spirituelle stehen. Wenn ich eine Statue sah, die ich unbedingt für meine Sammlung haben wollte, war mir kein Preis zu hoch.“ Baeks Sammlung, die rund 500 LKW-Ladungen umfasste, wurde nach und nach vom Wood Park zum Jeju Stone Park transportiert. Zudem baute Baek ein Dorf der Mittelgebirgsregion auf Halla-san nach, für dessen 50 Strohdachhäuser er Einzelteile von 200 alten Häusern, die er gesammelt hatte, verwendete. Das Dorf diente als Kulisse für den Film Jiseul (Kartoffel), der den Jeju-Aufstand vom 3. April 1948 thematisierte, einer schmerzhaften Tragödie in der Geschichte des Landes, die auf Teilung und ideologische Konflikte zurückzuführen ist. Zum Dorf erklärt Baek: „Über die einfache Nachbildung eines alten Dorfes hinaus wollte ich einen Ort des Kulturerlebens schaffen, der die Lebensweisheit der Vorfahren bewahrt und

den kommenden Generationen vermittelt. Die traditionelle Kultur sollte zumindest hier noch lange Zeit bewahrt bleiben, auch wenn sie woanders am Verschwinden ist.“ Vor Baeks geistigem Auge scheinen die zahlreichen Steine mit geschlossenen Augen am Meditieren zu sein. Ob man dem nun zustimmt oder nicht: Ein Besuch des Jeju Stone Park lohnt sich allemal, wenn man sich nach „etwas Altem“ sehnt. Vielleicht kann man dort über die Grenzen der Zeit hinaus eins mit der Natur werden. Und höchstwahrscheinlich wird man einem Mann begegnen, der mit einem abgetragenen Hut auf dem Kopf einem silberhaarigen taoistischen Einsiedler gleich den Lehmpfad entlang läuft, was an die Landschaft auf alten Schwarzweiß-Fotos erinnert. 1. Hier einer der seltsam geformten Natursteine aus erstarrter Lava, der in einer Galerie des Jeju Stone Museum auf dem Gelände des Jeju Stone Park zu sehen ist. 2. Steinobjekte aus dem Alltagsleben der Insulaner, darunter Mahlsteine und Torpfosten, sind auf dem Freilicht-Ausstellungsgelände zu sehen. Baek Un-cheol hat diese Stücke im Laufe der letzten Jahrzehnte zusammengetragen.

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© Kim Tschang-yeul Art Museum Jeju

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Steinhäuser

ein weiteres Gesicht Jeju-dos

Könnte man Jeju-do als einen riesigen Vulkanmonolithen betrachten?

genehmen Textur ist nicht für den Rohbau geeignet. Der aus fließender

Diese unfruchtbare Erde am Südzipfel eines Landes, in dem Reis das

Lava entstandene Stein ist so porös, dass er die Bauwerklast nicht tragen

Hauptnahrungsmittel ist, eignet sich nicht für den Reisanbau. Egal wo

kann. Entsprechend wurde er sowohl bei traditionellen als auch bei mo-

man auch nur ein bisschen gräbt, stößt man auf Steine. Früher haben die

dernen Häusern meist als Dekoration bei Wänden, Einfriedungen oder

Inselbewohner die überall verstreut liegenden schwarzen Steine gesam-

Höfen eingesetzt, ein attraktives Element, das die Landschaft der Insel

melt, um daraus Häuser oder Einfriedungen zu errichten. Doch heute gibt

widerspiegelt.

es mehrere Fabriken, die den Vulkanstein abbauen, bearbeiten und die Bauindustrie mit diesem im Zuge des jüngsten Baubooms stark nachge-

Kunstmuseum verkörpert die Ästhetik des Steins

fragten Stein versorgen.

Aus der Vogelperspektive sieht das Kim Tschang-yeul Museum of Art

Das Baufieber, das auf Jeju-do seit rund zehn Jahren herrscht, wurde u.a.

wie eine Ansammlung von Steinwürfeln aus. Das 2016 eröffnete, im Jeoji

dadurch ausgelöst, dass die Insel nicht nur als Urlaubsort an Beliebtheit

Künstlerdorf in Hangyeong-myeon liegende Museum mit seinem rußig

gewann, sondern auch immer mehr zum „Traum-Wohnort“ für stadtmü-

wirkenden Äußeren scheint auf den ersten Blick aus schwarzem Vulkan-

de gewordene Bewohner des Festlandes avancierte. Die neuen Gebäude,

stein gebaut zu sein, aber bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, dass

die überall auf der Insel entstehen, seien es nun öffentliche Einrichtun-

es sich bei der Fassade um grob mit schwarzer Farbe gestrichenen Sicht-

gen, Privathäuser oder eins der zahlreichen Gästehäuser, weisen zwar

beton handelt. Die meisten Besucher dürften sich fragen, warum man

alle recht individuelle Baustile auf, haben aber eines gemeinsam: Sie sind

nicht gleich Vulkanstein verwendet hat, statt ihn zu imitieren.

allesamt aus dem inseltypischen Vulkanstein gebaut.

Diese Frage wurde oben schon beantwortet: Vulkanstein ist per se nicht

Doch der beliebte „Jeju-Stein“ mit seinem warmen Farbton und der an-

dazu geeignet, die Last eines solch massiven Gebäudes zu tragen. Auch

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für Wandverkleidungen eignet er sich nicht. Aber der Architekt wollte dem Museum wohl „die typische Note des Jeju-Steins“ verleihen, der ja die Essenz der lokalen Architektur ausmacht. Dafür lassen sich an vielen Orten des Museums Belege finden: die dekorative, Festungswall-hohe Mauer auf der linken Seite des Zugangsweges, die aus unbearbeiteten Basaltsteinen errichtet wurde; die niedrigen Gabionenmauern aus schwarzen Steinen, die die einzelnen Museumsgebäude einfrieden; die Dächer, die völlig mit zerschlagenen Vulkansteinen

Die Kombination von imaginärer Präsenz tief in der Erde vergrabener wuchtiger Steine und profaner, mit den allgegenwärtigen schwarzen Steinen übersäter oberirdischer Landschaft wurde mit zeitgenössischen ästhetischen Mitteln nachgebildet, um eine Vorstellung vom „Urtraum der Insel“ zu vermitteln.

Häuser mit der Wärme des Steins Die Besonderheit von VT HAGA Escape, der kürzlich fertiggestellten exklusiven Ferienhaus-Anlage in Aewol-eup, ist die ansprechende Anordnung von Mauern und Wänden aus Vulkanstein, die sich in angemessener Häufigkeit innerhalb des Resorts finden. Die Wohnzimmer bieten eine heimelige Aussicht auf die Steinmauern, die den Vorhof umgeben. Der

© Jang Jin-woo

bedeckt sind. Selbst die schwarze Marmorskulptur in der Mitte des künstlichen Teiches erscheint auf den ersten Blick aus Vulkanstein zu bestehen.

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1, 2. Um die Illusion einer Vulkaninsel zu schaffen, hat ArchiPlan, das Architekturbüro, das für den Entwurf des Kim Tschang-yeul Kunstmuseum verantwortlich zeichnet, Sichtbeton-Verschalung mit schwarzer Farbe überzogen, was an Basaltstein erinnert. 3. Für das Gästehaus Neuljak wurde ein über 100 Jahre altes Haus im typischen Jejudo-Baustil renoviert und umgestaltet. Das Gästehaus wurde von einem Ehepaar eröffnet, das 2011 auf die Insel zog. Das ursprüngliche Strohdach wurde in den 1970ern durch ein Schindeldach ersetzt, aber die alten Steinmauern stehen noch. 4. Kim Dae-il, Direktor des Architektenbüros fig.architects, das VT Haga Escape in Kooperation mit Eggplant Factory entworfen hat, erklärte, man habe überall in den Villen Basaltgestein verwendet, damit sich die Reisenden auch in den Innenräumen der Atmosphäre eines typischen Inseldorfes erfreuen können.

friedliche Anblick gepflegter Steinmauern unter einem klaren, blauem Himmel sorgt für Momente der Ruhe und Erholung.

Während VT HAGA Escape ein Beispiel für die moderne Anwendung der

Wer würde hier bleiben wollen, wenn die einzelnen Gebäude mit ihren

traditionellen Steinmauern von Jeju-do ist, verkörpert das Gästehaus Stone

Betonrahmen auch noch von Beton-Einfriedungen umgeben wären?

Home of Ham PD (kürzlich von dem neuen Besitzer in „Neuljak“ (langsam

Bauherr und Architekt müssen übereingekommen sein, durch die alten,

und entspannt) umbenannt), das 2011 in Gujwa-eup eröffnet wurde, die

rau-buckligen Steine eine heimelige Atmosphäre zu schaffen, die die Gäs-

Zeit bzw. Zeitlosigkeit der Steine, die über ein Jahrhundert lang in den Mau-

te sich willkommen fühlen lässt.

ern des traditionellen Hauses verbrachten. Das Gästehaus – ein bequemer Ort für Rucksackreisende – besteht aus drei alten Gebäuden, deren Grund4

gerüst, Wände, Steinmauern und Vorhof in ihrem ursprünglichen Zustand belassen und deren Innenräume renoviert wurden. Die bescheidene Herberge, deren Gäste einander grüßen und manchmal abends zu kleinen Partys zusammenkommen, erinnert an das Elternhaus, wo sich die ganze Familie an den hohen Feiertagen versammelte. Die ursprünglichen Besitzer von Stone Home of Ham PD, ein Ehepaar, das nach Jeju-do „auswanderte“, um in einem Dorf die „Wärme der Heimat“ zu erfahren, haben das kleine Anwesen bewusst unverändert gelassen, was bei den Gästen gut anzukommen scheint. Die Menschen, die auf Jeju-do ein neues Zuhause gefunden haben, sei es nun in einem neu gebauten oder einem renovierten Haus, werden ihre erste Begegnung mit den niedrigen Mauern aus dunklem Stein, die sich über die ganze Insel schlängeln, und den glitzernden, schwarzen Steinen, die die gesamte Küste bedecken, nie vergessen. Die herzerwärmende Schönheit des einheimischen Steins wurde in vielfältiger Form in Wohnzimmern, Schlafzimmern und in den Vorhöfen wiederbelebt.

© Lee Seung-hui

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SPEZIAL 3

Jeju-do, eine Insel der Steine: Legenden und Geschichten

Wächter an der Grenze zum Jenseits

Der Parasitenkegel Dang Oreum in Gujwa-eup ist gesprenkelt mit eingefriedeten Grabstätten, die charakteristisch für die Landschaft von Jeju-do sind. Die „Sandam“ genannten Mauern schützen die Gräber vor Feuer und Zerstörung durch weidende Tiere.

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Gräber, eingefasst von niedrigen Steinmauern und beschützt von unschuldig dreinblickenden steinernen Kinderstatuen (Dongjaseok) sind Symbole, die von natürlichen Gegebenheiten und Volksglauben der Vulkaninsel Jeju-do geschaffen wurden. Diese schlichten und unprätentiösen Artefakte geben Einblick in die Geschichte der in Harmonie mit der Natur lebenden Inselbewohner und ihre Philosophie über Leben und Tod. Kim Yu-jeong Leiter des Jeju Kulturinstituts

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er Mensch passt sich seiner natürlichen Umwelt an und macht Gebrauch von dem, was sie zu bieten hat. Um den vom Meer her wehenden Wind, der eine natürliche Gegebenheit auf Jeju-do ist, abzuhalten, bauten die Insulaner mit den von Klippen oder Brandungsplattformen abgebrochenen Steinen, einem weiteren natürlichen Merkmal der Insel, schützende Steinmauern entlang der Küste, um die Felder und um Grabstätten. Auch die Dongjaseok (Kinderstatuen), die über das Grab wachen sollten, waren aus Stein. Die Steinmauern, ein Symbol der Insel, sind Akkumulation der Arbeit mehrerer Generationen. Die Väter zerlegten Felsblöcke in verarbeitbare Formen und Größen, die Söhne bauten daraus Mauern und die Mütter stopften mit den Kieseln, auf die ihre Harken bei der Feldarbeit stießen, die Löcher in den Mauern. Über welche Zeiträume diese einfache aber anstrengende Arbeit wiederholt wurde, lässt sich nicht sagen, aber ein Blick aus der Vogelperspektive zeigt, dass große und kleine Mauern aus schwarzem Stein die ganze Insel überziehen und ein monumentales Kunstwerk zu bilden scheinen. Dieses rätselhafte Werk anonymer Künstler, die den Erdboden als Leinwand nutzten, besticht weniger durch die gestalterische Handschrift des Menschen als durch seine natürliche Schönheit. Die Steinmauern von Jeju-do laufen ausnahmslos ohne erkennbares System oder bestimmten Stil kreuz und quer durchs ganze Land, sich unaufhaltsam krümmend und windend wie es ihnen gerade gefällt. Dabei wirken die Wellen und Schleifen aus Basalt so natürlich, als ob der Wind sie an ihre Stelle geblasen hätte. Vielleicht sagte deshalb einmal jemand: „Stein© Kang Jung-hyo

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Ohne die vielen Steine wäre es gar nicht erst möglich gewesen, Häuser für die Menschen und Ställe für die Tiere zu bauen oder Stätten der ewigen Ruhe für die Verstorbenen anzulegen. Die Steine begleiteten die Insulaner von der Wiege bis zum Grab. mauern und Land scheinen seit den Uranfängen quasi ein Leib gewesen zu sein.“ Mauern für die Toten Sind die Steine, die die Insel bedecken, ein Geschenk des Himmels oder ein Fluch? Wenn sie den Bauern bei der Feldarbeit behindern, können sie für den Moment zu einem unwillkommenen Ärgernis werden, andererseits wäre es aber ohne die vielen Steine gar nicht erst möglich gewesen, Häuser für die Menschen und Ställe für die Tiere zu bauen oder Stätten der ewigen Ruhe für die Verstorbenen anzulegen. Die Bewohner von Jeju-do wurden in von Steinmauern umgebenen Häusern geboren, verbrachten darin ihr ganzes Leben und fanden ihre letzte Ruhe in von Mauern eingefriedeten Grabstätten. Die Steine begleiteten die Insulaner von der Wiege bis zum Grab. Die Mauern, die Grabstätten umgeben, heißen „Sandam“ (San: Berg, Dam: Mauer). Sie schützen das Grab und markieren die Grenzen der Stätte, wo die Seele ihre letzte Ruhe gefunden hat. Bei diesen heiligen Mauern unterscheidet man zwischen „Oedam-Mauern“ und „Gyeopdam-Mauern“. Für die Oedam-Mauern, die entweder Kreis-, Eichel- oder Viereckform haben, werden in der Umgebung aufgelesene Steine unabhängig von Form oder Größe einzeilig aufeinander geschichtet. Gyeopdam-Mauern bestehen aus zwei äußeren, aus größeren Steinen errichteten Wänden, deren Zwischenraum mit kleineren Steinen aufgefüllt wird. Sie weisen die Form eines gleichschenkligen Trapezes auf, wobei die schmalere Seite den rückwärtigen Teil der Grabstätte bildet. Jede Sandam hat eine sog. „Olle-Pforte“, durch die die Seele des Verstorbenen passieren kann. Dieser

ca. 40-50 cm breite Durchlass befindet sich entweder in der linken oder der rechten Ecke der Mauer und wird mit ein bis drei langen Steinen abgedeckt, um Pferden, Kühen oder auch Fremden ein Eindringen in die Grabstätte zu erschweren. Über die Position der Olle-Pforte entscheidet das Geschlecht des Verstorbenen: Gehört das Grab einem Mann, befindet sich die Pforte links, bei einer Frau rechts aus der Sicht des Verstorbenen. Bei einem Doppelgrab für ein Ehepaar ist die Seelenpforte gewöhnlich links, in besonderen Fällen gibt es an beiden Seiten eine. Da die Grabstätten ursprünglich mitten auf offenem Gelände lagen, brauchte es steinerner Einfriedungen zum Schutz vor Feuer oder Tieren wie Pferden und Kühen. Als immer mehr Boden in landwirtschaftliche Nutzfläche umgewandelt wurde, rückten die Grabstätten zunehmend an die Feldraine. Es könnte allerdings auch sein, dass die Grabstätten bewusst an die Feldraine gerückt wurden, um den Angehörigen die Grabpflege zu erleichtern. Wie dem auch sei: Unabhängig von der Distanz zur Grabstätte waren die Sandam-Mauern heilig und sie zu berühren galt als Tabu. Ohne stichhaltigen Grund oder Erlaubnis der Angehörigen durfte niemand diese Einfriedungen überschreiten. Es gab nur eine einzige Ausnahme: Wenn ein von weit her kommender Reisender sich verirrt hatte, durfte er die Nacht innerhalb der Grabstätte verbringen. Man glaubte, dass die Seele des Verstorbenen ihn beschützen würde.

1. Steinerne Statuen in Kindergestalt, „Dongjaseok“ genannt, wachen über die Gräber. Charakteristisch für diese einfachen Statuen ist ihre grobe Textur aus porösem Basaltstein, die ihnen eine geheimnisvolle Aura verleiht. 2. Die Mauern um die Grabstätten sind ein- oder mehrzeilig. Ihre Größe und Form geben Aufschluss über den Status der Familie. 1

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© Kim Yu-jeong


© Kim Yu-jeong

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Anders als gewöhnliche Hausmauern besitzen die Sandam eine gestalterische Ästhetik und Anmut, die viel über das technische Können der Steinmetze von Jeju-do verraten. Man könnte sie als „Ästhetik der traditionellen koreanischen Linienführung“ definieren, wie sie z.B. bei den Dachtraufen der alten Ziegeldächer zu finden ist, die sich an beiden Enden so sanft gen Himmel erheben, dass sie den Eindruck von Aufschwingen und rhythmischer Bewegung vermitteln. Die Sandam teilen diese ästhetischen Konturen. Am niedrigeren hinteren Teil schwingt sich die Mauer sanft höher, um sich schließlich an der linken vorderen Ecke nach oben zu strecken, als wollte sie himmelwärts steigen. Auf ihrem Weg nach rechts biegt sie sich allmählich tiefer bis zur Mitte der Vorderseite, bevor sie wieder aufsteigt, bis sie auf dem rechten Ende dieselbe Höhe wie am linken Ende erreicht. Die Sandam, die an dieser Stelle sanft auslaufend Halt macht, strahlt Ruhe aus. Dongjaseok: Diener der Seelen Innerhalb der Sandam-Einfriedung wurden steinerne Statuen aufgestellt, „Dongjaseok“ genannt. Wie der Name besagt, handelt es sich um Kinderstatuen. Sie erbringen verschiedene Dienste für die Seelen der Verstorbenen: Anbeten und Darbringen von Opfergaben, Bewachen und Verschönern der Grabstätte, Unterhalten und Zaubern. Die Dongjaseok wurden verbreitet durch vom Festland stammende Gründer von Familienclans, durch von der Zentralregierung gesandte Magistraten, durch lokal Einflussreiche oder durch auf die Insel verbannte Beamte. Doch die Dongjaseok-Statuen auf Jeju-do unterscheiden sich von denen auf dem Festland, die allgemein buddhistischen Ursprung haben und nur um eine regionale Note erweitert wurden. Ähnliche steinerne Wächterfiguren erschienen zunächst auf den Grabstätten im Umland der alten Hauptstadt Hanyang (Seoul), dem Zentrum der konfuzianischen Kultur in Korea. Von dort

verbreiteten sie sich dann über alle Regionen des Landes, wobei sie die jeweils unterschiedlichen Sitten, Gebräuche und Glaubensausrichtungen in sich aufnahmen, bis sie schließlich auf Jeju-do, den südlichsten Zipfel des Landes, gelangten. Aus der Kombination der Festland-Wächterstatuen mit Komponenten der regionalspezifischen Kultur und des Gedankenguts von Jeju-do wurden dann die originären Dongjaseok geboren. In den Kinderstatuen der Insel verschmelzen also Elemente von Taoismus, Buddhismus, Schamanismus und Volksglauben. Die Dongjaseok von Jeju-do strahlen eine vertraute Wärme aus. Die Statuen, die während der Regierungszeit der Joseon-Könige Yeongjo (reg. 1724-1776) und Jeongjo (reg. 1776-1800) entstanden, zeugen mit ihren hervortretenden Augen und sanften Linien von besonders hohem kunsthandwerklichen Können. Darin manifestiert sich der zu dieser Zeit rege Austausch mit dem Festland. Starb ein Mitglied der Königsfamilie, boten die Inselbewohner bereitwillig ihre Dienste für das Staatsbegräbnis an. Für die Bewohner von Jeju-do, denen 1629 unter der Herrschaft von König Injo (reg. 1623-1649) das Betreten des Festlandes verboten worden war, waren Staatsbegräbnisse eine willkommene Gelegenheit, den Bann zu umgehen und zu reisen. Nach ihrer Rückkehr schufen die Steinmetze Figuren auf Basis dessen, was sie beim Bau der Königsgräber gesehen hatten. Ergebnis waren die Dongjaseok, die heute noch auf Jeju-do zu sehen sind. Pate standen zwar die Hofbeamten-Wächterstatuen der Königsgräber, aber unter den Händen der wenig versierten Steinmetze erhielten die Wächterstatuen von Jeju-do ihre distinktive Form. Gemeißelt aus Basalt, einem auf dem Festland selten zu findenden Stein, sind die Dongjaseok wahrlich einmalig. Mit ihrer erfrischenden, von schlichter Schönheit geprägten Primitivität repräsentieren sie das allseits beliebte, attraktive Gesicht der Insel Jeju-do.

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Steine: Werkstoff für Alltagsgeräte Das reiche Basaltstein-Vorkommen auf Jeju-do machte Stein zum wichtigen Material für Geräte des Alltagsgebrauchs. Zudem ließen hohe Niederschlagsmenge und Luftfeuchtigkeit Instrumente aus Holz leicht verrotten. Die repräsentativsten Vorrichtungen und Utensilien aus Stein waren der Wasserkrugsockel „Mulpang”, der große Steinmörser „Dolbangae” und der als Abort dienende Schweinepferch „Dottongsi”. Aus Stein waren auch der Mahlstein „Maetdol”, das Kohlebecken „Hwaro”, die säulenartigen Stangenhalterungen für die Jeju-typischen Gatterpforten „Jeongjuseok” und die Schalen „Dogori”. Auch wenn die Insulaner diese traditionellen Objekte heutzutage nicht mehr gebrauchen, so rufen sie doch noch besondere Erinnerungen hervor. © Yi Gyeom

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Mulpang Mulpang ist ein aus Basaltstein angefertigter viereckiger Sockel, auf den der Wasserkrug Heobeok abgestellt wird. Mit Blick auf ihre Funktion und die täglichen Arbeitswege der Frauen wurden die Mulpang meistens direkt vor dem Kücheneingang angebracht. In alter Zeit mussten die Frauen von Jeju-do mehrmals pro Tag Wasser von der weit entfernten Dorfquelle holen. Sie trugen den gefüllten Krug auf dem Rücken nach Hause, wo er dann auf dem Mulpang abgesetzt wurde. Die Entfernung zur Quelle war zwar je nach Haushalt unterschiedlich, aber meist war eine weite Strecke zurückzulegen. In den Küstendörfern befand sich die nächste Frischwasserquelle normalerweise im Umkreis von einem Kilometer. Die Menge des „Sanmul“ (Bergwasser) genannten Quellwasser-Vorrats hing vom Tidenhub ab, weshalb es bestimmte Zeiten für das Wasserholen gab. In den Bergdörfern benutzte man die Heobeok-Krüge zum Transport von Trinkwasser aus den Regenwasser-Reservoirs in Gipfelnähe oder zum Sammeln von Nutzwasser, dass die Baumstämme herunterrann. Fehlte ein ausreichender Quellwasser-Zugang sammelte man das von den Strohdächern heruntertropfende Regenwasser als Trinkwasservorrat. Für die Wasserversorgung von Mensch und Tier waren in der Regel

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© TOPIC

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die Frauen und Mädchen zuständig. Für die Jeju-Frauen gehörte das


1. Der Steinsockel Mulpang diente als Podest für die Tonkrüge, in denen die Frauen von Jeju-do Wasser transportierten. Sie befand sich normalerweise direkt vor der Küchentür. 2. Mörser wurden zum Mahlen von Körnern zur Herstellung der Kuchen für die Ahnenverehrungsriten verwendet. Sie wurden ebenfalls zur Herstellung eines natürlichen Stofffärbemittels genutzt, für das grüne Persimonen zu Pulpe verarbeitet wurden. 3. Die Schweineställe Dottongsi dienten auch als Aborte. Der Mist wurde zum Düngen der Felder verwendet.

3 © Kim Yu-jeong

Heobeok-Tragen von klein auf zum Alltag. Ihr Tag begann mit dem

Wurden die Geräte nicht gebraucht, deponierte man den Steinmör-

Holen von Wasser und dem Auffüllen des Vorratskrugs. Der nor-

ser in einer Ecke des Vorhofes und den Holzmörser zum Schutz vor

malerweise schwarz-rötliche Heobeok-Tonkrug hat einen runden

Regen im Kuhstall.

Bauch und einen schmalen Hals, was das Tragen erleichtert und das Herausschwappen von Wasser weitgehend verhindert. Die Krüge

Dottongsi

wurden unter Berücksichtigung des Alters der Trägerin in unter-

Jeju-dos von Steinmauern eingefriedete Schweineställe heißen „Dot-

schiedlichen Größen angefertigt.

tongsi“. Schweine, im Jeju-Dialekt „Dosaegi“ genannt, waren eine überaus wichtige Eiweißquelle. Da es auf der Insel aber an Getreide

Dolbangae

mangelte, wurden sie meistens mit menschlichen Exkrementen ge-

Für die Bewohner von Jeju-do waren die Todestage der Ahnen

mästet.

wichtiger als die Geburtstage der lebenden Familienmitglieder. Des-

Der Schweinestall fungierte somit als Abort und gleichzeitig als Pro-

halb brauchte jeder Haushalt einen großen Mörser zum Zerstoßen

duktionsstätte für Dünger: Der Stall wurde mit Gerstenstroh aus-

von Getreide, um aus dem Mehl die Reiskuchen für die Ahnenver-

gelegt und wenn die mit menschlichen Ausscheidungen ernährten

ehrungsrituale zuzubereiten. Bei der Arbeit wechselten sich zwei

Schweine auf ihrem Mist herumtrampelten, entstand natürlicher

oder drei Frauen ab.

Dünger. Im Winter wurde der Schweinemist zum Gären für zwei,

Auch zur Anfertigung von Arbeitskleidung waren Dolbangae nütz-

drei Monate in der Gasse hinter der Hausmauer aufgehäuft, bevor

lich: Nach der Regenzeit im Sommer pflückten die Insulaner unreife

man ihn im Frühling mit Gerstensamen mischte und über die Felder

Persimonen, um mit dem Saft Stoff zu färben. Beim Zerstoßen wer-

verteilte.

den die halbmondförmigen Samen herausgedrückt, die die Kinder

Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb Schweine im Hofbereich

wegen ihres bitteren Geschmacks gerne spaßeshalber probieren.

gehalten wurden: Kam eins der Kinder ins heiratsfähige Alter, kaufte

Ist die Frucht ausreichend zerquetscht, legt man Hanfleinen oder

man zwei Ferkel zum Mästen. Ein Jahr später waren die Tiere fett

Baumwollstoff in den Mörser und reibt den Fruchtbrei sorgfältig in

genug zum Schlachten für die Hochzeitstafel. Ein Gericht, das bei ei-

den Stoff. Der so gefärbte Stoff wird anschließend zum Trocknen in

ner Hochzeit auf der Insel nicht fehlen durfte, war Gogitban, wörtlich

der Sonne über eine Steinmauer gelegt. Färben und Trocknen wird

„Fleischscheiben“. Für diese regionale Spezialität werden drei Schei-

rund zehn Tage lang wiederholt, bis der Stoff steif und robust ist.

ben Schweinefleisch, ein Stück Blutwurst und ein Tofu auf einem

Dieser mit Persimonensaft gefärbte Stoff heißt „Gal-cheon“, die da-

Teller serviert. Auch heute noch bedeutet die Frage „Wann essen wir

raus gefertigte Kleidung „Gal-ot“. Aus dem Stoff wurden verschie-

drei Scheiben Schweinefleisch?“ „Wann hast du vor, zu heiraten?“

dene Arten von Arbeitskleidung hergestellt, die den Vorteil haben,

Schon lange werden die Schweine auf Jeju-do nicht mehr mit

dass sie luftig und schweißhemmend sind. Auch wird der Stoff mit

menschlichen Exkrementen gefüttert, doch die schwarzen Schwei-

jedem Waschen widerstandsfähiger und dunkler.

ne der Insel, die 2015 zum Naturdenkmal Nr. 550 designiert wur-

Zum Zerkleinern von Getreide wurde oft der Holzmörser Nam-

den, sind nach wie vor Aushängeschild und Quelle des Stolzes für

bangae bevorzugt, der leichter und einfacher instandzuhalten war.

die Insulaner.

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SPEZIAL 4

Jeju-do, eine Insel der Steine: Legenden und Geschichten

Steine von Jeju-do treffen Erde und Feuer Die Onggi-Krüge von Jeju-do werden nicht in einem irdenen Ofen, sondern in einem Steinofen gebrannt. Die traditionellen Tontöpfe waren Tausende von Jahren ein fester Bestandteil des Lebens der Bewohner der Lavainsel, auf der kein Eisen hergestellt wird. Mit dem Aufkommen massenproduzierter Waren ab den 1960er Jahren verschwanden sie jedoch im Dunkel der Geschichte. Aber dank der Bemühungen einiger Onggi-Meister wurde der traditionelle Steinofen im Jahr 2000 wieder aufgebaut und die Herstellung der traditionellen Töpferwaren wieder aufgenommen, wenn auch nur in gringen Mengen. Jeon Eun-ja Forschungsmitarbeiterin, Tamna Culture Research Institute, Jeju National University Fotos Ahn Hong-beom

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Kang Chang-eon, Gründer und Direktor des Jeju Ceramic Center, schürt das Feuer von der Spitze des Gelben Brennofens aus. Vier Tage nach dem Entfachen des Feuers erreicht die Temperatur ihren Höchstwert. In diesem abschließenden Stadium des Brennens wird zum Schüren der Flammen Feuerholz durch die Seitenöffnungen des Brennofens hinzugegeben, sodass die Gefäße einen glänzenden, glasurähnlichen Schimmer erhalten.

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A

us dem Zusammentreffen von Erde und Feuer entstanden die Onggi-Vorratskrüge, die die Inselbewohner jeden Tag benutzen. Diese Krüge waren im Alltag der Inselbewohner unentbehrlich. Selbst während des blutig niedergeschlagenen Jeju-Aufstandes vom 3. April 1948, der ein Vorbote des tragischen Koreakrieges war, nahmen die Insulaner ihre Onggi-Krüge mit, als sie verzweifelt in die Berge flohen, um den Jagd auf kommunistische Guerillas machenden Regierungstruppen zu entkommen. Die Verwendung von Onggi hat eine lange Geschichte auf der Insel, was aus verschiedenen historischen Quellen hervorgeht. In dem Gedicht Tamna beschreibt Choe Bu (1454-1504), der vor etwa 160 Jahren als Beamter auf der Insel diente, eine Frau von Jeju-do, die mit einem Heobeok, einem Krug zum Wassertragen, auf dem Kopf zum Wasserschöpfen zu einer Quelle geht. Das Gedicht Tamna ist enthalten in Namsa illok (Tagebuch von der Südinsel), verfasst von Yi Jeung (1628-1686), der unter Joseon-König Sukjong (reg. 1674-1720) als Regierungsbeamter auf Jeju-do tätig war. In Jeju eupji (Tatsachen über Jeju), das vermutlich im 18. Jh. veröffentlicht wurde, heißt es, dass es in Dajeong-hyeon ein auf Onggi spezialisiertes Geschäft gab. Die frühesten Archetypen von Jeju-Onggi dürften zwei Arten von prähistorischen Gefäßen sein, von denen die eine schlicht und undekoriert ist und die andere Reliefdekor aufweist. Beide wurden in einer archäologischen Stätte im Dorf Gosan-ri, Gemeinde Hangyeong-myeon, gefunden. Ihr Alter wird auf 10.000 Jahre geschätzt. Bis heute gehören die dekorlosen Gefäße zu den ältesten neolithischen Töpferwaren, die in Korea entdeckt wurden, während die Töpfe mit Wellenreliefs als Höhepunkt der alten Jeju-Keramik gelten. Andere Produktionsweise Über lange Zeiträume entwickelten sich die Onggi-Krüge von Jeju-do anders als vergleichbare Töpferwaren auf dem Fest-

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land. Der größte Unterschied besteht in der Brennmethode: Gebrannt wird in einem aus Basaltsteinen und nicht aus Lehmziegeln gebauten Ofen. Dadurch ergeben sich distinktive Herstellungsbedingungen, die sich deutlich vom koreanischen Festland und auch von China oder Japan unterscheiden und die selbst weltweit selten zu finden sind. Eine weitere Besonderheit der Jeju-Onggi ist, dass sie unglasiert sind. Hauptgrund dafür ist, dass sie aus Vulkanaschenerde hergestellt werden und nicht wie auf dem Festland aus weißer oder roter Tonerde. Die Inselbewohner entwickelten diese Herstellungsmethode, da es kaum Erde gab, die für die Keramikproduktion geeignet war. Der vulkanische Ascheboden enthält viele Mineralien, die während des Brennprozesses schmelzen und an die Oberfläche treten, was den natürlichen Effekt einer glänzenden Beschichtung erzeugt. Im Gegensatz zu anderen Regionen, wo der Brennofen mit dem Holz von Baumstämmen gefeuert wird, verwendet man auf Jeju-do von lebenden Bäumen abgetrennte Äste, die im Schatten getrocknet werden. Aber nicht nur das: Die Onggi werden nicht von einem einzigen Töpfer hergestellt, vielmehr übernehmen verschiedene Spezialisten die einzelnen Herstellungsschritte: Der Geonae-kkun sammelt Erde und Brennholz; der Onggi-daejang formt das Gefäß; der Bul-daejang ist fürs Feuern zuständig und der Gul-daejang baut den Brennofen. Da der Herstellungsprozess auf spezialisierter Arbeitsteilung beruht, könnte man die Jeju-Onggi als Produkt der lokalen Gemeinschaftskultur verstehen. In vielerlei Hinsicht waren die geologischen Bedingungen auf der Insel ungünstig für die Töpferei, da das Gros des Erdreichs sich nicht dafür eignete und Wasser in Heobeok-Krügen herbeitransportiert werden musste. Folgende Worte des verstorbenen Onggi-Meisters Sin Chang-hyeon, Träger des Immateriellen Kulturerbes von Jeju-do Nr. 14, bringen es auf den Punkt: „Das Herstellen von Onggi ist ein mühsames Unterfangen; es verlangt gewissermaßen eine Reise in die Unterwelt.“ Die Onggi-Krüge, die unter solch erdrückenden Bedingungen mühsam


geschaffen wurden, sind seit langem ein wichtiger Teil des täglichen Lebens der Menschen von Jeju-do. Restaurierung der traditionellen Steinöfen Die Onggi-Produktion auf Jeju-do erreichte ihren Höhepunkt im frühen 20. Jh., war aber Ende der 1960er Jahre völlig verschwunden. Die aufwändig hergestellten Onggi konnten nicht mit den neu aufgekommenen, in billiger Massenproduktion gefertigten Kunststoffbehältern konkurrieren. Die Wiederbelebung der Onggi-Tradition ist Kang Chang-eon, dem Gründer und Direktor des Jeju Ceramic Center, zu verdanken. In den 1970er Jahren, als Kang noch ein Teenager war, begann er, verfallene Brennöfen-Stätten zu besuchen. Als er die Scherben genau untersuchte, entdeckte er die Einzigartigkeit von Jeju-Onggi. In den frühen 1980er Jahren kündigte er sogar seinen Job, um sich voll und ganz seinen Feldforschungen zu widmen, die ihn unzählige Male in die Küstendörfer und Mittelgebirgsregionen führten. Zu der Zeit gab es noch rund 50 Brennöfen auf der Insel, in denen Ziegeln und Onggi gebrannt wurden. Im Zuge seiner Erkundigungen und Nachforschungen fand Kang schließlich eine Stelle im Jeju National University Museum, wo er seine Studien ernsthaft fortsetzen und mit Gelehrten im In- und Ausland zusammenarbeiten konnte. Aber als die Modernisierungswelle das Land überrollte, erlitten die noch verbleibenden Produktionsstätten gravierende Schäden. Anfang der 1990er Jahre verstarben die erfahrenen Onggi-Meister einer nach dem anderen und mit ihnen verschwanden auch die Werkzeuge, die sie benutzt hatten.

Getrieben von dem Bewusstsein, dass die Zeit drängte, suchte Kang nach noch lebenden Töpfern, aber die meisten waren auf die Landwirtschaft umgestiegen, da sie als Töpfer ihre Familien kaum noch ernähren konnten. Kang versuchte sie zu überreden, die Tradition der Onggi-Krüge wieder aufleben zu lassen, stieß aber zunächst auf taube Ohren. Die Restaurierung der traditionellen Steinöfen war nur mit Hilfe von vielen erfahrenen Handwerkern möglich. Glücklicherweise versprachen ihm einige der wenigen noch lebenden Handwerksmeister wie der Bul-daejang (Brennofenbauer)

1. Gahina Teegeschirr, 7,6 x 18,5 cm Die nach einer vom Jeju Ceramic Center patentierten Methode hergestellte Teekanne wurde 2007 mit dem Seal of Excellence for Handicrafts der UNESCO ausgezeichnet. Sie wurde aus einer eigens vom Center entwickelten Tonerde hergestellt, die die für Basalt typische Textur imitiert. 2. Steinkrug, 28 x 22,3 cm Bei der Herstellung des Krugs wurde die Tonerde auf der Töpferscheibe zur Erzeugung einer groben, Basaltstein-artigen Textur mit einem Steinbleuel geschlagen.

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Hong Tae-gwon und der Onggi-daejang (Onggi-Former) Song Chang-sik ihre volle Unterstützung. 1996 investierte Kang sein ganzes Vermögen in den Bau des Jeju Ceramic Center im Dorf Yeongnak-ri, Gemeinde Daejeong-eup. Vier Jahre später begann er, auf traditionelle Weise Jeju-Onggi herzustellen. Brennofen-Temperatur entscheidend Die Öfen, in denen die verschiedenen Onggi-Krüge gebrannt werden, heißen im Jeju-Dialekt „Gul“, was auf Hochkoreanisch „Höhle“ bedeutet. Die halbkreisförmige Decke, deren Form den natürlichen Gegebenheiten entspricht, verleiht dem Ofen das Aussehen einer Höhle. Es gibt zwei Arten von Öfen, die in Anlehnung an die Farbe der gefeuerten Onggi jeweils als „Gelber Ofen“ und „Schwarzer Ofen“ bezeichnet werden. Der Farbunterschied ergibt sich aus den unterschiedlichen Brenntemperaturen. Im Gelben Ofen wird die Temperatur auf 1.100 °C bis 1.200 °C erhöht. Während dieses Prozesses oxidiert die Erde, die Oberfläche des Gefäßes wird glänzend wie bei einer Glasierung und verfärbt sich gelblich oder rotbraun. Die heiß züngelnden Flammen erzeugen natürliche Muster, die Kang „Feuermuster“ nennt. Diese robusten Gefäße bewahren Nahrungsmittel vor dem Verderben, weshalb sie meist zum Aufbewahren von Lebensmitteln oder zum Transport von Wasser verwendet werden.

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Der Schwarze Ofen feuert die Gefäße bei niedrigeren Temperaturen von etwa 700 °C bis 900 °C. Die Öffnungen an der Vorder- und Rückseite des Ofens werden dann blockiert, um den Sauerstoffgehalt zu reduzieren. Dies führt zu unvollständiger Verbrennung und wenn der Rauch das Gefäß durchdringt, nimmt es einen Grau- oder Schwarzton an. Diese Gefäße dienen zur Aufbewahrung von trockenen Nahrungsmitteln oder zum Dämpfen von Speisen. Die Tugend des Wartens Im Jeju Ceramic Center sind der Gelbe Ofen und der Schwarze Ofen im traditionellen Stil mit Basaltsteinen restauriert. Kang hat Basaltsteine in geeigneter Größe gesucht oder bei Bedarf zugeschnitten. Die Lücken zwischen den Steinen wurden mit Basaltfragmenten oder Ton gefüllt. Der Gelbe Ofen ist 12 m lang; der Bereich vom Feuerloch bis zum Rauchabzug unterteilt sich in die Feuerkammer und die Verbrennungskammer. Das Feuerloch ist an der Vorderseite des Ofens angebracht, wobei der untere Teil Bodenkontakt hat. Auf den ersten Blick wirkt es deshalb gewölbt, doch es hat eher eine viereckige Form, da ein Deckstein auf der rechten und linken Säule steht. Ein bemerkenswertes Merkmal der Steinöfen von Jeju-do ist der schmale Eingang, der nicht nur am Ofen im Jeju Ceramic Center, sondern auch am seit über 100 Jahren stillgelegte Steinofen im Dorf Sindo-ri im westlichen Teil von Jeju-do


Der größte Unterschied besteht in der Brennmethode: Gebrannt wird in einem aus Basaltsteinen und nicht aus Lehmziegeln gebauten Ofen.

1. Im Ausstellungsraum des Jeju Ceramic Center sind die Produkte des Centers zu sehen. Aufwändige Herstellung und entsprechend hohe Produktionskosten erschweren zwar die allgemeine Vermarktung, aber das Center zieht Keramik-Liebhaber aus Japan und China an. 2. Kang Chang-eon, den es traurig stimmte, dass die traditionellen steinernen Brennöfen und Keramiken von Jeju-do im Dunkel der Geschichte zu verschwinden drohten, konnte nach jahrelangen hingebungsvollen Anstrengungen im Jahr 2000 die traditionelle Brennofentechnik wiederbeleben.

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3. Schwarzer Tonkrug (vorne), 41,4 x 33,0 cm; Gelber Tonkrug, 37,5 x 29,0 cm. Der schwarze Krug weist ein distinktives Flammenmuster auf, das beim Brennen auf natürliche Weise entsteht. Der gelbe Krug hat einen helleren Farbton um Mund und Schulter, ebenfalls ein natürliches Resultat des Brennens.

zu finden ist. Die Außenseite der Decke ist mit sandiger Erde bedeckt, auf der linken und rechten Seite befinden sich in regelmäßigen Abständen 15 Löcher mit einem Durchmesser von jeweils rund 15 cm. Diese dienen zum Kontrollieren und Verstärken des Feuers. Es gibt keinen Schornstein auf der Rückseite, stattdessen sind vier kleine Löcher zu sehen, aus denen die Flammen entweichen können. Der Schwarze Ofen ist kleiner, hat eine Länge von 7 m und ist nicht in separate Kammern unterteilt. Die Gefäße werden durch eine Öffnung auf der Rückseite hinein- und herausgebracht. Nach dem Entfernen der Gefäße wird die Öffnung nicht versiegelt, sondern durch lose aufeinander gestapelte Steine verschlossen. Eine weitere Besonderheit der Brennöfen von Jeju-do ist der Bereich vor dem Feuerloch, der „Bujangjaengi“

(Brennmateriallager) genannt wird und von einer niedrigen Basaltsteinbarriere eingefasst ist. Dieser Bereich war zum Schutz vor Regen und Wind mit Gras (Arundinella hirta) bewachsen, da die harten Winde der Insel den Steinöfen zusetzen. Der Grasbewuchs ist ebenfalls ein spezielles Merkmal der traditionellen Steinöfen von Jeju-do. Aus poröser vulkanischer Erde werden die Onggi zuerst geformt, danach zehn Monate lang in einem Schuppen gelagert und anschließend gefeuert. Auch der Schuppen besteht aus Basaltsteinen und alle Ritze sind zum Schutz vor Licht und Wind sorgfältig mit Erde verstopft. Dies ist ein weiteres erstaunliches Merkmal der Onggi-Krüge von Jeju-do: Wie das Geborenwerden von neuem Leben lehren sie uns die Tugend des Wartens – in Demut. 3

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0000000000000 VORWORT ZUR SONDERRUBRIK

Zum 50. Jubiläum der deutschen Ausgabe

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D

ie deutsche Ausgabe von Koreana, die im Frühjahr 2006 das Licht der Welt erblickte, feiert in diesem Sommer die Herausgabe ihres 50. Hefts. Verglichen mit der englischen Ausgabe, deren erstes Heft bereits 1987 erschien und die damit längst die Volljährigkeit erreicht hat, kommt die deutsche Ausgabe nach 12 Jahren zwar gerade erst in die Pubertät, aber 50 Ausgaben sind unserer Meinung nach schon ein bedeutungsvoller Anlass zum Feiern. Auch wenn heutzutage Englisch als lingua franca gilt, so ist es doch und nach wie vor die Muttersprache, durch die sich der Mensch die Welt erschließt bzw. durch die die Welt ihm in all ihren Facetten erschlossen werden kann. Entsprechend sieht die deutsche Ausgabe ihre Aufgabe darin, den LeserInnen im deutschsprachigen Raum Kultur und Kunst Koreas, eines weit in Nordostasien liegenden Landes, in ihrer vertrauten Muttersprache näherzubringen und so die Verständigung zwischen den Völkern zu vertiefen. Die diesbezügliche Mitteilung eines aufmerksamen Lesers vor einigen Jahren, dass er sich freue, dass es Koreana auf Deutsch gibt, war in dieser Hinsicht eine ebenso dankenswerte Bestätigung und Ermutigung für uns wie die Glückwünsche, die uns von den Botschaftern der deutschsprachigen Länder und anderen Lesern der deutschen Ausgabe erreichten. Als Ausdruck unserer Freude über die Jubiläumsausgabe haben wir eine Sonderrubrik eingerichtet, in der Leben und Arbeit von vier in Korea lebenden „Brückenbauern“ zwischen Korea und den deutschsprachigen Ländern bzw. Europa beleuchtet wird. Es gab schon im 19. Jahrhundert Deutsche, die die deutsche und europäische Kultur in Korea bekannt gemacht haben, sei es durch den Dienst in der Regierung von Joseon (1392-1910) als Minister und Diplomat wie Paul Georg von Möllendorf (18471901) oder als Hofarzt wie Richard Wunsch (1869-1915), als Hofkapellmeister wie Franz Eckert (1852-1916) oder als Geschäftsmann wie Eduard Meyer (1841-1926). Auf der anderen Seite gab es auch Koreaner, die das koreanische Geistesgut im deutschsprachigen Raum vorstellten: Li Mirok (1899-1950) machte durch seine auf Deutsch geschriebenen Erzählwerke Leben und Landschaften des Korea seiner Zeit bekannt und der

Komponist Yun I-sang (1917-1995) verlor bei seinen Kompositionen „das Koreanische“ nie aus dem Blick. Die koreanischen Krankenschwestern und Bergarbeiter, die in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh. nach Deutschland gingen, trugen auf ihre Weise dazu bei, Arbeitsethos und Wesensart des koreanischen Volkes bekannt zu machen. All dies geschah in Zeiten, in denen die Kulturen einander noch weitgehend fremd gegenüberstanden und das Reisen noch mit viel Aufwand verbunden war, sodass die Verständigung mehr oder weniger einseitig ausgerichtet war. In der heutigen Zeit, in der Reisen und Kommunizieren über die Landesgrenzen hinaus viel leichter geworden ist, ist es möglich, zwischen den beiden Kulturräumen bzw. in den beiden Kulturräumen zu leben und die Multikulturalität als Nährboden der persönlichen Entwicklung zu nutzen, sei es nun beruflich oder privat. An Leben und Arbeiten derer, die mit ihren eigenen „ästhetischen“ Werten Brücken bauen und hier über sich und ihre Erfahrungen berichten – Hans-Alexander Kneider, Felix Park, Philipp Jundt und Daniel Tändler – ist gut zu erkennen, dass bzw. auf welche Weise gerade die Unterschiede zwischen der Kultur Koreas und den Kulturen der deutschsprachigen Länder in vielerlei Hinsicht bereichernd wirken können. In diesem Sinne hoffen wir, dass die vorliegende Jubiläumsausgabe für unsere LeserInnen eine bereichernde und inspirierende Lektüre bietet, die noch neugieriger auf Korea, seine Menschen und seine Kultur macht.

Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

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GLÜCKWUNSCHBOTSCHAFTEN ZUM 50. JUBILÄUM

Stephan Auer Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Südkorea

Korea und Deutschland trennt ein halber Globus. Doch trotz aller Unterschiede in Bezug auf geografische Lage, geschichtliche Entwicklung und weltpolitische Einbettung gibt es seit über 150 Jahren viel, was uns verbindet. Bereits im Juni 1882 wurde ein Handels- und Freundschaftsabkommen zwischen Korea und Deutschland geschlossen. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts trugen die entsandten koreanischen Bergarbeiter und Krankenschwestern maßgeblich dazu bei, in der deutschen Bevölkerung ein Interesse für Korea zu wecken und umgekehrt ein Interesse an Deutschland nach Korea zu tragen. Koreana unterstützt seit Jahrzehnten die Bemühungen, die koreanische Kultur über die Grenzen des eigenen Landes hinweg bekannt zu machen. So freue ich mich, dass immer mehr Deutsche Koreanisch und immer mehr Koreanerinnen und Koreaner Deutsch lernen. Mit dem jährlichen Deutsch-Koreanischen Forum unterstützt die Korea Foundation zudem das vielleicht wichtigste Format, in dem sich unsere Zivilgesellschaften austauschen und so das Interesse füreinander facettenreich und lebendig halten können. Es freut mich besonders, dass die deutsche Ausgabe der Koreana in diesem Sommer bereits zum 50. Mal erscheint. Sie ermöglicht all jenen, die den Zugang zur koreanischen Sprache noch nicht gefunden haben, sich über Koreas Kultur zu informieren. Ich wünsche Ihnen allen viel Freude beim Lesen und Entdecken der faszinierenden koreanischen Kultur.

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Michael Schwarzinger Botschafter der Republik Österreich in Südkorea

Das Team der Österreichischen Botschaft Seoul nimmt gerne diese Gelegenheit wahr, um der Korea Foundation und insbesondere ihrem Berliner Büro sehr herzlich zur 50. Ausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von Koreana zu gratulieren. Wir sind sehr dankbar dafür, dass uns Koreana einzigartige Sichtweisen auf Korea bietet. Überhaupt überrascht die Zeitschrift seit 2006 ihr deutschsprachiges Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit tiefschürfenden Texten und beeindruckenden Bildern und Fotos, die bedeutungsvolle und nützliche, oft auch unerwartete Einblicke in koreanische Kultur, Kunst und Lebensart gewähren. Wir hoffen, dass Koreana auch in Zukunft intellektuelle Verbindungen zwischen Korea und den Leserinnen und Lesern in Europa herstellt, mit dem Anspruch, das Verständnis für koreanische Kultur und Kunst zu verbreitern.

Linus von Castelmur Botschafter der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Südkorea

Zum Erscheinen der 50. Ausgabe von Koreana – koreanische Kultur und Kunst entbiete ich der Redaktion der Zeitschrift sowie der Korea Foundation als Herausgeberin meine herzlichen Glückwünsche. Die in neun verschiedenen Sprachen erscheinende Kulturzeitschrift spricht eine weltweite Leserschaft an. Sie gewährt ihren Leserinnen und Lesern einen umfassenden Einblick in die koreanische Kunst und Kultur, aber auch in das Alltagsleben der Koreaner. Besonders lesenswert sind die Spezial-Beiträge zu spezifischen Themenkreisen. Vor den Olympischen und Paralympischen Winterspielen PyeongChang 2018 gaben mir die Spezial-Beiträge „Die Provinz Gangwon-do – Land der Berge, Mythen und Erinnerungen“ die Möglichkeit, den Austragungsort der Winterspiele aus einer anderen Perspektive zu entdecken. Die schweizerische Botschaft in Korea und Koreana haben etwas gemeinsam: Wir sind beide Brückenbauer – von der Schweiz nach Korea und von Korea nach der Schweiz. Ich bin zuversichtlich, dass dank unseren Bestrebungen immer mehr Koreanerinnen und Koreaner die Schweiz entdecken und umgekehrt immer mehr Schweizerinnen und Schweizer sich für Korea interessieren werden! Mein aufrichtiger Dank geht an die Korea Foundation und an das Redaktionsteam für ihre unermüdlichen Bemühungen, Korea einer deutsch- und französischsprachigen schweizerischen Leserschaft näher zu bringen. Und natürlich freue ich mich zusammen mit vielen anderen treuen Leserinnen und Lesern schon jetzt auf zahlreiche weitere, spannende Koreana-Ausgaben!


Frieder Stappenbeck Assistant Professor an der Hankuk University of Foreign Studies, Literaturübersetzer

Zur Jubiläumsausgabe der deutschen Ausgabe von Koreana seien sämtliche Mitwirkende herzlich beglückwünscht! Seit nunmehr 50 Ausgaben in nur zwölf Jahren stellt auch die deutsche Ausgabe der Koreana mit einer breiten Themenpalette und auf mannigfaltige Weise dem Lesepublikum die reiche Kultur Koreas vor. Nur allzu gut nachfühlend, welch Knochenarbeit die Übertragung eines Textes von der einen in eine von ihr so verschiedene Sprache ist, sei mindestens in dem gleichen Maße wie die Leistung der Autoren der Originaltexte die Mittlerarbeit durch die emsig Übersetzenden gewürdigt. Denn Übersetzen als Kulturvermittlung ist mehr als bloßer Informationstransfer: Immer gilt es auch, sich mit der Kultur der Zielsprache auseinanderzusetzen. „Ohne die Übersetzung lebten wir in Provinzen, die an das Schweigen angrenzen“, schrieb George Steiner. Mögen hier daher viele weitere Übertragungen aus dem Koreanischen ins Deutsche noch ungehörte Ideenwelten zum Klingen bringen! Möge dank Koreana auch fürderhin die Rede zwischen den beiden Sprachräumen nicht verstummen!

Karl Engelhard Prof. em. an der Universität Münster

Günter und Helga Fraatz Prediger, Halle/Westfalen

Der Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Koreana, Frau Professor Dr. Ahn In-kyoung, herzliche Glückwünsche zum Erscheinen der Ausgabe zum 50. Jubiläum. Die deutsche Ausgabe hat den Leserkreis erweitert, denn jede neue Ausgabe wird von immer mehr interessierten Nachbarn mitgelesen. Wir alle schätzen die breite Themenwahl, angefangen von aufschlussreichen Darstellungen der Landschaft und vielseitigen Formen der koreanischen Kunst über die koreanische Küche bis hin zu spannenden historischen Beschreibungen und zur Thematisierung der folgenreichen Teilung des Landes. Der Korea Foundation und der Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Koreana herzlichen Dank! Sie hat uns Korea und seine Menschen näher gebracht. Wir wünschen, dass Koreana so ansprechend wie bisher bleiben möge und dass sich die Leserschaft ständig erweitert.

Ich möchte der Korea Foundation auch im Namen meiner Frau ganz herzlich zum Jubiläum des 50. Erscheinens der hochwertigen deutschsprachigen Ausgabe der Koreana gratulieren. Ich lese berufsbedingt viel, jedoch gehört Koreana nicht unbedingt in mein „Beuteschema“ beim Lesen. Die Zeitschrift drängt sich mir aber gewissermaßen immer wieder auf, wenn sie auf meinem Schreibtisch liegt und in mein Blickfeld gerät, und zwar einfach schon, weil sie optisch sehr ansprechend wirkt. Das gilt auch für das letzte Frühjahrsheft über Fotografie, das ich sehr interessant fand. Da Korea für mich „weit weg“ ist, sind mir die koreanische Lebens- und Denkweise und die Realitäten in Ihrem Land fremd in ihrer Andersartigkeit, aber gerade deshalb auch interessant. Ich denke da besonders an die Koreana-Ausgabe über den 38. Breitengrad. Auch wir in Deutschland hatten ja einen „38. Breitengrad“, der aber Gott sei Dank überwunden ist. Doch unsere „Demarkationslinie“ scheint durchlässiger gewesen zu sein als die auf der koreanischen Halbinsel. Ich habe die innerdeutsche Grenze relativ häufig überschritten und war jedes Mal bedrückt von der Realität und der Art der Behandlung in der ehemaligen DDR. Aber auf der koreanischen Halbinsel scheint die Teilung eine noch beängstigendere Dimension zu haben! Möge Koreana so weitermachen wie bisher und uns über Korea, dem ich eine baldige Vereinigung wünsche, informieren!

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SONDEREBEITRÄGE ZUM 50. JUBILÄUM

Dreißig Jahre voller Spannung Hans-Alexander Kneider Professor, Autor und Bezirksbürgermeister in Seoul

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Hans-Alexander Kneider arbeitet seit 1991 an der Hankuk University of Foreign Studies (HUFS) in Seoul. Er ist Professor an der Abteilung für deutsche Sprache und unterrichtet zudem an der Graduate School of Interpretation and Translation (GSIT). Im November 2009 wurde er zum Ehrenbürgermeister von Seongbuk-dong, eines Unterbezirks der Stadt Seoul, ernannt. Außerdem ist er der Chef des Seongbuk Global Village Center. – Redaktion

O

ft ist es nur ein scheinbar unbedeutendes Ereignis oder eine kurze, flüchtige Begegnung, die einen Lebensweg entscheidend beeinflussen. Einen derartig schicksalhaften Moment hatte auch ich, als mir während der Schulferien auf der Nordseeinsel Norderney ein junger Koreaner über den Weg lief, der in Köln Wirtschaft studierte. Mit großem Interesse hörte ich, was er über seine Heimat Südkorea berichtete, und lernte von ihm einige koreanische Sätze und das Hangeul-Alphabet. Das war im Sommer 1970, ich war 14 Jahre alt und begeistert vom „Fernen Osten“, der für mich damals noch exotisch und völlig unbekannt war. Mein Interesse an Asien im Allgemeinen und aufgrund des Ferienerlebnisses an Korea im Speziellen steigerte sich im Laufe der Jahre noch, sodass ich meinen Neigungen folgte und an der Ruhr-Universität Bochum Koreanistik als Hauptfach und Volkswirtschaft und Wirtschaft Ostasiens als Nebenfächer studierte. Damit war mein Weg nach Korea vorgezeichnet, und nach meinem Magister-Abschluss war es schließlich soweit. Mit einem Stipendium der koreanischen Regierung kam ich im Februar 1988 nach Seoul, um an der Seoul National University (SNU) einen dreijährigen Promotionskurs im Bereich „Koreanische Geschichte“ zu belegen. Nach Ablauf dieser drei Jahre wurde ich von einer befreundeten deutschen Professorin, die an einer koreanischen Universität in Seoul tätig war, gefragt, ob ich nicht Lust hätte, als Aus-

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hilfe für ein Semester im Fachbereich „Deutsche Sprache und Literatur“ zu unterrichten. Da ich ursprünglich eine Karriere an einer deutschen Universität anstrebte, schienen mir Lehrerfahrungen im Ausland nützlich zu sein. Außerdem sollte es sich schließlich nur um ein Semester handeln, und so nahm ich das Angebot kurz entschlossen an. Nie hätte ich gedacht, dass aus diesem einen Semester einmal 27 Jahre an der Hankuk University of Foreign Studies werden würden. Derzeit bin ich als Full Professor an der Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur tätig und unterrichte zudem an der Graduate School for Interpretation and Translation. So sind aus den ursprünglich geplanten 3 Jahren an der SNU ganze 30 Jahre geworden, die ich jetzt bereits in Korea lebe und arbeite. Im November 2009 ereignete sich etwas, was auch in der ausländischen Presse Aufmerksamkeit auf sich zog: Ich wurde zum ersten und bisher auch einzigen ausländischen Bürgermeister in der Stadt Seoul ernannt, und zwar für Seongbuk-dong, einen Unterbezirk von Seongbuk-gu im Norden von Seoul. Seongbuk-dong hat ca. 25.000 Einwohner, darunter viele Angehörige des Auswärtigen Dienstes sowie Präsidenten und Manager international agierender Unternehmen. 2009 waren 26 Länder auf diese Weise in Seongbuk-dong vertreten, mittlerweile sind es bereits 47.

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Um der fortschreitenden Internationalisierung und Globalisierung der koreanischen Gesellschaft Rechnung zu tragen, wurde am 23. Januar 2008 das Seoul Global Center eröffnet, das der stetig wachsenden Zahl ausländischer Mitbürger in Seongbuk-dong mit vielseitigen Dienstleistungen zur Seite steht. Auf unterer Bezirksebene war die Notwendigkeit einer eigenen Vertretung der ausländischen Einwohner entstanden. So wurde ich kurzerhand aufgrund meines langjährigen Aufenthalts und sicherlich auch wegen meiner Koreanisch-Sprachkenntnisse zum Vertreter der immerhin knapp 10.000 Ausländer im Stadtbezirk Seongbuk-gu bestimmt. Um meinem neuen Job auch die entsprechende Gewichtung zu verleihen, erhielt ich Amt und Würde eines ehrenamtlichen Unterbezirksvorstehers. Ich freue mich, dass ich nicht nur von der lokalen Behörde, mit der ich regelmäßig zusammenarbeite, sondern auch von den koreanischen Mitbürgern akzeptiert werde. Gelegentlich lege ich auch einen Rechenschaftsbericht im Bezirksamt ab. Meine Hauptaufgabe besteht darin, in einem eigens dafür errichteten „Seongbuk Global Village Center“ mit vier Angestellten einen internationalen Kulturaustausch zu organisieren. Eröffnung des europäischen Weihnachtsmarkts in Seongbuk-dong.


Auf diese Weise soll den ausländischen Mitbürgern in kostenlosen Seminaren die koreanische Kultur vermittelt werden. Ich bemühe mich aber auch, sowohl den koreanischen Gastgebern, als auch den ausländischen Mitbürgern die Kulturen der 47 in meinem Bezirk vertretenen Länder vorzustellen. So veranstalte ich seit 2010 jedes Jahr den mittlerweile berühmt gewordenen Europäischen Weihnachtsmarkt im Dezember, ein internationales Bierfestival im Juni sowie ein Lateinamerikanisches Festival im Oktober. Solche Aufgaben wahrnehmen zu dürfen ist für mich eine Ehre und bietet mir die schöne Gelegenheit, mich an der sozialen und kulturellen Entwicklung – wenn auch nur in kleinerem Rahmen – direkt beteiligen und mitentscheiden zu können, was nur wenigen Ausländern vergönnt ist. Eine besondere Herausforderung ist dabei mitzuhelfen, Korea nicht nur nominell zu einer multikulturellen Gesellschaft zu machen, sondern die vielfältigen in Korea vertretenen Kulturen auch zu leben und zu erleben. Zu meiner großen persönlichen Freude konnte zudem im April 2009 das Ergebnis meiner nahezu 25-jährigen Forschung über die historischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Königreich Korea als Buch mit dem Titel Globetrotter, Abenteurer, Goldgräber. Auf deutschen Spuren im alten Korea veröffentlicht werden. Mein Interesse an diesem Thema hatte seinen Ursprung in der Bibliothek der Ostasienwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum, wo ich während meines Koreanistik-Studiums auf alte Reiseberichte über Korea stieß. Die Darstellung des alten Korea faszinierte mich sehr, wobei vor allem Deutsche, die zur damaligen Zeit in dieses ferne Land gereist waren oder sogar dort lebten und arbeiteten, meine Neugier erregten. Also begann ich, systematisch alles zu sammeln, was mit diesem Thema zu tun hatte. Auch nach meinem Magister-Abschluss forschte ich weiter nach Materialien und alten Quellen. Diesmal jedoch in Korea. Bereits nach einem Jahr war das Buch vergriffen, sodass der

Publikationen von Hans-Alexander Kneider

Iudicium-Verlag in München an mich herantrat mit dem Vorschlag zu einer zweiten Auflage, die schließlich im September 2010 korrigiert und erweitert erfolgte. Dabei wollte ich es aber nicht belassen, und rechtzeitig zum 130-jährigen Bestehen der deutsch-koreanischen Beziehungen erschien im Jahre 2013 eine dritte, nochmals erweiterte und komplettierte Ausgabe, diesmal jedoch auf Koreanisch, da auch in Korea ein relativ großes Interesse an diesem historischen Thema besteht. Neben zahlreichen kleineren Publikationen über Leben und Werk besonders verdienstvoller Deutscher im Korea vergangener Tage, habe ich weiterhin ein Buch über den preußischen Komponisten und Musikdirektor Franz Eckert verfasst, der als Pionier deutscher Blechblasmusik ab dem ausgehenden 19. Jh. 20 Jahre in Japan sowie 15 Jahre in Korea tätig war. Zu seinen größten Verdiensten gehören die japanische und auch die erste koreanische Nationalhymne. Das Buch Franz Eckert, das ebenfalls Biographien zu seinen sechs Kindern beinhaltet, erschien im Dezember 2017 in koreanischer Sprache. Abschließend sei noch erwähnt, dass ich aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit in und für Seoul am 28. Oktober 2010 zum Ehrenbürger der koreanischen Metropole ernannt wurde. Im November 2018 werde ich für meine wissenschaftlichen Publikationen, aber auch für meine ehrenamtlichen Tätigkeiten mit dem „Mirok-Li-Preis“ der koreanisch-deutschen Gesellschaft ausgezeichnet, was ich als besondere Ehre empfinde.

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SONDEREBEITRÄGE ZUM 50. JUBILÄUM

Mit Ausstellungen kulturelle Brücken bauen Felix Park Kulturmanager, Director von Felix Park Art Projects

Felix Park ist als Kulturmanager und Fotograf tätig. Er absolvierte zunächst ein journalistisches Volontariat und im Anschluss ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Projektmanager bei DaimlerChrysler folgte Park seiner Leidenschaft für Fotografie und Kunst. Seit 2007 hat er mehrere Ausstellungen in Museen und Galerien in Korea und Deutschland kuratiert. Er ist Autor von Berlin Art (2012) und Artist, Portrait of the Aesthetic Soul (2014). Als kultureller Brückenbauer möchte Felix Park mit seinen Ausstellungen ein vielfältiges Spektrum von Malerei, Skulptur bis hin zur Fotografie anbieten. Seit über zehn Jahren ist der 47-jährige Kulturmanager im Kunstbetrieb tätig und hat in dieser Zeit mit jungen sowie etablierten Künstlern aus unterschiedlichen Ländern erfolgreich zusammengearbeitet. Seine Referenzen umfassen Ausstellungen in Galerien und Museen sowie andere innovative Projekte. Für Ende 2018 plant er eine große John Lennon-Ausstellung im Hangaram Art Museum im Seoul Arts Center. – Redaktion

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üdkorea genießt seit einigen Jahren weltweit eine hohe Aufmerksamkeit. Mittlerweile ist hinlänglich bekannt, dass aus dem Land der Morgenstille nicht nur Autos, Schiffe, Handys und Elektronikartikel kommen, sondern auch kulturelle Erzeugnisse wie Kinofilme, Literatur, Fernsehserien und K-Pop sich global großer Beliebtheit erfreuen. Doch es lohnt sich gleichermaßen, einen Blick auf die vielfältige zeitgenössische Kunst made in Korea zu werfen: ein Bereich, der weltweit durchaus noch mehr Beachtung verdient. Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mit dem künstlerischen Austausch zwischen Korea und Deutschland. Meine Tätigkeit als Ausstellungsmacher begann ich 2006 in Berlin, zu einer Zeit, als der Kunstmarkt international boomte. Ich war überaus zuversichtlich, meine Nische speziell im Bereich zwischen Deutschland und Korea in kurzer Zeit zu besetzen. Zuvor arbeitete ich mehrere Jahre als Projektmanager in einem multinationalen Konzern, aber der Wunsch nach einem Karrierewechsel in Richtung Kunst war schließlich so groß, dass

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ich mich entschloss, den Job an den Nagel zu hängen. Mit dem bereits bestehenden Netzwerk aus deutschen und koreanischen Künstlern, Galeristen und einigen Sammlern in beiden Ländern schienen aus meiner Sicht die Bedingungen geradezu ideal für mein Vorhaben zu sein. Rückblickend dauerte es aber doch etwas länger, bis ich mir meine Position erarbeitet hatte. Vor sieben Jahren verschlug es mich mit meiner Familie nach Korea. Während meine Frau eine Forschungsstelle an einem Institut in Daejeon annahm, trat ich meine Stelle in einer noch jungen Galerie in Seoul an. Obwohl sich der Galerist bei den Ausstellungen auf etablierte koreanische Künstler konzentrierte, blieb der kommerzielle Erfolg aus und nach nur wenigen Monaten stand die Galerie vor dem Aus. Mir blieb somit keine andere Wahl, als mich selbstständig zu machen und auf eigene Faust nach Aufträgen zu suchen. Glücklicherweise ergab sich nach kurzer Zeit die Gelegenheit, mit der koreanischen Herrenmodedesignerin Woo Youngmi zusammenzuarbeiten. Meine Mission lautete, genreüber-


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greifend geeignete Künstler im In- und Ausland zu finden, die bereit waren, sich beim Schaffensprozess von Woo Youngmis jeweils aktueller Modekollektion (Frühjahr/Sommer- bzw. Herbst/Winter-Saison) und dem dahinter stehenden Konzept inspirieren zu lassen. Die Künstler – ob Maler oder Bildhauer – belohnten uns mit faszinierenden Arbeiten, die dann von dem Modelabel für das Marketing eingesetzt wurden. Statt der klassischen Werbekampagne mit Fotos von Models im neuen Outfit schaltete Woo Youngmi konsequent sieben Kollektionen hindurch international Anzeigen mit Abbildungen der speziell im Rahmen der Kollaboration kreierten Kunstwerke. Parallel dazu gab es Ausstellungen im Flagship-Store in Seoul, zu deren Eröffnungen die im Ausland lebenden Künstler auch eingeflogen wurden. Kunst und Kultur aus Deutschland genießen nach wie vor eine hohe Wertschätzung in Korea. Arbeiten zeitgenössischer deutscher Künstler sind häufig auf koreanischen Kunstmessen sowie in Galerien und Museen anzutreffen. Seit einigen Jahren übt zudem Berlin als kreative und internationale Metropole eine große Anziehungskraft auf koreanische Künstler aus. Viele

이민혁이 바라 본 베를린

13. 7. 2017

BERLIN PERSPECTIVES

LEE MINHYUK

möchten gern einmal in der deutschen Hauptstadt ihre Werke ausstellen oder gleich eine Weile dort leben und arbeiten. Das große Interesse an Berlin zeigte sich auch, als ich 2012 meinen in Korea erschienenen Kunst- und Galerienführer Berlin Art im Goethe-Institut in Seoul vorstellte. Die Veranstaltung zog ungewöhnlich viele Zuhörer an, darunter vor allem Künstler und Designer. Wie positiv sich ein mehrwöchiger künstlerischer Aufenthalt in Berlin auf das kreative Schaffen auswirken kann, testete ich gemeinsam mit dem Kölner Think Tank gannaca, als wir im vergangenen Sommer den in Seoul ansässigen Maler Lee Minhyuk (geb. 1972) für zwei Monate in die Spreemetropole schickten. Für Lee erfüllte sich damit ein langgehegter Wunsch und es fiel ihm leicht, seine vielen Eindrücke, darunter Berliner Straßenszenen, auf Leinwand oder in Form einer Fahrrad-Installation zu verarbeiten. Zum Abschluss wurden die atelierfrischen Werke erfolgreich in einer Ausstellung im Berliner Kunstverein L102.art zur Schau gestellt. Meine Rolle sehe ich in erster Linie als kultureller Brückenbauer zwischen Korea und Deutschland, der sich in der Kunstszene beider Länder auskennt und sich durch eine gewisse Sensibilität für beide Kulturen auszeichnet. Wichtig erscheint mir auch, ein Gespür für gesellschaftliche Fragen und Themen zu entwickeln und sich mit Künstlern und anderen Kulturschaffenden darüber auszutauschen. Ein wichtiges Meilenstein-Projekt war die Günter Grass-Ausstellung, die ich 2015 und 2016 in Zusammenarbeit mit der Seouler Galeristin Helen Yoo in zwei koreanischen Museen, dem Jeju Museum für zeitgenössische Kunst sowie dem Danwon Museum für moderne Kunst in Ansan, präsentierte. Auch in Korea ist Grass in erster Linie als Schriftsteller bekannt. Grass war aber ebenso ein talentierter Bildhauer und Grafiker, der sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf (19481952) und an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin (1953-1956) absolvierte. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte Grass bereits 1959 mit seinem ersten Roman Die Blechtrommel. Neben seinem literarischen Wirken war er auch stets bildkünstlerisch tätig und schuf ein umfangreiches Oeuvre an Zeichnungen, Grafiken und Plastiken, häufig auch in Bezug zu seinen Büchern. Grass sah sich auch stets als engagierten Bürger und schreckte nicht davor zurück, politische und gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Die landesweiten friedlichen Kerzenlicht-Demonstrationen gegen die damalige Präsidentin Park Geun-hye im Jahr 2017, an denen 17 Millionen Südkoreaner teilnahmen, hätten ihm zweifellos gefallen.

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13. Juli 2017_18 Uhr_Kunstverein L102.art_ Lützowstraße 102–104_10785 Berlin_Aufgang C _1. OG

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Das Plakat zur Berlin-Ausstellung des koreanischen Malers Lee Minhyuk.


Schüler posieren für ein Gruppenfoto vor dem Danwon Art Museum, in dem die Günter Grass-Ausstellung 2016 gezeigt wurde. © FelixPark

Die Leihgaben, darunter Originalzeichnungen, Lithographien, Radierungen, Skulpturen sowie andere Exponate, wurden von der Günter- und Ute Grass-Stiftung, dem Günter Grass-Haus in Lübeck sowie dem Kunsthaus Lübeck zur Verfügung gestellt. Unsere vom Goethe-Institut und der deutschen Botschaft unterstützten Ausstellungen fanden großen Anklang beim koreanischen Publikum. Mit knapp 12.000 Besuchern stellte die rund zwei Monate dauernde Schau im Jeju Museum sogar einen Besucherrekord für die Institution auf. Leider verstarb der Literatur-Nobelpreisträger 87-jährig im April 2015, sodass er den Erfolg dieser Ausstellungen in Korea nicht mehr miterleben konnte. Ich selbst hatte Grass bereits 2008 zu einem Interview- und Fototermin in seinem Atelier in Behlendorf bei Lübeck getroffen. Der Termin fand im Vorfeld der Präsentation seiner Kunstwerke auf der Korea International Art Fair in Seoul statt. Im damaligen Gespräch stellte sich heraus, dass der Literat und bildende Künstler sich noch gut an seinen Südkorea-Besuch während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 erinnerte. Bewegt war er vor allem noch von der Besichtigung der innerkoreanischen Grenze. Im Verlauf des Interviews bot er sich sogar als Moderator für ein Treffen nord- und südkoreanischer Kulturschaffender an. Was zu dieser Zeit vielleicht noch unerreichbar war, könnte nun angesichts der jüngsten politischen Annäherungen zwischen Pjöngjang und Seoul in den Bereich des Möglichen rücken. Ich bin zuversichtlich, dass sich vor allem auf kulturellem Gebiet bald einiges zwischen Nord- und Südkorea bewegen wird. Für Ende dieses Jahres plane ich eine John Lennon-Ausstellung, die im Hangaram Art Museum in Seoul stattfinden wird. Gezeigt wird die Art of John Lennon der Sammlung Michael

Wahle aus Deutschland. Ergänzt werden die Exponate durch Fotografien des New Yorkers Allan Tannenbaum (geb. 1945). John Lennon (1940-1980) hat bereits als Kind und Jugendlicher leidenschaftlich gern gezeichnet und Geschichten geschrieben. Von 1957 bis 1960 studierte er überdies am Liverpool Art Institute, entschied sich dann aber mit den Beatles für die musikalische Laufbahn. Die Ausstellung gibt anhand zahlreicher Karikaturen, Lithografien und Memorabilien einen Einblick in das vielfältige Leben Lennons als Zeichner, Dichter, Familienvater und Friedensaktivist. Sein ikonisches Imagine wurde zur Friedenshymne und zählt zu den bekanntesten Liedern aller Zeiten. Lennons Witwe, die bekannte Künstlerin Yoko Ono (geb. 1933), engagiert sich nach wie vor für den Frieden und teilte Ende April per Tweet mit, dass sie sah, „wie John vor Freude über den Koreagipfel einen Luftsprung im Weltraum machte“. Neben dem Lennon-Projekt möchte ich auch in Zukunft mit vielen weiteren interessanten Ausstellungen und Aktivitäten einen nachhaltigen Beitrag als Kulturvermittler leisten. Für 2019 habe ich bereits Ausstellungen mit zwei europäischen Künstlern in Planung: Die junge rumänische Fotografin Mihaela Noroc (geb. 1985) hat seit 2013 über 50 Länder bereist, um Frauen zu porträtieren und ihre Geschichten festzuhalten. Ihr über 500 Porträtfotos umfassendes Projekt The Atlas of Beauty, das bereits in mehreren Ländern in Buchform erschienen ist, wird sicherlich auch die Besucher in Korea in den Bann ziehen. Darüber hinaus beabsichtige ich die pastose Landschaftsmalerei des herausragenden Berliner Plein-Air-Malers Ben Kamili (geb. 1969), die in zahlreichen Galerien und Museen in Deutschland ausgestellt wird, auch in Korea vorzustellen.

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SONDEREBEITRÄGE ZUM 50. JUBILÄUM

Zwischen den Welten Philipp Jundt Professor an der German School of Music Weimar und am Conservatoire de Musique Neuchatel, Musikalischer Leiter des Gonjiam Festivals

Philipp Jundt ist Querflötist. Seine Karriere begann im zarten Alter von dreizehn Jahren. Da debütierte er als Solist mit dem Tonhalle Orchester Zürich. Er spielte Mozarts Flötenkonzert. Seit diesem Tag ist sein Leben bestimmt von Konzerten, Reisen und der täglichen Routine des Übens. Neben seinem Flötenstudium in München, Boston und Pittsburg studierte er parallel dazu Volkswirtschaftslehre in den genannten Städten. Nach verschiedenen Tätigkeiten in Orchestern entschied er sich vor zehn Jahren für eine Professur an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, German School of Music Weimar, die eine Kooperation mit der Kangnam Universität unterhält. Aus dem anfänglichen Plan, höchstens ein, zwei Jahre im fernen Asien zu bleiben, sind mittlerweile zehn Jahre und eine neue Heimat geworden. Zwei Jahre spielte er als Solo-Flötist im KBS Orchester Seoul, heute lebt er meist in Korea und pendelt zwischen Europa und Seoul. Er ist musikalischer Leiter des Gonjiam Festivals, des größten Flötenfestivals im asiatischen Raum. – Redaktion

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ls Student in München hatte ich das Glück, im Münchner Künstlerviertel Schwabing in einer wunderschönen Wohnung zu leben, die direkt neben einem koreanischen Imbissrestaurant lag. Damals liebte ich das koreanische Essen, hatte aber eine völlig falsche Vorstellung von Korea. Ich stellte mir viele Fahrräder, Reisfelder und kleine Straßen vor. Wenn ich jetzt in Seoul über eine siebenspurige Straße fahre, muss ich manchmal über meine Vorstellung von Korea schmunzeln. Im koreanischen Restaurant um die Ecke in München wurde ich sofort Stammkunde. Das Essen kam schnell, man konnte es mitnehmen und Knoblauch habe ich zum Leidwesen meiner Mitstudenten schon immer geliebt. Bald ging an der Hochschule das Gerücht herum, man rieche bereits beim Pförtner, dass Philipp Jundt im Haus sei. Meine Liebe zu koreanischem Essen ist sogar noch gewachsen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nur noch selten das Restaurant in München besuche. Das Essen dort ist nicht vergleichbar mit dem, das man in Seoul bekommt. Die Liebe zu Korea

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geht für mich also durch den Magen. Als ich meinen Münchner Freunden verkündete, dass ich eine Weile in Korea arbeiten würde, unterstellten sie mir scherzhaft, das sei nur wegen des Essens. Meine erste Erfahrung mit den Besonderheiten der koreanischen Kultur machte ich an einer Universität, die eine Kaderschmiede für koreanische Kampfsportarten ist. Die Universität befindet sich in der Nähe der German School of Music Weimar, an der ich arbeite. Ich hatte einen Termin ausgemacht, um beim Training zuzuschauen. Mich beeindruckte die eiserne Disziplin, mit der sich die Studenten gegenseitig kontrollierten und verbesserten. Es gab aber auch Körperstrafen. Für ein europäisches Auge war das im ersten Moment schockierend, aber gleichzeitig faszinierte mich das Hierarchiegefüge. Die älteren Studenten kümmerten sich voller Hingabe um die jüngeren, die ihnen im Gegenzug Respekt und Gehorsam entgegenbrachten. Viele Gewinner von olympischen Medaillen diverser Kampfsportarten sind Absolventen dieser Universität. Es war meine erste Begegnung mit


einem Phänomen, das mir in Korea immer wieder begegnen sollte. Zwischen meinen Studenten beobachte ich Ähnliches: Manchmal sehe ich vier oder fünf ältere Studenten, die im Kreis um einen jungen Studenten stehen. Sie treiben ihn an, ermutigen und motivieren ihn. Die älteren Studenten kümmern sich rührend um die jüngeren, erwarten aber auch Respekt als Gegenleistung. Anfangs fragte ich mich, ob Freiheit und persönliche Entfaltung nicht durch das Abhängigkeitsgeflecht in Bezug auf Familie, Freunde und Kollegen eingeschränkt werden könnten. Als Europäer unterschätzt man jedoch die Wichtigkeit eines Zugehörigkeitsgefühls. Heute empfinde ich die Strukturen im gesellschaftlichen Leben in Korea als bereichernd. Gerade in der Musikszene ist es sehr schwer, Fuß zu fassen und nach dem Studium droht oft Arbeitslosigkeit. Daher ist es extrem wertvoll, nicht ganz frei, sondern in einem Gefüge von Kollegen, von ehemaligen Mitstudenten, von Professoren und in der Familie gefestigt zu sein. Momentan ist Korea bezüglich des Aufbrechens sozialer und

politischer Strukturen besonders interessant. Überall im Land sind Spannungen zwischen den Generationen spürbar. Die Spannungen zwischen der noch gesellschaftlich einflussreichen älteren Generation, die dieses Land mit enorm viel Fleiß und Hingabe stark gemacht hat, und der jungen Generation, die mehr Freiheiten und Demokratie genießen möchte, werden oft thematisiert. In meiner Zeit im KBS Orchester in Seoul habe ich diesbezüglich Erfahrungen machen können: Vor einigen Jahren bekam ich einen Telefonanruf mit der Anfrage, ob ich noch am selben Abend mit dem KBS Orchester Solo-Flöte spielen könne, und zwar im Seoul Arts Center mit Fernsehübertragung des Bartok Konzertes für Orchester. Mir wurde gesagt, dass es ein paar politische Probleme gebe, aber Genaueres wurde mir nicht mitgeteilt. In den folgenden Monaten habe ich zuerst als Aushilfe und dann als festes Mitglied in diesem Orchester mitgewirkt. Es war eine turbulente Zeit, die Proben fielen oft aus. Die Struktur des KBS Orchesters war eine demokratische, es

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gab auch eine Gewerkschaft, die zu Streiks aufrief. Wochenlang herrschten Auseinandersetzungen zwischen dem Chefdirigenten und manchen Orchestermitgliedern. Dieser Konflikt wurde während der Orchesterproben auf emotionalste Weise ausgetragen. Tat jedoch jemand, der politisch nicht in die Sache involviert war, z.B. ein älteres, langjähriges Orchestermitglied, seine Meinung kund, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill und beide Seiten nahmen diese Meinung ehrfürchtig zur Kenntnis. Die soziale Hierarchie hatte in diesem Fall mehr Durchsetzungskraft als die strukturellen Mittel des Orchesters. Ganz anders sieht es in einem anderen großen koreanischen Orchester, Seoul Philarmonic, aus, wo ich nur ab und zu als Gast spiele. Demokratische Strukturen sind dort quasi non-existent und es herrscht ein recht strenges Reglement. Sogar über Einstellungen, Entlassungen, Beförderungen usw. wird kaum demokratisch, sondern von einzelnen Personen entschieden. Abgesehen von den deshalb unangenehmen Arbeitsbedingungen, hat sich dieses Orchester in den letzten zehn Jahren zu einem Spitzenensemble entwickelt, während in der gleichen Zeit das ehemalige Spitzenorchester Koreas, das KBS Orchester, meiner Meinung nach an Spritzigkeit und Qualität verloren hat. Das demokratische System hat sich also in diesen zehn Jahren gegenüber dem hierarchischen zumindest bezüglich der Qualität nicht bewährt. Als Musiker fällt es mir schwer, so etwas zu sagen, da natürlich die Arbeitsbedingungen meiner Kollegen diese Entwicklung nicht reflektieren. Als Musiker und als Arbeitnehmer stehe ich uneingeschränkt für das demokratische Prinzip. Aber als reine Beobachtung des musikalischen

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Ergebnisses ist es interessant zu bemerken, dass das beinahe diktatorische System zu einem riesigen Qualitätssprung geführt hat, während die Gewerkschaft das andere Orchester über Jahre hinweg gelähmt und aufgerieben hat. Demokratische Formen werden von Menschen und deren Kultur getragen und umgesetzt, nicht von Gesetzen. Ob die Entwicklung der Demokratie zu schnell, die Denkweise der Menschen bezüglich der Demokratie zu langsam vorangeht, möchte ich hier nicht bewerten, aber es ist doch ein Phänomen, das ich auch in anderen Bereichen in Korea beobachte. Die junge Generation der Flötisten z.B. hat eine ganz andere Einstellung zur Arbeit und zum Lernen als noch die ältere Generation. Man spürt ein deutliches Anspruchsverhalten, das sich die ältere Generation nicht erlauben konnte. Die hierarchischen Strukturen, die leider auch schon mal ausgenutzt werden, machen zwar verständlich, dass sich die junge Generation gegen alles Autoritäre zu wehren beginnt, aber es ist nicht so einfach, die Unzufriedenheit über das Sich-Beschweren hinaus in konstruktive Bahnen zu lenken. Korea befindet sich gerade an einem spannenden Moment der Geschichte und ich bin gespannt, wohin sich die gesellschaftlichen Strukturen entwickeln werden. Was mich aber an Korea am meisten berührt, sind Freundschaften. Ich habe erfahren, dass es manchmal zwar etwas länger dauert, enge Freundschaften zu knüpfen, dass diese aber, wenn einmal geformt, beinahe unzerstörbar sind. Freundschaft hat hier einen hohen Stellenwert. Es hat für mein europäisches Gefühl eher etwas mit Familie als mit Bekanntschaft zu tun.

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Eigentlich ist es das, was meine tiefe Verbundenheit zu Korea ausmacht. Musik ist eine Sprache, ein Mittel des non-verbalen Ausdrucks. Vielleicht kann man die Musik mit einer universellen Sprache vergleichen, die jede Kultur in ihrer eigenen, originären Form pflegt und weitergibt. In Europa gibt es das Klischee, dass asiatische Musiker technisch sehr weit, aber in ihrem musikalischen Ausdruck eher eingeschränkt sind. Abgesehen davon, dass das auf Korea in keinster Weise zutrifft, finde ich solche Pauschalisierungen grundsätzlich gefährlich und oft falsch. Nicht nur Musik, auch andere kulturelle Errungenschaften werden erfolgreich exportiert. Ein schönes Beispiel ist meiner Meinung nach das chinesische Essen. In Korea isst man beim Chinesen Jjajangmyeon, handgeschwungene Nudeln in einer dunklen Zwiebel-Speck-Soße. In China selbst habe ich ein solches Gericht noch nie gesehen. In der Schweiz gibt es sehr luxuriöses chinesisches Essen, ganz anders als in Deutschland, wo das chinesische Essen eher ein Imbiss ist. Beides habe ich in China in dieser Form nie angetroffen. Chinesische Speisen wurden den Geschmacksvorlieben unterschiedlichster Länder angepasst und verändert und schmecken überall toll, aber anders als in China. Klassische Musik ist eine konstruierte Kunst, die aus der europäischen Kirchenmusik hervorging. Zuerst gab es nur Quinten und Quarten, daraus entstanden immer speziellere Harmonien und Formen, auf denen heute das gesamte westliche Musikverständnis basiert. Die Klassische Musik verbindet europäische kulturelle, soziale und religiöse Werte. Wenn also diese Sprache

1. Philipp Jundt spielt mit dem Seoul Virtuosi Chamber Orchestra, dirigiert von Patrick Gallois, im Seoul Art Center. 2. In Zeche Zollverein Gelsenkirchen.

von einer fremden Kultur benutzt wird, löst das in unserer europäischen Denkweise Befremden oder sogar Angst aus. Meiner Meinung nach ist Musik nicht nur Ausdruck der eigenen Kultur, sondern auch eine Sprache, ein Ausdrucksmittel, das mit Themen anderer Kulturen verbunden werden kann, sodass etwas Neues entsteht. Für meine persönliche Entwicklung war vor allem die künstlerische Freiheit in Korea entscheidend. Unterschiedliche Stile und interpretatorische Auffassungen werden offener zugelassen, daher war es für mich hier einfacher, meine persönliche musikalische Sprache zu finden. Korea hat mich musikalisch geprägt, ohne dass ich den koreanischen Stil wirklich in mein Spiel aufgenommen habe. Die gesunde musikalische Umgebung war für mich ein Nährboden zur musikalischen Selbstfindung. Meine Arbeit in Korea teilt sich in drei ganz unterschiedliche Bereiche: Als aktiver Konzertflötist ist es meine Hauptaufgabe, dem Publikum meine Interpretation und meine Auffassung der wichtigsten Flötenliteratur zu vermitteln. Als Professor für Flöte versuche ich, junge Flötisten zu formen, ihnen meine Ideen von Musik, meine Vorstellungen von Flötenspiel, täglichem Leben, einer gesunden Arbeitsweise und einer professionellen Einstellung zum Musikerberuf weiterzugeben. Als Künstlerischer Leiter eines Flötenfestivals bin ich bemüht, Flötisten und Studenten zusammenzubringen und die Flöte einem breiteren Publikum vorzustellen. Für diese drei Tätigkeiten habe ich unterschiedliche Zukunftspläne, trotzdem haben alle drei ähnliche Herausforderungen. Vor vielen Jahren habe ich in einer Zeitschrift einen Artikel über einen Expat gelesen, der über seine Erfahrungen im Ausland erzählte. Er schrieb, dass viele seiner Kollegen, die länger als sieben Jahre im Ausland lebten, Schwierigkeiten gehabt hätten, wieder ganz zurückzukehren. Zehn Jahre sind es mittlerweile, zehn Jahre Korea. Vor ein paar Monaten habe ich ein Urlaubsjahr an meiner koreanischen Universität genommen, um am Conservatoire de Neuchatel zu arbeiten. Im Moment sitze ich oft im Flugzeug und pendele zwischen Korea und Europa. Und das ist nicht immer leicht. Ich beginne Dinge, Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens zu vermissen. Es ist nicht nur das koreanische Essen, das ich so liebe, sondern auch die hervorragende klassische Musikszene, die Kultur, die Menschen, die Denkweise, die Umgangsformen. Das tägliche Leben hat einfach eine höhere Geschwindigkeit. An all das habe ich mich gewöhnt und habe es lieben gelernt. Die große Herausforderung für mich wird es nun sein, beide Welten in der Zukunft zu verbinden und eine Lebensform zu finden, die das Wort „Heimat“ im Plural möglich macht.

© FelixPark

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SONDEREBEITRÄGE ZUM 50. JUBILÄUM

Der Ausländer, der keiner ist Daniel Tändler ist Architekt und führt mit seiner koreanischen Büropartnerin Choi Jihee das Architekturbüro Urban Detail Seoul. Er wurde 1980 als Sohn einer koreanischen Krankenschwester und eines Deutschen in Kassel geboren. Der Schwerpunkt seiner Arbeit als Architekt liegt in der Sanierung und Neuplanung von traditionellen Hanok-Häusern. – Redaktion Daniel Tändler Architekt, Mitinhaber Urban Detail

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ls Sohn einer koreanischen Krankenschwester bin ich von Geburt her nolens volens familiär mit Korea verbunden. In Deutschland falle ich dann wohl auch, wie ich kürzlich in einer ZDF Reportage über Korea, bei der ich mitgewirkt habe, zu meiner positiven Überraschung feststellen konnte, unter die Kategorie „Deutsch-Koreaner“. In der deutschen Sprache spiegelt sich die Kategorisierung des Einwanderers wider. Anders als in Amerika, wo koreanische Einwanderer sprachlich „Korean Americans“ sind, also in erster Linie Amerikaner, da das Hauptattribut im letzten Wort der Umschreibung wiedergegeben wird, bleiben Einwanderer einschließlich ihrer Kinder in Deutschland das, was sie ursprünglich waren. Deutsch-Türken sind eben Türken, Deutsch-Koreaner halt Koreaner. Ich möchte damit keineswegs meinen Unmut über mangelnde Akzeptanz in meiner ersten Heimat Deutschland kundtun. Ganz im Gegenteil. Ich habe das große Glück gehabt, in einer sehr freundlichen und zumindest in meinen Jugendjahren wenig fremdenfeindlichen Umgebung aufgewachsen zu sein. Meine Eltern haben es sehr gut verstanden, meinen Bruder und mich auf unbeschwerte Weise mit unseren koreanischen Wurzeln vertraut zu machen, ohne uns dies aufzuzwingen oder uns weniger deutsch fühlen zu lassen. Das muss ich ihnen wirklich sehr hoch anrechnen. Unsere koreanische Großmutter hat darüber hinaus fast sechs Jahre bei uns gelebt, sodass wir umge-

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Daniel Tändler bei der Arbeit im Architekturbüro Urban Detail.

ben von koreanischen Hangari, großen Tontöpfen, in denen Bohnenpaste und Sojasoße fermentiert werden, aufwuchsen. Die Nachbarskinder fragten oft verwundert, was denn diese merkwürdigen schimmeligen Ballen seien, die da bei uns im Schuppen vor sich hin trockneten. Das war Bohnenpaste, Meju genannt, die vor der Weiterverarbeitung von speziellen Mikroorganismen besiedelt wird, wodurch schließlich die Würzpaste Doenjang und Sojasoße entstehen. Meine Jugend war somit ebenso deutsch wie koreanisch geprägt, wobei mein Bruder und ich uns das Koreanisch aus frühen Kindertagen leider nicht über die Pubertät hinweg retten konnten. Ich musste die Sprache später im Leben mühsam wieder lernen, aber ich denke, dass die rudimentären Erinnerungen aus den frühen Kindertagen sicher geholfen haben. Wenn ich überlege, wo der Ursprung meiner seit jeher großen


Affinität zu Korea zu verorten ist, so hat neben meiner Mutter unsere Halmeoni, also unsere koreanische Großmutter, eine zentrale Rolle gespielt. Sie war eine sehr liebevolle und weise alte Frau, zu der ich eine sehr innige Beziehung hatte. Ich kann mich nicht an einen einzigen Streitmoment erinnern, weder mit meinen Eltern noch mit uns Kindern damals, in dem meine Halmeoni eine Rolle gespielt hätte. Bei unseren Besuchen in Korea in den Jahren, in denen unsere Halmeoni nicht bei uns war, bekam ich auch meine ersten Eindrücke vom Land. Es gab immer viel zu essen, viel Taschengeld und Geschenke. Für uns Kinder war das natürlich fantastisch. Aber von dieser eher oberflächlichen Ebene einmal abgesehen, entwickelte sich in mir schon damals ein Interesse an Koreas Geschichte und Kultur. Meine zweite Tante lebte früher noch in einem traditionellen Hanok, wo wir als Kinder mit

den Cousins wie die Sardinen auf dem Boden schliefen und uns nachts heimlich mit koreanischen Klamaukspielen den „Schlaf um die Ohren amüsierten“, was natürlich ein Heidenspaß war. So war dann auch bei mir wahrscheinlich der Samen gesät, der sich später zu meiner Berufslaufbahn entwickeln sollte. Nachdem ich mich zwar interessiert, jedoch nicht so sehr enthusiastisch durch die ersten Semester meines Wirtschaftsstudiums geschlagen hatte, fasste ich während eines Praktikums bei einem koreanischen Wirtschaftsforschungsinstitut den Entschluss, meine Lebenslaufbahn zu ändern. Bei der Frage, für was ich mich denn nun begeistern könnte, blieb ich letztendlich bei der traditionellen Architektur Koreas hängen. Allerdings sollte sich der Weg dorthin als nicht ganz einfach herausstellen. Zur damaligen Zeit – es war kurz nach der Jahrtausendwende – gab es auch in Korea nicht viel über Hanok in Erfahrung

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zu bringen. Schlussendlich wurde mir geraten, erst einmal in Deutschland Architektur zu studieren, da zu der Zeit selbst in Korea keine Möglichkeit bestand, im Rahmen einer Berufsausbildung etwas über Hanok zu lernen. Das Interesse an der traditionellen Architektur, was heute als „Hanok-Boom“ bezeichnet wird, stand damals noch ganz am Anfang. Ich fing deshalb an, in Aachen Architektur zu studieren und kam jedes Jahr in den Sommersemesterferien nach Korea, um über Praktika und dann auch in einem Auslandssemester an der Seoul Universität mehr über Hanok zu lernen. Das freie Studiensystem der damaligen Zeit – ich habe noch auf Diplom studiert – kam mir sehr zugute, da ich so viele Studienpunkte mit meinem eigenen Thema, was natürlich das Hanok war, erarbeiten konnte. Nach dem Studium habe ich knapp vier Jahre beim Architekturbüro Guga gearbeitet, das viel auf dem Gebiet des kontemporären Hanok geleistet hat. Für mich sollte es die richtige Entscheidung sein, dort anzufangen. Ich konnte die notwendigen Erfahrungen auf dem Gebiet sammeln und meine jetzige Büropartnerin, mit der ich ausgezeichnet zusammenarbeite, ist eine ehemalige Kollegin. Ebenso hatte ich dort eine Gruppe von eingeschworenen Kollegen um mich herum, die mir sehr gute Freunde geworden sind. Mein Leben hier war also vor allem in den ersten Jahren fast 100% koreanisch. Ich sprach im Alltag nur Koreanisch und auch die Arbeit spielte sich natürlich nur in dieser Sprache ab. So war ich gezwungen, das notwendige fehlende Vokabular schnell zu lernen. Ich hatte schon einen gewissen „Ausländerbonus“: Statt einer Woche Jahresurlaub bekam ich zwei, damit ich einmal im Jahr nach Deutschland reisen konnte, um meine

Seminare für die Eintragung als deutscher Architekt machen zu können. Die Arbeitszeiten waren allerdings auch für mich sehr koreanisch. Selten kam ich einmal vor 22.00 Uhr aus dem Büro. Aber dank der Kollegen und der guten Atmosphäre im Büro habe ich viele gute Erinnerungen. Trotzdem merkte ich irgendwann, dass ich ein solches Arbeitspensum langfristig wohl nicht verkraften können würde. Zu meinem Glück hatten wir keine so ausgeprägte „Hoeshik-Kultur“. In vielen Firmen gehört es zum Arbeitsalltag, mit seinen Vorgesetzten nach Feierabend noch etwas trinken zu gehen. In meiner Firma hielten sich Betriebsfeierlichkeiten jedoch in einem erträglichen Rahmen. Nach knapp vier Jahren war die Luft raus und ich verspürte das Bedürfnis, aus dem Hamsterrad zu springen und meine eigenen Wege zu gehen. Meine Kollegin, die zu einem ähnlichen Zeitpunkt aufhörte, und ich gründeten zusammen unser Büro Urban Detail Seoul. Damit begann für mich ein wirklich neues Kapitel mit Erfahrungen, die ich als Angestellter in der koreanischen Gesellschaft nicht machen konnte. Nachdem wir uns die erste Zeit über mit kleineren Projekten über Wasser gehalten hatten, mussten wir zusehen, wie wir an Aufträge kamen. Wir hatten unser erstes Jahr in einem wunderschönen Hanok verbracht, dessen Sanierung wir selbst geplant hatten. Eine Baufirma für traditionelle Architektur hatte den Umbau ausgeführt und wir teilten uns die Räume. Nach einem Jahr entschlossen wir uns jedoch, eigene Räume zu suchen, um unserer eigene Identität aufzubauen. In Korea funktioniert die Akquise, wie wohl überall, aber wahrscheinlich in noch größerem Maße als in Deutschland,

Urban Detail Eunpyeong Hanok, Ansicht von der Straße. Fotografiert von Hooxme (Lee Sanghoon)

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über persönliche Kontakte. Mir stellte sich hierbei die Frage, inwieweit mein „Deutschsein“ uns von Vor- oder Nachteil sein würde. Aber ausgerechnet Bier zählt nicht zu meinen Lieblingsgetränken, und Trinken überhaupt gehört nicht zu meinen Stärken, sodass ein in Korea nicht unwichtiger Weg, das berufliche Netzwerk auszubauen, wegfiel. Beim Sanieren unserer neuen Räume grübelten wir darüber, wie wir nun an Aufträge kommen sollten, angesichts der sich leerenden Firmenkasse wurde dies zu einem dringenden Problem. Dann trudelte jedoch eines schönen Tages eine E-Mail ein. Eine junge Familie wollte ein Hanok bauen. Sie hatte uns auf einem Umweg über den Globus gefunden. Der Bauherr hatte eine ältere Dame in Amerika als Englischtutorin, mit der er über Skype Konversation in Englisch übte. Er hatte im Rahmen seiner Englischstunden erzählt, dass er und seine Familie gerne ein Hanok als Wohnhaus bauen würden. Die Amerikanerin recherchierte daraufhin aus Neugier über Hanok und stieß auf einen Artikel, den ich einmal auf Englisch verfasst hatte. Sie schickte unserem Bauherrn eine E-Mail mit unserem Büronamen und dem Vermerk, sie hätte ein interessantes junges Büro für Hanok gefunden. Später erzählte uns der Bauherr, dass neben unserer Arbeitserfahrung bei einem bekannten Büro auch unsere freundliche und vertrauensweckende Art den Ausschlag für seine Entscheidung gaben. Für uns war dies eine wichtige Bestätigung, dass es auch in Korea immer einen Weg gibt, sich jenseits von klischeehaften Trinkrunden zu etablieren. Im Umgang mit Beamten, in unserem Fall mit der Baubehörde, lassen sich meiner Erfahrung nach im Vergleich zu Deutschland viele Probleme im gemeinsamen Gespräch lösen. Im Baubereich wirkt noch die historische Entwicklung nach, viele Regelungen passen nicht mehr so recht zu der heutigen Situation. In manchen alten Vierteln sind beispielsweise die offiziellen Grundstücksgrenzen „verrutscht“. Meine Vermutung ist, dass die offiziellen Einmesspunkte, die lange nach den Gebäuden entstanden sind, nicht korrekt verortet wurden. Dies führt dazu, dass die alten Hanok, die man nun gerne sanieren möchte, oft nicht richtig in den Grundstücksgrenzen liegen, oder besser gesagt, die Grenzen liegen nicht dort wo sie eigentlich sollten. Um Fördergelder zu bekommen, muss das Projekt aber den Baugesetzen entsprechen. Derzeit haben wir ein Projekt, bei dem uns nichts anderes übrig bleibt, als das alte Hanok abzureißen – zum Glück ist es bereits so überformt, dass wir es als nicht unbedingt erhaltenswert einstufen – und innerhalb der Grundstücksgrenzen neu zu bauen. In weniger extremen Fällen jedoch sind auch die Beamten bemüht, mit den Bauherren bzw. uns Architekten einen Weg über Ausnahmegenehmigungen zu finden, damit man das Projekt doch noch realisieren kann. Viele Dinge sind in Korea im Vergleich zu Deutschland oft etwas unpräzise. Es wird auch nie lange im Voraus geplant, jedoch

sind Koreaner im Gegenzug flexibler und finden meist spontan eine Lösung. Noch einmal zurück zu meinem „Deutschsein“ in Korea: Im Beruf ist dies manchmal ein Vorteil, manchmal auch nachteilig, wobei die Vorteile wohl eher überwiegen. Ich kann von Deutschlands ausgezeichnetem Ruf in Korea profitieren, der sich auch auf den Bereich der Architektur erstreckt. Hierdurch habe ich erst einmal einen Glaubwürdigkeitsbonus. Allerdings gibt es auch Bauherren, die nicht so recht glauben wollen, dass „ein Ausländer“ sich mit Hanok auskennen könne. Da ich mit meiner koreanischen Büropartnerin zusammenarbeite, können wir diesen Umstand jedoch zum Glück ausgleichen und bei moderner Architektur spielt dieser Nachteil keine Rolle. Allerdings berührt dies wiederum meine eigene Identität, die sowohl deutsch als auch koreanisch ist. Der Großteil der Menschen, die ich beruflich in Korea treffe, glaubt, es wäre angebracht, mich ohne zu fragen mit Vornamen anzusprechen, was nun weder in Korea noch in Deutschland im Berufsleben der Fall ist, vom teilweise verbreiteten Duzen unter Kollegen in Deutschland einmal abgesehen. Ich denke, dieses kulturelle Missverständnis rührt unter anderem vom Englischunterricht in Korea her, in dem Dialoge unter „Westlern“ immer unter Vornamen abgehalten werden. Das lasse ich aber mittlerweile meist nicht mehr so durchgehen, da ich sonst meine Rolle als Architekt vor allem auf dem Bau nicht so wahrnehmen kann, wie ich es muss. Koreaner müssen im Berufsbeziehungsgeflecht immer den Titel einer Person kennen, um einschätzen zu können, wer was zu sagen und wie man sich wem gegenüber zu verhalten hat. Mir missfällt zudem die Kategorisierung als Ausländer, als welchen ich mich selber nun einmal nicht fühle. Auch in unserer Außendarstellung als Architekturbüro spielt dies eine Rolle. Die letzten Monate hatte ich eine Reihe von Interviewanfragen sowie einen Auftritt in einer TV-Talkreihe zum Thema Architektur. Es läuft dabei immer auf dasselbe hinaus: „Schaut, ein Ausländer, der Hanok baut!“ Da bleibt mir meist nichts als der innere Seufzer. Aber eigentlich sind dies nur Luxusprobleme und ich darf mich glücklich schätzen, dass ich hier diesen meinen Weg gehen kann. Korea ist und bleibt unglaublich spannend. Die Kultur ist in einem dynamischen Prozess, die Tradition erlebt eine Renaissance und viele junge Koreaner haben gerade erst begonnen, hier ihre Kreativität und ihr Können zu entfalten. Kunst, Kultur und Architektur werden in naher Zukunft viel hervorbringen und ich bin dankbar, hieran in meinem bescheidenen Rahmen teilhaben zu können. Und wenn ich mit jungen Koreanern zu tun habe, dann weiß ich, dass dabei irgendwann mein „Deutschsein“ auf angenehme Weise keine Rolle mehr spielen wird.

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FOKUS

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Wandel durch urbane Erneuerung Verfallende Gebäude, verkommene Industrieanlagen und alte Wohngebiete nehmen in jüngster Zeit nicht durch Flächensanierung, sondern durch urbane Revitalisierung neue Gestalt an. Diese nur selten aufgesuchten, verlassenen und vergessenen Orte werden derzeit wiedergeboren und ziehen neue Bewohner an, was nicht nur den Raum an sich, sondern auch Leben und Arbeiten in diesen einst vernachlässigten Vierteln verändert. Yoon Hee-cheol Professor,

Fakultät für humane Architektur, Daejin University Fotos Ahn Hong-beom

Die Kulturstätte in Sangam-dong im nordwestlichen Randgebiet von Seoul wurde durch die Umfunktionierung von fünf in den 1970er Jahren gebauten Öltanks geschaffen. Das Gemeindezentrum in der Mitte des Komplexes wurde mit den Original-Stahlplatten der umgestalteten Tanks verkleidet. Im Zentrum befinden sich Räumlichkeiten für Vortragsveranstaltungen und Meetings.

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us Schutt und Asche des Koreakrieges (19501953) wieder auferstanden, erlebte Korea im Zuge des rapiden Wirtschaftswachstums eine schnelle Industralisierung und Verstädterung. Doch jetzt sehen sich Seoul und andere Großstädte mit der schwierigen Frage konfrontiert, wie veraltete städtische Räume wiederbelebt werden können. In diesem Zusammenhang wächst jüngst das Interesse an Stadterneuerungsprojekten. Im Gegensatz zur Flächensanierung, die kostpielig ist und zeitaufwändige makropolitische Entscheidungen mit sich bringt, hat die urbane Revitalisierung den Vorteil, dass Geschichte und Schönheit der Stadt zum Teil erhalten bleiben und zudem Konfliktpotential begrenzt sowie neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. Die Symbolik des Raumes erhalten Der Wandel der in der alten Seouler Innenstadt gelegenen Seun Sangga (Sewoon Shopping Mall) – einst DIE Adresse für Elektrobedarf aller Art – ist ein repräsentatives Beispiel dafür, wie heruntergekommene, vom Abriss bedrohte Gebäude auf bemerkenswerte Weise wiedergeboren werden können. Die 1968 fertiggestellte Seun Sangga bestand aus einer Flucht von Mehrzweckgebäuden, die sich einen Kilometer lang von Norden nach Süden erstreckte, und die Haupt-Durchfahrten der Seouler Innenstadt rund um die Straße Jong-ro und die Hauptstraße am Fluss Cheonggye-cheon, die west-östlich verlaufen, verbindet. Als Mekka der Elektronik war Seun Sangga ein Ort, 1

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von dem die Leute witzelten, dass „es nichts gibt, was es nicht gibt, sodass man dort sogar Satelliten zusammenbauen kann“. Zu der Zeit wurde die Gegend auch als Wohngebiet neuen Stils gehandelt. Die Stadtplaner stellten sich einen attraktiven Mehrzweck-Komplex aus Wohn- und Geschäftsgebäuden vor. Doch mit der regelrechten Entwicklung der Stadtteile Gangnam und Yongsan in den 1980er Jahren verblassten diese Hoffnungen. Außerdem verfiel die Gegend mehr und mehr und wurde schließlich in den 1990er Jahren zum Abriss- und Neubaugebiet erklärt. Glücklicherweise zogen sich die Abrisspläne so lange hin, bis ab 2015 die Bemühungen um die Revitalisierung von Seun Sangga deutlich wurden. Das überragende technische Knowhow der Elektrotechniker, quasi die „Ureinwohner“ von Seun Sangga, wurde mit dem Talent junger Künstler und mit den Technologien der vierten Industriellen Revolution wie 3D-Druck und Drohnen zusammengeführt, was zu einer Wiedergeburt des Viertels zu einem neuen Raum der Kunst, Technologie und Kultur führte. Bei einem Projekt der urbanen Revitalisierung geht es nicht nur darum, den Verwendungszweck eines Raumes zu ändern und die Gebäude entsprechend zu renovieren. Ein Raum kann nur dann neu belebt werden, wenn sein ursprüngliches Image oder seine Symbolik beibehalten und maximiert werden. Dafür gibt es ein weiteres Beispiel. Die Seouler Viertel Changsin-dong und Sungin-dong, in denen


früher Nähfabriken als Zulieferer für den Modemarkt der Dongdaemun-Gegend dicht an dicht operierten, sind ebenfalls Schauplätze eines interessanten Wandels. Als diese Gegend infolge der Rezession der Nähindustrie immer weiter verfiel, beschloss die Stadt Seoul, dort eine sog. „New Town“ anzulegen. Doch dieses Projekt wurde letztendlich nach langem Hin und Her gestrichen. Stattdessen wurde die Gegend vom Ministerium für Land, Infrastruktur und Transport zum „Pilotgebiet für urbane Revitalisierung“ bestimmt. Abriss war nicht mehr das Ziel. Die grundlegende Infrastruktur wie Straßen und kulturelle Einrichtungen wurde ausgebaut, wobei auch die Belebung der Nähfabrik-Straße vorangetrieben wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden seit 2014 verschiedene Kultureinrichtungen errichtet bzw. stehen kurz vor der Fertigstellung, darunter das Geschichtsmuseum der koreanischen Nähindustrie, die Werkund Kommunikationsstätte Changsin, ein Raum für kreative Kunst im Alltag, und das Nam-June-Paik-Gedenkhaus, in dem der Pionier der Videokunst seine Kindheit verbrachte. Vom Geheimbunker zur Kunstgalerie Ein anderes interessantes Projekt ist die Wiederherstellung eines verlassenen Raumes in der Seouler Innenstadt, das einen Einblick in die moderne koreanische Geschichte gewährt: Es handelt sich um einen geheimen, nicht dokumentierten Raum in Yeouido, wo die Nationalversammlung ihren Sitz hat, der 2005 während des Baus einer Busumsteigestelle zufällig entdeckt wurde. Dieser unterirdische, in den 1970ern erbaute Bunker umfasst einen 80 m² großen VIP-Raum und einem 800 m² großen Warteraum für Begleitpersonal. Vermutlich sollte er als Schutzanlage für Präsident Park Chung-hee dienen, der das Land von 1963 bis 1979 mit eiserner Faust regierte und auf einer Tribüne über dem Bunker Militärparaden beizuwohnen pflegte. Ursprünglich wollte die Stadt Seoul den Bunker zu einem unterirdischen Geschäftskomplex umbauen, gab den Plan dann aber auf, da das Fußgängeraufkommen dort mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens als zu gering eingeschätzt wurde. So wurde dieser verlassene Raum 2017 vom Kunstmuseum Seoul (Seoul Museum of Art; SeMA) in Form einer „Bunker-Kunstgalerie“ eröffnet, die sich mit ihren Ausstellungen über die Modernisierung Koreas und die Geschichte des Bunkers großer Beliebtheit erfreut. Ein weiteres Beispiel für die Umfunktionierung eines geheimen Raums befindet sich am Fuße des Berges Maebong-san hinter dem World Cup Stadium im Seouler Viertel Sangam-dong: „Kulturlagerstätte“. Dort gab es eine Öllagerstätte, die 22 Jahre lang als Einrichtung mit Sicherheitsstufe 1 für die Öffentlichkeit gesperrt war. Nach der ersten Ölpreiskrise 1973 baute die Stadt Seoul von 1976 bis 1978 fünf Betontanks mit einem

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3 © culturetank

1. Im Fab Lab Seoul in Seun (Sewoon) Sangga, einem Wohnund Geschäftskomplex in der alten Seouler Innenstadt, können Besucher mit 3D-Druckern und verschiedenen Materialien ihre eigenen Produkte kreieren. Das etwas heruntergekommene Viertel, das dank des von der Stadt Seoul 2015 initiierten Again Sewoon Project der Planierraupe entging, erschafft sich derzeit neu als synkretistischer Raum der Kunst und Technologie. 2. Der stillgelegte Öltank hinter dem Gemeindezentrum der „Kulturlagerstätte“ wurde mithilfe von Komponenten der anderen Öltanks zu einem Vorführungsraum umgestaltet. Im unteren Teil befinden sich eine Bühne und ein Zuschauerraum mit 200 Sitzplätzen. 3. Einer der alten Öltanks, der in seiner Originalform erhalten wurde, erlaubt Besuchern einen genaueren Blick auf die ursprüngliche Innenstruktur. Der Raum wird hauptsächlich für Medien-bezogene Ausstellungen genutzt.

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Bei einem Projekt der urbanen Revitalisierung geht es nicht nur darum, den Verwendungszweck eines Raumes zu ändern und die Gebäude entsprechend zu renovieren. Ein Raum kann nur dann neu belebt werden, wenn sein ursprüngliches Image oder seine Symbolik beibehalten und maximiert werden. 1

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Durchmesser von 15-38 m und einer Höhe von 15 m, in denen ein Monatsvorrat an Öl für die gesamte Stadtbevölkerung gelagert werden konnte. Doch die Existenz dieses Öllagers blieb der Öffentlichkeit bis 2000 unbekannt. Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft Korea/Japan 2002 wurde aus Sicherheitsgründen beschlossen, das Öl an einem anderen Ort zu lagern, aber aufgrund allgemeinen Desinteresses geschah 12 Jahre lang erst einmal nichts. Erst 2013 schlossen sich Experten und Bürger zusammen, um den kompletten Standort in einen umweltfreundlichen Kulturkomplex umzuwandeln. Der Plan, für den man sich nach einer öffentlichen Ausschreibung, bei der 95 Entwürfe aus 16 Ländern eingereicht wurden, entschied, sah vor, einen der fünf Tanks in Originalform als Exponat zu erhalten und die übrigen vier für unterschiedliche Nutzungszwecke umzugestalten. In der Mitte der Anlage wurde ein Gemeindezentrum in Erinnerung an die einstige Öllagerstätte errichtet. Die Außenseiten wurden mit den Original-Stahlplatten der alten Tanks verklei-


det, sodass der Eindruck entsteht, dass das Zentrum aus der Bauzeit der Tanks stammt. Die ummodellierten Tanks dienen als Multiplex-Einrichtungen für Vorführungen, Ausstellungen usw. Der breite Platz davor dient als offener Bereich für verschiedene Kulturevents. In der Umgebung wurden entlang des Maebongsan-Bergrückens von verschiedenen Pflanzenhabitaten gesäumte Wanderwege angelegt. Auf diese Weise wurde ein ehemaliges Öllager zu einem attraktiven „Kulturlager“. Seit der Eröffnung locken Vorführungen, Ausstellungen und Kulturprogramme aller Art, sodass sich dieser Ort rasch zu einem neuen Kulturstandort entwickelt. Vom Steinbruch zur Kulturanlage Das Kunstdorf Pocheon (Pocheon Art Valley) ist ein weiteres vorbildliches Beispiel, das zeigt, wie sich eine alte Industrieanlage durch urbane Revitalisierung verändern kann. In Pocheon, einer Kleinstadt nördlich von Seoul, befand sich ein bekann-

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ter Granitsteinbruch. Der hier gewonnene „Pocheon-seok“ (Pocheon-Stein) war aufgrund seiner Härte und schönen Maserung ein beliebtes Baumaterial. Seit Mitte der 1990er Jahre, als die vergleichsweise günstigeren Steinimporte aus China zunahmen, erlebte die Mine einen Niedergang und wurde schließlich geschlossen. Der Ort verwahrloste. Zur Wiederherstellung der zerstörten Natur und Belebung der Regionalwirtschaft setzte sich die Stadt Pocheon 2003 schließlich für die Umgestaltung zu einem Kulturkomplex ein. Der Steinbruch wurde mit Regenwasser zu einem künstlichen See umfunktioniert, in der Umgebung richtete man einen Skulpturenpark sowie eine kleine und eine große Freilichtbühne ein. Das Kunstdorf Pocheon, das im Oktober 2009 seine Türen öffnete, verzeichnet jetzt über 400.000 Besucher pro Jahr (2017) und gilt als Erfolgsbeispiel für von Lokalbehörden umgesetzte Projekte. 2017 wurde das Kunstdorf von der Gyeonggi Tourismusorganisation zu einer der „ Zehn Attraktionten der Provinz Gyeonggi-do“ bestimmt. Die Wiederbelebung veralteter bzw. verlassener Stadträume verbessert die Umwelt, stärkt geistiges Wohlbefinden und Zusammenhalt der Bürger durch soziokulturelle Aktionen und fördert den Aufschwung der Regionalwirtschaft. Dabei sollte stets berücksichtigt werden, dass die Pläne Identität und Besonderheiten der jeweiligen Örtlichkeit auf attraktive Weise widerspiegeln. Denn urbane Revitalisierung bedeutet, alte, nutzlose Stadträume zu heilen und gleichzeitig das Leben ihrer Bewohner zu verbessern.

1. Seongsu-dong, ein seit den 1960er Jahren für seine Druckerei-, Textil- und Logistiklager bekanntes Industrieviertel in der Seouler Innenstadt, verwandelt sich in einen kulturellen Hotspot. Das Daerim Warenlager, das einst für seine Reismühlen bekannt war, hat sich in ein bei jungen Leuten beliebtes Galerie-Café verwandelt. 2. Der Seoul Innovation Park, der 2015 im Eunpyeong-Viertel in West-Seoul eröffnet wurde, unterstützt von Bürgern vorgeschlagene Projekte in Bereichen wie Gesellschaft, Wirtschaft usw. Er befindet sich in dem Gebäude, in dem seit den 1960er Jahren das Nationale Gesundheitsinstitut und das Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten untergebracht waren. Das Foto zeigt den öffentlichen „Studierraum für Bürger“. 3. Gong, eine Indie-Kunsthalle, nutzt ein Fabrikgebäude als Ausstellungshalle. Munrae-dong, ein altes Industrieviertel am westlichen Stadtrand von Seoul, verwandelt sich mit dem Zustrom von Künstlern in dieses Niedrigmieten-Gebiet in einen Raum der Kultur.

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INTERVIEW

„Meine Stärke liegt im Detail“ 60 KOREANA Sommer 2018


Osulloc Tea House (Detail), Seoul, Lee Kwang-ho, Kollaboration mit Grav, 2017; Elektrikdrähte. © Rohspace

Lee Kwang-ho erinnert in seinem selbst entworfenen Jumpsuit und seiner Kappe an jemanden, der sich als Austronaut durch den Weltraum reisen sieht. „Träumen ist mein Job, deshalb bin ich glücklich, wenn ich Träume Realität werden lassen kann und meine Ideen greifbare Gestalt annehmen“, so der Jungdesigner. Seine erfrischenden und fröhlichen Kreationen, die er aus alltäglichen, jedem vertrauten Materialien in einfacher Herangehensweise und sorgfältiger Verarbeitung herstellt, ziehen die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstwelt auf sich. Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung JoongAng Ilbo Fotos Ahn Hong-beom

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ee Kwang-hos Durchbruch kam wie ein Wunder. Die erste Ausstellung, die der Jungdesigner nach Abschluss seines Studiums in Metallkunst und Design an der Hongik Universität auf die Beine stellte, war eine Enttäuschung. Es gab weder positive noch negative Kritik, was schlichtweg frustrierend war. Ein älterer Alumnus, dem er sich anvertraut hatte, wies ihn auf eine ausländische Design-Webseite hin, auf der man für seine Werke werben konnte. Also stellte Lee ein Portfolio zusammen und lud es samt Lebenslauf hoch. Zwar sah er sich in Bedrängnis, war im Inneren aber auch zuversichtlich. Denn er glaubte fest daran, dass die Hartnäckigkeit und Aufrichtigkeit, mit der er selbstständig Materialien erforscht und Werke hergestellt hatte, letztendlich Anerkennung finden würde, auch wenn er nie im Ausland studiert hatte. „Nicht lange, nachdem ich mein Portfolio hochgeladen hatte, kontaktierte mich die Galerie Commissaires in Montreal. Aufgeregt flog ich sofort nach Kanada. Dort traf ich mich mit Pierre Laramée, dem Kurator und Leiter der Galerie, der sich von meinen Werken beeindruckt zeigte und eine Solo-Ausstellung vorschlug. Als ich wissen wollte, was ihm denn so gut gefalle, antwortete er, dass meine Arbeiten neuartig und ungewöhnlich seien. Meine erste Solo-Ausstellung, die 2008 bei Commissaires gezeigt wurde, stieß auf positive Resonanz und ich konnte viele Stücke verkaufen. Während die Ausstellung noch lief, zeigten sich auch die Johnson Trading Gallery in New York und die Victor Hunt Gallery in Brüssel interessiert, was für mich den Weg zu großen internationalen Ausstellungen und Messen wie Design Miami und Art Basel öffnete.“ Die Tatsache, dass gerade die Johnson Trading Gallery, ein führender Player in der New Yorker Kunst- und Design-Welt, auf seine Werke aufmerksam wurde, bedeutete, dass ein bis dahin unbekannter koreanischer Designer Zutritt zur internationalen Kunstszene erhielt. Von da an wurde Lee überschüttet mit Anfragen von Galerien in Design-Metropolen wie Berlin, Paris, London, Amsterdam und Mailand, die alle an einer Kollaboration interessiert waren. Im April 2009 wurde er als einer von zehn vielversprechenden Designern zur Mailänder Möbelmesse eingeladen, wo er an „Craft Punk“, einer Design-Performance in Zusammenarbeit mit der Modemarke Fendi, teilnahm. Das signalisierte den Start seiner Karriere als internationaler Künstler. Wiederentdeckung vertrauter Materialien „Eine einfache Herangehensweise – das ist das Kernkonzept, das mich soweit gebracht hat,“ meint Lee. „Begon-

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nen hat alles mit dem Lichtdesign-Kurs an der Universität. Während die anderen Studenten dachten, dass Beleuchtungskörper nur durch Lampenschirme variiert werden könnten und sich entsprechend damit zufrieden gaben, nur Form oder Material der Schirme zu verändern, überlegte ich mir, ob man denn nicht nur aus den Basiselementen Strom, Stromkabel und Glühbirnen etwas Neues schaffen könnte. Schließlich fertigte ich ein Konstrukt aus geflochtenen Kabeln. Daraus entstanden die Knoten-Serie und die Obsession-Serie.“ Lee hat das Talent, vertraute Alltagsmaterialien mit neuen Augen zu sehen. Er lässt uns ihren ästhetischen Reiz neu entdecken, indem er z.B. durch Verflechten von Stromkabeln, Gartenschläuchen und PVC-Röhren, wie sie überall im Haus zu finden sind, neue Objekte schafft. Die „herumverknoteten“ Kabel, die lang von der Decke herunterhängen, wirken frisch in ihrer Rohheit und schön im Sinne der „Ästhetik der Verknotung“. Die Harmonie, die sich durch das Zusammentreffen von massengefertigtem Industriematerial und Handstrickerei ergibt, ist erfrischend und humorvoll zugleich. Seine Werke erinnern den einen an Fischkutterleuchten zum Anlocken von Fischen, den anderen an Strickarbeiten. „Ich sehe heute noch meine Mutter vor mir, wie sie Pullover und Schals für mich strickte, als ich klein war“, erinnert sich Lee. „Die Muster und Gewebe, die sie aus den bunten Wollfäden schuf, waren beeindruckend. Mit dieser Erinnerung im Hinterkopf verknüpfe ich heute sorgfältig und lückenlos Faden für Faden. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass der Erfolg eines Designs vom Detail abhängt. Letztendlich ist es ein Kampf um elaborierte Details und künstlerische Perfektion. Mein dauerhafter Erfolg auf der internationalen Bühne ist ausschließlich Resultat meines Strebens nach Perfektion bis zum letzten Feinschliff. Man muss fokussiert bleiben.“ Lee erinnerte sich an das Haus seiner Großeltern in Cheongpyeong, Provinz Gyeonggi-do, das er als Kind oft besuchte. Während der Schulferien half er den Großeltern auf dem Hof und lernte dabei, wie man mit den Händen arbeitet. In den Augen des Enkels schienen die Hände des Großvaters magische Kräfte zu besitzen: Er brauchte nur die Zweige von Zweifarbigem Buschklee zusammenzubinden und schon wurde daraus ein ordentlicher Besen! Unvergesslich blieb auch, wie er Garben aufschichtete. Damals erkannte Lee, dass Design der Prozess ist, durch den gewöhnliche, grobe Materialien durch die Hand des Menschen verwandelt werden. Die Erinnerungen an den Großvater und die Kindheitserfahrungen auf dem Land sind eine Quelle der Inspiration für


„Ich sehe heute noch meine Mutter vor mir, wie sie Pullover und Schals für mich strickte, als ich klein war. Die Muster und Gewebe, die sie aus den bunten Wollfäden schuf, waren beeindruckend. Mit dieser Erinnerung im Hinterkopf verknüpfe ich heute sorgfältig und lückenlos Faden für Faden. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass der Erfolg eines Designs vom Detail abhängt.“ KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63


1 © Gallery Seomi

seine Handarbeitsprojekte. Design, das die Vorstellungskraft anregt „Das Projekt Fatto a Mano for the Future in Kollaboration mit der Modemarke Fendi im März 2011 bestätigte erneut meinen Glauben an das Werken mit den Händen“, erzählt Lee. „Während ich an der Steite eines Meisterhandwerkers von Fendi sitzend Lederstreifen flocht, wurde ich mir wieder einmal bewusst, dass die Akribie, mit der Streifen egal welchen Materials immer und immer wieder miteinander verflochten werden, schon seit langer Zeit die Zukunft ist. Die Ästhetik dieser intensiven Verflochtenheit muss einfach jeden Betrachter berühren. Diese simple Tätigkeit lässt die Zeit schnell vergehen und hilft, seine Gedanken zu ordnen. Wenn durch die Bewegung der Hände etwas Gestalt annimmt, wird die Vorstellungskraft beflügelt, die zur nächsten Stufe des kreativen Schaffens führt.“ Die Sessel seiner Obsession-Serie, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit den koreanischen Ramyeon-Nudeln auch „Ramyeon-Sessel“ genannt werden, sind ein Hit, egal in welcher Galerie auf der Welt sie auch präsentiert werden. Schon allein bei ihrem Anblick stürzen sich die Kinder darauf, probieren sie aus, fassen sie an und haben ihren

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Spaß daran. Sie sind keine Sitzmöbel mehr, sondern Spielplätze. Herausragendes Merkmal und Philosophie von Lees Design ist Flexibilität: Seine Arbeiten regen die Vorstellungskraft des Zuschauers an und lassen sie über unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten für ein Objekt nachdenken. Sein Ziel ist es, Möbel zu kreieren, die je nach Raum unterschiedliche Geschichten in sich bergen. „Letztendlich ist auch Design eine Art Storytelling“, erklärt Lee. „Eins meiner Werke aus korrodiertem Kupfer habe ich mit Shape of a River betitelt. Wenn ich mich richtig an die Arbeit mache, fällt mir automatisch ein Titel ein. Ich beginne einfach, aber dann weitet sich die Arbeit aus, dieser ganze Prozess ist für mich interessant. Wenn die einzelnen Stufen öfter wiederholt werden, kommt letztendlich auch ein gutes Design zustande.“ Letztes Jahr baute Lee ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus im Seouler Viertel Seongsu-dong um und richtete dort seine Werkstatt ein. Die ursprüngliche Form des alten Backsteingebäudes wurde beibehalten, während metallische Materialien Ordnung in den Raum bringen. Die schlichte Schönheit der Werkstatt ähnelt Lees Designs. Die Lage ist optimal, da sich in der Nähe die Fabriken befinden, die mit ihm zusammenarbeiten. Mit


dem Schweißer und dem Kunststoffverarbeiter, die seine Arbeiten verstehen und ähnlich wie er denken, arbeitet er z.B. schon über zehn Jahre zusammen. Sie sind Gleichgesinnte, die ihn bei seinen manchmal verstiegenen Experimenten voll unterstützen und gelegentlich eigene Ideen beisteuern.

1. Obsession-Serie, Lee Kwang-ho, 2010; PVC 2. O’sulloc 1979 (Detail), Seoul, Lee Kwang-ho, Kollaboration mit Grav, 2017; Granit, Email, Kupfer, Aluminum, Edelstahl, Styropor, Glas und Holz 3. Shape of a Rive-Serie, Lee Kwang-ho, 2017; Kupfer © Rohspace

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© Ji Yohan

Sich erweiternde Kollaborationsmöglichkeiten Inzwischen hat Lee über seine Firma „kLo“ (kwangho Lee office) Kollaborationen mit verschiedenen Marken wie Christian Dior, Swarovski, Onitsuka Tiger und GENTLE MONSTER durchgeführt. In jüngster Zeit weitet sich der Radius solcher Projekte aus. War er früher

vor allem bei Modemarken gefragt, weil seine kunsthandwerklichen Techniken Parallelen zur Stoffweberei aufweisen, so erhält er heute auch Aufträge von Hotels und großen Unternehmen. Das neue Firmengebäude des korea3 nischen Kosmetikherstellers AmorePacific Group, das 2017 fertig gestellt wurde, ist ein Beispiel dafür. Das von dem britischen Architekten David Chipperfield entworfene Gebäude präsentiert eine unkonventionelle Raumstruktur, der an vielen Stellen Lee Kwang-hos Design-Handschrift abzulesen ist. Die gut strukturierte, geräumige Lobby im Erdgeschoss lädt die Besucher ein, auf den in Rot, Blau, Gelb, Grün und Braun leuchtenden Sitzmöbeln seiner Obsession-Serie Platz zu nehmen. Auch Raumgestaltung sowie Design von Möbeln und Beleuchtung von „O’sulloc 1979“, der Premium-Line-Teestube der Teemarke O’sulloc, und des „O’sulloc Tea House“ stößt bei der Kundschaft auf positive Resonanz. Die Räumlichkeiten vermitteln das Gefühl, sich in natürlicher Umgebung – in einem großen Wald oder einer Höhle – bei einem Tee zu entspannen. „Ich habe Granit verwendet, weil ich die gut sichtbare, über lange Zeiträume entstandene Körnung dieses Gesteins mag. Das Projekt mit AmorePacific bleibt mir besonders in Erinnerung, weil ich dabei die Eigenschaften, die Beschaffenheit und die Massivität des Gesteins nutzen konnte, um Werke unterschiedlicher Formen und Funktionen zu schaffen und in Räumen zum Einsatz zu bringen. Bei größeren Projekten wie diesem spielt gerade die künstlerische Vollendung kleinerer Elemente eine noch wichtigere Rolle. Dabei habe ich natürlich die räumliche Konfiguration des Großgebäudes berücksichtigt, doch letzten Endes wurde mir erneut bewusst, dass mein Perfektionismus Kernpunkt und Lösungsschlüssel ist. Ich gehe meinen Weg beständig weiter, indem ich Erfahrungen mit Materialien sammele, mit denen ich bislang noch nicht gearbeitet habe.“ 2017 stand Lee erneut im internationalen Rampenlicht, als er auf der internationalen Design-Ausstellung Mercado, Arte, Design (MADE) in Brasilien als „Designer des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Für die zweite Hälfte dieses Jahres plant er eine Solo-Ausstellung in der Galerie Salon 94 in New York.


HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Feine Bambusblenden seit fünf Generationen

Die Familie von Meister Jo Dae-yong stellt bereits in der fünften Generation Rollos aus Bambus her, ein Handwerk, mit dem sie im 19. Jh. in der ausgehenden Joseon-Zeit (1392-1910) begann. Das Rollo, auf Koreanisch „Bal“, war ein Alltagsgegenstand, der in traditionellen koreanischen Hanok-Häusern dem Sichtschutz diente, den Lichteinfall regulierte und private Bereiche abtrennte. Es war aber auch ein Kunstgegenstand, in den Werte und Wünsche der Familie in Form von dekorativen Mustern eingeflochten wurden. Der sich über 100 Tage und zigtausend Bearbeitungsschritte erstreckende Prozess der Herstellung ist gleichsam eine asketische Übung für den Handwerksmeister. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Choi Jung-sun

Am Webrahmen wird am Ende jedes Bambusfadens ein kleines Gewicht befestigt. Für eine Sichtblende werden feine Bambusstreifen von 1 mm Breite mit Seidenfäden verwoben, wobei die dekorativen Muster durch eine komplexe Verarbeitung der Fäden entstehen. Für komplizierte Muster werden mehr als 500 Spulen gebraucht.

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enn Jo Dae-yong an seinen Vater denkt, erinnert er sich unwillkürlich an seine Hände, die sich ständig in Bewegung befanden. Der Vater knüpfte Fischernetze in einem Dorf an der Südküste, das zur Stadt Tongyeong gehört. Sei es bei kaltem Nordwind oder bei Westwind im Herbst: In die Netze, die sein Vater entwarf und knüpfte, gingen stets ausreichend Fische. Wurde der Winter tiefer, schnitt er mit seinen geschickten Händen den der Meeresbrise ausgesetzten Bambus. Dann spaltete er das Bambusrohr in dünne Streifen, die er miteinander verwebte, und erst, wenn daraus eine mannshohe Blende geworden war, legte er die Arbeit aus der Hand. Einige Tage später wurde die Blende dann in irgendeinem Haus im Nachbardorf am Zimmereingang aufgehängt. Rollos wurden nicht nur aus Bambus, sondern auch aus anderen Materialien wie Schilf oder geschälten Hanfstängeln hergestellt, doch sein Vater bestand auf Bambus. Im Interview erklärt Jo, dass Rollos einst ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltagslebens waren: „Früher war der Zugang zum Anbang, dem Hauptraum der Frauengemächer, für Außenstehende sehr beschränkt. Wenn die Tür des Anbang in der heißen Jahreszeit offen gelassen wurde, hängte man ein Rollo als Sichtschutz auf, das einen Blick nach außen erlaubte, aber das Innere vor Blicken von außen schützte. Dies erklärt sich durch die unterschiedlichen Lichtverhältnisse zwischen Innen und Außen. Außerdem schützt das Rollo gegen die heißen Sonnenstrahlen, während es den Wind durchlässt.“ Das Rollo, das der räumlichen Trennung von Außen- und Innenbereich und dem Schutz des privaten Bereichs vor fremden Blicken diente, war damit ein geniales Mittel der vernünftigen Nutzung der räumlichen Gegebenheiten. Der Gebrauch solch gewebter Sichtblenden reicht über tausend Jahre bis in die Zeit der Drei Königreiche (57 v.Chr.-668 n.Chr.) zurück. Im Palast schützte sie vor dem Thron hängend das Antlitz des Königs vor den ungebührlichen Blicken der Untertanen. An rituellen Plätzen wie in den Schreinen vor den Aufbewahrungsorten von Ahnentafeln und religiösen Relikten dienten Blenden der Trennung von säkularem und sakralem Bereich. In Sänften schirmten kleine Blenden die Person im Inneren vor neugierigen Blicken ab. Bambusernte Jo Dae-yong nahm das Handwerk seines Vaters als seine Berufung an. Er war dabei, wann immer sein Vater Bambusstreifen zu Rollos webte. Für ihn gab es weder einen Anfang noch ein Ende der Lehrzeit. Auch war er weder begierig das Handwerk zu erlernen, noch sträubte er sich dagegen. Er hatte lediglich die Hände seines Vaters, die den Webstuhl bedienten, beobachtet. Mit der Zeit benutzte Jo den Webstuhl dann, als hätte er schon immer ihm gehört. Viele Jahre lang wurde sein Tag von der immer gleichen Routine bestimmt: stundenlanges Weben, den Webstuhl in eine Ecke des

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Wenn sanftes Nachmittagslicht hereinfällt und eine leichte Brise über die Oberfläche der Blende streicht, verschmelzen die eingewebten Muster sanft mit der Landschaft jenseits des Rollos. Das Spiel von Licht und Wind lässt die eingewebten Muster lebhaft hervortreten oder zu einem unauffälligen Teil der Landschaft werden. Zimmers schieben, erschöpft auf dem Boden liegen, um sich dann wieder aufzusetzen, den Webstuhl zu sich zu ziehen und weiter zu weben. Auf diese Weise hatte auch sein Vater die Zeit verbracht, sein Großvater und auch sein Urgroßvater. „Mein Urgroßvater, der 1856 die Beamtenprüfung für die militärische Laufbahn bestand, fertigte, während er auf seine Ernennung für einen Posten wartete, zum Zeitvertreib ein Bambusrollo, das er König Cheoljong (reg. 1849-1863) schenkte, der sich auch sehr darüber gefreut haben soll“, erzählt Jo. „Sowohl mein Großvater als auch mein Vater gingen einem anderen Broterwerb nach. Sie webten jedoch in ihrer Freizeit Rollos, die sie verschenkten, aber ab und zu auch verkauften, um nebenbei etwas Geld zu verdienen. Erst im Ruhestand widmete sich mein Vater ausschließlich der Herstellung von Rollos. Während der Arbeit an einem Stück, das bei einem Wettbewerb ausgestellt werden sollte, beschloss ich, daraus einen Beruf zu machen. Das war Mitte der 1970er Jahre.“ Was es für die Männer in Jos Familie wohl bedeuten mochte, über Generationen ein Handwerk weiterzugeben, das kein Beruf war? Was wird dabei vererbt: ein Leben, eine Kultur oder eine Fertigkeit? Wie lassen sich wohl Energie und Bewegungen der Hand, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, mit Worten beschreiben? Welche Bedeutung haben die Rollos für Jo Dae-yong, der für seine Technik zur Herstellung dieser Bambusblenden als Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturerbes Nr. 114 ausgezeichnet wurde und als der herausragendste Meister seines Faches gilt? Fragen dieser Art häuften sich in mir bei unserer Begegnung. Der Meister erklärt die Besonderheiten seines Handwerks: „Das Holz zum Bauen eines Hauses wird gewonnen, bevor der Saft in den Bäumen aufzusteigen beginnt. Das gleiche gilt für den Bambus. Er sollte in der Zeit der Knospenruhe vor Anbruch des Frühlings geschnitten werden. Im Sommer geschnittener Bambus kann bei der geringsten Berührung brechen. Eigentlich bricht Bambus nicht so leicht, es sei denn, Insekten bohren sich in die Halme. Daher wird Sommerbambus zum Schutz vor Insektenbefall zunächst in Lauge gekocht.“ Die Qualität des Rohmaterials bestimmt die Qualität des

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Werks. Daher ist Jo sehr kritisch bei der Auswahl des Bambus. Als Material verwendet er vor allem die Bambusart Arundinaria simonii. „Der hoch wachsende Phyllostachys bambusoides ist dick, das Rohr fast kratzerfrei, da er nur hier und da wächst. Geschält und gewebt weist er einen klaren Farbton auf. Aber weil dieser Bambus hart ist, bricht er auch leichter. Der Arundinaria simonii hingegen ist sehr dünn und wächst dicht an dicht. Bei Sturmwind schlagen die Halme aneinander, was viele Kratzspuren hinterlässt. Doch die Halme sind weich und elastisch, sodass sie nicht leicht brechen. Es gibt da doch die dünnen Bambusrohre, aus denen man früher Pfeile oder Tabakspfeifen machte. Die meine ich.“ Jo zeigt auf einen Haufen Bambusstreifen, der auf einer Seite der Werkstatt liegt. Es sei sein Jahresvorrat, den er vom letzten Dezember bis Januar dieses Jahres angelegt habe, und der für sieben, acht Rollos reichen dürfte. Dahinter steckt Knochenarbeit: Um solche Streifen zu gewinnen, muss er auf dem Boden kauernd das vergangene Leben des Bambus in Augenschein nehmen. Er bahnt sich seinen Weg durch dichte Bambushaine, um gerade gewachsenen Bambus mit möglichst wenig Kratzschäden zu finden. Junge, ein-, zweijährige Bambushalme sind ungeeignet, weil sie weich und daher schlecht zu spalten sind. Nur ein dreijähriger Bambus, der sich mit leichtem Messerstich senkrecht spalten lässt, stellt ihn zufrieden. Aber nur einer von zehn Bambushalmen, die er prüft, erfüllt diese Bedingung. Alltagsgegenstand und Kunstwerk zugleich Die harte Arbeit fordert ihren Tribut: „Nach einem Monat im Bambushain geht es meinem Rücken schlecht. Und die Ärzte sagen, dass ich nicht so lange sitzen darf... Aber das fällt mir noch schwerer, da ich ja mein ganzes Leben im Sitzen webend verbracht habe.“ Das Sammeln der Bambushalme ist nur der Anfang. Gleich danach müssen sie in Rollo-Größe – in der Regel 125-180 cm Breite x 180 cm Höhe – geschnitten werden und vor dem Schwarzwerden der Halme gilt es, Rinde und Mark zu entfernen. Danach werden die Halme in lange Streifen gespalten und einen Monat lang Sonne, Wind und Tau ausgesetzt trock-


nen gelassen. Haben sich die grünen Bambusstreifen hellgelb gefärbt, werden sie in Streifen von einem Millimeter Dicke geschnitten. Am schwierigsten ist der nächste Schritt: das Verfeinern der Bambusstreifen mit dem Gomusoe, einer runden Stahlplatte mit unterschiedlich großen Löchern: „Schlägt man einen Nagel in eine dünne Stahlplatte, entsteht auf der Rückseite eine scharfe Ausbuchtung. Bearbeitet man die Spitze mit einem Schleifstein, entsteht ein winziges Loch. Jeder einzelne der millimeterdünnen Bambusstreifen wird durch dieses Loch gezogen. Die scharfen Lochränder schaben den Bambusstreifen noch feiner. Dieser Schritt wird dreimal wiederholt. Am Ende ist der Streifen 0,6 bis 0,7 mm dünn. Allerdings bricht der Bambusstreifen leicht, wenn man ihn im falschen Winkel ins Loch hineinschiebt oder durchzieht. Wiederholt man diesen hohe Konzentration erfordernden Arbeitsvorgang immer und immer wieder, werden die Fingerkuppen abgenutzt und man fängt sich Splitter ein. Weil diese Arbeit hohes taktiles Feingefühl erfordert, kann man keine Handschuhe anziehen, egal wie dünn sie sein mögen.“ Geht man davon aus, dass für ein Rollo rund 1.800 Bambusstreifen gebraucht werden und dass jeder Streifen drei Mal durch so ein Loch gezogen werden muss, und rechnet man noch 100 brechende Streifen hinzu, bedeutet das, dass der ganze Vorgang 5.700 Mal wiederholt werden muss. Das heißt,

Jo Dae-yongs Familie, die Mitte des 19. Jhs mit dem Handwerk begann, stellt jetzt bereits in der vierten Generation Bambusblenden her. Jo Suk-mi, die das Handwerk in der fünften Generation übernimmt, beim gemeinsamen Weben mit dem Vater.

dass man seine Armbewegungen 5.700 Mal feinabstimmen muss und dass die Augen auf das Loch fixiert bleiben müssen, um selbst Abweichungen von 0,1 mm erkennen zu können. Doch Jo selbst hat solche Berechnungen noch nie angestellt. Auf meine Frage, wie schwer es sei, sich diese Fertigkeit anzueignen, antwortet er lediglich: „Man macht einfach weiter, bis es einem gut gelingt. Für diesen Arbeitsschritt braucht man wenigstens fünf Jahre, bis man den Dreh raushat, also länger als für alles andere.“ Für die Fertigstellung eines Rollos braucht Jo rund 100 Tage: 25 Tage fürs Bearbeiten der Bambusstreifen und 75 Tage fürs Weben. Die feinen Bambusstreifen werden auf den Webstuhl gespannt und mit Seidenfäden aneinander gewoben, wobei auch dekorative Muster und Schriftzeichen eingearbeitet werden. Da diese Dekors lediglich mittels der Seidenfäden hinzugefügt werden, müssen je nach Komplexität des Musters 500 oder mehr Garnspulen am Webstuhl aufgehängt werden. Das heißt, dass das Muster aus 500 Garnfäden gewebt wird. „Ich verwende meistens chinesische Schriftzeichen, die für lan-

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1. Bambusblende mit den chinesischen Schriftzeichen für Doppeltes Glück und Schildkrötenpanzer-Design von Jo Dae-yong, 2017, 180 x 132 cm 2. Für eine Blende werden mehr als 1.800 Bambusstreifen gebraucht. Dafür durchkämmt Jo jedes Jahr von Dezember bis Januar die Bambushaine an der Küste von Tongyeong. Er verwendet v.a. die Bambusart Arundinaria simonii, die besonders dünn und biegsam ist und seltener bricht.

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ges Leben, Glück, Gesundheit und Wohlergehen stehen. Schauen Sie sich mal das Rollo an der Wand an“, sagt Jo. „Sehen Sie in der Mitte das Schriftzeichen 囍, das aus zwei identischen Zeichen für Freude besteht? Sehen Sie auch die Muster, die das Zeichen ausfüllen? Die Striche der Zeichen setzen sich aus vielen hexagonalen Schildkrötenpanzer- und Fischnetzmustern zusammen.“ Die feinen Muster des Rollos, das wie ein Bild an der Wand hängt, sind nur aus der Nähe zu erkennen. Sie haben zwar einen schlichten und sanften Charme, vermögen jedoch den Blick nicht lange zu fesseln. Hängt das Rollo jedoch am Zimmereingang eines traditionellen Hanok-Hauses, sieht es schon wieder anders aus: Wenn sanftes Nachmittagslicht hereinfällt und eine leichte Brise über die Oberfläche der Blende streicht, verschmelzen die eingewebten Muster sanft mit der Landschaft jenseits des Rollos. Das Spiel von Licht und Wind lässt die eingewebten Muster lebhaft hervortreten oder zu einem unauffälligen Teil der Landschaft werden. Das Bambusrollo, das Zeit und Raum offen annimmt, strahlt eine sich jeden Augenblick wandelnde Schönheit aus und bewegt sich diesseits und jenseits der Grenze zwischen Alltagsgegenstand und Kunstwerk. Bedroht durch verändertes Wohnumfeld „Ich kann ja nicht jedes Jahr die gleichen Rollos herstellen. Die Bambusstreifen und Fäden sind zwar im Laufe der Zeit immer feiner geworden, aber auch da gibt es Grenzen. Daher kann man nur anhand der Muster erkennen, dass sich die eine Blende von der davor unterscheidet. Auf gleich große Blenden füge ich also z.B. die Schriftzeichen einmal so und ein anderes Mal so ein. Ich habe versucht, die Ideogramme in unterschiedlichen Stilen einzuweben, aber mit mehr Schriftzeichen – und mehr Strichen pro Schriftzeichen – wird es schwieriger, die Sechsecke aus gewebten Fäden gleichmäßig in den leeren Raum zwischen den Strichen unterzubringen. Mit Fäden Designs zu schaffen, mag zwar leicht aussehen, doch jedes einzelne Detail muss sorgfältigst geplant und aufeinander abgestimmt ausgeführt werden. Obwohl ich diese Arbeit schon gut 50 Jahre mache, bin ich immer noch vorsichtig.“ Unser Gespräch über Designs offenbart auch das „Design von Jos Charakter“. Ich möchte wissen, welche Blende die stilvollste sei, die er je gesehen hätte. Er antwortet darauf: „Einmal erhielt ich den Auftrag, eine beschädigte Blende zu reparieren, die Francesca Donner Rhee, die Gattin des ehemaligen Präsidenten Rhee Syng-man, ihrer Schwiegerfamilie geschenkt hatte, bevor sie in die USA ging. Ich hätte das Rollo zwar auseinandernehmen und restaurieren können, gab dem Kunden aber den Rat, es in ehrender Erinnerung an die Person, die es ihm hinterlassen lassen hatte, nicht zu erneuern. Mein Rat wurde angenommen. Später habe ich die Muster dieses Rollos

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in einem meiner Werke neu geschaffen, für das ich dann beim Wettbewerb für traditionelles Kunstgewerbe mit dem Preis des Präsidenten ausgezeichnet wurde.“ Beim Erzählen fällt Jo auch das unvergessliche Werk ein, das er im Tempel Songgwang-sa in Suncheon gesehen hatte: Es war eine Hülle aus Bambusstreifen, die zur Aufbewahrung buddhistischer Sutren diente. Das eingewebte Muster aus Dutzenden von fliegenden Fledermäusen sei beeindruckend gewesen. Jo ergeht sich so lange in der Erinnerung an dieses Werk, dass ich ihn frage, ob er nicht auch den Ehrgeiz habe, ein solch exquisites Stück anzufertigen. Seine Antwort: „Dafür fehlt mir der Mut. Der Mönch, der es gefertigt hat, muss zwei, drei Jahre lang alles andere dafür stehen und liegen lassen haben. An dem Werk lässt sich ablesen, dass sein ganzes Herzblut in diese Arbeit geflossen ist.“ Doch auch für einen Meister sind die Gegebenheiten kritisch. Seitdem die traditionellen Hanok-Häuser eins nach dem anderen verschwinden, ist auch die Nachfrage nach Bambusrollos stark zurückgegangen. Seit einiger Zeit ist daher nicht die Herstellung, sondern der Verkauf zu einem akuten Problem geworden. Zudem ist es auch nicht leicht, das Handwerk weiterzugeben, da es kaum eine Zukunft verspricht. Jos Sohn und Tochter führen das Familienhandwerk zwar erst einmal weiter, aber was daraus wird, bleibt ungewiss. Als der Regen während des ganzen Interviews nicht aufhören will, legt sich Jo, der sich ständig den schmerzenden Rücken gerieben hatte, schließlich bäuchlings auf den Boden und hebt nur für kurze Antworten den Kopf. Vor sechs, sieben Jahren seien auch noch Kindergartenkinder gekommen, die mit eigenen Augen und Händen seine Arbeit hautnah erlebt hätten. Es sei traurig, dass heute nicht einmal mehr solche Besucher kämen. Die Handwerkskunst dieser Familie, die nun an die fünfte Generation übergeht, flackert schwach im rauen Wind der Zeit.

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UNTERWEGS

Jeong Yak-yongs Heimatstadt

Wiege geistiger Eminenz Jeong Yak-yong träumte zusammen mit dem reformorientierten König Jeongjo (reg. 1776-1800) von einer Renaissance des Joseon-Reiches, indem er kritischen Intellekt in Geisteswissenschaft, Naturwissenschaft und anderen Bereichen forderte und praktisches Handeln befürwortete. 2018 markiert den 200. Jahrestag der Veröffentlichung von Jeongs Meisterwerk Mongmin simseo (Buch der Anweisungen zur Landesverwaltung) sowie seiner Entlassung aus 18 Jahren Verbannung. Zwar sind seit seinem Tod bereits 180 Jahre vergangen, aber es scheint, dass Jeongs Herz noch immer in der Nähe des Flüsschens Cho-cheon, das durch seinen Heimatort fließt, weilt. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom

© Choi Il-yeon

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Die Flüsse Namhan-gang und Bukhan-gang fließen in Dumulmeori, Kreis Yangpyeong, Provinz Gyeonggi-do zusammen. Das Gebiet hat seine ursprüngliche Funktion als Knotenpunkt des Transports von Menschen und Waren längst verloren, dafür bietet der Morgennebel künstlerische Inspiration. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 73


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euchter Nebel lässt das Objekt des Blickes verschwommen erscheinen. Da die Sicht dadurch nicht völlig blockiert wird, bewegt sich der Blick zwischen dem Offenbarten und dem Verborgenen. Ästhetische Neugier regt sich, wenn zwischen dem, was transparent und ehrlich offenbart wird, und dem, was halb verborgen bleibt, ein gewisses Gleichgewicht erreicht wird. Dumulmeori, auf den man vom Tempel Sujong-sa aus einen schönen Blick erhält, war schon immer ein berühmtes Ziel von Dichtern und Künstlern, die die landschaftliche Schönheit der sich unter ihnen erstreckenden lieblichen und und sauberen Weiten des Han-Flusses besingen oder auf der Leinwand einfangen wollten. Heute ist es ein gerne von Amateurfotografen aufgesuchter Ort. Tempel Sujong-sa und feuchter Nebel „Dumulmeori“, wortwörtlich „Kopf von zwei Wassern“, ist eine häufige Bezeichnung für eine Stelle, an der zwei Flussläufe ineinander fließen. Hier bezieht es sich auf den südlichen Teil von Yangsu-ri in der Provinz Gyeonggi-do, wo sich die Flüsse Namhan-gang und Bukhan-gang vereinen. Eine knappe Stunde Fahrt von Seoul aus vorbei an der Stadt Hanam und über die Paldang-Brücke bringt Sie zu diesem stillen Ort, der einen weiten Ausblick auf Flüsse und Berge bietet. Es ist daher ein perfektes Wochenendziel für die Bewohner von Seoul. Nach weiteren 300 Metern Wanderung über einen steilen Bergpfad erreicht

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1. 2018 markiert den 200. Jahrestag des Erscheinens von Mongmin simseo (Buch der Anweisungen zur Landesverwaltung), eines der wichtigsten Werke von Jeong Yak-yong. Das 48-bändige Werk wird insbesondere wegen seiner Kritik an der Tyrannei der Hofbeamten und wegen seiner Vorschläge, wie die lokalen Magistrate dem Volk dienen können, hochgeschätzt. 2. Nach 18 Jahren der Verbannung kehrte Jeong Yak-yong in sein Heimatdorf Majae in Namyangju, Provinz Gyeonggi-do, zurück, wo er bis zu seinem Tode 18 Jahre lebte. Er träumte davon, als Fischer in seinem Heimatort zu leben.

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man den auf dem Berg Ungil-san gelegenen Tempel Sujong-sa, von wo aus man auf Dumulmeori hinunterblicken kann. Dumulmeori hatte eine Fähranlegestelle, die auf der Route lag, die Jeongseon in der Provinz Gangwon-do und Danyang in der Provinz Chungcheongbuk-do mit den Seouler Fähranlegestellen in Ttukseom und Mapo verknüpfte, die damals wichtige logistische Knotenpunkte waren. Aber als 1973 der Paldang-Damm im Unterlauf fertiggestellt wurde, verlor Dumulmeori seine historische Funktion als Wasserstraße. Der Damm führte zur Verbreiterung des Flusses und zur Verlangsamung der Strömung, was zur Bildung eines seeähnlichen natürlichen Umfeldes führte, in dem Rohrkolben, Schilfrohr, Lotusblüten und Wasserkastanien, die stille Gewässer bevorzugen, gedeihen. Um diese ökologischen Veränderungen zu nutzen, wurden am Flussufer mit verschiedenen Einrichtungen und Skulpturen ausgestattete Feuchtgebiete wie der Park Semiwon und der Ökopark Dasan angelegt, die selbst an Wochentagen voller Besucher sind. Höhepunkt ist der feuchte Nebel. Im Morgengrauen, wenn der Temperaturunterschied zwischen Wasser und Land größer wird, steigt ausnahmslos Nebel über der sanften Wasseroberfläche auf. Der Nebel erhebt sich über dem See Cheongpyeong-ho, von wo aus er sich um diese und jene Berge schlingt, um sich schließlich bei Anbruch des Tages mit dem Bergwind auf die Dumulmeori-Flusslandschaft zu senken, was einen atemberaubenden Anblick bietet. Jeder, der diesen aus den Nebelschleiern geborenen Tagesanbruch erlebt, wird unwillkürlich innehalten, eingefangen in Erinnerung an die alte Landschaft. Wenn Sie vom Tempel Sujong-sa aus den Sonnenaufgang über Dumulmeori gesehen und damit einen der spektakulärsten Ausblicke über den Han-Fluss genossen haben, kommen Sie auf dem Weg nach unten an dem kleinen Café in der Nähe des Parkplatzes vorbei. Wenn sie ein paar Worte mit der Inhaberin wechseln, kann es gut sein, dass sie Ihnen auf ihrem Handy einige Fotos von den rätselhaften und fantastischen Ansichten von Dumulmeori zeigt, die Sie hierher gebracht haben. Als der 22-jährige Jeong Yak-yong (1762-1836; Beiname: Dasan (Tee-Berg)) im Frühjahr 1783 die niedere Beamtenprüfung Saengwonsi bestand, reiste er zusammen mit zehn Kameraden zum Tempel Sujong-sa, um sich zu seinem Erfolg zu gratulieren. Dahinter stand die Überlegung seines Vaters, dass es besser wäre, wenn er vom Prüfungsort nicht alleine nach Hause zurückkehrte, sondern in Begleitung und Feierstimmung. Es waren schon sieben Jahre vergangen, seit Jeong nach seiner Heirat im Alter von 15 Jahren nach Seoul gegangen war, um sich auf die staatliche Beamtenprüfung vorzubereiten, weshalb sein Vater sich in all den Jahren des Wartens wohl große Sorgen gemacht haben musste. Zudem dürfte der Vater mit der Gruppenreise wohl auch die Absicht verfolgt haben, Verbundenheit und Solidarität der politischen Fraktion Namin, zu der sein


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Familienclan gehörte, zu stärken. Der Sujong-sa, ein über tausend Jahre alter Tempel, liegt in einer wunderschönen Umgebung, nicht weit entfernt von Jeongs Heimatdorf Majae (nach dem dort befindlichen Flüsschen auch „Chocheon“ genannt). In seiner Kindheit ging Jeong oft zu dem Tempel, um zu lesen und zu dichten. Auch an dem Abend, als er den Tempel nach dem Bestehen der Beamtenprüfung besuchte, ließ er beim Aufgehen des Mondes Reiswein bringen und besang in einem Gedicht „die Freude, als Erwachsener an einen Ort zurückzukehren, an dem man als Kind gespielt hatte“. Er beschrieb die Ereignisse dieses Tages detailliert in Sujongsa Yuramgi (Ausflug zum Tempel Sujong-sa). Der 200. Jahrestag der Aufhebung der Verbannung Verglichen mit seinen Zeitgenossen wird Jeong Yak-yong in Korea ebenso hochgeschätzt wie z.B. Johann Gottlieb Fichte in Deutschland oder Voltaire in Frankreich. Er hinterließ eine riesige Sammlung von Büchern und Schriften, die seiner Zeit weit voraus waren und kritischen Intellekt sowie praktische Staatskunst propagierten. 2012 wurde Jeong Yak-yong die Ehre zuteil, neben Hermann Hesse, Claude Debussy und Jean-Jacques Rousseau in die UNESCO-Liste der Jahrestage bedeutender Persönlichkeiten von Weltrang aufgenommen zu werden. 2018 markiert den 200. Jahrestag der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Werks Mongmin simseo (Buch der Anweisungen zur Landesverwaltung) und zugleich die Aufhebung seiner 18-jährigen Verbannung und Rückkehr in seinen Heimatort Majae. Aus diesem Anlass ver-

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anstalteten im April die Stadt Namyangju, zu der Majae gehört, und die Koreanische UNESCO-Kommission ein internationales Gedenk-Symposium in Seoul. Bedenkt man, dass Jeong rund 500 Werke verfasste, könnte man jeden Tag im Jahr eins seiner Werke zur Rate ziehen, um nach dem Weg zu fragen, den man heute gehen sollte. König Gojong (reg. 1863-1907), der in der zweiten Hälfte des 19. Jhs darum kämpfte, das Land gegen Mächte von außen zu verteidigen, konsultierte jedes Mal, wenn er über seinen Träumen von Unabhängigkeit und Reform verzweifelte, Jeongs Schriften und lamentierte, dass er nicht zu Lebzeiten dieses großen Gelehrten geboren wurde. Obwohl der vorliegende Reisebeitrag beabsichtigt, jenen Teil des Han-Flusses zu erforschen, wo Jeong Yak-yong geboren wurde, aufwuchs und seine letzten Lebensjahre verbrachte, und damit den Spuren seines Lebens und seiner Gedanken Schritt für Schritt zu folgen, so soll Jeong nicht wie allgemein üblich als strikter und mahnender Gelehrter porträtiert werden. Jeong las im Alter von vier Jahren den Tausend-Zeichen-Klassiker, schrieb mit sieben Gedichte und brachte mit zehn eine eigene Gedichtsammlung heraus. Sieht man einmal von seiner Genialität ab, so gibt es einige Geschehnisse, die ihn menschlicher erscheinen lassen. Obwohl er z.B. mit Mühe und Not die untere Beamtenprüfung bestand und die Aufmerksamkeit von König Jeongjo auf sich zog, scheiterte er bis zum Alter von 28 wiederholt an den höheren Beamtenprüfungen. Jeong Yak-yong selbst wäre es wohl unangenehm, als engstirniger und biederer Mann in Erinnerung zu bleiben.


Verglichen mit seinen Zeitgenossen wird Jeong Yak-yong in Korea ebenso hochgeschätzt wie z.B. Johann Gottlieb Fichte in Deutschland oder Voltaire in Frankreich. Bedenkt man, dass Jeong rund 500 Werke verfasste, könnte man jeden Tag im Jahr eins seiner Werke zur Rate ziehen, um nach dem Weg zu fragen, den man heute gehen sollte. Viertägige Flucht aus dem Palast Ausgewählt von König Jeongjo wurde Jeong Yak-yong Mitglied des Königlichen Archivs Gyujanggak und bekleidete danach mehrere wichtige Ämter, um die Reformpolitik von Jeongjo zu konzipieren und umzusetzen. Die Tatsache, dass es mindestens zwei Fälle von Pflichtverletzung gab, lässt vermuten, dass seine Schalkhaftigkeit seinem Talent und seinen Fähigkeiten in nichts nachstand. Einmal verließ er seinen Arbeitsplatz ohne vorherige Erlaubnis unter dem Vorwand, seinen Vater, damals Gouverneur von der weit entfernt im Süden liegenden Stadt Jinju, besuchen zu wollen. Dies geschah in seinem zweiten Jahr als junger auszubildender Beamter am Königlichen Archiv. Als der König davon erfuhr, befahl er, Jeong zu ergreifen und mit 50 Peitschenhieben zu bestrafen. Jedoch widerrief der König diese Anordnung schon bald und begnadigte ihn. Als er später als königlicher Sekretär für die Ausführung der Befehle des Königs zuständig war, begab Jeong sich wieder auf Abwege, wozu er in seinen Schriften selbst folgende Erklärung hinterließ: „Es war Sommer 1797, als ich am Fuße des Berges Nam-san in Seoul wohnte. Als ich sah, wie die Granatapfelbäume im aufklarenden Nieselregen erste Blüten trieben, dachte ich, es sei der perfekte Moment zum Angeln im Flüsschen Cho-cheon. Laut den Vorschriften dürfen die Beamten sich nur nach vorheriger Einholung einer Erlaubnis außerhalb der Hauptstadtmauern begeben. Aber da ich keine offizielle Urlaubsgenehmigung bekommen konnte, bin ich einfach losgefahren. Am nächsten Tag warf ich ein Netz in den Fluss und fing 50 größere und kleinere Fische. Das kleine Boot war vom Gewicht des Fangs überfordert, sodass nur wenige Zentimeter über Wasser blieben. Ich wechselte auf ein anderes Boot und legte in Namjaju an, wo wir uns fröhlich und bis zum Platzen am Fisch labten.“ Cho-cheon, das von Schilfrohr umstandene Flüsschen in dem Dorf, wo Jeong aufgewachsen war, war für ihn Symbol der Heimat. Namjaju ist eine kleine Sandinsel direkt unterhalb von Dumulmeori, aber Jeongs abenteuerlicher Ausbruch aus der Beamtenwelt des Königshofs war noch nicht zu Ende: Nach dem Fischgelage gelüstete es ihn nach dem Geschmack fri-

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1. Semiwon, ein Ökogarten in Yangpyeong, ist ein im Sommer beliebter Erholungsort. Der Garten verfügt über rund 270 Pflanzenarten, 70 davon Wasserpflanzen. 2. Die spektakuläre Aussicht auf Dumulmeori, die sich vom Tempel Sujong-sa auf dem Berg Ungil-san bietet, zieht seit alter Zeit Dichter und Künstler an. Jeong Yak-yong, dessen Geburtsort ganz in der Nähe liegt, ging als Kind oft zu diesem Tempel, um zu lesen und zu dichten.

scher Wildkräuter-Beilagen. Er drängte seine Weggefährten zur Weiterreise über den Fluss bis nach Gwangju in der Provinz Gyeonggi-do, wo sich die Einsiedelei Cheonjin-am befand. Dort hatten er und seine Brüder den Katholizismus studiert, und egal, wie nahe das Boot an diesem für Jeongs Schicksal bedeutenden Ort auch anlegen mochte, mussten bis zur tief in den Bergen gelegenen Einsiedelei noch weitere zehn Kilometer zurückgelegt werden. „Wir vier Brüder gingen mit einigen Verwandten nach Cheonjin-am. Kaum in den Bergen, waren wir von üppiger Vegetation umgeben, überall blühte und grünte es und Blumenduft kitzelte unsere Nasen. Alle Arten von Vögeln sangen und zwitscherten in den klarsten und schönsten Tönen. Hörten wir Vogelgesang, hielten wir inne und blickten vergnügt um uns. Wir erreichten das Tempelchen und verbrachten unsere Zeit damit, zu trinken und Gedichte zu rezitieren. Erst nach vier Tagen kehrten wir

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zurück. In dieser Zeit schrieb ich 20 Gedichte und wir aßen 56 verschiedene Arten von Wildgemüse wie Hirtentäschel, Adlerfarn und die Knospen des Japanischen Aralienstrauchs.” (Aus: Dasan Simunjip (Anthologie von Dasan), Bd. 14) Es ist nicht bekannt, ob König Jeongjo über diese viertägige Flucht vor den Dienstpflichten informiert wurde. Wie das Überqueren eines Baches im Winter In der Joseon-Zeit (1392-1910) hatten viele Menschen neben ihrem Namen noch einen „Ho“, einen Beinamen, mit dem sie von Freunden und Kollegen gerufen wurden. Der Beiname spiegelte allgemein Charakter oder besondere Eigenschaften einer Person wider. Oft hatten auch Häuser einen bestimmten Namen, der dann manchmal auch als Beinamen angenommen wurde. Als Jeong Yak-yong nach dem Ausscheiden aus dem Hofdienst in sein Heimatdorf zurückkehrte, nannte er seine Studierstube Yeoyudang: „Haus des Zögerns und Zauderns“. „Ich kenne meine Schwächen gut. Ich habe Mut, bin aber nicht geschickt im Umsetzen von Dingen. Ich tue gern Gutes, weiß aber nicht zu prioritisieren und auszuwählen. So hat mein endloses Streben nach guten Taten bedauerlicherweise nur zu reichlich Vorwürfen geführt. In Laotses Tao Te Ching steht: Bei Dingen, die gerne bevorzugt werden, muss man zögerlich sein wie beim Überqueren eines eisbedeckten Flusses; bei Dingen, die selbstverständlicherweise getan werden müssen, muss man so zauderlich sein, als hätte man Furcht vor allem um sich. Sollten diese beiden Zeilen nicht ein Heilmittel für die Schwächen meines Charakters beinhalten?!“ Für einen jungen, von einem reformorientierten König begüns-

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tigten Beamten war es unmöglich, sich keine politischen Feinde am Hof zu machen. Selbst die Gunst des Königs konnte Jeong, der Seohak (Westliche Lehre) und dem Katholizismus zugeneigt war, nicht beschützen. Im Januar 1800 schied Jeong Yak-yong aus dem Beamtendienst aus und kehrte nach Majae zurück, wo er sich den Traum erfüllte, mit seiner Familie auf einem kleinen Fischkutter mit Kabine zu leben und zu fischen. Für den Kutter hatte er sogar ein Namensschild mit diesen Wünschen angefertigt, das er aber nie aufhängen konnte. Denn die Katholikenverfolgung, die nach dem plötzlichen Tod von König Jeongjo im Sommer desselben Jahres einsetzte, kostete Jeong Yak-yong und seinen zweitältesten Bruder Jeong Yakjeon beinahe das Leben. Während die beiden in die Verbannung geschickt wurden, starb Jeongs drittältester Bruder Jeong Yakjong, der am katholischen Glauben festhielt, den Märtyrertod. Neben „Dasan“ hatte Jeong Yak-yong noch den zusätzlichen Beinamen „Sammi“, was „drei Augenbrauen“ bedeutet. Die Pocken, an denen er als Kind erkrankt war, hatten eine Narbe auf seiner Stirn hinterlassen, die einer dritten Augenbraue ähnelte. Jeong hatte neun Kinder, von denen sechs von Masern und Pocken hinweggerafft wurden. In der Verbannung erfuhr er vom Tod seines jüngsten Sohnes. „Für mich wäre es besser zu sterben als zu leben, aber ich lebe noch. Für dich wäre es besser zu leben als zu sterben, aber du bist schon gestorben.“ Aus diesen Zeilen spricht die tiefe Trauer des Vaters um den verstorbenen Sohn. Jeong hinterließ tief bewegende Zeilen über jedes seiner verlorenen Kinder. Außer seiner ältesten Tochter, die vier Tage nach der Geburt starb, wurden alle Kinder auf dem Familienfriedhof


Sehenswürdigkeiten in Yangpyeong Tempel Sujong-sa

Bukhan-gang (Nördlicher Han-Fluss)

Semiwon Fluss Han-gang

Yangpyeong

Hanam Paldang Stausee

Seoul

Namhan-gang (Südlicher Han-Fluss)

Gwangju Einsiedelei Cheonjin-am

Jeong Yak-yongs Grabstätte

Dasan Memorial Hall

auf dem Berg hinter seinem Heimatort beigesetzt. Aus seiner persönlichen Trauer heraus beschäftigte sich Jeong Yak-yong mit der Heilung von Infektionskrankheiten und schrieb zwei medizinische Bücher, eins über die Behandlung von Masern und eins über die Vorbeugung von Pocken. Den Sommer am Han-Fluss verbringen Nach 18 Jahren Verbannung im Landkreis Gangjin-gun in der Provinz Jeollanam-do lebte Jeong Yak-yong weitere 18 Jahre in seinem Heimatort, gleichsam eine Entschädigung für diese Zeit. In seinen späteren Jahren nannte er sich „Yeolsu“, ein anderer Name für den Fluss Han-gang. Am Han-gang geboren, hatte er von einem friedlichen Leben auf dem Land geträumt, aber dieser Traum ging nicht in Erfüllung. 1819, ein Jahr nach seiner Rückkehr aus der Verbannung, besuchte er auf dem Weg zum Grab seines Vaters in Chungju die Felder von Munam (heute in Seojong-myeon, Landkreis Yangypeong-gun, Provinz Gyeonggi-do), wo er jeden Herbst viele Tage zusammen mit seinem Bruder Yak-jeon verbracht hatte, um sich um die Ernte zu kümmern. „Schon vor 40 Jahren habe ich davon geträumt, hier zu Der Innenhof von Yeoyudang, des Hauses, in dem Jeong Yak-yong geboren wurde, aufwuchs und seinen Lebensabend verbrachte. Das Haus, das 1957 in seiner Originalform restauriert wurde, gehört zur Kulturerbestätte Dasan Heritage Site. Der Name des Hauses referiert auf Laotses Rat, bei allen Dingen vorsichtig wie beim Überqueren eines vereisten Flusses zu sein.

Silhak-Museum

Ökogarten Semiwon

leben und die Felder zu bestellen“, erinnerte sich Jeong. Sein Bruder Yak-jeon war 1816, drei Jahre zuvor, gestorben und nicht aus der Verbannung auf der Insel Heuksan-do zurückgekehrt. Jeong Yak-yong verbrachte die letzten Jahre seines Lebens damit, die Bücher, die er in der Verbannung geschrieben hatte, zu bearbeiten. Aber selbst während dieser Zeit verlor er seine Schalkhaftigkeit nicht völlig. So schrieb er z.B. 16 Gedichte über Möglichkeiten, mit der Hitze fertig zu werden. Darunter finden sich Titel wie Baduk spielen auf einer kühlen Bambusmatte; Den Zikaden in den östlichen Wäldern lauschen; Die Füße im Mondlicht im Wasser baumeln lassen; Die Bäume vor dem Haus beschneiden, um den Wind hindurchziehenn zu lassen; Den Graben reinigen, damit Wasser fließen kann; Die Weinreben bis zur Dachtraufe klettern lassen; Mit den Kindern Bücher in der Sonne trocknen lassen; In einem tiefen Topf scharfen Fischeintopf kochen. Machte ihm konstitutionsbedingt die Hitze stärker als anderen zu schaffen? Oder war er vielleicht dick? Die Dasan Gedenkstätte in Namyangju umfasst Jeong Yakyongs Grabstätte, sein restauriertes Geburtshaus, das Dasan Cultural Center und die Dasan Memorial Hall. Im Dasan Cultural Center sind die zahlreichen Bücher, die er in der Verbannung verfasste, ausgestellt. Geojunggi, eine kranartige Vorrichtung, die beim Bau der Festung Suwon zum Einsatz kam, und viele andere Errungenschaften, die auf Jeong zurückgehen, sind in der Dasan Memorial Hall zu besichtigen.

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RUND UM ZUTATEN

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AUBERGINEN Symbol des heißen Sommers Auberginen stehen für den heißen Sommer. Die alte koreanische Spruchweisheit „Die Regenzeit lässt sich durch Auberginen-Genuss gut ertragen“ verdeutlicht die kulinarischen Freuden von Sommerauberginen. Ist das kein Ausdruck der Zuversicht, dass man die Sommerhitze durch den Verzehr dieses Gemüses, das besonders reich an gesundheitsfördernden Anthocyanen ist, gut überstehen kann? Jeong Jae-hoon Apotheker und Gastronomiekritiker

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ie Küche ist die älteste Kunst.“ Dieses Zitat des französischen Gastronomen Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826) zeugt von tiefer Einsicht. Die Art und Weise, wie eine bestimmte Zutat zubereitet wird, gibt Aufschluss über Merkmale und Geschichte der jeweiligen Esskultur. Umgekehrt lässt sich schlussfolgern, dass die Zubereitungsart einer Zutat umso vielfältiger ist, je älter ihre Geschichte zurückreicht. Lassen Sie uns z. B. die Aubergine und die Tomate, die beide zur Familie der Nachtschattengewächse gehören, vergleichen. Blätter und Blüten von Nachtschattengewächsen sind aufgrund ihres Gehalts an Alkaloiden, die zu ihrem Schutz dienen, nicht essbar, weshalb wir nur die Früchte verzehren. Allerdings werden Tomaten auf dem koreanischen Esstisch nur selten als Beilage serviert. Während Tomaten in den meisten Ländern als Gemüse gelten, betrachten die Koreaner sie als Obst. Abgesehen von eingelegten grünen Tomaten, die als Beilage gegessen werden, werden Tomaten meist wie Äpfel oder Birnen als Nachtisch gereicht oder zu Saft verarbeitet. Auberginen gelten hingegen als Gemüse und werden wie Rettich, Chinakohl oder Zucchini als Beilage zu Reis gegessen. Die gesäuberten Auberginen werden in einem Dampfgarer allein oder auf gekochtem Reis gedämpft. Noch heiß werden sie per Hand in lange Streifen gerissen, wobei man die Hände als Schutz vor Verbrennungen vorher mit kaltem Wasser befeuchten sollte. Die Streifen werden dann mit einer Marinade aus Sojasoße, Sesamöl, Sesamkörnern und Chilischotenstreifen vermischt. So das Rezept für die Beilage Gaji-Namul, das in der Ausgabe der Tageszeitung Dong-A Ilbo vom 4. August 1931 vorgestellt wurde. Dieser Artikel beschreibt

noch weitere Zubereitungsarten. So werden Auberginen z.B. im Juli und August, wenn sie reichlich vorhanden sind, gedörrt, um sie dann im Winter in Wasser aufweichen zu lassen, die Feuchtigkeit herauszupressen und zu marinieren. Oder rohe Auberginen werden gestiftelt, gesalzen, eine Weile ruhen gelassen und dann unter sorgfältigem Durchkneten mit Senf und verschiedenen Zutaten vermischt. Auch gerne roh gegessen Die Aubergine, die seit alters her auf verschiedenste Weise zubereitet wird, ist bis heute als Beilage beliebt. Zum Beispiel wird sie, in mundgerechte Stücke geschnitten, leicht in Mehl gewendet, fritiert und gewürzt. Oder man gibt Rinderhack auf dünne Auberginenscheiben und brät sie im Eimantel. Mit der ansteigenden Zahl von Auslandsreisenden und Kontakten zu Menschen aus anderen Ländern probieren in letzter Zeit auch immer mehr Koreaner ausländische Rezepte aus wie z.B. das chinesische Yu Xiang Qie Zi (Auberginen mit Fischduft), das japanische Nasu dengaku (gegrillte Auberginen mit MisoSauce) oder das italienische Parmigiana di melanzane (Auberginen-Auflauf mit Parmesan). Dass Auberginen und Tomaten, beides Nachtschattengewächse, in der koreanischen Küche einen so unterschiedlichen Stellenwert besitzen, ist wohl auf den historischen Hintergrund ihrer Einführung in Korea zurückzuführen. Tomaten, die ursprünglich aus Lateinamerika stammen, wurden Anfang des 17. Jhs erstmals nach Korea gebracht, fanden damals aber keine Verbreitung. Sie hielten dann erst wieder Anfang des 20. Jhs Einzug in die koreanische Küche. Im Gegensatz dazu wurden Auberginen, die vermutlich aus den tropischen Regionen Asiens stammen, viel früher aus Indien über China

nach Korea eingeführt. Es gibt sogar einen Eintrag, wonach sie bereits in der Silla-Zeit (57 v.Chr.-935 n.Chr.) angebaut wurden. Die Aubergine hat also eine lange Geschichte in der koreanischen Küche und entsprechend reich ist auch die Geschichte ihrer Zubereitung. In der Goryeo-Zeit (918-1392) scheint die Aubergine schließlich ihren festen Platz auf dem Esstisch der Koreaner gefunden zu haben. Der Dichter I Gyu-bo (1168-1241) besingt in Gapoyugyeong („Sechs Lieder über den Gemüsegarten der Familie“) Geschmack und Vortrefflichkeit der Aubergine wie folgt: Errötend auf purpurnem Grund, wie könnte man sie da alt nennen? / Was könnte der Aubergine gleichkommen, deren Blume die Augen und deren Frucht den Mund erfreut ? / Die Feldfurchen quellen über vor Früchten. / Sie ist wirklich ein Gaumenschmaus, sei es gekocht oder roh. Es mag überraschen, dass man Auberginen auch roh genießen kann. Dem ist aber tatsächlich so. Die Koreaner legen rohe Auberginen in Doenjang (Sojabohnenpaste) ein und essen sie als Jangajji (eingelegtes Gemüse) oder machen Kimchi daraus. In Thailand werden rohe, grüne Auberginen, die Golfbällen ähneln, in Dippsoße getunkt gegessen. Der Rohverzehr ist also unbedenklich. Auberginen enthalten zwar wie andere Nachtschattengewächs-Früchte auch das giftige Alkaloid Solanin, jedoch in so niedrigen Dosen, dass der Verzehr unproblematisch ist, solange man nicht 30-40 Stück auf einmal isst. Auberginen enthalten auch Nikotin, ein weiteres Merkmal von Nachtschattengewächsen. Nikotin in Speisen ist zwar hitzeresistent, aber 10 kg Auberginen enthalten nicht mehr Nikotin als eine Ziga-

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rette. Das Nikotin hat jedenfalls weiter keine schädliche Wirkung, da es nach der Aufnahme größtenteils durch die Leber entgiftet und ausgeschieden wird. Die in wilden Auberginen enthaltenen Bitterstoffe, die der Abwehr von Fressfeinden dienen, sind also für den Menschen giftig. In der Annahme, dass die Aubergine giftig sei, nannten die Römer sie mala insana: „Apfel des Irrsinns“. Davon leitet sich „melanzana“, das italienische Wort für Aubergine, ab. In alten Aufzeichnungen der Beduinen steht sogar: „Ihre Farbe gleicht der des Bauches eines Skorpions, ihr Geschmack dem seines Giftstachels.“ Das lässt schon vermuten, wie berüchtigt der bittere Geschmack der Aubergine über viele Jahrhunderte gewesen sein muss. Entwicklung verschiedener Farb- und Formvarianten Doch die Aubergine von heute unterscheidet sich deutlich vom „Apfel des Irrsinns“ von früher. Durch langjährige

Züchtung und Domestizierung gelang es, den Bitterstoffgehalt zu reduzieren und Sorten mit unterschiedlichen Farben und Formen zu entwickeln. Als Resultat gibt es heute eine Aubergine so klein wie eine Erbse (Erbsen-Aubergine), aber auch eine von bis zu 40 cm Länge (Pingtung Long). Zudem wurden Sorten mit an die 650 g schweren Früchten (Black Enorma) gezüchtet, ebenso welche in unterschiedlichen Farben wie grüne, weiße, violette und sogar gestreifte Auberginen. Dazu gehört auch die weiße, hühnereiförmige Sorte, die einst in den USA in großen Mengen angebaut wurde, daher die englische Bezeichnung „eggplant“. Diejenigen, die den bitteren Geschmack der Aubergine unangenehm fanden, haben zudem nach Lösungen dafür gesucht. So findet sich manchmal in alten Kochbüchern der Tipp, die Aubergine in Stücke zu schneiden und mit grobem Salz bestreut für 30 bis 60 Minuten stehen zu lassen. Das Salz entzieht das

Im Gegensatz dazu wurden Auberginen, die vermutlich aus den tropischen Regionen Asiens stammen, viel früher aus Indien über China nach Korea eingeführt. Es gibt sogar einen Eintrag, wonach sie bereits in der Silla-Zeit (57 v.Chr.-935 n.Chr.) angebaut wurden. Die Aubergine hat also eine lange Geschichte in der koreanischen Küche und entsprechend reich ist auch die Geschichte ihrer Zubereitung.

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Wasser, kann jedoch kaum die Bitterstoffe entfernen. Trotzdem behandelten früher viele Köche Auberginen mit Salz, weil die Salzigkeit die Bitterkeit verringert und eine feinere Würznote verleiht. Die heutigen Auberginen schmecken nur noch leicht bitter, sodass sich dieser

1. Auberginen werden in Korea hauptsächlich als Beilage zu Reis gegessen. Sie werden leicht gedämpft, in Streifen gerissen und mit einem Dressing aus Sojasoße, Essig, gehacktem Schnittlauch, Sesamöl sowie zerstoßenen, gesalzenen Sesamkörnern serviert. 2, 3. Kommen Gäste oder zu speziellen Anlässen werden besondere Auberginen-Gerichte gereicht. Die Auberginen werden z.B. in dünne Streifen geschnitten und in Öl pfannengerührt (links) oder sie werden in dicke Stücke geschnitten, mit mariniertem Rinderhack gefüllt, mit Mehl bestäubt, in geschlagener Eimasse gewendet und in der Pfanne gebraten.

Schritt zwar erübrigt, doch das Salzen von geschnittenen Auberginen ist noch aus anderen Gründen sinnvoll. Zutat mit tausend Gesichtern Das Fruchtfleisch der Aubergine hat eine schwammartige Konsistenz. Beim Fritieren oder Braten saugen sich die zahlreichen Poren jedoch mit Öl voll und das Fruchtfleisch verliert an Festigkeit. Um das zu vermeiden, bestreut man sie mit Salz, was den Zellen das Wasser entzieht und die Poren sich schließen lässt. Auberginen-Gerichte der Türkei oder der chinesischen Sichuan-Küche nutzen umgekehrt diese Eigenschaft aus und lassen Gewürzöl in die Auberginen einziehen, um den Gerichten ein volleres Aroma zu verleihen. Andererseits wird in Südostasien die Bitternis der Aubergine zum Verfeinern des Geschmacks von Gerichten genutzt. So wird in der thailändischen Küche dem

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Grünen Thai-Curry die bitter schmeckende Erbsen-Aubergine hinzugegeben. In vielen Ländern ersetzt die Aubergine das Fleisch, während sie auch gerne als süßes Dessert serviert wird. Sie ist also eine Zutat mit äußerst vielfältigen Eigenschaften. Im Nahen Osten gibt es sogar das Sprichwort „Bevor eine Frau nicht 1.000 Auberginenrezepte beherrscht, ist sie noch nicht soweit, heiraten zu können.“ Die in Purpur-, Rot- und Blautönen glänzende Auberginenschale enthält reichlich antioxidative Anthocyane. Diese Farbpigmente, die wie blaue Aquarellfarbe an die Oberfläche dringen, schützen die Aubergine vor Stress durch ultraviolette Strahlung. Der Anthocyan-Gehalt der Schale liegt bei stolzen 700 mg/100 g. Daher wird empfohlen, die Aubergine mit Schale zuzubereiten, auch wenn noch Kontroversen darüber bestehen, wieviel Anthocyan der menschliche Körper dadurch tatsächlich aufnimmt.

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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

REZENSION

Schicksal als unheilbare Krankheit Kang Young-sook hat beharrlich daran gearbeitet, auf Basis ihrer pessimistischen Weltsicht Angst und Leiden auf der Rückseite des Lebens zu enthüllen. Die Figuren in ihren kurzen Erzählungen, die durch verschiedene Wunden zerrissen sind, beschreibt die Autorin in einem kontemplativen, unberührt anmutendem Ton.

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Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh

ang Young-sook, die mit der Auszeichnung ihrer Erzählung Mahlzeiten im August beim Frühjahrsliteraturwettbewerb der Tageszeitung Seoul Shinmun debütierte, blickt dieses Jahr auf eine 20-jährige Karriere zurück. Mit mittlerweile fünf Erzählbänden und drei Romanen entspricht ihre Produktivität dem Durchschnitt unter den koreanischen Schriftstellern. Kangs Erzählungen und Romane unterscheiden sich dermaßen stark voneinander, dass sie von verschiedenen Autoren stammen könnten. Rina, ihr repräsentativer Roman aus dem Jahr 2006, erzählt anhand der Hauptfigur Rina zwar über das Leben eines nordkoreanischen Flüchtlings, unterscheidet sich aber deutlich von anderen Geschichten über nordkoreanische Flüchtlinge. Rina sieht sich denselben Schwierigkeiten und Strapazen wie andere Flüchtlinge ausgesetzt, bewältigt diese aber nicht nur voller Mut, sondern trifft am Ende eine Entscheidung, die eher atypisch für die meisten Flüchtlinge sein dürfte: Am Anfang, als sie die Grenze überschreitet, hätte Rina ihrer ursprünglichen Absicht entsprechend in das „P-Land“ gehen können, gibt diesen Plan dann aber auf und wagt einen weiteren Grenzübertritt ins „Land der Nomaden“, das die Mongolei zu sein scheint. Mehrere Jahre nach ihrer ersten Grenzüberschreitung sind für Rina, die inzwischen diesbezüglich fundiertere Erfahrungen als jeder andere gesammelt hat, Grenzüberschreiten und Nomadentum zu einer Art Weltanschauung geworden. Dies wird durch den optimistischen und heiteren Sprachstil untermauert, in dem düstere Begebenheiten erzählt werden. Kangs andere beiden Romane – Writing Club und Das traurige und fröhliche Teletubbie-Mädchen – sind in einem vergleichsweise leichteren Ton gehalten. Im ersteren kommen Mutter und Tochter jede für sich zur Erkenntnis des Wertes und der Bedeu-

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tung des Schreibens; der letztere handelt von der Liebe zwischen einem Mann in seinen späten Dreißigern und einer 17-Jährigen. Zwischen diesen drei Romanen und den Erzählungen in Kangs fünf Erzählbänden gibt es einen großen Unterschied. Kangs Erzählungen sind vor allem durch ihre pessimistische und nihilistische Einstellung gegenüber der Welt gekennzeichnet. Das war bereits bei ihrem ersten, Erzählband Geschüttelt (2002) zu sehen. Die Protagonisten in den elf Erzählungen stöhnen ausnahmslos unter ihren Wunden und stellen sich gegen eine Welt voller undurchdringlicher Dunkelheit. Das bedeutet aber nicht, dass es klare Lösungen gäbe. Den Verwundeten wird es bloß etwas wärmer, wenn sie sich solidarisieren und einander trösten. Auch in Kangs weiteren Erzählbänden Jeder Tag ist ein Fest (2004), Über das Schwarz im Rot (2009) und Hantelnächte (2011) ist der Grundton nicht anders. Unangenehmes Wetter, öde Landschaften, Menschen und Tiere, die ihre Energie verloren haben, Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und Tsunamis, Epidemien, Morde und Unfalltode etc. sind eindringliche Hinweise darauf, dass diese Welt kein lebenswerter Ort ist. Eine höllische Landschaft, die an den von Ulrich Beck geprägten Begriff „Risikogesellschaft“ erinnert, sind in der folgenden Passage aus Kangs viertem Erzählband Katastrophengebiet-Tourbus konzentriert dargestellt: „Stücke zerbrochenen Glases, Blut, das auf Betonboden und weiße Turnschuhe tropft, brennende, wie mit Salz bestreute Haut, Kühe, die zuckend krepieren, lange Spiegel, in denen die Rücken von Krebskranken zu sehen sind, Menschen, die zu Tode verbrennen, Stimmen wehklagender Frauen, fallender Saurer Regen und mein Körper, der sich in tausend Richtungen zerstreuen will.“


Leser, die mit der damaligen gesellschaftlichen Situation in nisse, weshalb Jin-uk als Bankangestellter für sie wohl alles Korea vertraut sind, erinnert dieser Satz wohl unwillkürlich an in seiner Macht Stehende tut. Natürlich tut er das aus Liebe. die Bewohner der Häuser, die im Zuge der brutalen, polizeiliWie oben gesagt, sind Kangs Erzählungen vage, weshalb man chen Niederschlagung ihrer Proteste gegen die Zwangsräumung nicht erfährt, was genau sich zwischen den beiden abgespielt verbrannten, oder an das Keulen von Tausenden von Nutztieren hat. Nur Su-yeons Selbstgespräch lässt einiges vermuten: „Du aufgrund von Maul- und Klauenseuche sowie sonstige Umweltweißt von all meinen Untaten“, weshalb „sie wünschte, Jinkatstrophen, Krankheiten und Unfälle. uk wäre tot.“ In der Erzählung wechseln JinAls ich sie nach der Veröffentlichung ihres ersuks und Su-yeons Perspektive einander ab. ten Erzählbandes interviewte, sagte Kang: „Ich Der Leser erfährt aber erst anlässlich Jin-uks wollte durch Erzählungen über gesellschaftlich Besuch in seiner Heimatstadt durch einen seiund sozial bedingte Schmerzen sprechen. Ich ner Freunde, dass der jetzt etwas über vierzig denke, in gewissem Sinne sind Erzählungen Jahre alte Jin-uk frühzeitig in Rente geganund Romane auch Dokumentationen.“ Bedaugen ist. Was davor oder danach geschah, ernd setzte sie hinzu: „Nun, da die Erzählunbleibt unklar, aber man kann ahnen, dass es gen zusammengestellt sind, erscheinen sie etwas mit Jin-uks Hilfe für Su-yeon zu tun mir zu mikroskopisch, ja sogar eskapistisch.“ hat. Kurz gesagt: Seine Liebe zu Su-yeon hat Ihr Bedauern in Bezug auf Beweggrund und sein Leben zerstört. Dennoch wünscht sich Resultat ihres Schreibens dürfte sich wohl Su-yeon Jin-uks Tod. Was für eine Liebe! über ihren ersten Erzählband hinaus auch auf Die Beziehung war aber auch für Su-yeon die Folgewerke erstrecken. Das wiederum fatal, wie an ihrem Versuch zu sehen ist, sich dürfte wohl an Kangs vagem und fragmentarifür den Fall eines extremen Schlagabtauschs © Shin Na-ra schem Schreibstil liegen. Statt die Handlung in mit Jin-uk ein tödliches Gift zu besorgen. Wäheiner Abfolge detaillierter Einzeldarstellungen rend sie auf der Straße auf die Dealerin, die „Ich wollte durch zu entfalten, bestimmen kühne Auslassungen ihr das Gift bringen soll, wartet, hört sie das und Umschreibungen ihre Erzählungen. der Arbeiter auf der Baustelle nebenErzählungen über Gespräch Die Erzählung Unheilbar ist in Kangs fünfan, die sich über ihre Unzufriedenheit und tem Erzählband Graue Literatur aus dem Jahr gesellschaftlich Angst in Bezug auf ihre Kreditkartenschul2016 enthalten. Der erste Satz gibt zu erkenden unterhalten: Sie sprechen Su-yeon quasi und sozial benen, dass das Leben des Protagonisten zwar aus dem Herzen. Explosion und Schreie, die monoton ist, aber auf einer äußerst soliden darauf zu hören sind, stehen wohl für die dingte Schmer- kurz Grundlage ruht. „Jin-uk lebte ein Leben, in drohende Katastrophe. Für Jin-uk begann die dem so gut wie keine Möglichkeit zu bestehen zen sprechen. Ich Katastrophe mit dem zufälligen Lesen seischien, dass jemals irgend etwas Schlimmes ner Handlinien. Auftakt der Erzählung ist eine denke, in gewis- Szene, in der sich Jin-uk aus der Hand lesen passieren könnte.“ Aber wie jeder weiß, muss sich etwas ereignen, damit eine Erzählung sem Sinne sind lässt. Die Handleserin meint danach: „Warum zustandekommt, und schlimme Dinge sorgen war nichts zu sehen? Es gab nichts. Total leer.“ für ein interessanteres Narrativ als gute. Das Erzählungen und Die Frau erklärt: „Bei den Handlinien ist so, dürfte besonders für eine Erzählung von Kang es Spuren von Dingen sind, die mit dem Romane auch Do- dass gelten, deren Werk von einer pessimistischen eigenen Leben gar nichts zu tun haben, sondern und nihilistischen Weltanschauung geprägt ist. kumentationen.“ im Leben von Freunden oder Familienmitglie„Er arbeitete immer mit offensivem Engagedern passiert sind und sich dann als Linien in ment, was ihn zum Vorbild für andere machder eigenen Hand manifestieren.“ Ihre Worte te“ und „war absolut von sich selbst überzeugt und tröstete sich bewahrheiten sich insofern, als dass die Angelegenheiten seiner mit dem Gedanken, dass er überhaupt keine Probleme hätte.“ geliebten Su-yeon zu seinen eigenen Problemen wurden. Man kann schlecht sagen, dass Su-yeon gegen Jin-uks Willen So wird „Unheilbar“, der zunächst rätselhaft anmutende Titel in sein Leben „eingedrungen“ wäre. Es war eher Jin-uk selbst, der Erzählung, schließlich einigermaßen verständlich. Jin-uks der sie aktiv in sein Leben hineingezogen hat. Su-yeons Kreseltsame Handlinien stehen für das Schicksal, dem er wie einer ditwürdigkeit ist denkbar schlecht, auf ihrem Bankkonto gibt unheilbaren Krankheit nicht entrinnen kann. Damit bestätigt es keine regelmäßigen Eingänge und sie hat kaum Ersparsich der Pessimismus von Kang Yeong-sook noch einmal.

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