HERBST 2018
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST SPEZIAL
PRÄLUDIUM ZUM FRIEDEN
Nord-Süd-Beziehung im Spiegel der Filmkultur ; Eine Reise hin zur Versöhnung durch Popmusik ; Wendepunkt für den innerkoreanischen Sportaustausch ; Begegnung mit Nordkoreas Landschaftsjuwelen
ISSN 1975-0617
JAHRGANG 13, NR. 3
Präludium zum Frieden Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur
IMPRESSIONEN
Heimkehr am Erntedankfest Chuseok Kim Hwa-young
Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
„A
© Yonhap News Agency
ngesichts der langen, ,goldenen‘ Chuseok-Feiertage werden die Schlangen der Heimkehrenden immer länger. Die Staus auf den Hauptautobahnen des Landes werden sich erst gegen ein Uhr morgens aufzulösen beginnen.“ Jedes Jahr um Chuseok sind in den Nachrichten derartige Meldungen zu hören. Während sich das Jahr in Korea normalerweise am Gregorianischen Sonnenkalender orientiert, richten sich die Feiertage zum Neujahrsfest Seollal, zum Erntedankfest Chuseok und zu Buddhas Geburtstag nach dem Mondkalender. Dabei setzt zu Neujahr und Erntedank eine regelrechte Völkerwanderung aus der Metropolregion Seoul in Richtung der jeweiligen Heimatorte ein. 2018 fällt Chuseok, das am 15. Tag des 8. Mondmonats gefeiert wird, auf den 24. September, einen Montag. Dank der Ersatzfeiertagsregelung erwarten die Koreaner vom 22. bis zum 26. September fünf arbeitsfreie Tage. Chuseok ist ein Fest, an dem man sich gemeinsam der reichen Ernte des unter viel Schweiß herangezogenen Getreides und Obsts erfreut und Eltern sowie den verstorbenen Vorfahren seinen Dank zum Ausdruck bringt. „Guiseong“, der in diesem Kontext gebräuchliche Begriff, bedeutet wörtlich „ins Haus der Eltern zurückkehren und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigen“, d.h. es ist ein Ausdruck der Verbundenheit mit und Sehnsucht nach Familien- und Heimatbanden. Zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde der Feiertags-Exodus nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft 1945. Zu der Zeit waren es hauptsächlich Schüler und Studenten, die sich zu Bildungszwecken in Seoul und anderen Großstädten des Landes aufhielten und an den hohen Feiertagen die Eltern besuchten, sodass man von einer „Schüler- und Studentenheimkehr“ sprechen konnte. Die Industrialisierung in den 1960er Jahren und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte führten dazu, dass sich die Arbeiter der „Guiseong-Kolonne“ Richtung Heimat anschlossen. Damals war die Eisenbahn fast das einzige Langstreckenverkehrsmittel, weshalb wahre Menschenmengen den Seouler Hauptbahnhof füllten, um eine Fahrkarte zu ergattern. Die Züge in die Provinzen überschritten ihre Sitzplatzkapazität um das Dreifache und erinnerten an die mit Flüchtlingen vollgepackten Züge im Krieg. In den 1970er Jahren wurden Autobahnen gebaut, PKWs und Langstreckenbusse kamen als Guiseong-Verkehrsmittel hinzu. Mit der Massenverbreitung von Privat-PKWs in den 1990ern wurden Extremstaus auf den Autobahnen zu einem gewöhnlichen Anblick. Heutzutage begeben sich sogar manche Eltern in einer Art „umgekehrten Heimkehr“ zu ihren Kindern in Seoul, um diese vom „Guiseong-Krieg“ zu befreien. Einige junge Leute fliehen gar vor dem Feiertagstumult ins Ausland. Doch so lange die typisch koreanische „Sehnsucht“ danach, bei Eltern und Freunden aus der Kindheit etwas Trost und Freude zu finden, die Koreaner in die Heimatorte treibt, wird auch das Feiertagsgedränge bleiben.
Von der Redaktion
Der steinige Weg zum Frieden Die koreanische Halbinsel schien wieder einmal auf dem Weg hin zu Frieden und Einheit zu sein. Das Gipfeltreffen vom 27. April 2018 ließ die Hoffnung auf ein endgültiges Ende der langen Feindschaft und Konfrontation aufkeimen, die auf vielen Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft unermessliches Leid und große Verluste auf beiden Seiten der Waffenstillstandslinie hervorgerufen hat. Die SPEZIAL-Reihe dieser Ausgabe Präludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur wurde inmitten dieser hoffnungsvollen Stimmung geplant. Die sieben Jahrzehnte unerbittlicher Konflikte haben ein beträchtliches Maß an Misstrauen und Zweifel in der südkoreanischen Gesellschaft aufkommen lassen. Viele befürchteten, dass die offensichtlichen Freundschaftsbezeugungen letztendlich flüchtiger Natur sein und die Rhetorik der beiden Staatschefs nirgendwohin führen würde. Tatsächlich hat sich der Weg hin zum Frieden als steinig erwiesen – wieder einmal. Die Kernfrage der Denuklearisierung bleibt inmitten eines strategischen Tauziehens der verschiedenen Interessengruppen und des Lavierens des Nordens weiterhin knifflig. Glücklicherweise scheint bislang keine der an diesem gigantischen Prozess involvierten Parteien zu glauben, dass sich das Momentum für Dialog und Verhandlung verflüchtigt habe. Unabhängig von den Fortschritten an der diplomatischen Front blicken unsere SPEZIAL-Beiträge zurück auf Hoffnung und Verzweiflung, die sich aus der politischen Teilung der Halbinsel ergaben, aber auch auf einige hart erarbeitete Erfolge, die die Öffentlichkeit durch die Populärkultur erleben konnte. An dieser Stelle sei das Augenmerk unserer LeserInnen auf die Trägödie gelenkt, die der ideologische Konflikt für die Kunst- und Kulturschaffenden des Landes mit sich brachte. Viele Künstler und Schriftsteller erlitten inmitten des Chaos von Teilung und Krieg ein zerstörerisches Schicksal. Die traumatischen Nachwirkungen sind heute noch zu spüren und dürften ein Thema sein, das sich in künftigen Ausgaben zu erforschen lohnt. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Kang Young-pil CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Park Do-geun, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR Kim Do-yoon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZER
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Park Ji-hyoung
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 80. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Herbst 2018 GEDRUCKT HERBST 2018 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 Viertejährlich publiziert von THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea http://www.koreana.or.kr
Eine Collage von Fotos aus den Bereichen Sport, Film und Popmusik, die für die Aussöhnung auf der geteilten koreanischen Halbinsel steht. Vgl. SPEZIAL S.4-33
© The Korea Foundation 2018 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
SPEZIAL
Präludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur
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SPEZIAL 1
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SPEZIAL 3
Nord-Süd-Beziehung im Spiegel der Filmkultur
Wendepunkt für den innerkoreanischen Sportaustausch
Jung Duk-hyun
Jeong Yoon-soo
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SPEZIAL 2
SPEZIAL 4
Eine Reise hin zur Versöhnung durch Popmusik
Begegnung mit Nordkoreas Landschaftsjuwelen
O Gi-hyeon
Eun Hee-kyung
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FOKUS
HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Ondol wird Nationales Kulturerbe
Traditionelle Gasa-Lieder für jedermann
Ham Seong-ho
U Seung-yeon
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Was für Heilmittel braucht sie wirklich? Choi Jae-bong
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INTERVIEW
52 UNTERWEGS
Erinnerungen an Verschwindendes einfangen
Die geschichtsträchtigen Gassen von Seongbuk-dong
Chung Jae-suk
Lee Chang-guy
60 EIN GANZ NORMALER TAG Keine Ruhe im Ruhestand Kim Heung-sook
Die Geschichte der Heilmittel Oh Hyun-jong
SPEZIAL 1
Präludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur
Shiri (1999), unter der Regie von Kang Je-gyu © Kang Je-gyu Films
Secretly Greatly (2013), unter der Regie von Jang Cheol-soo
Nord-Süd-Beziehung im Spiegel der Filmkultur Taegukgi: The Brotherhood of War (2004), unter der Regie von Kang Je-gyu © Kang Je-gyu Films
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Welcome to Dongmakgol (2005), unter der Regie von Park Kwang-hyun
© MCMC
Joint Security Area (2000), unter der Regie von Park Chan-wook © Myung Films
Seit dem Waffenstillstandsabkommen, mit dem vor 65 Jahren der Koreakrieg ein Ende fand, unterliegt die Nordkorea-Politik der südkoreanischen Regierung ständigen Schwankungen. Nichts reflektiert diese anhaltenden Neukalibrierungen augenfälliger – und manchmal auch vorausschauender – als die Populärkultur, insbesondere der Film. Jung Duck-hyun Popkulturkritiker
© Film It Suda
The Berlin File (2012), unter der Regie von Ryoo Seung-hwan © Filmmaker R & K, CJ ENM
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„D
ie Geschichte des koreanischen Films lässt sich in die Jahre vor und nach dem Erscheinen von Shiri unterteilen.“ Dieser Satz beschreibt die Sensation, die diese erste, unter der Regie von Kang Je-gyu 1999 veröffentlichte koreanische Megaproduktion hervorrief. Der Blockbuster lockte landesweit 5,82 Mio. Zuschauer ins Kino, allein in Seoul waren es 2,45 Mio. Bis dahin war Im Kwon-taeks Musikdrama Seopyonje über den epischen Sologesang Pansori der einzige Film, der in Seoul die Eine-Million-Marke durchbrochen hatte. Doch was machte Shiri zu einem Kassenschlager? Schlicht und einfach formuliert: Der kühne Einbezug der sich verändernden Nord-Süd-Beziehung. Neues Thema, neue Sichtweise Shiri (auch als Swiri transkribiert) bezeichnet einen Fisch, der in den Süßwasser-Gewässern, die die beiden Koreas verbinden, lebt. Der Film ist ein Action-Thriller über die Jagd nach nordkoreanischen Schläfer-Agenten, die Südkorea seit sechs Jahren terrorisieren. Formidabelstes Teammitglied ist eine getarnte Profi-Killerin, die sich in ihren Hauptgegenspieler verliebt. Auf dem Höhepunkt des Films betreiben Nord und Süd Sportdiplomatie in Form eines Fußballspiels, bei dem die Staatsoberhäupter beider Koreas anwesend sind. Die Schläfer, die die Versöhnungsstimmung zerstören wollen, versuchen das Stadion in die Luft zu sprengen. Die Hartnäckigkeit, mit der sie ihren Auftrag, einen Umsturz im Süden zu bewirken, verfolgen, steht für die anhaltenden Spannungen und Feindseligkeiten auf der koreanischen Halbinsel. Der Film endet mit einer tödlichen Schießerei, aber inmitten all des Blutvergießens siegt die Liebe zwischen der Attentäterin und ihrem getäuschten Kontrahenten, was das Publikum mitfühlen lässt. Der Film spiegelt gekonnt den Stimmungswandel der Zeit wider: Die Nordkoreaner sind nicht länger Feinde aus der Zeit des Antikommunismus, sondern Landsleute. Der Traum vom Ende des Kalten Krieges nahm im darauf folgenden Jahr noch konkretere Gestalt an, als der südkoreanische Präsident Kim Dae-jung auf Einladung des nordkoreanischen Staatschefs Kim Jong-il zum ersten innerkoreanischen Gipfeltreffen (13. 6. 2000) in den Norden reiste. Diese Begegnung bewirkte ein Tauwetter auf diplomatischer und politischer Ebene. Der Riesenerfolg von JSA (2000) (kurz für „Joint Security Area“) von Park Chan-wook, der allein in Seoul ca. 2,51 Mio. Zuschauer ins Kino lockte, dürfte ebenfalls dem Gipfeltreffen zu verdanken sein. Im Film kommt es zu einer Schießerei in der stets spannungsgeladenen gemeinsamen Sicherheitszone Panmunjom (auch: JSA). Die Ermittlungen bringen die schockierende Tatsache ans Licht, dass die Wachsoldaten beider Seiten heimlich miteinander kommunizierten und es zu freundschaftlichen Begegnungen kam.
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Steel Rain (2017), unter der Regie von Yang Woo-suk © Yworks Entertainment
Zwar hatte sich nach der Demokratisierungsbewegung vom Juni 1987 und dem Antritt der ersten zivilen Regierung 1993 die Stimmung in Südkorea geändert, aber es gab dennoch keine spürbare Veränderung in der Haltung gegenüber Nordkorea. Die Konservativen befürworteten nach wie vor eine harte Linie, während die Liberalen für den Aufbau von Kooperation und Vertrauen eintraten. Mit dem 1948 erlassenen Nationalen Sicherheitsgesetz im Hinterkopf praktizierte die Kunst- und Unterhaltungsindustrie weiterhin Selbstzensur. So thematisierte Shiri z.B. die innerkoreanische Problematik auf dem Umweg der Verknüpfung von Action-Spionage-Genre mit Liebesgeschichte. Die offene Darstellung der Kameradschaft zwischen den Soldaten aus Nord und Süd in JSA war daher umso sensationeller. Regisseur Park Chan-wook sagte, dass er „sogar mit Festnahme gerechnet“ hatte. Glücklicherweise kam noch vor der Premiere auf dramatischem Wege das innerkoreanische Gipfeltreffen zustande, sodass der Film umso mehr begeisterte. Erweiterung des Genres Nach der Millenniumwende wandten sich die koreanischen Filmstudios für weitere Blockbuster-Produktionen dem Koreakrieg zu. Der Fokus wechselte von antikommunistischen Sticheleien und Demonstration der Schlagkraft zu den Gefühlen der Charaktere, zu Ideen und Beziehungen. Es folgten eine Reihe von Kassenschlagern. Politische Kulisse bildete die Regierung von Präsident Roh Moo-hyun, eines liberalen Politikers, der die „Sonnenscheinpolitik“ von Kooperation und Ver-
Operation Chromite (2016), unter der Regie von John H. Lee 1
© Taewon Entertainment
söhnung seines Vorgängers Kim Dae-jung fortsetzte. 2003 zog Silmido von Kang Woo-seok 11 Mio. Zuschauer an und läutete damit für die aufblühende koreanische Filmindustrie die Ära der „Zehnmillionen-Seller“ ein. Der auf realen Begebenheiten basierende und von der Kritik gefeierte Film thematisierte die in der Frage der Handhabung der innerkoreanischen Beziehungen bestehende Spaltung. Im April 1968 wurde eine Einheit aus gesellschaftlich Geächteten, darunter Kriminellen, gegründet, die einen Anschlag auf den nordkoreanischen Machthaber Kim Il-sung unternehmen sollte. Es sollte die Antwort auf ein im Jahr davor von Nordkorea unternommenes Attentat auf den südkoreanischen Präsidenten Park Chung-hee sein. Das als „Einheit 684“ operierende Kommando unterzog sich auf der Incheon vorgelagerten Insel Silmi-do eines brutalen Trainings. Der Einsatz wurde dann aber im Zuge der Verbesserung der innerkoreanischen Beziehungen abgeblasen. Im August 1971 tötete die Eliteeinheit ihre Wächter, floh und kidnappte einen Bus nach Seoul. Die meisten kamen bei einem Gefecht mit Armeesoldaten ums Leben. Silmido porträtiert die Eliteeinheit-Mitglieder als Spielball der innerhalb der Regierung herrschenden scharfen Meinungsunterschiede in Bezug auf die Nordkorea-Politik und ihren Tod als Teil einer Vertuschungsaktion. Bevor der Film in die Kinos kam, wusste die Öffentlichkeit nichts von der Existenz einer Einheit 684. 2004 brach TaeGukGi: The Brotherhood of War unter der Regie von Kang Je-gyu mit fast 12 Mio. Besuchern den Rekord von Silmido. Am Schicksal zweier Brüder wird die Zerstörung einer
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1. Agenten aus dem Süden und dem Norden lassen ideologische Differenzen hinter sich und verbünden sich, um inmitten eines Umsturzversuchs in Nordkorea einen Atomkrieg zu verhindern. 2. Vor der Landung bei Incheon, einem amphibischen Angriff der UNO-Truppen im September 1950, der dem Koreakrieg eine entscheidende Wende gab, sammelt ein Agententeam Nachrichten über die nordkoreanische Verteidigung.
Familie durch den Koreakrieg thematisiert. Verhärtet und desillusioniert schließt sich der Ältere der nordkoreanischen Armee an. Die Brüder, die sich aus den Augen verloren haben, stehen sich – einander nicht erkennend – schließlich mit gezückten Waffen gegenüber. Im Gegensatz zu Filmen aus antikommunistischen Zeiten, in denen nordkoreanische Soldaten immer als „Rote“ dargestellt wurden, zeichnet dieser Film sie einfach nur als junge Männer, ja, als Brüder. Die Botschaft kam beim Publikum gut an. Park Kwang-hyun lockte mit seiner humanistischen Herangehensweise an das Thema Krieg in Welcome to Dongmakgol (2005) ca. 6,4 Mio. Zuschauer an. Als Filmkulisse dient Dongmakgol, ein so abgelegener Bergweiler, dass die Bewohner nicht einmal wissen, dass Krieg herrscht. Hierhin verirren sich Soldaten aus Süd- und Nordkorea sowie ein US-Pilot. Nachdem sie aus Versehen den Wintervorrat der Dörfler zerstört haben, sehen sie sich gezwungen, den Dörflern zu helfen, den Winter zu überleben. Dabei schwindet der gegenseitige Hass, sie behandeln einander nicht länger als Feinde, sondern als Freunde. Der Film, der für seine Thematik und Originalität gelobt wurde, bewies, dass selbst die ins Komische gehende
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Darstellunsgweise einer traumatischen Thematik die Zuschauer begeistern kann und brach damit ein Tabu. Kommerzialisierungswelle Ein Sprung ins Jahr 2010: Unter dem konservativen Präsidenten Lee Myung-bak wandelte sich das politische Klima erneut. Lee vertrat eine harte Linie gegenüber Nordkorea, das auch während der liberalen Vorgängerregierungen von Kim Daejung und Roh Moo-hyun sein Atomwaffenprogramm fortgesetzt hatte. Die „Sonnenscheinpolitik“ wurde ad acta gelegt. Filme über die beiden Koreas zielten insgesamt weniger auf eine ideologische oder philosophische Stellungnahme in Richtung Aussöhnung ab. Der kommerzielle Erfolg hatte Vorrang. A Better Tomorrow (2010) von Song Hae-sung lehnte sich an den gleichnamigen, unter der Regie von John Woo gedrehten Hongkong-Klassiker von 1986 an. Die koreanische Neuverfilmung trug den Titel „Mujeokja“, was sowohl „ein Unschlagbarer“ als auch „ein Heimatloser“ bedeuten kann. Der Gangsterfilm spielt mit dem Vorurteil und der Fantasie, dass „alle nordkoreanischen Flüchtlinge Tötungsmaschinen“ seien. Höhepunkt der Kommerzialisierungswelle war 71: Into The Fire (2010) von Lee Jae-han. Thematisiert wird die Schlacht am Fluss Nakdong-gang, eine der blutigsten Schlachten des Koreakrieges und beliebtes Thema alter antikommunistischer Streifen. Der Film richtete sich aber weniger gegen Kommunismus oder Krieg, sondern war vielmehr ein waschechtes, kommerzielles Kriegsspektakel. Das einzige Werk, das sich während Lees Amtszeit (20082013) vergleichsweise ernsthaft mit der innerkoreanischen Problematik beschäftigte, war The Front Line (2011) von Jang Hoon. Der Film brachte Sinnlosigkeit des Krieges anhand der jeweils nur von kurzzeitigem Erfolg gekrönten Angriffe und Gegenangriffe zur Eroberung bzw. Rückeroberung eines Plateaus an der Front zum Ausdruck. Geheimagenten waren die Stars der 2013 erschienenen Filme mit Nordkorea-Bezug. Es war das erste Regierungsjahr von Präsidentin Park Geun-hye, ebenfalls aus dem konservativen Lager. Eine weichere Nordkorea-Linie war nicht zu erwarten von der Tochter von Park Chung-hee, der Südkorea zu den Hochzeiten des Kalten Krieges regiert hatte. Danach trug die Kommerzialisierungswelle endlich Früchte: 2013 kamen The Berlin File von Ryoo Seung-wan und Secretly, Greatly von Jang Cheol-soo ins Kino, die jeweils 7,2 Mio. bzw. 6,97 Mio. Kinobesucher anlockten. Ihr Kassenerfolg ist der getreuen Einhaltung der Genrefilm-Formel zu verdanken. The Berlin File handelt von einer Kraftprobe zwischen nordkoreanischen Spionen und südkoreanischen Agenten in Berlin. Secretly, Greatly ist eine Komödie rund um „attraktive Spione“, die, vom nordkoreanischen Regime im Stich gelassen, im Süden
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Silmido (2003), unter der Regie von Kang Woo-suk © Cinema Service
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zu Superhelden werden. Der auf einem erfolgreichen Webtoon basierende Film wurde zum Kassenschlager. Die ältere Generation assoziiert nordkoreanische Geheimagenten noch mit echten bewaffneten Spionen wie dem 1968 bei einem Attentatversuch festgenommenen Kim Shin-jo. Secretly, Greatly beweist, wie stark sich die Wahrnehmung der jungen Generation verändert hat: Junge Südkoreaner können sich nordkoreanische Spione als attraktive Herzensbrecher vorstellen. Die danach veröffentlichten Filme zu den innerkoreanischen Beziehungen blieben kommerzorientiert und folgten Komödie-, Kriminal- oder Thrillerfilm-Blaupausen. Und alle porträtierten nordkoreanische Soldaten als „Killermaschinen“. Beachtenswert ist jedoch ein konservativer, wenn auch nicht offen, antikommunistischer Touch. Zu nennen sind Filme wie Northern Limit Line (2015) und Battle for Incheon: Operation Chromite (2016). Northern Limit Line, der 6 Mio. Zuschauer anlockte, basiert auf einem Seegefecht zwischen Nord- und Südkorea, zu dem es im Juni 2001 vor der Insel Yeonpyeong-do im Westmeer kam. Bereits im Vorfeld der Produktion gab es eine Kontroverse über eine mögliche Einflussnahme vonseiten der konservativen Regierung und eine entsprechend ausgerichtete Darstellung. Das Ergebnis zeigte jedoch, dass letztendlich auch Ideologie kommerzialisiert werden kann: Soldaten strömten gruppenweise in die Kinos, sodass der Film, der zunächst auf 667 Leinwänden zu sehen war, fünf Tage später bereits auf 1.013 lief, was wiederum zur Kritik führte, der Film monopolisiere die Kinoleinwände. Auch der Kommerzstreifen Battle of Incheon machte sich den Konflikt zwischen Konservativen und Liberalen zunnutze. Der Produktionsleiter kommentierte: „Ich habe den Film gemacht, damit sich die Bürger geistig wappnen und sich der Frage der nationalen Sicherheit bewusst sind“. Damit rückte er zwar die Ideologie in den Vordergrund, letztendlich war der Film aber v.a. ein typisches Kriegsspektakel auf Basis der historischen Lan-
The Front Line (2011), unter der Regie von Jang Hoon © TPS Company
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Northern Limit Line (2015), unter der Regie von Kim Hak-soon © Rosetta Cinema
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dung der US-Truppen in Incheon während des Koreakriegs. In einer Szene richtet ein als Verkörperung des Bösen porträtierter nordkoreanischer Offizier mit den Worten „Ideologie ist dicker als Blut“ die Waffe auf politisch andersdenkende Familienmitglieder. US-General Douglas MacArthur wird hingegen geradezu vergöttert. Der Fokus liegt weniger auf dem Elend des Krieges als auf der Katharsis der Sieger. Dank der spektakulären Kriegsdarstellungen und der Kommerzialisierung der Ideologie lockte der Film 7 Mio. Zuschauer ins Kino.
1. Dieser auf wahrhaften Begebenheiten basierender Film erzählt die Geschichte einer Einheit von gesellschaftlich Geächteten, die für einen Anschlag auf den damaligen nordkoreanischen Führer ausgebildet wurden. Es war der erste koreanische Film, der mehr als 10 Mio. Zuschauer anzog.
Fantasie vs. Realität The Fortress (2017) von Hwang Dong-hyeok behandelt zwar ein historisches Ereignis während der Zweiten Mandschu-Invasion 1636, doch angesichts der sich zum Zeitpunkt der Premiere verschärfenden Spannungen wegen Nordkoreas Atomwaffentests unterstrich der Historienfilm, der die polarisierte Stimmung zur Joseon-Zeit beschreibt, die aktuelle Angst 2017. Als die Regierung von Joseon-König Injo (reg. 1623-1649) in der von den chinesischen Qing-Invasoren belagerten Fliehburg Namhansan-seong festsaß, entspann sich eine hitzige Debatte zwischen den Hofbeamten Kim Sang-heon und Choi Myunggil. Kulturminister Kim plädiert für bewaffneten Widerstand: „Auch wenn wir dabei unser Leben aufs Spiel setzen, ist das besser, als in Schande weiterzuleben“. Innenminister Choi erwidert darauf: „Auftrag und Gebot gibt es auch nur, wenn wir leben.“ Diese Argumente spiegeln die gegensätzlichen Meinungen von Konservativen (Stärkung der Verteidigungskraft) und Liberalen (Anstreben einer diplomatischen Lösung) in Bezug auf die innerkoreanischen Beziehungen wider. Die Tatsache, dass der Film in der Realität solche Diskussionen entfachte, zeigt, was für ein heißes Eisen die Nuklear-Problematik war. Ende 2017, nachdem Präsidentin Park Geun-hye Monate zuvor wegen Korruptionsvorwürfen ihres Amtes enthoben und der
Liberale Moon Jae-in als neues Staatsoberhaupt vereidigt worden war, kam Steel Rain von Yang Woo-seok heraus. In Hoffnung auf ein Tauwetter in den innerkoreanischen Beziehungen strömten ca. 4,45 Mio. Zuschauer ins Kino. Die Protagonisten des Films sind zwei Agenten aus Süd- bzw. Nordkorea, denen bewusst wird, dass die Tragödie eines Nuklearkriegs nicht durch die Drohungen des Feindstaates verursacht wird, sondern durch die Ambitionen einiger Machthungriger, die die nationale Teilung für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Sie lassen Ideologie Ideologie sein und verbünden sich, um einen Atomkrieg zu verhindern. Das Publikum war stärker von der „Waffe“ tiefer Menschlichkeit begeistert als von den spektakulären Filmszenen im Vorfeld eines Atomkriegs. Verfolgt man die filmische Thematisierung der innerkoreanischen Beziehungen, lässt sich eine gewisse inhaltliche Justierung gemäß der von der jeweiligen amtierenden Regierung verfolgten Nordkoreapolitik feststellen. Die Darstellung von Konfrontation und Kooperation spiegelt die Handhabung der Nordkorea-Problematik durch die einander ablösenden konservativen bzw. liberalen Regierungen wider. Umgekehrt beeinflussen die auf der Leinwand vertretenen Ansichten und Werte die Haltung der Allgemeinheit gegenüber Nordkorea und Nordkorea-Politik. Zurzeit stehen die Zeichen auf Versöhnung und Dialog.
2. Dieser vergleichsweise einsichtsreiche, unter der rechtskonservativen Regierung von Lee Myung-bak gedrehte Film thematisiert Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges anhand der letzten Schlacht vor dem Waffenstillstandsabkommen. 3. Anhand des Seesgefechts, das sich Nord- und Südkorea im Juni 2002 an der De-facto-Grenze zwischen beiden Ländern lieferten, beleuchtet dieser Film die Hardliner-Positionen von Konservativen.
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The Namesake (2017), unter der Regie von Choi Jong-goo und Son Byeong-jo © Changpoong E&M
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Nordkoreanische Flüchtlinge in Independent-Filmen Der Vorzug eines Independent-Films besteht darin, Themen, die in kommerziellen Filmen ausgespart werden, ehrlich anzusprechen. Eine Handvoll Indie-Filme über nordkoreanische Flüchtlinge beschäftigt sich mit Problemen, mit denen sie sich bei ihrer Integration in die kapitalistisch geprägte südkoreanische Gesellschaft konfrontiert sehen. Der Ende 2017 veröffentlichte Indie-Film The Namesake handelt von zwei
hui im Laden beim Stehlen eines Gimbap-Reisdreiecks. Aus dieser ersten
Frauen mit demselben Vornamen, der aber aufgrund der dialektalen Un-
Begegnung kurz vor Yeon-huis Niederkunft entwickelt sich eine Freund-
terschiede in Nord- und Südkorea anders geschrieben und ausgesprochen
schaft, die Ryeon-hui allmählich dabei hilft, sich von der alptraumhaften
wird. Protagonistinnen sind die Nordkoreanerin „Ryeon-hui“ und die Südko-
Erinnerung an den Verlust des eigenen Kindes zu befreien. Der Film zeigt,
reanerin „Yeon-hui“. Ryeon-hui ist eine verwundete Seele. Sie flüchtete aus
wie zwei Frauen, die sich in einer unterschiedlichen Art der gesellschaftli-
Nordkorea, um ihrer kranken Tochter die Möglichkeit einer Operation im
chen Isolierung befinden, einander kennenlernen und freundschaftliche
Südkorea zu verschaffen, verlor das Kind dann aber beim Überqueren ei-
Bande knüpfen, die sie ihre Probleme gemeinsam bewältigen lassen.
nes Flusses. In Südkorea schlägt sie sich mehr schlecht als recht mit einem
Durch die Begegnung dieser beiden Frauen verbindet der Film die welt-
Teilzeitjob in einem 24-Stunden-Laden durch, wo sie von Kunden und Mit-
weit aktuelle Gender-Thematik mit der Frage der nordkoreanischen
arbeitern herablassend behandelt wird – eine durchaus typische Erfahrung,
Flüchtlinge.
die nordkoreanische Flüchtlinge im Süden machen müssen. Auch Yeon-
Myunghee , eine weitere Indie-Produktion, die 2014 mit ihrer Listung fürs
hui hat es nicht einfach. Sie hat ebenfalls eine Flucht hinter sich, nämlich
Mise En Scène Short Film Festival in Korea für Furore sorgte, verfolgt
die Flucht vor einem gewalttätigen Vater. Zudem ist sie schwanger, weiß
einen anderen Ansatz: Der Film beleuchtet das Alltagsleben eines nordko-
aber nicht, von wem.
reanischen Flüchtlings im Dokumentarstil. Während fast alle „Flüchtlings-
Das Filmposter mit dem Text „Eine Frau, die von zu Hause geflüchtet ist;
filme“ die harte und tragische Flucht in den Süden nachzeichnen, verlässt
eine Frau, die aus der Heimat geflüchtet ist“ vergleicht das Schicksal nord-
dieser Film die ausgetretenen Pfade und beschreibt einfach den Alltag
koreanischer Flüchtlinge mit dem Schicksal von südkoreanischen Frauen
einer Frau, die nach der Flucht ihren Platz in der südkoreanischen Gesell-
in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Ryeon-hui erwischt Yeon-
schaft gefunden hat.
10 KOREANA Herbst 2018
Der Film beginnt mit einer alltäglichen Szene an einem alltäglichen
sehen, auf und beschreibt die erbarmungslose Realität, die sie ertragen
Ort: einem Quigong-Zentrum. Myunghee, von einer Freundin dorthin
müssen. Für Seung-cheol, der mit dem Kleben von Postern Tag für Tag
geschleppt, lernt die ältere Su-jin kennen, mit der sie sich anfreundet.
von der Hand in den Mund lebt, gibt es kaum Aussicht auf Verbesserung
Bald schon hilft sie täglich in Su-jins Kleiderladen aus. Sie bittet nicht um
seiner Umstände. Tagtäglich ist er verbaler und körperlicher Gewalt aus-
Bezahlung, noch erwartet sie welche. Das Ganze ist für sie kein Thema:
gesetzt, das Leben in Südkorea bleibt ein Kampf ums Überleben an sich.
„Im Norden mussten wir mitten im Winter nach draußen gehen und
Alles, worauf er sich stützen kann, ist die Kirche, die alle Menschen als
Steine brechen“, sagt sie, weshalb das bisschen freundschaftliche Aus-
Kinder Gottes annimmt, und ein ausgesetztes Hündchen, dessen Schick-
hilfe doch gar nicht der Rede wert sei. Sie scheint überhaupt kein Gefühl
sal dem seinen ähnelt.
für Finanzen zu haben und hält es zudem für selbstverständlich, einer
Kim Man-cheol, der 1987 mit seiner Familie in einem Boot nach Süden
engen Freundin zu helfen. Aus Sicht der anderen fehlt ihr jedoch jegliches
floh, bezeichnete Südkorea nach seiner Ankunft als „ein warmes Land im
Konzept von Wirtschaft, denn im kapitalistischen Süden ist es selbstver-
Süden“. Doch Seung-cheol erwartet in The Journals of Musan kein solch
ständlich, für geleistete Arbeit entlohnt zu werden. Als ihre Freundinnen
warmes Land.
Myunghee fragen, ob sie etwa Su-jins Magd sei, beginnt sie die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Der Film erreicht seinen Höhepunkt in der Szene, in der Myunghee vor ihren Freundinnen explodiert: „Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, als ich hierher flüchtete. Und ich bin ganz bestimmt nicht hier, um mich von euch so behandeln zu lassen!“ Diese unverblümte Aussage der Protagonistin trifft schmerzhaft einen wunden Punkt der südkoreanischen Gesellschaft, in der die Landsleute aus dem Norden oft mit stillschweigender Geringschätzung oder Mitleid behandelt werden. Ein weiterer beachtenswerter Film mit derselben Thematik ist The Journals of Musan (2010), der mit insgesamt 16 Preisen ausgezeichnet wurde,
1. Dieser Film stellt die Realitäten gegenüber, mit denen sich zwei Frauen – eine aus Nordkorea Geflüchtete und eine Südkoreanerin, die unter den patriarchalischen Strukturen leidet – konfrontiert sehen. 2. Der Film beschreibt die Konflikte zwischen einer aus dem Norden geflüchteten Frau und den Menschen in ihrer Umgebung, die aufgrund unterschiedlicher Denkweisen und wirtschaftlicher Konzepte entstehen. 3. Dieser mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnete Film beleuchtet das harte Los nordkoreanischer Flüchtlinge aus einer neorealistischen Perspektive. 2
darunter dem Tiger-Preis und dem FIPRESCI-kritikerpreis sowie dem Preis für den besten Film beim Andrey Tarkovsky International Film Festival. Die Jury des Toronto Reel Asian International Film Festival, die den Film mit dem Preis für den besten Nachwuchsregisseur kürte, begründete ihre Entscheidung folgendermaßen: „In der in ihrer Ungeschliffenheit und Derbheit bewegenden Geschichte eines nordkoreanischen Flüchtlings entdecken wir den erhabenen Kampfgeist eines Menschen, der sich um Anpassung an eine neue Umgebung bemüht. In Anerkennung des aufrichtigen und starken Willens der Protagonistin, zu überleben, hat die Jury
Myung-hee (2014), unter der Regie von Kim Tae-hun
sich einstimmig entschieden, diesem Film mit dem Preis zu küren.“
© Central Park Films
Dass The Journals of Musan im Ausland dermaßen begeistert aufgenom-
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men wurde, ist auch seiner neorealistischen Perspektive zu verdanken. Zwar steht der Flüchtling Seung-cheol aus dem Kreis Musan-gun in der nordkoreanischen Provinz Hamgyeongbuk-do im Mittelpunkt des Films, doch die Dokumentation seines Alltags beleuchtet über die Realität des Lebens eines Flüchtlings hinaus die der Bedürftigen und Besitzlosen am Rande der südkoreanischen Gesellschaft: „Musan“ ist der Name der nordkoreanischen Heimatstadt des Flüchtlings, aber „Musan“ bedeutet auch „ohne Besitz sein“ und „Musan-ja“ ist ein „Besitzloser“. The Journals of Musan, der eine Dokumentarfilm-ähnliche Realitätsnähe aufweist, deckt die Vorurteile mit denen die Flüchtlinge sich konfrontiert
The Journals of Musan (2010), unter der Regie von Park Jung-bum © Secondwind Film
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SPEZIAL 2
Präludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur
© The Hankyoreh
Eine Reise hin zur Versöhnung durch Popmusik Vor mehr als 30 Jahren nahmen Nord- und Südkorea den Austausch auf dem Gebiet der Musik auf. Die Annäherung durch Popmusik begann vor rund 20 Jahren. Für die beiden Koreas mit ihren unterschiedlichen politischen Ideologien bedeutet Musikaustausch mehr als nur Kulturaustausch: Es ist ein Versuch, durch Aussöhnung und Frieden die Identität als ein Volk wiederherzustellen. O Gi-hyeon Produzent, Seoul Broadcasting System (SBS)
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m 8. Februar 2018, einen Tag vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in PyeongChang, beruhigten sich der stürmische Seewind in Gangneung, einer Stadt an der Ostküste in der Nähe der olympischen Sportstätten, und nachmittags stieg die Temperatur bis auf 6°C. An diesem Tag fand im Gangneung Arts Center ein Konzert des Samjiyon-Orchesters statt, das zur offiziellen, von der nordkoreanischen Regierung zur Feier der Winterspiele entsandten Delegation gehörte. Für das rund 140-köpfige Ensemble wurden die besten Instrumentalisten, Sänger und Tänzer der Samjiyon- Band, der Moranbong Band und des Staatlichen Symphonieorchesters zusammengebracht. Trotz des glücklicherweise milder gewordenen Wetters konnten sich die Menschen im Gangneung Arts Center bis zum Beginn der Aufführung nicht recht von ihrer Anspannung befreien. Noch ein, zwei Monate zuvor schien ein Kriegsausbruch auf der koreanischen Halbinsel unmittelbar bevorzustehen. Einige südkoreanische Medien titulierten Hyon Song-wol, die Leiterin des Samjiyon-Orchesters, in einer Parodie auf die bekannte nordkoreanische Propaganda-Oper Das Blumenmädchen als „das Atommädchen“ und prophezeiten, dass das Konzert nur ein weiteres Stück Propaganda sein würde. Doch diese Befürchtung löste sich mit Freut mich, euch zu sehen, der ersten Darbietung, schnell auf. Das darauf folgende Repertoire betonte weniger ideologische Inhalte, sondern sprach mehr die Nord- und Südkoreanern gemeinsamen Gefühle an. Das Publikum bedankte sich mit herzlichem Applaus für Gesang und Aufführungen, aus denen Leidenschaft sprach. Flut südkoreanischer Popsongs Die nordkoreanische Aufführungstruppe, die nach 16 Jahren im Süden auftrat, schien sich gründlich vorbereitet zu haben. Der bemerkenswerteste Teil war die Audiomischung, für die zwei Toningenieure, die ihre eigenen Mischpulte mitgebracht hatten, zuständig waren. Das sanfte Mischen und die feine Balance zwischen Gesängen und Instrumenten beeindruckte die südkoreanischen Mitarbeiter, die die Show fürs Fernsehen aufzeichneten. Auch die Beleuchtung war ausgezeichnet. Die Scheinwerfer erfassten die Instrumentenspieler im Rhythmus der Musik mit einer dermaßen hohen Präzision, dass es fast gekünstelt wirkte. Die Outfits der Musiker entsprachen nicht der Zeit und ihre Frisuren waren insgesamt monoton, was die Beim Konzert des Samjiyon Orchesters, das am 11. Februar 2018 im Koreanischen Nationaltheater in Seoul veranstaltet wurde, singt Seohyun (vierte von links), Mitglied der Popgruppe Girls’ Generation, zusammen mit Künstlern aus Nordkorea. Die Band, die als Teil der offiziellen Delegation des Nordens zu den Olympischen Winterspielen in PyeongChang angereist war, gab am 8. Februar ein weiteres Konzert in Gangneung, einer der Gastgeberstädte der Winterspiele.
nordkoreanische Kultur des Kollektivismus mit ihrer Betonung von perfekter Ordnung und Konformität widerspiegelte. Fast zwei Stunden lang warfen die Instrumentalisten nur selten einen Blick auf ihre Notenblätter, während sie verschiedene Melodien, die von klassischer Musik bis hin zu Popmusik reichten, spielten. Man konnte leicht erahnen, wie fleißig sie in der kurzen Vorbereitungszeit geübt hatten. Das Orchester spielte 13 südkoreanische Lieder. Zwei davon waren Protestsongs, die auch im Norden allgemein bekannt sind, die übrigen 11 Songs ohne politische Botschaft. Darin kamen Wörter wie „Liebe“ 40 Mal, „Tränen“ 10 Mal und „Abschied“ 4 Mal vor. Mit anderen Worten: Sie enthielten den „gelben Wind des Kapitalismus“, der von den nordkoreanischen Behörden sonst oft zensiert wird. Ich fragte mich, warum die Nordkoreaner trotz der eventuellen politischen Belastung diese Lieder gewählt haben könnten. Sie wollten wohl durch die Lieder, die Ausdruck von Gefühlen und Geschmack der Südkoreaner sind und deren Alltag widerspiegeln, versuchen, ein besseres Verständnis für die so unterschiedlichen Lebens- und Gedankenwelten zu fördern und die hohe emotionale Barriere zwischen den beiden Seiten abzubauen. Katalysatoren des Austauschs Die Geschichte des innerkoreanischen Musikaustauschs geht auf das Jahr 1985 zurück, als die beiden Seiten übereinkamen, anlässlich des allerersten Treffens der getrennt lebenden Familien im September Konzerte in der Hauptstadt der jeweils anderen Seite zu geben. Jede Seite schickte eine 50 Mitglieder starke Delegation, aber die Vorführungen wurden weder hüben noch drüben gut aufgenommen. Das südkoreanische Konzert, bei dem traditionelle Hofmusik und Tänze, Popmusik, zeitgenössische Tänze u.a. präsentiert wurden, betrachteten die Nordkoreaner, als „feudalistisch und dekadent“, während deren Konzerte mit vorwiegend Volksmusik und -tanz von den Südkoreanern als „von rigoser Uniformität und die Tradition verzerrend“ beurteilt wurden. Es folgten noch einige weitere Veranstaltungen, die abwechselnd in Pjöngjang und Seoul stattfanden und den Kulturaustausch zwischen den beiden Koreas am Leben hielten. Aber erst ab 1999 wurden Popkonzerte vor großem Publikum aufgeführt. Auftakt war das vom Seoul Broadcasting System (SBS) organisierte Konzert für Frieden und Freundschaft 2000, das am 5. Dezember im Ponghwa Art Theater in Pjöngjang stattfand. Es war eine gemeinsame Veranstaltung mit Roger Clinton, dem Bruder des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Etwas später, am 22. Dezember, veranstaltete der südkoreanische Sender Munhwa Broadcasting Corporation (MBC) am selben Ort das Konzert für die Wiedervereinigung des Volkes. Diese erste, von einem südkoreanischen Sender selbständig organisierte Ver-
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anstaltung fand in der für den Austausch günstigen Phase der „Sonnenscheinpolitik“ der Regierung des verstorbenen südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung statt. Die Beteiligung von K-Pop Idolgruppen der ersten Generation, darunter Sechs Kies und Fin.K.L, deutet die Absicht an, durch aktuelle Trends der südkoreanischen Popkultur die soziokulturellen Unterschiede zwischen den beiden Koreas aufzuzeigen. Im Gegensatz dazu präsentierte das MBC-Konzert neben damals aktuellen Popsongs auch traditionelle Volkslieder und beliebte Schlager aus der japanischen Kolonialzeit und unterstrich damit die kulturelle Homogenität der beiden Koreas. 2002 veranstaltete MBC zwei Events: am 27. September Lee Mi-ja: Eine Sonderaufführung und am 28. Oh! Wiedervereintes Korea! die beide im Ostpjöngjang Grand Theater stattfanden. Beim zweiten Event verblüfften der Rocksänger Yoon Do-hyun und seine Band das nordkoreanische Publikum, indem sie das zeitlose Volkslied Arirang in wildem Freestyle darboten. Ihr Auftritt wurde in ganz Nordkorea live übertragen und löste einen Yoon-Do-hyun-Hype aus. Am 11. August 2003 veranstaltete der öffentlich-rechtliche Sender Korea Broadcasting System (KBS) den Pjöngjang Gesangwettbewerb im Moranbong-Park. Die bereits seit 1972 bestehende südkoreanische Musiksendung folgt der Regel, den Namen des jeweiligen Veranstaltungsortes hinter den Titel zu setzen, also z.B. Nationaler Gesangswettbewerb in Pjöngjang, aber in diesem Fall einigte man sich aufgrund Nordkoreas Beanstandung, „dass der Name der Stadt Pjöngjang, des Herzens der Revolution, nicht am Ende stehen sollte“ auf Pjöngjang Gesangswettbewerb. Rund 20 Kandidaten im Alter von 12 bis 77 präsentierten ihre Sangeskünste. Im Oktober 2003 veranstaltete SBS das Vereinigungskonzert
zur feierlichen Eröffnung der Ryugyong Chung Ju-yung Sporthalle. Zur Einweihung dieser von der Hyundai Group und der nordkoreanischen Regierung gemeinsam gebauten Anlage überschritten insgesamt 1.100 Südkoreaner, darunter Künstler und Besuchergruppen, die Waffenstillstandslinie. Es war das erste Mal, dass ein Musikevent in einer Sportarena im Norden stattfand. Dort wurde dann im August 2005 auch das von SBS veranstaltete Konzert des berühmten südkoreanischen Sängers Cho Yong-pil eröffnet. Obwohl auf Wunsch des Nordens geplant, konnte dieses Konzert wegen der politischen Turbulenzen im Nachfeld der Weigerung der südkoreanischen Regierung, ihren Bürgern am 10. Jahrestag des Todes von Kim Il-sung einen Nordkorea-Besuch zu erlauben, erst ein Jahr später und nach siebenmaliger Aufschiebung abgehalten werden. Der Kulturaustausch zwischen Nord- und Südkorea wurde trotz all solcher Schwierigkeiten fortgesetzt, wobei der Schwerpunkt auf Popmusikkonzerten lag und südkoreanische Künstler den Norden häufiger besuchten als umgekehrt. Bei genauerer Betrachtung kann man von einer „Geschichte öffentlicher Vorführungen südkoreanischer Rundfunk- und Fernsehanstalten im Norden“ sprechen. Dahinter stehen verschiedene Gründe: die Tatsache, dass aufgrund der inneren Gegebenheiten nordkoreanische Künstler den Süden nur schwer besuchen können; die Stärke der Popmusik, im Gegensatz zu anderen Genres der aufführenden Künste leichter emotionale Empathie schaffen zu können; die Tatsache, dass große Rundfunkanstalten vergleichsweise einfacher Mammutevents organisieren können. Auftritt der Moranbong Band Der kulturelle Austausch zwischen Nord- und Südkorea mit ihren jeweils unterschiedlichen Ideologien und Systemen hatte
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Der Kulturaustausch zwischen Nord- und Südkorea wurde trotz all solcher Schwierigkeiten fortgesetzt, wobei der Schwerpunkt auf Popmusikkonzerten lag und südkoreanische Künstler den Norden häufiger besuchten als umgekehrt. einen nicht geringen Einfluss auf die Gesellschaften beider Seiten. Gerade das jüngste Konzert des nordkoreanischen Orchesters Samjiyon in Südkorea vermochte das kriegerische Image Nordkoreas abzumildern und erhöhte Interesse und Hoffnungen des Durchschnittsbürgers in Bezug auf eine friedliche Wiedervereinigung. Umgekehrt ist es nicht einfach, den Effekt der Aufführungen der südkoreanischen Künstler in Nordkorea zu beurteilen, da die nordkoreanischen Medien äußerst selten über Gäste aus dem Süden und deren Aktivitäten berichten. Auch aus den Reaktionen der Konzertbesucher lassen sich kaum Rückschlüsse ziehen, da die Nordkoreaner eine etwaige Vorliebe für südkoreanische Popsongs, die in ihrem Alltagsleben strikt verboten sind, nicht offen zeigen dürfen. Indirekt machen sich jedoch gewisse Einflüsse in den Aufführungen der nordkoreanischen Girlgroup Moranbong erkennen, die Anfang 2012 auf Anweisung von Kim Jong-un, des Vorsitzenden des Komitees für Staatsangelegenheiten der Demokratischen Volksrepublik Korea, zusammengestellt wurde. Die aus rund 20 Sängerinnen und Instrumentalistinnen bestehende Gruppe ist nicht nur wegen des umwerfenden Aussehens der Mädchen im In- und Ausland bekannt geworden, sondern auch wegen ihrer stilvollen Aufmachung und hemmungslosen Tanzbewegungen. Es heißt, dass die Band mit ihrem Auftreten
1. Die Yoon Do-hyun Band bei ihrem Auftritt beim gemeinsamen nord-südkoreanischen Konzert Wir sind eins, das am 3. April 2018 in der Ryugyong Chung Ju-yung Sporthalle in Pjöngjang veranstaltet wurde. Die Band nahm 2002 auch an dem Konzert Oh! Wiedervereintes Korea! teil, das der öffentlich-rechtliche Sender MBC im East Pyongyang Grand Theatre organisiert hatte.
2 © Yonhap News Agency
2. Die Bürger von Pjöngjang singen und jubeln beim Friedenskonzert Der Frühling steht vor der Tür, das am 1. April im Großen Theater in Ost-Pjöngjang von der südkoreanischen Künstlerdelegation für Hoffnung auf Aussöhnung und Kooperation gegeben wurde.
im In- und Ausland die Message von Veränderungsbereitschaft aussenden und das Landesimage aufpolieren sollte. Die Gruppe tritt v.a. in großen Sporthallen auf. Nordkorea vertrat ursprünglich das Prinzip, dass Kunst- und Kulturevents in einem Theater und Sportveranstaltungen in einer Sportarena stattfinden sollten. Daher waren die nordkoreanischen Offiziellen zunächst auch vehement gegen die Idee, dass Südkorea in einer Sporthalle Popmusikshows präsentieren wollte. Als sie jedoch 2003 und 2005 sahen, wie erfolgreich die in Sporthallen veranstalteten Konzerte südkoreanischer Künstlergruppen waren, begannen sie, bei eigenen Großkonzerten diesem Beispiel zu folgen. Erwähnenswert ist auch, dass die Band Jibs einzusetzen begann, also Kamerakräne, um mittels der höheren Beweglichkeit und des weiteren Erfassungsradius dynamischere Bildaufnahmen liefern zu können. Eine Jib-Kamera wurde 2003 während des Vereinigungskonzerts zur Eröffnung der Ryugyong Chung Ju-yung Sporthalle zum ersten Mal in Nordkorea vorgestellt, worauf hin eine südkoreanische Rundfunk- und Fernsehanstalt ein solches Modell dem Norden schenkte. Ebenfalls diesem innerkoreanischen Austausch zu verdanken sind Bühnenflammen und Papierkonfetti, die heute allgemein für spezielle Bühneneffekte eingesetzt werden. Nach dem Besuch des Samjiyon Orchesters in Gangneung stattete eine Künstlergruppe aus dem Süden im April Pjöngjang einen Gegenbesuch ab. Dieses 13 Jahre nach dem Konzert von Cho Yong-pil im Jahr 2005 stattfindende Event trug den Titel Friedenskonzert der südkoreanischen Künstlerdelegation: In Hoffnung auf Frieden und Kooperation – Der Frühling kommt. Nach der Teilung hatten die beiden Koreas ein unaufhörliches Wettrüsten zur Konsolidierung ihres jeweiligen Systems geführt. Doch so blieb der Frieden fern und die wirtschaftliche Belastung wurde immer größer. In letzter Zeit werden Stimmen lauter, die ein Ende des endlosen Kräftemessens fordern und verlangen, dass beiderseitiges Prosperieren durch Verständigung und Kooperation erreicht werden sollte. Kunst- und Kulturaustausch ist zweifellos die effektivste Methode, Freundschaft und Wohlwollen zu fördern. Auch wenn vereinzelte Konzerte die Jahrzehnte alten Mauern des Misstrauens nicht vollkommen einzureißen vermögen, so werden im Laufe der Zeit doch nachhaltige Bemühungen den „Frühling der Versöhnung“ näher rücken lassen.
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K-Pop landet in Nordkorea Die südkoreanische Boyband Bangtan Boys, bekannt als BTS, belegte im Juni 2018 mit ihrem dritten Album Love Yourself: Tear den ersten Platz der amerikanischen Album-Charts Billboard 200. Es war das erste Mal seit 12 Jahren, dass ein nicht-englischsprachiges Album Platz 1 auf der Haupt-Billboard-Chart einnahm. Auf diese Weise verbreitet sich K-Pop weltweit und sorgt selbst in der abgeschotteten nordkoreanischen Gesellschaft für unbemerkte Wellen. Kang Dong-wan Professor an der Dong-a University, Direktor des Hana Center Busan
Nachdem der nordkoreanische Soldat Oh Chong-song im November
scheinungen sollen fast zeitgleich in Nordkorea erhältlich sein, da große
2017 via die JSA in Panmunjeom in den Süden geflüchtet war und da-
Mengen von DVDs und USB-Sticks mit K-Pop-Inhalten aus China einge-
bei fünf Schusswunden erlitten hatte, sorgte seine Aussage, dass er
schmuggelt werden. Als z.B. 2012 Psys Gangnam Style weltweit Wellen
die Songs der südkoreanischen Idolgruppe Girls Generation möge, für
schlug, wurde es auch in Nordkorea schnell populär.
Schlagzeilen. Als dann die New York Times im Frühjahr 2018 einen Artikel
Die in Nordkorea „stabförmige Speicherkarte“ genannten USB-Sticks wer-
über die Konzerte südkoreanischer Popstars in Pjöngjang brachte und
den meistens zum Anschauen von Filmen oder zum Hören von Songs
sich dabei auf die Girlgroup Red Velvet fokussierte, lautete der Titel „Kann
verwendet. USBs und SD-Karten sind äußerst gefragt, da sie bequem zu
Nordkorea mit einer K-Pop-Invasion umgehen?“
transportieren und leicht zu verstecken sind. Seit kurzem kommen über
Da die nordkoreanische Regierung befürchtet, dass das Volk durch „de-
China auch MP5-Player ins Land. Während MP3-Geräte zur Wiedergabe
kadente kapitalistische Novitäten“ korrumpiert werden könnte, geht sie
von Musik genutzt werden, lassen sich mit MP5-Geräten hochauflösende
gegen das Verbreiten und Anschauen von Videos aus dem Süden vor.
Videos abspielen. Da ein MP5-Player eine Micro-SD-Karte enthält, die noch
Dennoch sind südkoreanische Videos mittlerweile eine beliebte Handels-
kleiner als ein USB-Stick ist, ist die Speicherkapazität entsprechend höher
ware und werden trotz Verbot und Kontrolle blitzschnell unter der Hand
und es ist einfacher, das Gerät zu verstecken.
weiterverbreitet. Nicht nur Popmusik, sondern auch Original-Soundtracks
Die Verbreitung von MP5-Geräten hat nordkoreanischen Jugendlichen
südkoreanischer Filme und TV-Serien sind heimlich im Umlauf.
noch einfachere Möglichkeiten eröffnet, sich K-Pop-Videos anzuschauen. Während sie bislang lediglich heimlich zuhören konnten, können sie nun
Kontrolle versus Verbreitung
Gesichter, Gesten, Kleider und Frisuren der K-Pop Sänger genau in Au-
In Südkorea beliebte Popsongs von Idol-Gruppen einschließlich Neuer-
genschein nehmen, was den Kulturschock nur noch vertieft. © Yonhap News Agency
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1. Die Gruppe BTS (Bangtan Boys), die im Juni 2017 mit ihrem dritten regulären Album Love Yourself: Tear den 1. Platz der Billboard 200 belegte, ist auch bei jungen Nordkoreanern beliebt. 2. Die Gruppe Red Velvet, die im April 2018 zum Konzert in Pjöngjang eingeladen war, führte Red Flavor und Bad Boy für das nordkoreanischen Publikum auf.
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Kulturschock
verschärfter Restriktionen und Kontrollen lassen sich die Jüngeren nicht
Seit langem schon nutzt Nordkorea Musik als Mittel zum Erhalt des Sys-
davon abhalten, Videos aus dem Süden anzuschauen. Das Nachsingen
tems. Die Regierung betont nach dem Motto „Ein einzelnes Lied ersetzt
von K-Pop-Songs oder das Tanzen dazu wird unter Gleichaltrigen als
zehn Millionen Soldaten“ die Wichtigkeit der ideologischen Kriegsführung
Ausdruck einer gewissen Überlegenheit verstanden. Diejenigen, die die
durch Musik. Die in einem solchen Umfeld aufwachsenden Nordkorea-
Lieder zu singen oder die Tänze nachzuahmen versuchen, werden sogar
ner begeistern sich für K-Pop, weil die südkoreanischen Lieder wie Ahn
als „Leute mit erwachtem Bewusstsein“ bezeichnet.
Jae-wooks Freund sich mit universellen menschlichen Gefühlen statt mit Ideologie beschäftigen. Viele nordkoreanische Überläufer bestätigen,
Die Jangmadang-Generation
dass die nordkoreanischen Lieder meist politische Propaganda enthalten
Angesichts dieser Sachlage haben die nordkoreanischen Obrigkeiten nun
oder ihre Führer verherrlichen, während die Lieder aus dem Süden ehr-
keine andere Wahl mehr, als den kulturellen Wandel und den Widerstand
licher Ausdruck menschlicher Emotionen sind und sich leicht nachsingen
der Jugendlichen zumindest teilweise zu akzeptieren. Anstatt sich wie frü-
lassen.
her auf bedingungslose Verbote und Kontrollen zu verlassen, versuchen
Einführung und Verbreitung von K-Pop scheinen derzeit von sich vertie-
sie jetzt mit einer neuen sozialistischen Kultur das Vorrücken der kapita-
fenden Klassenunterschieden bei gleichzeitigem Auseinanderdriften der
listischen Kultur abzuwehren.
Generationen bestimmt zu werden. Die neue Generation in Nordkorea
Die politische Botschaft der nordkoreanischen Regierung, die „anspruchs-
wird oft „Jangmadang-Generation“ genannt, wortwörtlich „Markt-Gene-
vollen Forderungen des Volkes“ zu berücksichtigen, weist auf die Absicht
ration“. Die schwere Wirtschaftskrise, die Nordkorea von Mitte bis Ende
hin, den sich verändernden Forderungen durch das Angebot neuer
der 1990er Jahre heimsuchte, hatte Nordkoreas nach innen und außen
kreativer Produkte nachzukommen. Ein repräsentatives Beispiel dafür
als beispielhaft propagiertes Sozialsystem, das kostenlose Bildung, medi-
ist die auf Initiative von Kim Jong-un gegründete Band Moranbong. Ihre
zinische Versorgung und rationierte Versorgung mit Alltagsnotwendigem
Mitglieder kleiden und frisieren sich in einem Stil, der vom gewöhnlichen
garantierte, ins Schwanken gebracht. Die „Marktplatz-Generation“ bezieht
nordkoreanischen Modediktat völlig abweicht. Insbesondere ihre Lieder
sich auf die um diese Zeit Geborenen, die kaum in den Genuss der sozia-
und Tanzbewegungen erinnern an südkoreanische Mädchengruppen.
listischen Sozialfürsorge kamen. Verglichen mit den älteren Generationen
Die strenge Überwachung und Kontrolle von K-Pop und anderen Elemen-
ist ihre Abneigung gegenüber der Kontrolle durch den Staat größer.
ten ausländischer Kultur konnte die junge Generation nicht davon abhal-
Für diese jüngeren Leute kann K-Pop als verstärkender Katalysator für
ten, sich Zugang dazu zu verschaffen und jegliche Veränderung unter den
ein passives abweichlerisches Verhalten dienen. Während frühere Gene-
Jungen könnte der Anfang für zukünftige Veränderungen des nordkorea-
rationen noch mit einem unbeugsamen „Geist wie Kugeln und Bomben“
nischen Systems sein. Das ist auch der Grund dafür, den Einfluss von K-Pop
und absoluter Loyalität gegenüber den Herrschenden ausgestattet sind,
auf die nordkoreanische Gesellschaft im Auge zu behalten.
ist der Zusammenhalt unter der jungen Generation schwächer. Trotz
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SPEZIAL 3
Präludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Populärkultur
Wendepunkt für den innerkoreanischen Sportaustausch Der Sport hat auf der geteilten koreanischen Halbinsel eine wichtige Rolle zur Schaffung einer versöhnlichen Stimmung gespielt, indem die Mannschaften der beiden Koreas bei internationalen Sportveranstaltungen unter gemeinsamer Flagge einmarschierten. In jüngster Zeit lassen die Fortschritte hin zu einer Friedensordnung auf der koreanischen Halbinsel hoffen, dass der Sportaustausch weiter an Schwung gewinnt. Jeong Yoon-soo Sportkritiker; Professor an der Graduiertenschule für Kultur, Sungkonghoe University
Die Südkoreanerin Hyun Jung-hwa (rechts) und Li Bun-hui aus Nordkorea traten bei den 41. Tischtennis-Weltmeisterschaften, die im April 1991 im japanischen Chiba abgehalten wurden, als Team an. Mit ihrem 3:2 Sieg über China gewannen sie das Frauen-Doppel. Es war das erste Mal seit der Teilung, dass Sportler aus den beiden Koreas gemeinsam bei einem Wettbewerb antraten.
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© Yonhap News Agency
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36 ging der Marathonläufer Sohn Keechung (1912-2002) bei den 11. Olympischen Sommerspielen in Berlin mit der japanischen Flagge auf dem Trikot an den Start und gewann die Goldmedaille. Sohn, der in Sinuiju, einer Stadt im heutigen Nordkorea, geboren wurde, arbeitete mit 16 Jahren bei einer Firma im chinesischen Dandong. Tag für Tag lief er ca. 8 km über den Fluss Yalu von Sinuiju nach Dandong. Kim Yong-sik (1910-1985), ein gefeierter Fußballspieler, Trainer und Manager der südkoreanischen Nationalmannschaft, wurde in Sincheon im heutigen Nordkorea geboren. Beide Sportler kamen etwa zur gleichen Zeit nach Seoul und besuchten das Bosung College, aus dem die heutige Korea University hervorging. Die Lebensgeschichte der beiden Sporthelden zeigt, dass vor 70 Jahren noch das Reisen zwischen den südlichen und nördlichen Regionen der koreanischen Halbinsel so selbstverständlich war wie eine Fahrt von Birmingham nach London oder von Chicago nach New York. Doch die Stimmung änderte sich mit dem Ausbruch des Koreakrieges im Jahr 1950 und der nachfolgenden Teilung des Landes. Krieg und Teilung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Korea durch den Zustrom der über die japanischen Kolonialherren eingeführten westlichen Kultur eine erste Welle der Industralisierung und Urbanisierung. In Wonsan, einer bedeutenden Hafen- und Industriestadt im heutigen Nordkorea, wurde bereits 1897 ein
6-Loch-Golfplatz angelegt und die Fabriken besaßen eigene Fußballteams. Auch in der in der Nähe von Seoul gelegenen Hafenstadt Incheon entstanden im Zuge der Entwicklung zu einer modernen Industriestadt viele Sportvereine, darunter Fußball-, Baseball-, Basketball- und Volleyballvereine. Unter diesen wichtigen Städten in Korea besaßen Pjöngjang und Gyeongseong (Seouls Name während der japanischen Kolonialzeit) die besten Mannschaften und die größten Fangemeinden. Pjöngjang, das die via China einströmende westliche Kultur schon früh angenommen hatte und kontinental geprägt war, und Gyeongseong, das als Zentrum der koreanischen Halbinsel reich an Human- und Materialressourcen war, wurden zu Erzrivalen im Sport, insbesondere im Fußball. Fußballspiele zwischen diesen beiden Städten hießen „Gyeongpjöng-Spiele“. Diese Derbys galten als aufregende Sportevents. Bis 1946, direkt nach der Befreiung vom japanischen Kolonialjoch, wurden die Gyeongpjöng-Spiele als Heim- und Auswärtsspiele regulär veranstaltet. Der Austausch zwischen den beiden gegnerischen Mannschaften wurde so aktiv, dass Kim Yong-sik, der Franchise-Spieler von Gyeongseong, in den 1940er Jahren zum Pjöngjang-Team wechselte. Ohne Koreakrieg würde es vielleicht auch heute noch Spielertransfers zwischen den Teams geben, ebenfalls begeisterte Fans, die zu Auswärtsspielen reisen, um ihre Heimmannschaft zu unterstützen. Leider lag diese Art von Austausch in den letzten 70 Jahren brach. Ungeachtet der nach der Teilung anhaltenden politischen und militärischen Spannungen ist im Sportbereich Austausch zwi-
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schen den beiden Koreas nie ganz eingestellt worden. Der Austausch wurde erstmals 1964 wieder aufgenommen, als sich die beiden Seiten auf Ersuchen des IOK trafen, um über die Formierung eines gemeinsamen Teams für die Olympischen Sommerspiele in Tokio zu diskutieren. Die Gespräche endeten jedoch ergebnislos. Bis Ende der 1980er Jahre fanden insgesamt 13 innerkoreanische Sportgespräche über Austausch statt, aber alle ohne Erfolg. Wettbewerb und Zusammenarbeit Da der Sportaustausch auf Eis lag, traten die beiden Koreas bei mehreren internationalen Großveranstaltungen gegeneinander an. 1966, bei der 8. Fußball-Weltmeisterschaft in Großbritannien, versetzte die nordkoreanische Nationalmannschaft „Cheollima“, benannt nach dem geflügelten Pferd aus der koreanischen Mythologie, die ganze Welt mit ihrem Einzug ins Viertelfinale in Staunen. In einer Zeit, in der Sport als Ausweitung der politischen Rivalität zwischen den beiden Koreas galt, sah sich der Süden durch diese unerwartete Leistung Nordkoreas herausgefordert und gründete 1967 unter der Schirmherrschaft des Nachrichtendienstes den Fußballclub „Yangji“. Hauptziel war nicht etwa der Sieg bei einer Fußball-WM oder Asienmeisterschaft, sondern einzig und allein das Besiegen des Nordens. Da zu der Zeit die meisten Top-Spieler ihren Militärdienst ableisteten, konnte der Nachrichtendienst ohne Schwierigkeiten Talente aus Heer, Marine, und Luftwaffe für das Yangji-Fußballteam rekrutieren. Die Mannschaft wurde zudem von Regierungsseite
1. Basketballspieler und Trainer der beiden Koreas beim Einzug in die Ryugyong Chung Ju-yung-Sporthalle in Pjöngjang. Das am 4. Juli 2018 veranstaltete Match war eins von vier in zwei Tagen. Die Spielserie war die erste Begegnung zwischen Nordund Südkorea seit 2003.
2 © Newsbank
2. Süd- und nordkoreanische Fußballspieler laufen nach dem Vereinigungsfußballspiel am 7. September 2002 mit der Einheitsfahne um den Platz im Seoul-World-Cup-Stadion. Dieses erste innerkoreanische Freundschaftsspiel nach 1990 endete mit einem 0:0 Unentschieden.
generös unterstützt. Allein 1969 verbrachte sie für Trainingszwecke 105 Tage in Europa. Während des Auslandstrainings unterstand die Mannschaft Kim Yong-sik, dem oben erwähnten, im heutigen Nordkorea geborenen Starspieler. Der jüngste Stürmer war Lee Hoe-taik, der 1990 bei der 14. Fußball-WM in Italien die Nationalmannschaft trainierte. Lee besuchte als Berater des südlichen Teams das Vereinigungsfußballspiel der beiden Koreas in Pjöngjang, das am 11. Oktober 1990 stattfand. Mit Hilfe von Park Dooik, des nordkoreanischen Helden der 1966 in Großbritannien ausgetragenen Fußball-WM, konnte Lee zum ersten Mal in 40 Jahren seinen Vater wiedersehen. Park und Lee waren sich bei internationalen Spielen begegnet und hatten Freundschaft geschlossen. Lees Vater war nach dem Ausbruch des Koreakriegs 1950 in den Norden gegangen und hatte den damals gerade vierjährigen Sohn zurückgelassen. Am Tag nach dem Wiedersehen war Lees Geburtstag. Der alte Vater bereitete ein Geburtstagsessen für den erwachsenen Sohn vor, eine unsäglich rührende Geste Bei internationalen Sportveranstaltungen gab es eine ganze Reihe solch schmerzhaft-bewegender Vorkommnisse. Shin Keum-dan, eine nordkoreanische Leichtathletin und Weltrekordlerin im 400- und 800-Meter-Lauf der Frauen, traf bei den Olympischen Sommerspielen 1964 in Tokio nach 14 Jahren ihren Vater Shin Mun-jun wieder, der während des Koreakriegs allein in den Süden gegangen war. Das herzzerreißende, nur wenige Minuten dauernde Wiedersehen weckte tiefes öffentliches Mitgefühl und inspirierte sogar zu dem Schlager Die Tränen von Shin Geum-dan. Bei den Asienspielen 1978 in Bangkok trafen die nord- und südkoreanischen Fußballmannschaften der Männer nach langer Zeit im Finale aufeinander. Das Spiel ging in die Verlängerung und endete mit einem torlosen Unentschieden, sodass sich beide Seiten die Goldmedaille teilten. Während der Medaillenverleihung kam es dann aber zu einer bitteren Szene voller Rivalität und Feindschaft. Kim Ho-gon, der Kapitän der südkoreanischen Mannschaft, ließ seinen nordkoreanischen Kollegen Kim Jong-min zuerst aufs Siegerpodest steigen. Als Kim Ho-gon danach seinen Platz neben ihm einnehmen wollte, weigerte sich der nordkoreanische Kapitän, etwas zur Seite zu rücken. Der nordkoreanische Torhüter Kim Gwang-il stieß Kim Ho-gon sogar hinunter, als dieser sich aufs Podest zu zwängen versuchte. Welch deprimierende Szenen der Teilung. In den 1960er und 1970er Jahren instrumentalisierten die Regierungen beider Seiten nicht nur den Sport, sondern auch verschiedene innerkoreanische Probleme zur Verlängerung und Festigung ihrer autoritären Macht. In den 1980ern wetteiferten beide Seiten darum, die Überlegenheit ihrer jeweiligen Regierungen unter Beweis zu stellen und der Sportaustausch wurde
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Trotz der nach der Teilung anhaltenden politischen und militärischen Spannungen auf der koreanischen Halbinsel sind im Sportbereich Austausch und Zusammenarbeit zwischen den beiden Koreas nie ganz eingestellt worden. im In- und Ausland als Mittel zur Zementierung der Legitimation ihrer politischen Herrschaft und zur Aufhübschung des Landesimages auf der Weltbühne eingesetzt.
1. Das gemeinsame Damen-Eishockey-Team zog bei den Olympischen Winterspielen in PyeongChang 2018 die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Ausländische Nachrichtenagenturen kommentierten, dass die Mannschaft zwar geschlagen worden sei, aber „Geschichte geschrieben“ und „einen Sieg für den Frieden“ errungen habe.
Politik und Sport Der innerkoreanische Sportaustausch zeitigte ab den 1990er Jahren sichtbare Erfolge. Die Regierung von Roh Tae-woo im Süden startete im Einklang mit den nach dem Ende des Kalten Krieges herrschenden globalen Trends die „Nordpolitik-Initiative“ und betonte dabei insbesondere den innerkoreanischen Austausch im Sportbereich. Ergebnis waren die beiden Vereinigungsfußballspiele, die im Oktober 1990 jeweils in Pjöngjang und Seoul veranstaltet wurden. Der südkoreanische Spieler Kim Joo-seong, der am Spiel in Pjöngjang teilgenommen hatte, erinnerte sich in einem Interview wie folgt zurück: „Es war schockierend und berührend zugleich, als die Bürger von Pjöngjang uns vom Internationalen Flughafen Sunan über einen Kilometer weit auf ihren Schultern trugen.“ Diese Art Sportaustausch wirkte sich durchaus positiv auf die innerkoreanischen Beziehungen aus. Bei den fünften innerkoreanischen Gesprächen auf hochrangiger Ebene am 13. Dezember 1991 unterzeichneten die beiden Seiten das Abkommen über innerkoreanische Aussöhnung und Nichtangriff sowie Austausch und Zusammenarbeit, das bis heute wegweisenden Charakter hat und den innerkoreanischen Dialog und die Verhandlungen positiv beeinflusst. Auf Basis der versöhnlichen Stimmung der Zeit traten die beiden Koreas 1991 bei den 41. Tischtennis-Weltmeisterschaften in Japan mit einer gemeinsamen Mannschaft an. Die Tischtennisspielerinnen Hyun Jung-hwa aus Südkorea und Li Bunhui aus Nordkorea schlossen sich zusammen, um den Weltmeister China unter der Führung von Deng Yaping zu besiegen. Sie gewannen schließlich mit 3:2 die Goldmedaille im Damen-Doppel. Die dramatische Geschichte ihres Sieges wurde später verfilmt (As One). Im Juni 1991 gründeten die beiden Koreas zudem eine gemeinsame Männerfußballmannschaft für die Junioren-Weltmeisterschaft in Portugal, die es bis ins Viertelfinale schaffte. Aber gerade als der Sportaustausch ernsthaft an Schwung gewinnen wollte, kam er im Nachfeld des Todes von Kim Il-sung (1994) und wegen der ernsthaften
2. Die beiden Koreas marschieren am 9. Februar 2018 bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele PyeongChang gemeinsam ins Stadion ein. Der Gastgeber Südkorea trat mit 145 Athleten in 15 Sportarten an, Nordkorea mit 22 Athleten in 5 Sportarten.
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wirtschaftlichen Schwierigkeiten Nordkoreas zum Erliegen. Wiederbelebt wurde der Sportaustausch dann, als der südkoreanische Präsident Kim Dae-jung und der Vorsitzende der Nationalen Verteidigungskommission Kim Jong-il im Juni 2000 zu einem historischen Gipfeltreffen zusammenkamen und die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni verabschiedeten. Daraufhin marschierten die Athleten der beiden Koreas bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in Sydney 2000 zum ersten Mal in der Geschichte gemeinsam ins Stadion ein. Auch bei den Asienspielen 2002 in Busan, den Winter-Asienspielen 2003 in Aomori (Japan), der Sommer-Universiade 2003 in Daegu (Südkorea) und den Olympischen Sommerspielen 2004 in Athen gab es einen gemeinsamen Einmarsch. Im September 2002 wurde ein weiteres Vereinigungsfußballspiel der beiden Koreas im WM-Stadion Seoul veranstaltet. Nach dem Spiel tauschten Choi Tae-uk aus dem Süden und Ri Gang-in aus dem Norden ihre Trikots und Fußballschuhe aus und demonstrierten durch diese symbolische Geste die Einheit des Volkes. Wiederbelebte Hoffnungen auf Frieden Seit 2011 strebt Nordkorea danach, sich zu einer Sport-Großmacht zu entwickeln, wobei der Fokus v.a. auf den Fußball gelegt wird. Kultur und Sport sind zu Top-Prioritäten der Politik geworden, seitdem die Staatsführung ihre Agenda zum Aufbau eines „zivilisierten sozialistischen Staats“ vorantreibt. 2015 begrüßte Kim Jong-un die nordkoreanische Frauenfuß-
ballmannschaft persönlich am Flughafen und gratulierte zum Sieg in der Fußball Ostasienmeisterschaft der Frauen. Kim hat sich auch dem Bau großer Sportanlagen verschrieben: Zu nennen sind z.B. das Rungnado Erster Mai Stadion, das Yanggakdo-Stadion, der Pjöngjang-Golfplatz und die Masikryong- und Samjiyeon-Skiresorts. Bei den Gewichtheber-Meisterschaften Asian Cup & Interclub Weightlifting Championships, die im September 2013 in Pjöngjang stattfanden, wurde sogar erstmals auf nordkoreanischem Boden die südkoreanische Nationalflagge gehisst und die Nationalhymne gespielt. Die politischen Veränderungen seit der Machtübernahme von Kim Jong-un ebneten den Weg für die Teilnahme von Vertretern der nordkoreanischen Machtelite an den Asienspielen 2014 in Incheon. Zu den Olympischen Winterspielen in PyeongChang 2018 entsandte der Norden eine große Delegation von Athleten und Anfeuerungsgruppen. Zudem wurde eine gemeinsame Frauen-Eishockeymannschaft gebildet. Am 4. Juli 2018 veranstalteten die Basketballspieler der beiden Koreas ein Freundschaftsspiel in Pjöngjang. Es werden auch zusätzliche Gespräche über die Wiederbelebung der Gyeongpjöng-Spiele und die Abhaltung von Fußballspielen zwischen wichtigen Großstädten in Süd- und Nordkorea geführt. Angesichts der laufenden Bemühungen zur Schaffung einer Friedensordnung auf der koreanischen Halbinsel wird erwartet, dass auch der innerkoreanische Sportaustausch an Schwung gewinnt.
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„Wir sind eins!“ Im Februar 2018 schickte Nordkorea im Rahmen einer offiziellen Delegation eine 229-köpfige Anfeuerungsgruppe zu den Olympischen Winterspielen in PyeongChang. Die im Vergleich zu den 22 teilnehmenden Athleten über zehn Mal stärkere, ausschließlich aus weiblichen Cheerleadern bestehende Gruppe feuerte die Mannschaften beider Koreas an. Kim Young-rok Reporter, Tageszeitung The Sports Chosun
Nordkoreanische Cheerleaderinnen erregen international nicht nur Auf-
nische Cheerleadertruppe in den Süden reiste.
sehen für die besondere Situation der koreanischen Halbinsel und die
Die Entsendung von Anfeuerungsgruppen zu internationalen Sportevents
Rätselhaftigkeit des nordkoreanischen Regimes, sondern auch für ihre
erregt auch in der nordkoreanischen Gesellschaft großes Interesse, denn
Schönheit. Ihre Auftritte dienen dazu, die Spannungen abzubauen und
die Mitglieder haben die seltene Gelegenheit zu einer Auslandsreise und
öffentlich eine Stimmung der Versöhnung zu schaffen. Wie erwartet,
die Chance, sozial aufzusteigen. Entsprechend heftig ist die Konkurrenz
erregte die beeindruckende Cheerleadertruppe junger Nordkoreane-
um einen Platz in der Truppe. Die Mitglieder werden hauptsächlich unter
rinnen bei den Olympischen Winterspielen in PyeongChang nicht nur in
Studentinnen der Kunstschulen in Pjöngjang ausgewählt, wobei strenge
Südkorea, sondern auch weltweit enorme Aufmerksamkeit. Sei es in den
Kriterien wie Aussehen, Familienhintergrund und Loyalität gelten. Laut Ge-
Stadien oder bei den Touristenattraktionen in der Umgebung: Sie zogen
rüchten soll die Entsendung einer Anfeuerungsgruppe zu den Asienspielen
auf Schritt und Tritt Menschenmengen an, sodass jede ihrer Bewegun-
2014 in Incheon wegen übermäßiger Konkurrenz gestoppt worden sein.
gen von den Medien verfolgt wurde.
Es gibt in Korea ein altes Sprichwort: „Namnam Bungnyeo“. Wortwörtlich bedeutet es: „Im Süden sind es die Männer, die gut aussehen, im Norden
Der vierte Besuch
die Frauen.“ Das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum der ganze
Nordkorea hat auch früher schon Anfeuerungsgruppen zu großen Spor-
Wirbel um nordkoreanische Cheerleadergruppen manchmal einzelne
tereignissen in Asien entsandt. Nach den Busan-Asienspielen 2002, der
Mitglieder zu Berühmtheiten macht. Ri Yu-gyong, Cheerleader-Kapitänin
Sommer-Universiade 2003 in Daegu und der Leichtathletik-Asienmeister-
der Truppe von 2002, und das jüngste Mitglied Chae Bong-i erfreuten
schaft 2005 in Incheon war es 2018 das vierte Mal, dass eine nordkorea-
sich großer Beliebtheit und hatten sogar einen eigenen Online-Fanclub. Jo
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Myeong-ae, ein weiteres Mitglied, trat mit der südkoreanischen Popsän-
die Japan Anspruch erhebt. Nach Protest der japanischen Regierung for-
gerin Lee Hyo-ri in einem Werbespot auf.
derte das IOK dazu auf, Dok-do bei den Spielen von der Einheitsflagge
Aber niemand stand bislang dermaßen im Schweinwerferlicht wie Ri Sol-
zu entfernen. Südkorea kam dieser Aufforderung nach und bei der Er-
ju, Nordkoreas First Lady. Bereits 2003, als sie Südkorea anlässlich einer in-
öffnungszeremonie marschierten die Athleten beider Koreas hinter einer
nerkoreanischen Jugendrotkreuz-Veranstaltung einen Besuch abstattete,
Vereinigungsfahne ohne Dok-do ein. In einer offiziellen Stellungnahme
schwärmten die Menschen von ihrer Schönheit. Danach besuchte sie 2004
protestierte Nordkorea jedoch, dass die „Einheitsfahne nur das Territori-
das Nord-Süd-Treffen der Lehrer im Gebirge Geumgang-san und war als
um abbilde, das schon immer unserem Volk gehört hat.“
Mitglied der Anfeuerungsgruppe für die Leichtathletik-Asienmeisterschaft
In der Vergangenheit sorgte der Besuch einer nordkoreanischen Cheerlea-
2005 in Incheon mit dabei. Damals verriet Ri in einem Interview „mein
dertruppe an sich schon für Schlagzeilen. Beim ersten Besuch im Jahr 2002
Traum ist, einmal als Mitglied einer Kunstgruppe aufzutreten“. Sie schloss
strömten Tausende zum Hafen, um die Passagierfähre „Man Gyong Bong“
sich der Moranbong-Band an und heiratete später Kim Jong-un.
zu sehen, auf der sich die Mitglieder aufhielten. Die Zuschauer in den Stadi-
Jedoch waren die Schlagzeilen rund um die nordkoreanische Anfeue-
en reagierten enthusiastisch auf die Anfeuerungsaktionen und choreogra-
rungsgruppe nicht immer positiv. Bei der Sommer-Universiade 2003 stand
fierten Bewegungen der Cheerleader und ahmten sie nach.
z.B. der sog. „Kim Jong-il Bannervorfall“ im Rampenlicht. Während die
Bei ihrem jüngsten Besuch, dem ersten nach der Leichtathletik-Asien-
Cheerleaderinnen im Bus unterwegs war, sahen sie, dass das Banner ihres
meisterschaft 2005 in Incheon, standen die nordkoreanischen Cheerlea-
„Geliebten Führers“ im Regen nass wurde. Sie brachen in Tränen aus und
derinnen oft bei jedem Event, an dem sie teilnahmen, im Mittelpunkt. Sie
riefen: „Das Gesicht unseres großen Generals wird nass! Das können wir
cheerten und tanzten perfekt im Einklang miteinander und riefen Slogans
so nicht lassen!“ Das Banner musste daraufhin sofort entfernt werden.
wie „Wir sind eins!“, „Unsere Spieler sind top!“, „Lasst uns eins werden!“
Popularität und Kontroverse
nach Mondkalender)“, die den Menschen aus Nord und Süd gleicherma-
und sangen Lieder wie „Frühling in der Heimat“ und „Seollal (Neujahr Zu Beginn der Olympischen Winterspiele in PyeongChang lösten die
ßen vertraut sind. Erklang jedoch südkoreanische Popmusik im Stadion,
nordkoreanischen Cheerleaderinnen mit ihrem Einsatz von sog „Kim Il-
wirkten sie völlig uninteressiert. Sie interessierten sich auch nicht für die
sung Gesichtsmasken“ ungewollt eine Kontroverse aus. Beim Singen ei-
Wettkämpfe anderer Länder und verließen das Stadium oft unmittelbar
nes nordkoreanischen Popsongs verwendeten sie die Masken als Requisi-
nach den Spielen der koreanischen Mannschaften.
ten, was von den südkoreanischen konservativen Gruppen stark kritisiert
Ein Teil der südkoreanischen Zuschauer reagierte im Vergleich zu früher
wurde. Sie meinten, dass die Masken, die an das Gesicht des jungen Kim
auch etwas anders auf die nordkoreanischen Cheerleaderinnen und mein-
Il-sung erinnerten, für Propagandazwecke genutzt würden. Sowohl die
te, sie seien wie „eine isolierte Insel“, „Maschinen oder Marionetten“ oder
südkoreanische Regierung als auch Nordkorea erklärten, dass es sich
schienen „in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen“. Die nuklearen Provo-
nur um das Gesicht eines gut aussehenden jungen Mannes handele,
kationen des Nordens, die bis einige Monate vor den Spielen angedauert
höchstwahrscheinlich um das eines berühmten nordkoreanischen Schau-
hatten, und die Kontroverse um die in allerletzter Minute dann doch noch
spielers, und dass keine politische Bedeutung dahinter stehe. Außerdem
zustande gekommene Bildung eines gemeinsamen Damen-Eiskockey-
würde kein Nordkoreaner es wagen, Masken mit dem Abbild des „Gro-
teams hatten wohl die öffentliche Stimmung negativ beeinflusst.
ßen Führers“ herzustellen und schon gar nicht, Löcher hineinzubohren. Zuvor hatte es bei einem Aufwärmspiel der gemeinsamen Frauen-Eis-
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hockeymannschaft ein Problem mit der koreanischen Einheitsflagge
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gegeben, auf der die koreanische Halbinsel samt Dok-do zu sehen ist, eine unter koreanischer Hoheit stehende Inselgruppe im Ostmeer, auf
1. Südkoreanische Zuschauer bei der Begrüßung der nordkoreanischen Cheerleader-Mannschaft bei den Olympischen Winterspielen PyeongChang 2018. Die Cheerleader zogen große Zuschauermengen in- und außerhalb der olympischen Sportstätten an. 2. Nordkoreanische Cheerleaderinnen feuern bei einem Wettbewerb der Frauen die Sportlerinnen an. Sie zogen mit ihren perfekt synchronisierten Bewegungen und anfeuernden Rufen die Aufmerksamkeit auf sich. © Yonhap News Agency
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Pr채ludium zum Frieden: Innerkoreanische Entspannung in der Popul채rkultur
Begegnung mit Nordkoreas Landschaftsjuwelen Die atemberaubende Landschaft ist nur ein Grund, warum es die Koreaner zu den Bergen Baekdu-san und Geumgang-san zieht. Der andere ist ihre Bedeutsamkeit mit Blick auf Geschichte, Kultur und Kunst Koreas. Besonders f체r die S체dkoreaner sind diese Berge Objekte der Wehmut und Sehnsucht. Eun Hee-kyung Schriftstellerin
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ch kam in der südlichen Hälfte eines geteilten Landes zur Welt, wo ich von Kindesbeinen an über den Kommunismus aufgeklärt wurde. Danach war Nordkorea ein von einem Marionettenregime regiertes Land voller Arbeitslager und Armut. In Klassenarbeiten gab es Fragen zur Cheollima-Bewegung, die das Volk zu unermüdlicher Arbeit antrieb, und zur „Einer in fünf Haushalten-Regelung“, nach der pro fünf Haushalte ein KP-Parteimitglied dazu bestimmt wurde, den Alltag der übrigen vier Haushalte zu überwachen. Nicht selten las man Zeitungsberichte über Infiltrationen bewaffneter Guerillas und Schülergruppen gingen zu „antikommunistischen Ausstellungen“, um die Handgranaten, Stichwaffen u.ä. der Guerillas zu besichtigen.
© Yonhap News Agency
Südkoreanische Touristen beim Fotografieren am Cheonji-Kratersee auf dem Baekdu-san. Der Baekdu-san, der sich an der Grenze zwischen der nordkoreanischen Provinz Ryanggang-do und der chinesischen Provinz Jilin erhebt, ist die höchste Erhebung des Gebirgsmassivs Baekdu Daegan, das sich 1.400 km Richtung Süden erstreckt. Zurzeit können Südkoreaner den Baekdu-san nur via China besuchen.
Antikommunistische Erziehung Im Musikunterricht sangen wir dann aber „Auf ins Geumgang-Gebirge mit seinen 12.000 Gipfeln! / Schöner und geheimnisvoller wird es mit jedem Blick.“ Und Sanjeong Muhan (Der endlose Zauber der Berge), ein Reiseessay in unserem Koreanisch-Schulbuch, beschwor vor unserem geistigen Auge die Schönheit von Wäldern, Wasserfällen, Wolken, Nebel und Felsen herauf. Wir erfuhren, dass die Landschaft je nach Jahreszeit einen völlig anderen Anblick bietet, weshalb das Gebirge vier unterschiedliche Namen hat. „Geumgang“ (auch „Kumgang“: Diamant), der wohl bekannteste davon, ist die Bezeichnung für den Frühling, wenn alle 12.000 Gipfel mit knospendem Grün und Blüten bedeckt sind, die wie Diamanten glitzern. Nicht weniger Interesse erregt das Gebirge Baekdu-san. Es wird sogar zu Beginn der koreanischen Nationalhymne erwähnt: „Bis Ostmeer und Baekdu-san dahinschwinden / Möge der Himmel unser Land ewig schützen“. Damit ist gemeint, dass für eine unbegrenzte Zeit, i.e. bis das Ostmeer im Süden austrocknet und der Baekdu-san im Norden erodiert ist, eine übernatürliche Macht das Land schützen möge. Mit dem Gaema-Plateau, das den Gipfel wie ein Glockenrock umgibt, haftet dem Baekdu-san das mystische Flair eines Urwaldes an. Der Name „Baekdu“ (weißer Kopf) bezieht sich auf den mit hellgrauem Tuff bedeckten Gipfel, der an ein weißhaariges Haupt erinnert. „Changbai“, der chinesische Name des auf der Grenze zwischen Nordkorea und China gelegenen Bergzugs, bedeutet „langer, weißer Berg“. Mit seinen majestätischen Felsen und dem Cheonji (Himmelssee), dem tiefsten Kratersee der Welt, symbolisiert der Berg seit jeher den Geist der koreanischen Nation, der bis in den weiten Kontinent hineinreichte. Er schien nach der Teilung jedoch nur noch symbolhaft als „der heilige Berg der Nation“ zu existieren, was aber durch das quälende Bewusstsein der Unerreichbarkeit für die Südkoreaner immer abstrakter wurde. Doch die Geschichte machte Fortschritte und öffnete neue
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Möglichkeiten. So konnte ich 2002 endlich meinen Fuß ins Geumgang-Gebirge setzen, in ein malerisches Tal eingerahmt von zerklüfteten Felsformationen. Einige Jahre später stand ich auf dem Baekdu-san und blickte auf das tiefblaue Wasser des Cheonji-Kratersees. Eine fremde, aber wunderschöne Landschaft Beginn der oben erwähnten Geschichte war der Nordkorea-Besuch von Chung Ju-yung (1915–2001), Gründer der Hyundai -Gruppe, der eine Rinderherde nach Nordkorea brachte. Der im heutigen Nordkorea geborene Chung war 17, als er das Geld, das sein Vater durch den Verkauf eines Rindes bekommen hatte, in die eigene Tasche steckte und nach Süden zog. Dort gründete der sein eigenes Geschäft, aus dem schließlich die Hyundai-Gruppe wurde. 1998 verhandelte der damals 83-jährige Industriemagnat mit dem Norden und inszenierte einen Heimatbesuch zur Förderung des Friedens auf der koreanischen Halbinsel: An der Spitze eines LKW-Konvois mit 500 Rindern, die er als symbolische Wiedergutmachung für das vom Vater gestohlene Geld betrachtete, durchquerte er die gemeinsame Sicherheitszone im Waffenstillstandsdorf Panmunjeom. Im November desselben Jahres startete die Hyundai-Gruppe das Geumgangsan-Tourprojekt, das südkoreanischen Bürgern Reisen in das legendäre Diamantgebirge ermöglichte. Zwei Jahre später kamen der damalige südkoreanische Präsident Kim Daejung und Kim Jong-il, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsausschusses der DPRK, in Pjöngjang zusammen und nahmen die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni an. Die Sonnenscheinpolitik von Kim Dae-jung bewirkte ein innerkoreanisches Tauwetter. Ein nennenswertes Resultat war u.a. die bis dahin unvorstellbar gewesene Teilnahme nordkoreanischer Athleten und Cheerleader an den Asienspielen 2002 in Busan. Da 2002 auch die Fußball-WM in Südkorea stattfand, plante man, mit einer Gruppe von Repräsentanten aus den Sektoren Kultur, Kunst und Sport bei Sonnenaufgang eine Bittzeremonie für das erfolgreiche Gelingen der Fußball-WM und der Asienspiele durchzuführen. Ich gehöre noch zu der Generation, die in der Schulzeit zu dermaßen vielen Veranstaltungen „zwangsmobilisiert“ wurde, dass ich als Erwachsener eine regelrechte Abneigung gegen solche von oben initiierten Events entwickelte. Aber eine Reise ins Geumgang-Gebirge! Als ich die Einladung erhielt, war ich wirklich froh, Schriftstellerin geworden zu sein. Was war das? Dieses sanfte Schaudern, das mich packte, als ich meinen Fuß zum ersten Mal auf nordkoreanischen Boden setzte? Diese sonderbare Rührung, als ich zum ersten Mal Grußworte mit einem Nordkoreaner austauschte? Diese schwache, aber belebende Energie, die mich auf meinen einsamen Spaziergängen im Tal des Geumgang-san umhüllte? Als leiden-
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schaftliche Wandererin hatte ich bereits viele Berge im Süden erklommen, aber das Diamantgebirge war unvergleichlich. Seine Schönheit war fremdartig für mich, und doch schien ich mich lange danach gesehnt zu haben. Einer aus der Besuchergruppe klagte, dass die hier und da in die Felsen eingravierten Propaganda-Slogans das Landschaftsbild ruinierten. Anderen missfiel die gewisse Sturheit, mit der die Nordkoreaner uns begegneten. Aber wenn wir dann, abends in den heißen Quellen im Freien sitzend, die Berggipfel in der Ferne betrachteten oder uns der sanften Kurven der Küstenlinie entlang des Haegeumgang(Meeresdiamant)-Gebietes erfreuten, war alle Missgestimmtheit verflogen. Hinzu kamen das herzhafte Lachen der Nordkoreaner, die gerne scherzten, der leckere Rauschbeere-Schnaps und das Taedonggang Bier. 2005, drei Jahre später, hatte ich nochmals Gelegenheit zu einem Nordkorea-Besuch. Anlass war die Tagung koreanischer Schriftsteller, die im Baekdu-san stattfand. Es war ein historisches Event, das zum ersten Mal nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft 1945 ca. 200 koreanische Schriftsteller aus beiden Koreas sowie aus dem Ausland zusammenbrachte. Es gab zwar bereits in der Planungsphase einige Komplikationen, aber der Wille, uns mit Leuten aus dem eigenen Volk auszutauschen, war unbeugsam. Von Veranstalterseite kam die Empfehlung, Mitbringsel für unsere Kollegen im Norden zu besorgen, weshalb ich in die nächste Apotheke ging. Der Apotheker wunderte sich über meinen Großeinkauf von Hausapothekenmitteln. Als er erfuhr, dass es Geschenke für Nordkorea sein sollten, erhielt ich das Mehrfache der von mir geplanten Menge, und zwar kostenlos mit der Bemerkung „Ich hoffe, dass alle im Norden gesund bleiben und wir eines Tages einander treffen.“ Die Grenze überqueren Knapp eine Stunde nach dem Abflug der Air-Koryo-Maschine in Seoul landeten wir auf dem Sunan International Airport in Pjöngjang. Der Flug war lächerlich kurz im Vergleich zu meiner Geumgangsan-Schiffsreise, auf der ich die ganze Nacht über seekrank gewesen war. Auf dem Flughafengebäude prangten der Stadtname „Pjöngjang“ in roten Schriftzeichen und Konterfeis von Kim Il-sung rechts und links. Am Eingang begrüßten uns Nordkoreaner mit Applaus. Für Schriftsteller, die jeweils in ihrer eigenen Schaffenswelt leben, sind orchestrierte Gruppenaktivitäten nichts. Hinzu kam, dass es ein Treffen von Personen war, die völlig verschiedene Leben in unterschiedlichen politischen Gesellschaftssystemen geführt hatten, sodass das, was der eine dem anderen zeigen wollte, nicht dem entsprach, was der andere zu sehen hoffte. Entsprechend viele Episoden und Vorfälle gab es. Vor allem die unterschiedlichen Wertvorstellungen führten zu ständigen
© The Hankyoreh
Spannungen, Konflikten und Missverständnissen. Die Südkoreaner, die z.B. die Kameralinse auf ländliche Szenen richteten, die sie an ihre Heimatdörfer in den 1970er Jahren erinnerten, taten das nur aus reiner Nostalgie. Die Nordkoreaner, für die die Demonstration der Überlegenheit des eigenen Systems eine Frage des Selbstwertgefühls war, betrachteten solche Aufnahmen jedoch als grobe Unhöflichkeit. Es gab aber auch nicht wenige Momente, in denen wir uns unserer gleichen Wurzeln bewusst wurden. Als bei einem gemeinsamen Essen ein nordkoreanischer Schriftsteller „Lattich“ als „Buru“ bezeichnete, war ein Schriftsteller von der Insel Jeju-do freudig überrascht, dass ein Wort, das er für reinen Jejudo-Dialekt gehalten hatte, zur nordkoreanischen Standardsprache gehörte. Es folgte ein Gespräch über die sprachliche Homogenität. Obwohl die koreanische Halbinsel seit über 60 Jahren geteilt ist und wenig Austausch besteht, hatten wir abgesehen von Wörtern fremden Ursprungs keine Verständigungsprobleme. Das liegt u.a. daran, dass in beiden Koreas im Wesentlichen die 1933 von der Gesellschaft für koreanische Sprachwissenschaft festgelegten Rechtschreibregeln befolgt werden. Der Baekdu-san in der Morgendämmerung Die Schriftstellertagung sollte bei Tagesanbruch beginnen, sodass wir den Sonnenaufgang vom Berggipfel aus genießen konnten. Der Bus verließ in der Dunkelheit unsere Unterkunft am Berghang. Die meisten schliefen noch, übernächtigt vom feuchtfröhlichen Feiern unserer Freundschaft am letzten Tag der Reise. Nur ich fand vor lauter Nervösität keinen Schlaf,
Der Geumgang-san (Diamantgebirge) mit seiner atemberaubenden Landschaft, die sich zu jeder Jahreszeit in einem anderen Gewand präsentiert, war nach der Teilung 1948 für Südkoreaner weitgehend unzugänglich. 1998 wurde ein grenzüberschreitendes Tourprogramm eingeführt, das Südkoreanern den Besuch auf dem Seeweg ermöglichte. Es wurde 2004 eingestellt. Überlandtouren starteten 2003, wurden aber 2008 gestrichen.
da ich die Zeremonie auf dem Gipfel moderieren sollte. Dank dessen erlebte ich, wie sich ein unvergessliches Panorama vor mir auftat: die Schönheit der uranfänglichen, im Dämmerlicht erwachenden Wälder! Hinter einer Kurve wichen die Birken Dahurischen Lärchen, Japanischen Kiefern, Korea-Kiefern, Ajan-Fichten, Weiden und allerei Blumen. Das kristallklare Wasser und dunkles Gestein formten hier und da eigenartige Silhouetten. Als wir schließlich den Gipfel erreichten und auf dem Janggun-bong (General-Gipfel) standen, stieg die Sonne in all ihrer Pracht über dem blauen Wasser des Cheonji-Kratersees empor. Ein nordkoreanischer Schriftsteller sagte: „Was für ein herrlich klarer Tag! Das Wetter in den oberen Höhenlagen ist äußerst launenhaft. Ich war schon fünf Mal hier oben, aber den Sonnenaufgang sehe ich zum ersten Mal.“ Die Schriftsteller aus dem Norden und Süden rezitierten Gedichte, riefen Slogans aus und posierten für ein Gruppenfoto, die Arme über die Schultern des Nachbarn gelegt. Später las ich in einem Beitrag über das Event, dass ein südkoreanischer Schriftsteller sagte: „Lasst den scheußlichen Stacheldraht stillschweigend verschwinden“, woraufhin ein nordkoreanischer Kollege antwortete: „Wenn die Menschen im Geiste eins sind, gibt selbst der Himmel nach“. Damals glaubten wir fest daran, dass trotz der vielen Steine, die auf dem Weg dahin lagen, eine
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neue Geschichte geschrieben werden könnte. Die gute Stimmung hielt an: 2006, im Jahr darauf, wurde in Erinnerung an die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni der 15.-Juni-Gedenkverband der Schriftsteller aus Nord- und Südkorea auf den Weg gebracht, die Gründungsfeier fand im Geumgang-san statt. Begleitend wurden die Schriftsteller aus beiden Koreas zu einem Abend der Literatur im Geumgang-san eingeladen. Da mittlerweile zu Tourismuszwecken eine Landverbindung eingerichtet worden war, brauchten wir nicht mehr unter Seekrankheit zu leiden. Von der Provinz Gangwon-do aus brachte uns der Bus die Ostküste entlang über die Grenze. Und wieder einmal gab es Getreide, Gemüse, Fleisch und Alkohol aus nordkoreanischer Produktion. Wir scherzten sogar darüber, wessen Buch es nach der Wiedervereinigung wohl auf die nordkoreanische Bestsellerliste schaffen würde. Und wir trösteten einander damit, dass die Wiedervereinigung der einzige Weg zur Erweiterung unserer Leserschaft sei, da Koreanisch nicht zu den großen Weltsprachen gehört. 2008 kam eine Literaturzeitschrift mit Werken von Schriftstellern aus beiden Koreas heraus: Tong-il Munhak (Literatur der Wiedervereinigung). Die erste Ausgabe dieser Zeitschrift des 15.-Juni-Gedenkverbands der Schriftsteller enthielt 33 Beiträge, darunter Erzählungen, Gedichte, Essays und Kritiken. Da glücklicherweise auch eine meiner Erzählungen einen Platz darin fand, erhielt ich ein Exemplar dieser Erstausgabe. Behutsam stellte ich sie ins Bücherregal, gleich neben die Anthologie eines nordkoreanischen Dichters, die ich in Pjöngjang geschenkt bekommen hatte. Da meine Werke in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden, hatte ich öfters Gelegenheit, auf Buchmessen oder Literaturveranstaltungen ausländischen Lesern zu begegnen. Aber zu wissen, dass meine Landsleute im Norden meine Erzählung lesen würden, war noch einmal ein ganz anderes Gefühl. Es war, als ob ich das Joch meiner antikommunistischen Erziehung abgeworfen und endlich eine Hand ausgestreckt hätte, obwohl nicht geschickt.
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Doch noch im selben Jahr kühlten sich die innerkoreanischen Beziehungen schlagartig ab. Anlass war u.a. auch ein Zwischenfall, bei dem eine südkoreanische Geumgangsan-Touristin auf ihrem Morgenspaziergang in ein durch Stacheldraht abgegrenztes Militärgebiet wanderte und von nordkoreanischen Wachposten erschossen wurde. Das Geumgangsan-Tourprojekt, das immer mehr Interessenten angezogen und 2005 sogar die Eine-Million-Marke überschritten hatte, wurde sofort unterbrochen. Das Gebirge, das die US-Fachzeitschrift Foreign Policy als eins der Top-Touristenziele mit den strengsten Zugangsbeschränkungen für Amerikaner listete, war Koreanern nun völlig verschlossen. Danach sprach die südkoreanische Regierung zehn Jahre lang nicht mit dem Norden. In der angespannten Situation wurde auch die Kritik laut, dass die Gewinne aus dem Geumgangsan-Tourismus dem „Feindland“ finanziell geholfen hätten. Letztendlich öffnete sich die Tür dann aber wieder. Im April 2018 fand in Panmunjeom ein innerkoreanisches Gipfeltreffen statt. Nach einem Spaziergang zur Fußgängerbrücke an der Grenze nahmen die beiden Staatschefs auf einer Bank Platz und unterhielten sich über eine halbe Stunde unter vier Augen. Der Spaziergang wurde live gesendet, aber es war nichts als Vogelzwitschern zu hören. Am nächsten Tag versuchte ein Nachrichtenkanal den Gesprächsinhalt mittels Lippenlesens zu entschlüsseln. Was mir jedoch weit besser gefiel war ein Bericht über das Ökosystem der Region, bei dem die Vögel anhand ihres Gezwitschers identifiziert wurden. Bestimmt war 1. 1998 brachte Chung Ju-yung, Ehrenvorsitzender der Hyundai-Gruppe, privaten Austausch und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Nordund Südkorea auf den Weg, indem er die Waffenstillstandslinie zwei Mal mit einem LKW-Konvoi, der insgesamt 1.001 Rinder transportierte, überschritt. 2. Gruppenaufnahme zur Erinnerung an die Tagung südkoreanischer Schriftsteller, die 2005 in Nordkorea stattfand. Möglich gemacht wurde diese Zusammenkunft durch die beim ersten innerkoreanischen Gipfeltreffen angenommene „Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni 2000“, die eine Stimmung der Versöhnung schuf.
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Was war das? Dieses sanfte Schaudern, das mich packte, als ich meinen Fuß zum ersten Mal auf nordkoreanischen Boden setzte? Diese sonderbare Rührung, als ich zum ersten Mal Grußworte mit einem Nordkoreaner austauschte? ich nicht die einzige, die das Vogelzwitschern als eine Ankündigung des Friedens betrachtete. Der Vogelgesang ließ mich an den Geumgang-san und den Baekdu-san denken. Nach meinen Reisen dorthin hatte ich verschiedene Berge besucht: Ich ruhte mich im Annapurna-Basislager in Nepal aus, lief den Inka-Trail zum Machu Picchu entlang, zeltete in den Rocky Mountains, besuchte den Yellow Stone Nationalpark und den Grand-Canyon-Nationalpark. Ich bestaunte all diese spektakulären Gebirge, aber keins davon vermochte mir dermaßen ans Herz zu rühren wie der Baekdu-san und der Geumgang-san im Norden. Geschichte nach der Teilung In meinem Bücherregal stehen zwei Fotobände mit nordkoreanischen Gebirgslandschaften. Einer davon ist Berge und Flüsse von Nordkorea von dem Magnum-Fotografen Kubota Hiroji. Enthalten sind Aufnahmen, die Hiroji 1979 für die japanische Zeitschrift Sekai machte. Kubota war der vierte Japaner, dem Zugang zu den nordkoreanischen Gebirgen gewährt wurde. Im Epilog des Fotobands schrieb er: „Der Baekdu-san ist Inbegriff eines majestätischen Festland-Gebirges und das Geumgang-Gebirge steht quasi für Asien an sich. Ich war überwältigt von Energie und Pracht der Natur, die sich in beiden offenbart.“ Der Fotoband wurde 1988 von der Hankyoreh veröffentlicht, einem im selben Jahr mithilfe von Bürgerspenden gegründeten Zeitungsverlag. Die Herausgabe eines solchen Buches verlangte zu jenen Zeiten des Kalten Kriegs, als Südkorea noch unter einer diktatorischen Regierung litt, ein nicht geringes Maß an Mut. Die Leser warteten gespannt auf den Band. Auch ich zögerte nicht, für ein Exemplar 30.000 KW zu zahlen, eine Summe, die damals für 300 Packungen Ramen-Instantnudeln gereicht hätte. Die atemberaubenden Landschaften, die auf Fotos mit Untertiteln wie „Cheonji, selbst im Sommer von Treibeis bedeckt“, „Tal im flammenden Herbstlaub“ sowie „Urwäldliche Bäume im Rauhreifmantel“ zu sehen waren, waren zweifelsohne spektakulär. Was aber mein Herz noch höher schlagen ließ, war die Tatsache, dass diese Fotos aktuelle Ansichten der jetzt für Südkoreaner verbotenen Gebirge zeigten. Das zweite Fotoband ist Baekdu-san, 1982 vom nordkoreanischen Verlag Choson Hwabosa publiziert. Ich hatte ihn bei meinem Besuch der Schriftstellertagung in Pjöngjang gekauft.
Anders als die Fotos von Kubota, der unter Zeit- und Erlaubnisbeschränkungen arbeitete, fängt dieser Band all die subtilen Veränderungen der Jahreszeiten ein, und die mit viel Liebe zum Detail gemachten Aufnahmen sind persönlicher und abwechslungsreicher. Die Qualität der Aufnahmen hält zwar keinem Vergleich mit denen des japanischen Fotografen stand, aber mich fesseln nicht nur die Fotos von der Natur, sondern auch das Leben der Menschen, das darauf abgebildet ist. Der auffälligste Unterschied ist allerdings das Herangehen an die Thematik. So ist auf der ersten Seite weder der Baekdu-san noch der Geumgang-san zu sehen, sondern „Der große Führer Kim Il-sung“. Die nächste Seite würdigt den Baekdu-san als einen Meilenstein in der Geschichte des Unabhängigkeitskampfes. Und erst danach bietet der Fotoband eine Reihe beeindruckender Landschaftsaufnahmen vom Baekdu-san und Geumgang-san. In Nordkorea wird der Baekdu-san zwar auch als Juwel der Naturschönheiten gepriesen, aber seine Bedeutung als Stätte des historischen Unabhängigkeitskampfes ist gleichermaßen wichtig. Da sich in den Bergen viele geheime Stützpunkte der Revolutionären Volksarmee verbargen, finden sich dort eine Reihe von Statuen, Monumenten und Stelen zum Gedenken. Auch die Häuser und Zeltlager der Guerillakämpfer sind noch zu sehen. Nach der Teilung des Landes wurde der Baekdu-san zu einem heiligen Ort, der für die moderne Geschichte des nordkoreanischen Volkes steht, einer Geschichte, die sich von der des Südens unterscheidet. Wir sind vielleicht noch nicht hinreichend vorbereitet, einen Fuß in den Norden zu setzen, solange wir das nicht verstehen. Derzeit schmiede ich viele Reisepläne mit meinen Freunden. Wir haben einander versprochen, dass wir, wenn es zur Anbindung der südkoreanischen Eisenbahn an das nordkoreanische Streckennetz kommt und von dort weiter über Russland nach Europa, von Seoul nach Pjöngjang fahren werden und von dort über Wladiwostok und Moskau bis nach Paris. Wir sagen uns: „Wozu fliegen, wenn wir mit dem Zug reisen können?“ Und dann will ich noch einmal den Baekdu-san besuchen, nicht über China, sondern auf dem direkten Schienenweg. Sicherlich braucht es noch viel Zeit und Verständnis, bis die so lange unterbrochenen Verbindungen wieder instand gesetzt sind. Aber wir können doch warten. Nicht wahr?
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Eine Reise der Versöhnung und des Friedens Die Demilitarisierte Zone (DMZ) ist ein rund 250 km langer Streifen Land, der sich zu beiden Seiten der Militärischen Demarkationslinie (MDL) rund 2 km nach Norden bzw. Süden erstreckt und die koreanische Halbinsel teilt. Als mit dem Waffenstillstandsvertrag eine Waffenruhe eintrat, wurde die Frontverlaufslinie als Grenze festgelegt. Bis heute ist Panmunjeom die einzige Passierstelle zwischen beiden Koreas. Panmunjeom zieht jährlich ca. 3 Mio. Touristen aus dem In- und Ausland an. Ham Kwang-bok Leiter des Korea DMZ Institute
Der amerikanische Historiker und Kolumnist Theodore R. Fehrenbach
Vier Schlüsselwörter
beschreibt in seinem Buch This Kind of War den Moment der Unterzeich-
Die DMZ ist unter vier Aspekten bedeutsam: Erstens ist sie eine vom Kal-
nung des Waffenstillstandsabkommens in Panmunjeom am 27. Juli 1953
ten Krieg hinterlassene Öko-Schatzkammer. Dort wurden einstige Äcker
folgendermaßen: „Um 10.01 Uhr unterschrieben sie die ersten der 18 Do-
und Reisfelder zu Sumpfgebieten, die heute Habitat des vom Aussterben
kumente, die von den beiden Seiten vorbereitet wurden. Sie brauchten
bedrohten koreanischen Wasserrehs sind. Im Laufe des zerstörerischen
12 Minuten, um alle zu unterzeichnen. Danach standen sie auf und jeder
Kriegs und der langen militärischen Konfrontation hat die Natur unge-
verließ das Gebäude, ohne ein Wort zu sagen.“
ahnte Wege der Regeneration und des Überlebens gefunden.
Die DMZ, das letzte Relikt des Kalten Krieges auf der Welt, das auf ewig
Laut einer im Juni 2019 vom Nationalinstitut für Ökologie herausgege-
das Symbol der nationalen Teilung zu bleiben schien, begann plötzlich
benen Statistik leben in der DMZ 5.929 Wildtier-Arten, darunter 101 vom
von Frieden zu sprechen. Am 27. April 2018 unterzeichneten der südko-
Aussterben bedrohte. Aber an diesem Wandel von verbrannter Erde zu
reanische Präsident Moon Jae-in und Kim Jong-un, der Vorsitzende der
gesundem Wald hat der Mensch keinen Anteil. Vielmehr stand er der
Nationalen Verteidigungskommission der Demokratischen Volksrepublik
Regenerierung der Natur durch Errichtung von Maschendrahtverhauen,
Korea, die Panmunjeom-Erklärung für Frieden, Prosperität und Vereini-
Verlegung von Tretminen sowie Spritzen von Entlaubungsmitteln im
gung der koreanischen Halbinsel und gelobten, gemeinsam ein Zeitalter
Wege. In diesem Sinne könnte man die DMZ mit ihrer natürlichen Wider-
des Friedens zu eröffnen.
standskraft als „Garten der Götter“ bezeichnen.
Die dramatische Szene der beiden über die Fußgängerbrücke in Panmun-
Zudem ist die DMZ ein „lebendiges Kriegsmuseum“. Als sich im Koreakrieg
jeom spazierenden Staatsoberhäupter schlug Zuschauer in aller Welt in
die Ebene jenseits des Flusses Imjin-gang kurz vor einem Generalangriff
ihren Bann: An dem Tag schritten sie Seite an Seite über die blaue Brücke,
der chinesischen Truppen zu „bewegen“ begann, dürften die britischen
die sich lebhaft vom Grün des Waldes abhob, und nahmen an einem
Soldaten, die sich dort im Kampfeinsatz befanden, sich schmerzlich an
Holztischchen am Ende der Brücke Platz. Während der Direktübertragung
eine Szene aus Macbeth erinnert haben. Dort wird Macbeth nämlich ge-
des Treffens war weder ein Wort des Gesprächs zu hören, noch gab es
warnt, sich auf Krieg vorzubereiten, wenn „der Wald von Birnam sich be-
Hintergrundmusik. Es erklangen nur das Singen der Drosseln, auf das
wegt“. Die DMZ ist eine Art epische Doku mit Erinnerungen an den „Krieg
hier und da ein Grauspecht antwortete.
der Menschheit“, an dem 63 Staaten der Welt beteiligt waren. 1
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© Gyeonggi Tourism Organization
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Die DMZ ist auch die Wiege einer besonderen Grenzregion-Kultur. In dem im Norden der Zivilen Kontrollzone gelegenen Dörfern koexistieren die
NÖRDLICHE DEMARKATIONSLINIE
2km
MILITÄRISCHE DEMARKATIONSLINIE (MDL)
2km
Goseong Observatorium
SÜDLICHE DEMARKATIONSLINIE
Bewohner mit der Natur und leben „Öko-Moral“, indem sie die Zugvögel
Cheorwon Friedensobservatorium
füttern und davon in Form von Birdwatching-Tourismus profitieren. Aber Yeolsoe Observatorium
auch hier sterben die Alten, verlieben sich die Jungen und Kinder werden
Taepung Observatorium
geboren. Dazu war die DMZ Zeuge historisch bedeutsamer Ereignisse: Das
(heute Nordkorea) verlegt. Rund 400 Jahre danach wurde in Gaeseong
Hwacheon Observatorium Seungni Observatorium
Dora Observatorium
n.Chr.) gründete, hatte seine Hauptstadt im heutigen Cheorwon. Bis heute Goryeo-Reich (918-1392) gegründet und die Hauptstadt nach Gaeseong
Eulji Observatorium
PANMUNJEOM
Reich Taebong, das Gungye (reg. 901-918) Ende der Silla-Zeit (57 v.Chr.–668 finden sich Relikte aus dieser Zeit in der Region. Später wurde hier das
Ostmeer
DMZ
Odusan Observatorium Gelbes Meer
Aegibong Observatorium
Ganghwa Observatorium
das Joseon-Reich (1392-1910) gegründet, bevor die Hauptstadt ins heutige Seoul verlegt wurde.
handlungen wurde der Name auf Nachdruck der chinesischen Regierung auf Grundlage der chinesischen Schriftzeichen, die dieselbe Bedeutung
Brücken in Panmunjeom
haben, in „Panmunjeom (板門店)“ geändert.
Das vierte Schlüsselwort zum besseren Verständnis von Panmunjeom ist „Brücke“. Unmittelbar nach Abschluss des Waffenstillstandsvertrags hat
Schritte zum Frieden
die Neutrale Kommission zur Überwachung des Waffenstillstandes eine
Es gab auch einmal eine „symbolische Brücke“ über die Militärische De-
Holzbrücke über das morastige Gebiet an der östlichen MDL gebaut, um
markationslinie in Panmunjeom. Im November 1984 flüchtete Vasiliy
den Weg zum Verhandlungsraum zu verkürzen. Diese schmale Brücke,
Matuzok, ein Reiseführer der russischen Botschaft in Pjöngjang, durch
ein Nebenprodukt des Kalten Krieges, wurde jetzt zum Symbol des Frie-
die MDL, wo in den Konferenzgebäuden gerade die Waffenstillstands-
dens. Die Panmunjeom-Erklärung vom 27. April enthält das Versprechen,
kommission tagte. Im November 2017 kam es zu einer weiteren „Über-
die DMZ zu einem „Friedensgürtel“ zu entwickeln. Der Spaziergang der
querung“ der MDL in Panmunjeom, als ein nordkoreanischer Soldat im
beiden Staatschefs über diese Brücke scheint ein erster Schritt in diese
Kugelhagel überlief.
Richtung zu sein.
Im Juni 1994 besuchte Jimmy Carter als erster US-Präsident Nordkorea via
Es gibt noch eine weitere, bereits 400 Jahre zurückliegende Geschichte
Panmunjeom, um in der ersten nordkoreanischen Atomkrise zu schlichten.
über Panmunjeom und eine Brücke. 1592 flüchtete Joseon-König Seonjo
Die spektakulärste „Brücke des Friedens“ legte aber wohl Chung Ju-yung,
(reg. 1567-1608) vor japanischen Soldaten, die über die Südküste einfielen
der Gründer der Hyundai-Gruppe, der im Juni und Oktober 1998 Nordko-
und ins Landesinnere vordrangen, gen Norden. Als der König ein kleines
rea mit einem Lastwagen-Konvoi besuchte, in dem sich jeweils 500 bzw.
Dorf erreichte und wegen Hochwasserfluten nicht über den Fluss setzen
501 Rinder befanden. Chung traf den nordkoreanischen Staatsführer Kim
konnte, bauten die Dorfbewohner die aus breiten, massiven Holzplan-
Jong-il und öffnete Wege für eine Nord-Süd-Kooperation. Im November
ken gefertigten Tore (Neolmun) ab und fertigten daraus eine Brücke,
1998 legte das erste Schiff mit Hunderten südkoreanischer Touristen im
über die der König den Fluss überqueren konnte. Seitdem hieß das Dorf
Ostmeerhafen Donghae Richtung Geumgang-san ab.
„Neolmun-ri“ (Holzplankentor-Dorf). Während der Waffenstillstandsver-
Neuerdings suchen immer mehr in- und ausländische Touristen im Rahmen des sog. „Sicherheitstourismus“ Panmunjeom und die DMZ-Gebiete auf. Doch Panmunjeom ist nicht für jeden und nicht jederzeit zugänglich.
1. Eine Gruppe Nordkoreaner besucht Panmunjeom, die einzige Durchgangspassage durch die Demilitarisierten Zone, die die beiden Koreas teilt. Südkoreaner, die das Waffenstillstandsdorf im Rahmen des sog. „Sicherheitstourismus“ besuchen wollen, müssen wenigstens 60 Tage im Voraus eine entsprechende Erlaubnis beim Nachrichtendienst beantragen. Nur Gruppenbesuche sind erlaubt. 2. Mit ihrem ursprünglichen, seit Jahrzehnten unberührten Ökosystem sind die Gebiete in der Nähe der DMZ von den Narben des Koreakriegs gezeichnet und erinnern die Besucher an die bittere Realität der Teilung der Nation.
Besucher müssen einen rigorosen Sicherheitscheck über sich ergehen lassen, um das Gebiet betreten zu dürfen, aber auch dann ist der Besuch nur tagsüber und in Begleitung eines akkreditierten Reiseführers möglich, die Tourroute ist vorgeschrieben, Fotografieren bedarf einer ausdrücklichen Erlaubnis. Dass es trotz all dieser Beschränkungen viele nach Panmunjeom zieht, liegt wohl daran, dass dieser Ort das einzige noch übrig gebliebene Relikt des Kalten Krieges ist, eine Stätte, wo man die Kälte noch spüren und über die Bedeutung von Krieg und Frieden nachdenken kann.
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FOKUS
Ondol
wird Nationales Kulturerbe Das Fußbodenheizsystem Ondol, das beispielhaft für das Geschick der Koreaner im Umgang mit Feuer steht, hat die Lebensweise des Volkes stark beeinflusst. Lebensgewohnheiten, die vor Jahrhunderten durch dieses einzigartige Heizsystem geprägt wurden, sind auch heute noch bis zu einem gewissen Grade erhalten. Deshalb wurde Ondol zum Nationalen Immateriellen Kulturgut ernannt . Ham Seong-ho Dichter und Architekt
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D
ie frühesten Formen von Ondol auf der koreanischen Halbinsel gehen bis auf die Jungsteinzeit zurück. Die Ondol-Heizung lud zum Sitzen und Liegen auf dem Boden ein. Alle sich im Haus abspielenden Aktivitäten wie Essen, Lesen, geselliges Zusammensein und Schlafen fanden auf dem Fußboden statt. Herz des Ondol-Heizsystems war die Küche, der früher in koreanischen Haushalten eine entsprechend große Bedeutung zukam. Sie versorgte den Leib nicht nur mit Speis und Trank und bot im Winter Wärme und Rast, sondern sie war auch mit einem Altar zur Verehrung der Schutzgottheiten ausgestattet und ein Ort der spirituellen Reinigung. Viele Koreaner mittleren Alters verbinden ähnliche Erinnerungen mit dem Ondol-Fußboden: das wohlige Aufwärmen des von der Winterkälte durchgefrorenen Körpers; das Warmhalten der an der heißesten Stelle in eine Decke eingeschlagenen Reisschüssel für den spät heimkehrenden Vater; oder die Sitte, den wärmsten Platz den älteren Familienmitgliedern und Gästen anzubieten. Diese Gepflogenheiten sind heute nicht mehr oft zu finden, da die modernen Häuser und Wohnungen in Korea nach westlichem Stil mit Tischen, Stühlen und Betten eingerichtet sind. Doch auch die modernisierten Versionen des traditionellen Heizsystems ermöglichen die einst ausnahmslos auf dem Fußboden ausgeführten Aktivitäten. Die auf der Fußbodenheizung beruhende Lebensweise der Koreaner ist auch heute noch landesweit verbreitet. Das ist auch der Grund, warum die Ondol-Kultur im April 2018 vom Amt für Kulturerbeverwaltung als Nationales Immaterielles Kulturgut anerkannt wurde. Agungi und Kamin Heute ist praktisch jeder koreanische Haushalt mit einer modernen Ondol-Version ausgestattet, während die traditionelle Form nur noch selten zu finden ist. Ihre Hauptkomponente war Agungi (a-gung-i), die Feuerstelle und Herd in einem ist. Die Agungi befand sich in oder außerhalb der Küche, lag unterhalb der Fußbodenebene und hatte die Funktion eines Ofens, der über ein von unter dem Boden verlaufenden Schachtsystem Strahlungswärme erzeugte. In ihrer komplizierten Struktur und komplexen Funktionen unterscheidet sich die Agungi deutlich von z.B. einem in der Wand eingelassenen offenen Kamin. Bei einem offenen Kamin wird die Wärme nämlich direkt auf die Luft übertragen, d.h. die Heizkraft basiert auf KonvektionsEin Gästezimmer im alten Clan-Stammhaus von Jang Heung-hyo (1564–1633, Beiname: Gyeongdang), eines konfuzianischen Gelehrten des Joseon-Reichs, in Andong, Provinz Gyeongsangbuk-do. Bei einem Ondol-beheizten Zimmer wird der gestampfte Lehmboden zunächst mit einer Schicht dicken, traditionellen Hanji-Maulbeerbaumpapier ausgelegt. Das Papier wird mit Sojabohnenöl versiegelt. Die Möbel werden möglichst weit entfernt von der wärmsten Stelle platziert. © Ahn Hong-beom
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wärme. Dabei steigt die warme Luft nach oben und das Kaminfeuer verbraucht den Sauerstoff im Raum, was die Luft stickig macht. Bevor Schornsteine im 13.-14. Jh. in Europa allgemeinere Verbreitung fanden, musste regelmäßig gelüftet werden, was zur Folge hatte, dass die erzeugte Wärme verloren ging. Traditionelle chinesische Häuser verfügten in den meisten Regionen des Landes über kein spezielles Heizsystem zum Schutz gegen die Unbilden des Wetters. Abgesehen vom Kochen gab es kaum einen Grund, Feuer zu machen und die Häuser besaßen keinen Schornstein. Der Raum, in dem das Feuer angezündet wurde, hatte eine hohe Decke und ein einfach strukturiertes Dach aus in regelmäßigen Abständen verlegten Holzbalken von rund 10 cm Breite, über die Dachziegel gedeckt wurden. Wurde Feuer gemacht, sammelte sich der Rauch unter der Decke und zog durch die Fugen zwischen den Ziegeln ab, wobei allerdings auch die Warmluft entwich. In den mit Tatami-Fußbodenmatten ausgelegten traditionellen japanischen Häusern fehlte der Schornstein ebenfalls. Bei einem traditionellen Ondol-Heizsystem erwärmt die Brennhitze der Feuerstelle die Zimmerböden, wodurch sich wiederum die Raumluft erwärmt. Die Raumbeheizung durch Strahlungswärme wie beim Ondol erzielt eine höhere Wärmeeffizienz als die durch Konvektionswärme wie z.B. bei einem offenen Kamin, d.h. ein größerer Raum kann leichter geheizt wer-
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den und die Raumlufttemperatur verteilt sich gleichmäßiger. Zudem wird bei dieser Heizmethode kein Staub aufgewirbelt, während beim Heizen mit Konvektionswärme die Luftbewegungen den Staub im Raum verteilen. Auch in anderen Teilen der Welt wird mittels Strahlungswärme geheizt. Beispiele dafür sind die finnische Rauchsauna und der russische Kachelofen Petschka. Vergleichbar mit dem Ondol-Heizsystem ist ebenso das Ofenbett Kang, das sich in China von der Provinz Hebei bis in die nordöstliche Region des Landes verbreitete. Dieses gemauerte Ofenbett, das breit genug für mehrere Personen ist, nimmt nur einen Teil des Raumes ein. Der Hauptunterschied zwischen Koreas traditioneller Ondol-Bodenheizung und den erwähnten Heizarten mittels Strahlungs- und Konvektionswärme besteht darin, dass Ondol keinen Rauch produziert. Aufbau und Prinzip Besonderheit des Ondol-Systems ist, dass sich die Feuerstelle außerhalb des zu heizenden Raums befindet. Daher ist für ein reibungsloses Funktionieren einiges zu beachten: Die Brennhitze muss gesammelt und ohne Verlust ins Innere der Feuercum Herdstelle Agungi geleitet werden. Gleichzeitig muss der Rauch abgeführt werden, damit er nicht durch den Boden in den Raum dringt.
Neben der Agungi stellen Gorae und der Rauchfang Gaejari wesentliche Komponenten der Ondol-Heizung dar. „Gorae“ bezeichnet die unter dem Fußboden verlaufenden Einzelschächte bzw. das Schachtsystem, durch das die wärmende Brennhitze geleitet und der Rauch in den Schornstein abgeführt wird. Für das Gorae-Schachtsystem werden in gerader Linie parallel zueinander stehende Backsteinmauern errichtet, die schräg hoch zum Schornstein verlaufen. Der Schacht mit seinen niedrigen, rund fünf Lagen hohen Backsteinmauern wird abgedeckt mit 5 bis 8 cm dicken Steinplatten, den sog. Gudeul, die die ganze Fußbodenfläche überziehen. Über die Gudeul-Platten kommt eine dicke Schicht Lehm. Die Gorae-Öffnung liegt direkt hinter der Feuerstelle, sodass die Flammen sich beim Feueranzünden horizontal ausbreiten. Die Hitze wird durch das unterirdische Schachtsystem geführt, während der Rauch in den Schornstein abgeleitet wird. Die Schächte sind gut durchdacht angelegt, ein Teil der Brennhitze kann aber immer noch entweichen, da die in der Küche gelegene, fürs Kochen und Heizen genutzte Feuerstelle offen ist. Das Ondol-System speichert die Wärme besonders gut. Zündete man abends das Feuer an, blieb die Wärme bis zum nächsten Morgen in den Zimmern erhalten. Waren die Fußboden-Steinplatten gut verlegt, reichten bereits sechs massivere Holzscheite, damit die Wärme drei Tage vorhielt. Für einen Meditationsraum
des Tempels Chilbul-sa im Gebirge Jiri-san sollen 0,5 Tonnen Holzscheite auf einmal in der Feuerstelle verbrannt werden können, was Boden und v.a. Wände bis zu 100 Tage lang warm halten kann. Der Tempelraum ist bekannt für sein „doppeltes Ondol-System“ und seinen kreuzförmigen Fußboden mit einer erhobenen Meditationsplattform in jeder Ecke. Das Ondol-Heizsystem kann also selbst bei geringer Brennmaterialmenge die Wärme für längere Zeit halten. Geht das Feuer jedoch aus und kühlt sich das System ab, dringt Kaltluft durch Feuerstelle und Schornstein ein, was zu Feuchtigkeitsbildung in den Schächten führt. Bleiben die Schächte über längere Zeit feucht, wird die Brennhitze nicht richtig angezogen, sodass mehr Feuerungsmaterial benötigt wird. Um diesen Schwachpunkt zu beheben, wird in die „Gaejari“ genannte Grube zwischen Schacht und Schornstein ein Tonkrug gestellt, der die 1. In traditionellen Hanok-Häusern liegt die Küche driekt nebem dem Hauptzimmer. Heiße Luft von der Feuer- und Herdstelle Agungi wird in die Schächte unter dem Boden geleitet und erwärmt das Hauptzimmer. 2. Für eine gleichmäßige Wärmeverteilung ist es wichtig, dass die Schächte unter dem Boden (Gorae) und die steinernen Deckplatten (Gudeul) korrekt angebracht werden. Die Schächte bestehen normalerweise aus aufeinander geschichteten Ziegelsteinen, die entweder parallel zueinander oder in Fächerform angeordnet werden. In der Nähe der Feuerstelle sind die Deckplatten gewöhnlich dicker, weiter entfernt davon entsprechend dünner.
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© newtimehousing
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1 © Cultural Heritage Administration
innerhalb des Schachts entstandene Feuchtigkeit auffängt. Die im Krug gesammelte Feuchtigkeit verdunstet schließlich wieder durch die in den Schacht hineinströmende Hitze. Daher machte man auch an den feuchtheißen Tagen während der Monsunzeit morgens und abends Feuer, um die Wohnräume zu trocknen und die Feuchtluft unterhalb der steinernen Bodenplatten zu beseitigen. Früher legten sich die Haushunde tatsächlich manchmal nachts in die Grube neben der Feuerstelle, um sich vor der Winterkälte zu schützen. Daher auch die Bezeichnung „Gaejari (Platz des Hundes)“. Die Hunde riskierten damit natürlich, morgens von den züngelnden Flammen geweckt zu werden, weshalb man vor dem morgendlichen Feuermachen erst einmal mit einem Stock überprüfte, ob nicht irgendwo einer steckte. Warmwasser-Heizsystem Ein weiterer Grund für die Designierung der Ondol-Kultur als Nationales Immaterielles Kulturgut ist ihr allmähliches Verschwinden aus dem modernen Alltag. Heutzutage besteht das Fußbodenheizungssystem der meisten koreanischen Wohnun-
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gen aus einem Boiler und unter dem Fußboden verlegten Rohren. In großen Wohnhochhaus-Anlagen werden Hunderte bis Tausende von Haushalten mit einer zentralen Warmwasserheizung beheizt. Entworfen wurde das erste Warmwasser-Heizsystem von dem berühmten amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright (1867-1959). Es war im Winter 1914, dass dieser Meister der modernen Architektur in Tokio zum ersten Mal mit der koreanischen Ondol-Fußbodenheizung Bekanntschaft machte. Der japanische Unternehmer Okura Kihachiro (1837-1928), hatte Wright mit dem Entwurf für den Neubau des Imperial Hotel (jp.: Teikoku Hotel) beauftragt. Eines Tages, als Wright vor Kälte zitterte, brachte Okura ihn zum „Koreanischen Raum“. Dieser Raum gehörte ursprünglich zum Jaseon-dang, der einstigen, im Gyeongbokgung-Königspalast gelegenen Residenz des Kronprinzen des Joseon-Reichs (1392-1910), die während der japanischen Kolonialherrschaft nach Japan gebracht worden war. Bauten im traditionellen koreanischen Hanok-Stil sind Konstruktionen, bei denen das Grundgerüst aus zusammengefügten Holzbalken besteht, weshalb sie relativ
Strahlung
Wärmeleitung
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Konvektionswärme
Asche
© Hansol Academy
1. Das alte Haus von Sim Ho-taek, eines wohlhabenden Mannes mit dem Schriftstellernamen Songso, im Kreis Cheongsong, Provinz Gyeongsangbuk-do. Das um 1880 gebaute Hanok ist ein typisches Beispiel für Häuser adliger Familien der späten Joseon-Zeit. Jeder der an die Agungi angeschlossenen Räume ist beheizt, ausgenommen die offene Holzdiele.
„Bald wurde uns wohlig warm und wir waren wieder wohlgestimmt. Welch unbeschreibliche Wärme uns umgab, als wir dort auf dem Boden knieten! Es war weder eine Heizung zu sehen, noch fühlte es sich wie Heizungswärme an. Hier ging es nicht um eine Frage des Heizens, sondern um ein klimatisches Ereignis.“
2. Brennt Feuer in der Agungi-Feuerstelle, ziehen heiße Luft und Rauch in die unterirdischen Schächte. Gorae der Raum wird durch die Konvektionswärme über den Boden gewärmt, der Rauch zieht durch den Schornstein ab.
leicht in Einzelteile zerlegt und wieder zusammengesetzt werden können. Wright erinnert sich wie folgt zurück: „Die Temperatur schien urplötzlich verändert. Es war aber nicht wegen des Kaffees. Vielmehr schien es Frühling geworden zu sein. Bald wurde uns wohlig warm und wir waren wieder wohlgestimmt. Welch unbeschreibliche Wärme uns umgab, als wir dort auf dem Boden knieten! Es war weder eine Heizung zu sehen, noch fühlte es sich wie Heizungswärme an. Hier ging es nicht um eine Frage des Heizens, sondern um ein klimatisches Ereignis.“ (Gravitationswärme, in: Frank Lloyd Wright, Eine Autobiografie, überarbeitete und ergänzte Auflage, 1943) Wright ließ daraufhin die gewundenen Rohre des damals schon verbreiteten elektrischen Radiators strecken und unter die Böden des Imperial Hotel verlegen. Das war der Beginn des Warmwasser-Heizsystems, das Wright später auf weitere Gebäude anwandte. Raum der Heilung Ein traditioneller Ondol-Raum ist auch ein Raum der Heilung. Das rauchfreie Heizen mittels Strahlungswärme beugt Bron-
chialerkrankungen wie Nasennebenhöhlenentzündung oder Lungenentzündung vor und wirkt äußerst schmerzlindernd bei Neuralgie oder Arthritis. Hat man sich erkältet, hilft es, sich in Decken eingepackt auf den warmen Boden zu legen und ordentlich zu schwitzen, um die verstopfte Nase wieder frei zu bekommen und das Fieber zu senken. Nach einem harten Tag den erschöpften Körper auf den Ondol-Boden zu betten, lässt einen am nächsten Morgen gekräftigt aufwachen und leichter fühlen. Ein Ondol-Raum empfiehlt sich auch für die Erholung im Wochenbett. Die heilende Wirkung ist auf das ferne Infrarot zurückzuführen, das Steine und Lehm beim Heizen des Raumes abgeben. Es überträgt Wärme bis tief in den Körper und entwickelt so eine thermotherapeutische Wirkung. Außerdem regt direkt auf die Haut übertragene Wärme den Blutkreislauf besser an als Wärme, die aus der Luft stammt. Das ferne Infrarot erhöht die körpereigene Immunabwehr und befördert die Selbstheilungskraft des Körpers. Es werden daher auch weiterhin wissenschaftliche Experimente und Anstrengungen unternommen, die gesundheitsfördernde Wirkung des Ondol mit modernen Heizsystemen zu kombinieren.
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INTERVIEW
Erinnerungen an Verschwindendes einfangen 40 KOREANA Herbst 2018
Je Family Store (2018). Feder und Acryltinte auf Papier, 75 × 135,5 cm.
Federzeichnerin Lee Me-Kyeoung fühlt sich zu Dingen hingezogen, die am Verschwinden sind. In den letzten 20 Jahren war sie im ganzen Land auf der Suche nach alten Kleinläden, die zu symbolischen Orten des „Verfalls und Aussterbens“ geworden sind. Mit feinen, zarten Federstrichen fängt sie die jahrzentealten Geschichten dieser Tante-Emma-Läden und der Menschen, die ihr Leben mit ihnen verbracht haben, ein. Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo Fotos Ha Ji-kwon
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ee Me-Kyeoung hat einen kleinen Höcker am ersten Mittelfingerglied ihrer rechten Hand. Es ist eine Erinnerung an all die Jahre, die sie damit verbracht hat, einen Stift mehr als 10 Stunden pro Tag zu halten und Tausende oder gar Zehntausende von Linien zu zeichnen. Jeden Morgen, wenn sie in ihr Atelier kommt, wird sie zu einer „Arbeiterin“, die ihr Werkzeug in die Hand nimmt. Wisch, wusch... Das Geräuch der übers Papier gleitenden Federspitze belebt sie. Ihre Tage verfließen in Harmonie mit den sich wiederholenden Strichen ihrer Feder. „Federzeichnungen lassen sich nicht mit halbherzigem Kraftaufwand schaffen“, sagt Lee. „Pinselstriche sind kein Vergleich zu der Textur, die von unzähligen Schichten ultrafeiner, delikater Federlinien erzeugt wird. Ich kombiniere 28 Acryltinten und zeichne so, als ob ich die verschiedenen Farben schichtweise auftragen würde. Auf diese Weise erscheint die Farbe darunter hell und deutlich. Die Farben wirken solide, aber nicht zu dick, ganz so wie der ungekünstelte Charme der kleinen, von den Zeitläuften verschlissenen und verwitterten Eckläden. In diesem Sinne passen Inhalt und Form sehr gut zusammen.“ Lee studierte westliche Malerei an der Hongik Universität, als der deutsche Neoexpressionismus die Kunstwelt bestimmte. An manchen Tagen verbrachte sie die ganze Nacht im Arbeitsstudio und produzierte vier großformatige Gemälde. Es war reiner Zufall, dass sie zur Federmalerei wechselte, einer Kunstform, die akribische Detailliertheit verlangt. Im Sommer 1997, als sie mit ihrem zweiten Baby schwanger war und das erste, gerade zwei Jahre alte Kind aufzog, verließ sie Seoul, um in die nahe gelegenen Stadt Gwangju, Provinz Gyeonggi-do, zu ziehen. Es war dort, dass sie in einem Dorf einen Tante Emma Laden sah, der die ganze Zeit auf sie gewartet zu haben schien. „Im ersten Frühling nach der Geburt meines zweites Kindes saß ich wieder mit dem Stift in der Hand vor der Leinwand und begann auf der Suche nach einem neuen Anfang wahllos Dinge zu zeichnen“, erinnert sich Lee. „An einem herrlichen Tag, als die Kirschblütenblätter wie Schneeflocken fielen, machte ich noch einmal einen Ausflug zu dem Eckladen. Ich war lange nicht mehr dort gewesen und er erschien mir fremd und wunderlich anziehend zugleich. Das rotbraune Schieferdach veränderte je nach Tageszeit subtil seine Farbe und der Schriftzug ‚Getränke‘, der in roten Lettern auf das Fenster geschludert worden war, hatte etwas Stilvolles.“ Ein Thema, das das Herz schneller schlagen lässt Sie ging nach Hause und wartete, bis die Kinder schliefen, bevor sie zu zeichnen begann. Nach langem hüpfte ihr Herz wieder einmal vor Freude und Begeisterung. Der ständige Druck, etwas zeichnen zu müssen, hatte schwer auf ihr gelas-
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tet. Aber plötzlich fühlte sie sich frei von Leiden und Unruhe. Endlich hatte sie das Thema gefunden, das ihr am Herzen lag und ihr Lebenswerk werden sollte. „Das ist es! Das ist das, was Kunst ausmacht“, wurde ihr klar. Während sie auf den nächsten Laden wartete, der ihr Herz erobern würde, zeichnete sie langsam und gemächlich. Daher konnte sie in den ersten zehn Jahren nicht mehr als 15 Arbeiten fertigen. Wann immer sie von einem „richtig alten Tante-Emma-Laden“ hört, macht sie sich sofort auf dem Weg dorthin. Ein einmaliger Besuch reicht nicht. Denn sie möchte den Charme des Ladens voll und ganz erfassen, den Wandel zwischen Tag und Nacht, von der einen Jahreszeit zur anderen. Auch wenn sie Dutzende von Fotos macht, bleibt immer ein Detail unerfasst. Es ist auch etwas völlig anderes, den Laden mit den Augen zu betrachten oder mit dem Herzen wertzuschätzen. Als sich herumsprach, dass sie Ecklädchen zeichnet, versorgten viele Leute sie mit Hinweisen auf Nachbarschaftsläden. So erhielt sie z.B. vor einigen Jahren folgende SMS von einem Bekannten: „Liebe Frau Lee, der Eckladen Yusim in unserer Nachbarschaft schließt bald. Wenn sie noch keine Fotos davon gemacht haben, sollten Sie sich beeilen.“ „Ich war schon ein paar Mal im Yusim gewesen“, erinnert sich Lee. „Die über 80 Jahre alte Besitzerin, die den Laden über 50 Jahre geführt hatte, schien das Geschäft endgültig aufgeben zu wollen. Der Gedanke, dass ein weiterer alter Eckladen in Seoul zumachen würde, ließ etwas in mir zusammenbrechen.“ Es gab auch Läden, die beschädigt, verändert oder durch eine neue Einrichtung ersetzt wurden, noch bevor sie mit ihrer Zeichnung fertig war. Auch passierte es oft, dass sie einen Laden, von dem sie gehört hatte, besuchte, nur um dann festzustellen, dass er schon aufgegeben worden war. Den Untergang der Tante-Emma-Läden bedauernd, meint Lee: „Es stimmt traurig, daran zu denken, wie viel wir im Namen von Wachstum und Entwicklung geopfert haben.“ „Wenn ich die Sammlung meiner in den letzten 20 Jahren gemachten Zeichnungen durchgehe, sehe ich, wie unterschiedlich Gebäudestruktur, Dachform und Baumaterialien je nach Region sind“, sagt Lee. „Ich habe mir angewöhnt, mir vorzustellen, wie ein Laden wohl bei seiner Eröffnung mal ausgesehen haben könnte. So kamen Schieferdächer z.B. in den frühen 1970er Jahren im Rahmen der Saemaeul (Neues Dorf) Bewegung auf, die von der Regierung zur Modernisierung der ländlichen Gebiete vorangetrieben wurde. Ich bin sogar auf japanische Holzhäuser mit hohen Dächern gestoßen, die während der japanischen Kolonialherrschaft gebaut wurden. Es dürfte äußerst interessant sein, einmal die verschiedenen Dächer in meinen Zeichnungen miteinander zu vergleichen. Sie weisen darauf hin, wie wichtig es ist, den Wert des Bewahrens und Wiederbelebens von Vergangenem nicht zu vergessen und
Um die Textur einer typischen Feder- und Tuschezeichnung zu schaffen, müssen Tausende bis Abertausende feiner Federstriche aufeinander geschichtet werden. Lee Me-Kyeoung arbeitet über 10 Stunden pro Tag an ihren Malereien, was ihr chronische Schmerzen im rechten Mittelfinger eingebracht hat.
„Ich möchte die Geschichten, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind, mit anderen teilen, mich gemeinsam mit anderen erinnern.“ KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 43
Pungnyeon Supermarket (2017). Feder und Acryltinte auf Papier, 35 × 35 cm.
die verbreitete Gewohnheit, Altes ohne Wenn und Aber durch Neues zu ersetzen und zu beseitigen, zu zügeln.“ Die Lädchen und ihre Besitzer, auf die sie während ihrer landesweiten Suche gestoßen ist, leben in Lees Zeichnungen fort. Da niemand weiß, ob es ein weiteres Wiedersehen geben wird, sind ihre langsam und gewissenhaft geschaffenen Federzeichnungen gleichsam ein Archiv mit Zeugnissen einer Ära. Erinnerungen für jedermann „Manche Leute fragen, warum ich auf aus unserem Leben Verschwindendes fixiert bin und was für einen Sinn es hat, in Nostalgie versunken zu bleiben“, sagt Lee. „Ich möchte die Geschichten, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind, mit anderen teilen, mich gemeinsam mit anderen erinnern. Ich möchte vorschlagen, dass wir uns unserer Umgebung bewusster werden und nicht die Gelegenheit verpassen, die kleinen und einfachen Dinge in unserem Leben wirklich wahrzunehmen. Ich möchte in meinen Zeichnungen all jene Dinge darstellen, die zärtliche Gefühle hervorrufen und alltägliche Geschichten aus dem gewöhnlichen Leben erzählen, Geschichten über einen freundlichen Eckladen in der Nachbarschaft, die warme Umarmung der Mutter, einen Nähkorb oder altes Geschirr.“ Eckläden sind für Lee mehr als nur einfache Gebäude. Jeder Laden hat seinen eigenen Charakter, genau wie ein Mensch. Sie
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erinnert sich noch an einen namenlosen Laden, auf den sie bei einem Besuch des Dorfes Ttangkkeut an der südlichsten Spitze der koreanischen Halbinsel zufällig gestoßen war. „Ich war auf der bergauf führenden Landstraße 806 neben dem Tempel Mireuk-sa, als ich den Laden entdeckte“, erzählt sie. „Auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass es ein geschichtsträchtiger Ort war, gezeichnet von all den vielen Freuden und Leiden der Zeitläufte.“ Lautlos und still unter dem dunklen Abendhimmel sitzend, war dieser Laden Inbegriff aller Eckläden, nach denen Lee landesweit gesucht und die sie dokumentiert hatte. Als die Dunkelheit sich zu senken begann und der Himmel sich tief violettblau färbte, traten die hinter dem Laden dicht an dicht stehenden Bäume, ihre majestätische Existenz offenbarend, wie ein Paravent hervor und enthüllten den wahren Charakter des Ladens. „Der Schein der Straßenlaterne neben dem Laden und das warme, fluoreszierende Licht, das durch die Fenster strömte, erinnerten an die leuchtenden Augen eines Wärme ausstrahlenden Heiligen“, sagt Lee. „Diese geheimnisvolle Atmosphäre, die durch die Schatten der Nacht und das glühende Lampenlicht entstand, ist Ausdruck der wehmütigen Schönheit, die so typisch für einen heruntergekommenen Kleinladen ist. Diese Schönheit ist das Leitmotiv meiner Arbeiten.“ In Lees Eckläden-Zeichnungen sind immer Bäume zu sehen.
Winter in Sancheok (2017). Feder und Acryltinte auf Papier, 80 × 80 cm.
Sie tragen im Einklang mit der jeweiligen Region und Jahreszeit ein unterschiedliches Gewand, sodass sie mit dem Laden harmonieren. So wie jeder Mensch eine Familie hat, so muss jeder Eckladen mindestens einen Baum haben, denkt Lee. Die Zeit in ihren Zeichnungen steht still, aber die Bäume wachsen weiter. Je älter der Laden, desto größer der Baum, der wie ein guter alter Freund aufrecht neben ihm steht. „Vor zehn Jahren besuchte ich den Eckladen Seokchi Sanghoe in Gunsan in der Provinz Jeollabuk-do. Er war gewissermaßen der Archetypus eines Eckladens und schien einer meiner Zeichnungen entsprungen zu sein“, berichtet Lee. „Auf der linken Seite des Ladens standen zwei große Bäume, von denen eine seltsame Harmonie ausging. Der grauhaarige Ladenbesitzer, der einem taoistischen Unsterblichen glich, erzählte mir die Geschichte der 40 Jahre, die er mit dem Laden verbracht hatte. Die lebenslange Hingabe eines Menschen an ein und dieselbe Sache hatte etwas tief Bewegendes. Später hörte ich, dass der Laden ein paar Jahre nach meinem Besuch geschlossen hat. Nur die beiden Kastanienbäume stehen noch. Wie eine Familie werden sie sich an den Laden und seinen Besitzer erinnern und ihre Geschichten weitergeben.“ Fein und lang, langsam und voll Im März 2017 stellte die BBC zehn von Lees Zeichnungen in
dem Artikel In Bildern: der Charme von Südkoreas verschwindenden Eckläden vor. Außerdem wurde sie für Mai 2018 eingeladen, ihre Werke auf der Tokyo International Art Fair auszustellen. Ihre Federzeichnungen von Tante-Emma-Lädchen, die ursprünglich für das einheimische Publikum gedacht waren, haben die Aufmerksamkeit globaler Kunsthändler und Kunstliebhaber auf sich gezogen. Ihr Buch Die Zeiten der Eckläden, als das Glück nur einen Groschen kostete, das 80 ihrer Zeichnungen und die Geschichten dahinter enthält, ist sehr beliebt. Es wurde im Juni 2018 in Frankreich und Taiwan veröffentlicht, eine japanische Übersetzung ist in Arbeit. Für Oktober steht eine Einzelausstellung in Seoul auf dem Plan. „Ausstellungen sind keine einfache Angelegenheit, da das Zeichnen so viel Zeit und Mühe erfordert“, sagt Lee. „Es verlangt viel Ausdauer und Kraft, weshalb ich das Arbeitstempo regulieren und auf meine Gesundheit achten muss. Daher möchte ich im nächsten Jahr alles etwas ruhiger angehen lassen und ein wenig entspannen.“ In der Zwischenzeit gibt es eine Menge Arbeit. Lee will ihre hier und da verstreuten, rund 200 Eckläden-Zeichnungen ordnen und plant dazu noch, alte Buchhandlungen zu zeichnen. Aber sie sagt, dass sie sich dabei nicht hetzen lassen möchte und fügt hinzu: „Fein und lang, langsam und voll – das ist die Weisheit des Lebens, die die Federkunst mich gelehrt hat.“
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Traditionelle Gasa-Lieder für jedermann Die erste Aufführung des kompletten, 12 GasaLieder umfassenden Zyklus Zwölf Gasa, der nur als Partitur überliefert wurde, im Jahr 1997 war ein bahnbrechendes Ereignis. Die Sängerin war Lee Jun-ah (geb. 1960), die sich über 50 Jahre dieser klassischen koreanischen Vokalmusik Jeongga gewidmet hat. U Seung-yeon Freiberufliche Schriftstellerin Fotos Ahn Hong-beom
Lee Jun-ah, die sich seit einem halben Jahrhundert dem Singen der von den Gelehrten geliebten Jeongga-Weisen (eleganter und würdiger Gesang) verschrieben hat, sagt, dass ein tiefes Verstädnis aller menschlichen Gefühle notwendig ist, um den Textinhalt richtig zu vermitteln. Im März 2018 wurde sie zur Trägerin des Immateriellen Kulturgutes der Kunst des Singens der traditionellen poetischen Lieder Gasa ernannt.
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S
chon früh schwebten fremdartig klingende Weisen durch das Haus ihrer Kindheit. Statt mit Gleichaltrigen herumzutollen, lernte Lee Jun-ah schon mit sechs die traditionellen Sijo-Gedichte auswendig. Damals wich sie nicht von der Seite ihres Großvaters, schnappte Fragmente der Verse auf und bewegte sich zu den sanften, langsamen Melodien, die er immer und immer wieder sang, manchmal alleine, manchmal mit seinen Gästen. Das mochte sie ebenso sehr wie Spielen. Sich an ihre Kindheit zurückerinnernd, sagt Lee: „Mein Großvater, ein Beamter, sang sehr gerne die poetischen Sijo-Weisen und besuchte auch regelmäßig ein Sijobang, ein privater Liederkreis im Volkshochschul-Stil, in dem Sijo-Enthusiasten gemeinsam lernen und sich austauschen. Als ich so sechs Jahre alt war, kamen die Sijobang-Senioren zu uns nach Hause und trugen der Reihe nach ein Werk vor. Meine Mutter servierte Tee, während ich zuschaute. So lernte ich im Laufe der Zeit Sijo vorzutragen und sang später auch schon mal vor Gästen. Wenn sie mich lobten, fühlte ich mich geschmeichelt. Sie steckten mir auch Taschengeld zu...“, sagt sie. Trost für den Großvater Die Erwachsenen waren erstaunt, dass das Kind die alten Lied-Gedichte singen konnte, und wunderten sich, wer es ihr beigebracht haben könnte. Lee hatte aber nie einen richti-
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gen Lehrer. Sie hatte lediglich die Weisen, denen sie so lange gelauscht hatte, immer und immer wieder wiederholt, bis sie die unverständlichen Wörter auswendig konnte. Angespornt hatten sie wohl ihr Talent und die Musik-Leidenschaft ihres Großvaters. Die Enkelin mit ihrer schnellen Auffassungsgabe war sein Augenstern, doch beim Üben ließ er Strenge walten. Da sie noch klein war, dachte sie damals einfach, dass der Großvater die lyrischen Weisen einfach so gerne mochte, dass er sich wünschte, dass auch sie sie gut sang. Manchmal hätte sie lieber draußen gespielt, aber sie fügte sich seinem harten Regiment, weil sie sein Lob hören wollte. Erst Jahre später erfuhr sie, dass der strenge Unterricht ihres Großvaters überraschenderweise etwas mit der Geige zu tun hatte: „Mein Großvater, der Geigenmusik über alles geliebt hatte, hatte aus seinem ältesten Sohn einen Geigenspieler gemacht. Das war noch zur japanischen Kolonialzeit“, erzählt Lee. „Mein Onkel soll ein so hervorragender Musiker gewesen sein, dass er später sogar mit dem Cellisten Jeon Bong-cho (1919-2002), dem späteren Dekan der Musikhochschule der Seoul Nationaluniversität, und dem weltbekannten, in Deutschland im Exil lebenden Komponisten Yun Isang (1917-1995), als Trio auftrat. Dieser Onkel wurde aber während des Koreakrieges nach Nordkorea verschleppt. Großvater war dermaßen erschüttert, dass allein schon der Klang einer Geige ihn traurig machte. Auch ich lernte als Kind für eine kurze Zeit Geige, aber
Großvater brachte mich davon ab. Seine Leidenschaft für Musik ging also sozusagen von der Geige zum Sijo-Singen über.“ Ihr ältester Onkel war der Geigenspieler Lee Gye-seong, der später lange als Konzertmeister des nordkoreanischen Staatlichen Sinfonieorchesters aktiv war. Die Sijo-Weisen haben ihrer Familie, die von der Tragik der modernen koreanischen Geschichte gezeichnet war, Trost gebracht und gleichzeitig die Zukunft der jungen Lee Jun-ah in eine neue Richtung gelenkt.
sich schließlich dem Erlernen der Jeongga-Lieder. Sie begann zudem, nicht nur allmählich die Bedeutung dessen, was sie tat, zu verstehen, sondern sich auch für die Erforschung der Wurzeln dieser repräsentativen Lieder der Nation und für die Wiederbelebung des Genres zu interessieren. Aber erst, als sie dabei die poetischen Gasa-Lieder für sich entdeckte, konnte sie ihren Traum zu erfüllen beginnen. All das hatte sie ihrem Lehrer Yi Yang-gyo zu verdanken.
Ihr eigener Traum Der Großvater, der das Talent seiner Enkelin erkannt hatte, suchte nach einem kompetenten Lehrer. Schließlich stellte ein Bekannter der Familie sie dem Meistersänger Yi Ju-hwan (1909-1972) vor, dem ersten Leiter des National Traditional Music Institute, dem Vorläufer des National Gugak Center. Unter diesem virtuosen Sänger und Lehrmeister begab sich Lee auf die lange und mühsame Reise eines ernsthaften Musikstudiums. Doch das Leben verlief nicht nach Plan: Einige Jahre später schon verstarb Meistersänger Yi und sie stand ratloser denn je zuvor da, weil sie nicht wusste, wo und bei wem sie weiterlernen könnte. So begann sie zunächst einmal, an den monatlichen Konzerten des Koreanischen Jeongak-Center, das auf traditionelle klassische Musik (Jeongak) spezialisiert ist, teilzunehmen. Die Konzerte fanden zwar nur einmal im Monat statt, waren aber für eine Grundschülerin, die noch zu jung für großartige Zukunftspläne war, eine große Belastung. Die Musik war für sie etwas so Selbstverständliches wie die Luft zum Atmen, doch sie hatte weder Ehrgeiz noch Willen, aus dem Gelernten etwas mehr zu machen. Die auf der Bühne singende Lee Jun-ah war gewissermaßen nicht ihr eigener Traum, sondern der der Erwachsenen. Lee erinnert sich: „Da der Tod meines Lehrmeisters alle meine Pläne zunichte gemacht hatte, gab ich die Musik völlig auf. Ich besuchte eine normale Mittelschule und fokussierte mich wie alle anderen auch drei Jahre nur aufs Lernen. Ich stellte mir eine normale Zukunft wie die meiner Altersgenossen vor: Besuch einer normalen Oberschule, danach Studium, wobei mein Hauptfach nicht Musik sein sollte. Aber Großvater war strikt dagegen. Vielleicht hatte er ja irgendwie eine Vorahnung gehabt. So kam es, dass ich schließlich doch auf die Gugak National High School ging.“ Kurz nach ihrem Oberschuleintritt wurde sie von einem Lehrer, der neue Welten für sie erschließen sollte, entdeckt: Yi Yang-gyo (geb. 1928). Unter Yis Anleitung verschrieb sie
Die letzte Entscheidung Die Homepage der Gugak National High School, die Lee besuchte, stellt das Genre Jeongga wie folgt vor: „Jeongga, wörtlich ‚eleganter und würdiger Gesang‘, ist ein Genre traditioneller koreanischer Vokalmusik, die früher von den Literati des Joseon-Reiches gerne gesungen wurde. Dazu gehören im einzelnen Gagok, Gasa und Sijo. Anders als der epische Sologesang Pansori oder die traditionellen Volkslieder Minyo, die alle Arten menschlicher Gefühle wie Freude, Wut, Trauer und Glück in all ihrer Emotionalität zum Ausdruck bringen, charakterisiert die Jeongga die Ästhetik der strengen Zügelung der Emotionen. Darunter gilt Gagok als beschwingt-entspanntester und gleichzeitig edelster Gesang, in dem Poesie und Musik in Einklang gebracht werden, um eine friedliche und tiefgründige Welt der Kunst zu verbalisieren. Im Gegensatz zu Gagok, einem aus fünf Teilen bestehenden Lied für ausgebildete Sänger in Begleitung eines kleinen Orchesters, sind die auf dreizeiligen Gedichten basierenden Sijo Lieder, die jeder in Begleitung zum rhythmischen Klatschen auf die Knie singen kann. Die Gasa wiederum sind lange, nach einem vorgegebenen viergliedrigen metrischen Schema verlaufende poetische Texte, die in einem bestimmten Rhythmus gesungen werden.“ Anders als für die bekannteren Minyo-Volkslieder und den Pansori-Sologesang gab und gibt es nur selten Schüler, die Jeongga als Hauptfach wählen, eine Vokalmusik, die die edle Geisteswelt der konfuzianischen Seonbi-Gelehrten zum Ausdruck bringt. Auch Lee Jun-ah entschied sich bei Oberschuleintritt zunächst für die traditionelle sechssaitige Zither Geomungo. Auch für das Studium an der Chugye University for the Arts und an der Graduiertenschule der Ewha Womans University sah es dann zunächst so aus, als ob ihr nichts anderes übrig bliebe, als ein Instrument im Hauptfach zu studieren. Aber da Lee, die in Jeongga gut geübt war, ein Stipendium bekam, wurde jeweils ein entsprechendes Hauptfach-Studium eingerichtet und so wurde sie an beiden Universitäten die erste Absolventin mit Hauptfach Jeongga. Die Gasa unterschieden sich grundlegend von den Sijo- und Gagok-Liedern, die Lee vor ihrem Besuch der Gugak National High School gesungen hatte. Sie hatten etwas Besonderes und gleichzeitig Anspruchsvolles. Lee vermochte sich z.B. kaum
Bei den Gasa-Partituren steht der Text in Versform im oberen Teil und Tonlage sowie Rhythmus der einzelnen Silben in den Kästchen im unteren Teil. Von den heute noch existierenden 12 Gasa-Stücken sind bis auf drei alle im Sechsertakt gehalten.
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„Ich habe mich intensiv mit den 12 Gasa-Liedern des Zyklus Zwölf Gasa beschäftigt und meine Vortragskunst gut 40 Jahre verfeinert. Dabei wurde mir bewusst, dass dem Universum die Harmonie von Yin und Yang zugrunde liegt. So gibt es z.B. keine Freude ohne Trauer.“ in die alten chinesischen Geschichten, auf die in den Liedern Bezug genommen wird, einzufühlen. Das Baekgusa (Gedicht über eine weiße Möwe) wird z.B. von einem Gelehrten gesungen, der, vom König seines Hofamtes enthoben, durch die weite Natur streift und die herrliche Frühlingslandschaft genießt; in Suyangsan-ga (Lied über den Berg Suyang-san) klagt der Dichter, dass sein Plan, bei Reiswein und Beilagen Mondlicht und Natur zu genießen, von Wind und Schneeregen zunichte gemacht wurde. Solche Themen lagen Welten entfernt vom Empfindungsvermögen einer Oberschülerin. Um das neue Genre nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit dem Herzen zu interpretieren, war es erforderlich, den Inhalt zu verstehen und sich darin einzufühlen. So begann Lees endlose Erforschung der Gasa, die sich über ihre Oberschulund Hochschuljahre hinaus bis in die Zeit als Lehrassistentin bei ihrem Meister, der Träger des Immateriellen Kulturgutes Gasa war, erstreckte. Ihre Studien waren erhellend: „Während das eine Lied in Dur und strahlend hell wie die Sonne im Mai gesungen werden muss, muss das andere schwermütig wie in Moll der westlichen Musik vorgetragen werden. Wieder andere sollten fröhlich-beschwingt wie Minyo-Volkslieder gesungen werden, und noch andere kraftvoll“, erklärt sie. „Ich habe mich intensiv mit den 12 Gasa-Liedern des Zyklus Zwölf Gasa beschäftigt, habe die Schönheit und Einzigartigkeit jedes einzelnen zu würdigen gelernt und meine Vortragskunst gut 40 Jahre verfeinert. Dabei wurde mir bewusst, dass dem Universum die Harmonie von Yin und Yang zugrunde liegt. So gibt es z.B. keine Freude ohne Trauer.“ Mit den Einsichten ins Leben des Menschen, die ihr das jahrzehntelange Vortragen der kontemplativen Gasa gebracht hat, haben Lees Vorführungen dermaßen an Dynamik und Tiefe gewonnen, wie sie unter Künstlern mit ähnlichem Repertoire schwer zu finden ist. Die Zuschauer spüren das sofort. Besonders begeistert werden ihre Vorführungen vom ausländischen Publikum aufgenommen. So z.B. auch auf ihrer Europa-Tour,
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die sie im März 2018 neben Hamburg, Stuttgart, Berlin und München auch nach Brüssel führte. Das Publikum, das die alten koreanischen Lieder zum ersten Mal hörte, rief lange nach Zugabe. Schon vier Jahrzehnte sind es her, dass Lee im Alter von 17 Jahren mit dem Singen von Gasa begann. 35 Jahre hat sie für das National Gugak Center gearbeitet, zunächst als Mitglied, später als Beirätin des Jeongak-Ensembles, jetzt als Konzertmeisterin. All diese Jahre lang blieben die Gasa Teil ihres Lebens. Daher ist der Titel „Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 41 Gasa“ mehr als ein bloßes Zeichen der Ehre oder des Prestiges. Es ist vielmehr eine Anerkennung von seiten der Gesellschaft, die sie mit ihrem Lebenswerk errungen hat. Vorführung des kompletten Zyklus „Bis dahin hatte es niemand zuvor geschafft, alle 12 Stücke des Zyklus Zwölf Gasa auf der Bühne zu präsentieren. Deshalb
beschloss ich, einen Versuch zu wagen. Meine Anstrengungen trugen 1997 Früchte, als ich das erste Konzert mit dem vollen 12-Lieder-Repertoire gab. Ich wurde von allen Seiten mit Glückwünschen und ermutigenden Worten überhäuft“, erzählt Lee. Ihre Lieder erschienen 2008 in einem Album mit vier CDs. 1997 nahm sie am Ersten Internationalen Musikfestival „Sharq Taronalari“ (Melodien des Ostens) in Samarkand teil, das von der usbekischen Regierung ausgerichtet und von der UNESCO gesponsert wurde. „Seitdem Gagok 2010 in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes eingetragen wurde, gibt es vermehrt Anstrengungen, die Gagok aufzuführen und zu überliefern. Für die Gasa erhoffe ich mir entsprechend, dass noch mehr Menschen neugierig darauf werden und sich ernsthaft damit befassen.“ Zur Förderung der traditionellen klassischen Vokalmusik Jeongga hat Lee Jun-ah oft auf Bühnen im In- und Ausland gestanden. Ihr voller Terminkalender lässt ihr nicht einmal Zeit,
Lee Jun-ah singt das Pflaumenblütenlied mit ihren Studenten. Derzeit unterrichtet sie an die 50 Studenten in der Tradition des Gasa-Singens.
krank zu werden. Die Auszeichnung „Trägerin des Immateriellen Kulturgutes Gasa“ hat eine große Verantwortung auf ihre Schultern geladen. „Die Gasa scheinen mir in Korea seltsamerweise weniger bekannt zu sein und als schwieriger empfunden zu werden als im Ausland“, sagt sie. „Wir müssen uns noch stärker bemühen, die Lieder unseren Bürgern näherzubringen. Profi-Musiker aus unterschiedlichen Bereichen könnten sie für Konzert-Kollaborationen einstudieren, der Durchschnittsbürger könnte damit seinen Horizont und seine geistige wie körperliche Gesundheit befördern. Ich werde das Meine tun, damit jeder diese eleganten, bedeutsamen Lieder kennenlernen kann.“
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UNTERWEGS
Die geschichtsträchtigen Gassen von
Seongbuk-dong
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Der Name „Seongbuk-dong“ bedeutet „Viertel nördlich der Stadtmauer“. Dieses Viertel, das sich im Joseon-Reich des 18. bis 19. Jhs außerhalb des nordöstlichen Teils der Seouler Festungsmauer herausbildete, ist heute voller Kulturstätten und mit seiner Mischung aus modernen Luxushäusern und traditionellen Hanok zudem ein beliebtes Touristenziel.
Seongbuk-dong, das am nördlichen Abschnitt der Seouler Festungsmauer am Fuß der Berge Bugak-san gelegene Stadtviertel, zog während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945), als die Hauptstadt über den alten Festungsbereich hinauswuchs, zahlreiche Literaten und Maler an. Die alten Häuser dieser hochgeachteten Persönlichkeiten spiegeln das leidvolle Schicksal ihrer Besitzer wider. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
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E
ine Stadt steht nie unverändert am gleichen Platz still. Sie passt sich ständig der Lebensweise ihrer Bewohner und den von ihnen verfolgten Werten an. Daher präsentiert sie sich stets im neuen Gewand und selbst der aktuellste Reiseführer von heute ist morgen schon unvollständig. Auf der aufgefalteten Stadtkarte findet der Besucher große Plätze verbunden durch breite Straßen, von denen kleinere Straßen und Gassen abzweigen. Menschen, hinter denen ein harter Arbeitstag liegt, oder die den ganzen Tag mit Protestschildern in der Hand ihre Stimmen erhoben haben, verlassen abends diese Plätze und laufen, vielleicht mit einem Beigeschmack des Bedauerns, die ruhigen, steilen Straßen hoch, wo zu Hause Familie und Erholung auf sie warten. Im schlichten Innenhof eines Straßeneckhauses herumwandernd, musste ich wieder einmal über Leben und Gedanken seines einstigen Erbauers und Bewohners nachdenken. Obwohl Seongbuk-dong innerhalb der alten Festungs- und Stadtmauer Hanyangdo-seong lag, wies das Viertel noch bis vor einem Jahrhundert einen so dichten Baumbestand wie ein Bergtal auf. Es gab dort nur 70 Haushalte, darunter die Sommerfrische-Häuser reicher Adelsfamilien und die strohgedeckten Hütten armer, einfacher Bürger. Heute leben hier annähernd 20.000 Menschen. Mit der „Hauptstraße“ von Seongbuk-dong ist gewöhnlich die knapp 3 km lange Strecke von der U-Bahnstation Hansung
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University (Linie 4) bis zum traditionellen Banketthaus Samcheonggak gemeint. Schlendert man, den Berg in der Ferne stets im Auge behaltend, langsam an den bunt dekorierten Läden vorbei die Straße hoch, merkt man, wie sie sich irgendwann zu verjüngen beginnt und steiler ansteigt. Denn diese Straße führt über den vom Bugak-san herabfließenden Fluss Seongbuk-cheon. Stellen Sie sich also vor, dass unter Ihren Füßen Wasser fließt und sich über die Steine im Fluss, auf denen einst Vögel Rast machten, ins Tal ergießt. Diese Straße unterscheidet sich kaum von denen in anderen Seouler Wohnvierteln, wenn man einmal davon absieht, dass hier und da Banner hängen, die verschiedene Kulturveranstaltungen ankündigen. Zudem gibt es viele Hinweistafeln, die einen innehalten lassen. Sie erinnern an Personen, die sich um das Viertel verdient gemacht haben und auf die man entsprechend stolz ist. Auffällig sind auch Touristengruppen, die einem Reiseführer mit einer kleinen Fahne in der Hand folgen. Wie andere Stadtteile auch, wirbt Seongbuk-dong für Sehenswürdigkeiten, die für seine Geschichte und Kultur stehen.
Der Schriftsteller Yi Tae-jun zerlegte das alte Familienhaus in Cheorwon und baute es in Seongbuk-dong, wo er an die 10 Jahre arbeitete, wieder auf. In dem „Suyeon Sanbang“ genannten Haus betreibt heute eine Großnichte von Yi ein traditionelles Teehaus.
Hanyangdo-seong und Pfirsichblüten Haupttouristenattraktion von Seongbuk-dong ist die Festungsmauer Hanyangdo-seong. Als Yi Seong-gye (1358-1408), der als „König Taejo“ bekannte Gründervater des Joseon-Reichs (1392-1910), die Hauptstadt nach Hanyang (heute: Seoul) verlegte und den Königspalast Gyeongbok-gung errichten ließ, wurde die Mauer als Verteidigungswall angelegt. Dieser ursprünglich insgesamt 18,6 km lange Wall vereint die Merkmale einer Flachland- und einer Bergfestung. Er umgab Königspaläste und Verwaltungsbehörden sowie Märkte und Wohnbereiche von normalen Bürgern. Und er war jedem zugänglich, wie der folgende Eintrag belegt: „Im Frühling und Sommer wanderten die Menschen von Hanyang die ganze Festungsmauer ab und genossen die umgebende Landschaft. Für so eine Wanderung brauchte man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.“ Das Fundament der Festungsmauer ist noch weitgehend erhalten. Seongbuk-dong liegt entlang der ca. 4 km langen Strecke zwischen den Bergen Bugak-san und Nakta-san. Das Viertel liegt auf dem höchsten Punkt der sich über die Bergrücken schlängelnden Wehrmauer. Eine Wanderung der steilen Pfade entlang der Mauer bietet einen atemberaubenden Ausblick auf moderne Gebäude vor dem Hintergrund alter Festungswälle und der sich darunter ausbreitenden Seouler Innenstadt. Glaubt man den Einheimischen, dann bietet die Aussichtsplattform Malbawi (Pferd-Fels) in der Nähe des Waryong-Parks den besten
Ausblick. Professionelle Fotografen bevorzugen den Abschnitt zwischen dem nördlichen Haupttor Sukjeong-mun (Tor der redlichen Herrschaft) und dem kleinen nordwestlich liegenden Tor Changui-mun (Tor der Verbreitung der Rechtschaffenheit). Beim Bau der Mauer mangelte es an Weitblick: Innerhalb von nur 30 Jahren hatte die Einwohnerzahl innerhalb der Festungsmauern nämlich so drastisch zugenommen, dass die Regierung die Bevölkerung zu verteilen versuchte, indem man ein vor dem Osttor Dongdae-mun beginnendes, 3,9 km breites Gebiet zur Besiedlung freigab. Doch auch dabei wurde Seongbuk-dong wegen seiner tiefen Talsenken und dichten Wälder ausgenommen. Die Bürger begannen erst hierher zu ziehen, als 1766 unter der Herrschaft von König Yeongjo (reg. 17241776) die Königliche Garde Eoyeongcheong zur Verstärkung der Hauptstadtverteidigung eine Festungswacheeinheit im nördlichen Gebiet (Bukdun) stationierte. Für die Versorgung der Soldaten wurden Felder angelegt, sodass sich in Flussnähe auch Zivilisten ansiedelten. Doch der Anbau auf dem sandigen Boden am Fluss war nicht einfach. Um dem Zugezogenen ein Auskommen zu ermöglichen, pflanzte man Pfirsichbäume um die Häuser und betraute sie mit Auftragsarbeiten wie Verarbeitung und Lieferung von Textilien. Rund 20 Jahre später kam Chae Je-gong (1720-1799), ein berühmter Hofbeamter der späten Joseon-Zeit, in diese Gegend und beschrieb den Anblick, der sich ihm bei einem Spazier-
Sehenswürdigkeiten in Seongbuk-dong
Seoul Gilsang-sa (Tempel)
Samcheonggak (Restaurant)
Sukjeong-mun (Tor) Nosi Sanbang (existiert nicht mehr) Samcheong Tunnel
Bukjeong Village
Simujang (Gedenkhaus)
Suyeon Sanbang (Teehaus) Seongbuk Kunstmuseum Kansong Kunstmuseum Seonjam Museum
Seouler Stadtmauer
Waryong Park Hansung Univ. Station (U-Bahn Linie 4) Hyehwa-mun (Tor)
Gilsang-sa (Tempel)
Bukjeong Village
Kansong Kunstmuseum
Seonjam Museum KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 55
gang bot, wie folgt: „Laufend und pausierend warf ich meinen Blick immer wieder nach unten und sah, wie am Fuße des Berges Häuser des Dörfchens verstreut waren. Die meisten davon waren wie von Zäunen mit Pfirsichbäumen umgeben, sodass zwischen den Pfirsichblüten hin und wieder ein Fenster oder ein Dachtraufenende hervorlugte. Alle Leute aus der Hauptstadt, egal ob Beamte oder einfache Bürger, waren von diesem Anblick so verzaubert, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren.“ Aus dem nördlichen Stützpunkt Bukdun war also „Dohwa Bukdun“ (Pfirsichblüten-Bukdun) geworden. Es war um diese Zeit, als Mitglieder der Königsfamilie, mächtige Angehörige der Literati-Gelehrtenschicht und wohlhabende Bürger hier ihre Ferienhäuser zu errichten begannen. Während der japanischen Kolonialherrschaft kamen Villen im westlichen Stil hinzu. Heutzutage finden sich in diesem Wohnviertel entsprechend die Luxusanwesen wohlhabender Konglomeraten-Familien. Ateliers in den Bergen 1933 erschien in der vier Jahre zuvor gegründeten Zeitschrift Samcheolli ein Artikel mit dem Titel „Literatendorf von Seongbuk-dong“: Das Stadtrandviertel ziehe mit seiner schönen Landschaft und sauberen Luft viele Seouler an, darunter v.a. Künstler und Literaten. Namentlich genannt wurde z.B. der
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Schriftsteller Yi Tae-jun (auch Lee Tae-jun, 1904-?). Yi, zu der Zeit ein aufstrebendes, gerade auf die 30 zugehendes Talent, erregte mit seinem außerordentlichen Schreibstil die Aufmerksamkeit der Literaturkreise. Yi zog 1933 nach Seongbuk-dong. Er hatte 1930 geheiratet und siedelte vom rund 80km entfernten Cheorwon in der Provinz Gangwon-do nach Seoul um. Zu diesem Zweck ließ er das Haus seines Onkels, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, in seine Einzelteile zerlegen und in Seongbuk-dong wieder aufbauen, wobei er einige unkonventionelle Änderungen vornahm. Während er den altehrwürden Zimmerleuten bei der Arbeit zuschaute, schrieb er lobend: „Auch wenn es ein Haus nach neuestem Trend sein mag, sehe ich mit Freude, dass aus den geschickten Händen der Zimmermeister keine schlampige Arbeit hervorgeht.“ Mit „Haus nach neuestem Trend“ war gemeint, dass ein traditionellen Hanok-Haus strukturmäßig modernen Lebensgewohnheiten angepasst war. So gab es z.B. keine getrennten Herren- und Frauengemächer mehr, für Fenster und Türen wurde Glas statt Maulbeerbaumpapier verwendet und die normalerweise weit vom Hauptgebäude entfernte Toilette wurde in der Nähe der Holzdiele eingerichtet. Detailgetreu erhalten blieben jedoch elegante Stilelemente des traditionellen Hanok wie Ziegeldach, Dachtraufe, Dachsparren und dekora-
tive Holzgeländer. Hauptmerkmal eines modernen Hanok war jedoch, dass der Numaru (offener, erhöht liegender Raum mit Holzboden, der im Herrenhaus im Sommer für den Empfang von Gästen genutzt wurde) jetzt als gemeinsamer Bereich der Eheleute diente. Der Schriftsteller Choi In-hun (1936-2018) beschreibt in seinem Roman Das Anliegen (1994) das Haus von Yi Tae-jun wie folgt: „Es ist ein nach Süden ausgerichtetes Hanok mit einem ㄱ-förmigen (ㄱ: koreanisches Schriftzeichen) Numaru an einem Ende. An der nach Süden gerichteten Vorderseite des Numaru hängt eine Holztafel mit dem eingeschnitzten Namen Munhyangnu (Pavillon zum Einatmen des Dufts). Blickt man von vorn auf das Haus, befindet sich der Numaru am rechten Ende und der horizontal verlaufende Teil der ㄱ-förmigen Struktur umfasst den Daecheong (Hauptraum mit Holzboden) und die an dessen beiden Seiten einander gegenüberliegenden Zimmer. Der Trittstein führt zur Toenmaru (schmale Seitenveranda, die sich außerhalb eines Raumes entlangzieht und ins Innere führt), während die Daecheong-Holzdiele sich hinter mit Gittermustern versehenen Holztüren mit Glaseinsatz befindet. Im Winter wird es in der Daecheong-Holzdiele daher schön warm gewesen sein.“ Der Tag begann für Yi Tae-jun damit, beim Zähneputzen den Blick über die sich auf- und abwärts schlängelnde Festungs1
mauer und die sich dahinter erstreckenden Bergrücken wandern zu lassen. Über dieses tägliche Ritual schreibt er, dass er beim Zähneputzen manchmal aus der Sinnestäuschung aufgeschreckt sei, „mit der Zahnbürste einmal meine Zähne, und einmal die Lücken zwischen den Mauersteinen zu putzen“. Heute verdecken große Kiefern und Gebäude die Aussicht auf die Festungsmauer. In dem Suyeon Sanbang (kleines Haus im Berg, in dem Literaten zusammenkommen) genannten Hanok betreibt eine Urgroßnichte von Yi Tae-jun ein Teehaus. An der niedrigsten Stelle des Innenhofs befindet sich der alte Hausbrunnen. Läuft man von Yis Haus ein Stück den steilen Weg nach oben, kommt man zum Simujang (Haus der Suche nach dem Ochsen), in dem der buddhistische Mönch und Dichter Han Yongun (1879-1944) nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1933 bis zu seinem Tod lebte. Auf dem Weg zum Simujang ist übrigens auch der Platz zu finden, auf dem einst das Haus von Pak Taewon (1910-1986) gestanden haben soll. Dieser Schriftsteller mit seiner exzentrischen Frisur soll hier von 1948 bis 1950 gelebt haben. Pak veröffentlichte damals mit Yis Hilfe seinen Roman Ein Tag im Leben des Schriftstellers Kubo (1938) in Fortsetzungen. Mit seiner für die damalige Zeit ungewöhnlichen Roadmovie-Struktur sorgte das Werk für Furore. Pak hatte sich mit dem Bau eines Hauses im Stadtviertel Donam-dong 2
1. In diesem Haus lebte der Mönch und Dichter Han Yong-un, der wegen seiner Teilnahme an der Unabhängigkeitsbewegung im Gefängnis saß. 1933, als er entlassen wurde, bauten Wohltäter das „Simujang“ (Haus der Ochsensuche) genannte Haus für ihn. Es soll bewusst nördlich ausgerichtet gebaut worden sein, um den Blick auf den Sitz des japanischen Generalgouverneurs zu vermeiden. Han starb 1944, ein Jahr vor der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft. 2. Das Bukjeong-Dorf, wo sich das Gedenkhaus Simujang befindet, gilt als „das letzte Monddorf unter dem Himmel“. Ein „Monddorf“, „Dal-dongne“ auf Koreanisch, wird ein Viertel genannt, das so hoch liegt, dass es an den Mond heranreicht. Normalerweise ist damit eine ärmlichere Gegend gemeint, deren steile, enge Gässchen von alten Häuschen gesäumt sind.
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finanziell übernommen, sodass er sich zum Verkauf gezwungen sah und in ein von einer Buschklee-Hecke umgebenes Strohdachhaus, das er anstelle von Lizenzgebühren erhalten hatte, im verlassenen Tal von Seongbuk-dong zog. Gegenüber der Stelle, an der einmal Pak Taewons Haus gestanden haben soll, befindet sich die Einsiedelei Suwol-am und das Mehrfamilienhaus Hyundae-Villa. Dazwischen stand einmal das Nosi Sanbang (Kleines Haus am Berg mit Kakibäumen) des Malers und Essayisten Kim Yong-jun (1904-1967). Mit Yi Tae-jun war Kim seit seiner Studienzeit in Japan befreundet. 1934 zog Kim in das Haus in Seongbuk-dong, wobei er seine Frau quasi an den Haaren dorthin schleifen musste. In seinen Schriften erinnert er sich daran, wie „vehement sie sich wehrte“, an einen Ort zu ziehen, „wo es noch nicht mal ein Handkarren bis zur Haustür schaffen kann und manchmal Fasane und Wölfe aus den Bergen bis zur Hintertür herunterkamen“. Er gestand, dass es ihn nach Seongbuk-dong zog, weil er „die paar alten Kakibäume dort einfach von ganzem Herzen liebte“. Yi nannte Kims Haus „Nosi Sanbang“. Kim lebte dort knapp zehn Jahre und verkaufte es dann an den Maler Kim Whanki
(1913-1974), den er wie seinen eigenen Schüler schätzte. So verabschiedete er sich von den „kahlen Bäumen und Elsternestern, der Hecke aus zweifarbigem Buschklee, dem bizarr geformten Steinbrocken, dem weißen Schnee und dem warmen Sonnenlicht“, die seine „einzigen Winterfreunden im Haus der alten Kakibäume waren“. Kim Yong-jun erklärt in seinem Essay Yukjang Hugi (Nach dem Verkauf des Hauses) die Umstände hinter dem Verkauf. Jedenfalls bezeichnet Kim Yong-jun das Leben in dem Haus als „Brocken der Illusion“. Vielleicht ist deshalb heute keine Spur mehr davon zu finden. Ein Brocken Illusion Nun ist es an der Zeit, den Hintergrund meines „alten Vorurteils“ zu erläutern: Yi Tae-jun schrieb über den Protagonisten seiner Erzählung Vor und nach der Befreiung (1946): „Hyeon wollte wirklich leben. Genauer gesagt, er wollte durchhalten. Lasst uns an den Sieg der Alliierten glauben! Lasst uns an die Gesetze der Gerechtigkeit und der Geschichte glauben! Es wird früh genug sein, sich der Verzweiflung hinzugeben, wenn die Gesetze die Menschheit betrügen. Hyeon verkaufte sein Haus
Heute verdecken große Kiefern und Gebäude die Aussicht auf die Festungsmauer. In dem Suyeon Sanbang (kleines Haus am Berg, in dem Literaten zusammenkommen) genannten Hanok betreibt eine Urgroßnichte von Lee Tae-jun ein Teehaus. © Whanki Museum, Whanki Foundation
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nicht. Es hieß, dass in Europa die zweite Front noch nicht eröffnet worden sei und die japanische Armee immer noch Rabaul im Pazifik verteidigte, aber all das würde in einem, maximal zwei, drei Jahren zu Ende sein. Mit dieser Überlegung hatte er auf das Haus die höchstmögliche Hypothek aufgenommen und Seoul verlassen.“ Yi baute sein Seongbukdong-Haus zwei Jahre nach dem Mukden-Zwischenfall vom 18. September 1931, ein von den Japanern inszenierter Anschlag, der als Vorwand für die japanische Invasion der Mandschurei und Japans Vormarsch in ganz Asien diente. Zu der Zeit stand Korea schon über 20 Jahre unter japanischer Kolonialherrschaft und der bewaffnete Widerstand gegen die Besatzer hatte seinen Höhepunkt erreicht. Um die Modernisierung der Hauptstadt voranzutreiben, veröffentlichte die Stadtregierung von Gyeongseong, wie Seoul während der Kolonialherrschaft hieß, 1928 einen Stadtplanungsbericht, nach dem die Gebiete der heutigen Stadtbezirke Gangbuk-gu und Seongbuk-gu dank der Bahnstrecke Seoul-Wonsan, die die südlichen und nördlichen Teile des Landes miteinander verband, sich zum künftigen Stadtzentrum entwickeln würden. Die Gyeongwonseon-Linie führte durch Cheorwon, Yi Tae-juns geliebte Heimatstadt. Nach der Eingliederung von Seongbuk-dong in die Hauptstadt Gyeongseong kam das Gerücht auf, dass vom Hyehwa-mun (Kleines Nordosttor) über Seongbuk-dong bis Donam-dong Straßen gebaut werden sollten. In der Hoffnung auf hochschnellende Grundstückspreise öffneten in Seongbuk-dong Immobilienmakler ihre Türen. Zu dieser Zeit arbeitete Yi Tae-jun als Feuilletonredakteur bei der Tageszeitung Joseon Jungang Ilbo. Die Diskrepanz zwischen seinen Idealen und der Realität dürfte ihn in einige innere Konflikte gestürzt haben. Wahrscheinlich hätte Yi gerne daran geglaubt, dass er nur an seinem friedlichen kleinen Glück in dem durch seiner Hände Arbeit erbauten Häuschen festzuhalten brauchte und dann irgendwann schon Gesetz und Gerechtigkeit der Geschichte obsiegen würden. Als Schriftsteller, der er war, wird er wohl beschlossen haben, sich den einfachen Menschen ganz unten auf der sozialen Leiter, die mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt halten konnten, der Menschlichkeit in derem Leben sowie der Heimat und dem Traditionellen zu widmen. Für ihn dürfte es schwerer gewesen sein, die Demütigungen der Kolonialherren zu ertragen, denen er im Inlande ausgesetzt war, als in der Widerstandsbewegung im Ausland zu kämpfen. Wenn dem nicht so gewesen wäre, dann hätte er – wie Choi In-hun es formulierte – „nicht in dem von Feinden eroberten Land bleiben dürfen“. Aufbruch Genau wie der Protagonist in seiner Erzählung verkaufte auch Yi Tae-jun sein Haus nicht, als er 1943 in seinen Heimatort zog. Nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherr-
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1. Suhyang Sanbang (1944) von Kim Yong-jun. Tinte und leichte Farben auf Papier, 24 x 32 cm. Diese Zeichnung wurde von dem Schriftsteller und Künstler Kim Yong-jun für den Maler Kim Whanki und dessen Frau angefertigt. Kim verkaufte sein Haus Nosi Sanbang (Kleines Haus am Berg mit Kakibäumen) an Kim Whanki, der es in „Suhyang Sanbang“ (Kleines Haus am Berg, in dem Literaten zusammenkommen) umbenannte. Der Name ist eine Zusammensetzung aus der ersten Silbe seines Schriftstellernamens „Suhwa” und der ersten Silbe des Vornamens seiner Frau Kim Hyang-an. Das Haus existiert nicht mehr, lebt aber noch in vielen Geschichten weiter. 2. Dieses Familienfoto von Yi Tae-jun hängt immer noch im Suyeon Sanbang. Die Familie steht im Garten. Nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft herrschten soziale Unruhen in Korea. Yi ging 1946 in großer Verzweiflung nach Nordkorea.
schaft 1945 herrschten in Seoul chaotische Zustände, die Ereignisse überschlugen sich und erschwerten eine rationale Beurteilung der Sachlage. Keine von Yis Entscheidungen konnte seine inneren Wunden heilen oder die Realisierung seiner Träume für das Land nach der Befreiung garantieren. 1946 verließ Yi völlig unerwartet zusammen mit seiner Familie sein Haus in Seongbuk-dong und zog nach Nordkorea. Später folgten ihm Kim Yong-jun und Pak Taewon. Die Konflikte zwischen ihren Idealen und der Realität, mit denen sie sich später im Norden konfrontiert sahen, lassen sich nur anhand bruchstückhafter Aufzeichnungen einiger weniger Zeugenaussagen erahnen. Eine ernsthafte Erforschung aus literaturgeschichtlicher Sicht steht noch aus. In seinem Essay Der poetische Moment des Glücks schrieb der Germanist und Autor Moon Gwang-hun von seinen Gedanken über ein Familienfoto von Yi Tae-jun: „Hier ist ein altes Foto: Es zeigt den Schriftsteller Yi Tae-jun mit seiner Frau, seinen zwei Söhnen und drei Töchtern vor seinem Haus in Seongbuk-dong im Jahr 1942. [...] Ich denke, dass die hier abgebildete Szene womöglich am besten zum Ausdruck bringt, was Glück für die Menschen bedeutet, wie Glück unserem Leben beschert wird, wie es kommt und wie es zerrinnt.“ Ich schaue mich an dem Platz um, an dem Yi und seine Familie für die Aufnahme posierten. Der Besitzer ist zwar nicht mehr, aber die Blumen im Hof blühen trotzdem.
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EIN GANZ NORMALER TAG
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Keine Ruhe im Ruhestand Koreas „Babyboomer“, die zwischen 1955 und 1963 Geborenen, die während der rasanten Wirtschaftsentwicklung und inmitten der turbulenten politischen Umbrüche der modernen Geschichte heranwuchsen, treten allmählich in den Ruhestand. Nachdem sie ihr Leben lang mit rasanten Veränderungen Schritt halten mussten, fällt vielen ein gemächlicheres Tempo schwer. Das gilt auch für Lee Chan-ung, der 1951 geboren wurde.
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Kim Heung-sook Dichterin Fotos Ahn Hong-beom
ee Chan-ung hat das Glück, nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben keine finanziellen Einschränkungen zu haben. Das macht ihn gewissermaßen zu einem Ausnahmefall. Korea dürfte weltweit eins der Länder mit der prekärsten Vorbereitung auf den Ruhestand sein. Und das, obwohl die
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Altersarmutsquote im OECD-Vergleich am höchsten ist. Hohe Lebenshaltungskosten, gnadenlos hohe Bildungskosten, Einkommensungleichheit und traditionelle Verpflichtungen wie die finanzielle Unterstützung der Kinder bis zur Heirat behindern die Altersvorsorge. Die Bruttoersatzquote liegt in Korea bei nur 39,3%, in den USA sind es 71,3 %.
Bedenkt man zudem, dass mit erhöhter Lebenserwartung bei gleichzeitig rückläufigem Einkommen die medizinischen Kosten für altersbedingte Krankheiten ansteigen, ist die Lage noch gravierender. Die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Monat betragen bei Koreanern ab 60 das 2,3-Fache des nationalen Durchschnitts. Mit 54,8 Todesfällen je 100.000
Einwohner liegt Koreas Suizidrate bei älteren Menschen fast dreimal so hoch wie der OECD-Durchschnitt. Kein Wunder, dass die meisten Koreaner den Ruhestand fürchten. Vor seiner Pensionierung war Lee Chanung sicher, dass er finanziell abgesichert sei. Die Wohnung gehörte ihm und er war schuldenfrei. Die damals noch vergleichsweise hohen Sparzinsen sicherten sein finanzielles Polster und der älteste der beiden Söhne stand vor dem Hochschulabschluss, sodass die Belastung durch hohe Studiengebühren, unter denen viele koreanische Eltern stöhnen, sich reduzieren würde. 2004 beendete Lee Chan-ung seine 34-jährige Karriere bei der Korea Exchange Bank. Er hatte damals das gesetzliche Pensionsalter für Angestellte zwar noch nicht ganz erreicht, aber er konnte relativ leichten Herzens aus dem Dienst ausscheiden, da diejenigen Kollegen, die zur gleichen Zeit wie er angefangen hatte, meistens schon pensioniert waren. „Am Neujahrstag stieg ich auf den Berg Bukhan-san, um den ersten Sonnenaufgang des Jahres 2005 zu erleben,“ erzählt er. „Zu Hause schrieb ich in mein Tagebuch: Jetzt vermag ich jederzeit, die Bank zu verlassen. Ich möchte nicht zu einem dieser älteren Angestellten werden, die niedergeschlagen und kraftlos aus dem Dienst scheiden. Und wie nach einer Prophezeiung hörte ich nur einen Monat später bei der Bank auf.“ Bucket List Auch wenn Lee Chan-ung finanziell gut abgesichert ist, heißt das nicht, dass sein Lebensabend völlig problemfrei wäre. Vor ein paar Jahren musste er sich die Gallenblase entfernen lassen, Seh- und Hörvermögen lassen nach. Gesundheitsprobleme zwangen ihn vor kurzem dazu, seine ehrenamtliche Lehrtätigkeit, einer der großen Freuden seines Lebens, aufzugeben. Sein lebenslanger Wissensdurst und Drang nach Neuem sind ihm aber
geblieben. Nach der Pensionierung pausierte er erst einmal für sechs Monate und übernahm anschließend die Finanzverwaltung in der Importfirma seines Schwagers. Erst zweieinhalb Jahre später richtete er sich endgültig im Ruhestand ein. Will sagen, er beschloss, seine Bucket List umzusetzen, die er bereits vor der Pensionierung aufgestellt hatte. Sein erstes Projekt war ein auf seinem Leben basierender Roman. Fast zehn Jahre lang übte er sich im Schreiben von Essays, von denen er auch das eine oder andere veröffentlichte. Im Frühling 2013 kam seine Essay-Sammlung als Buch heraus. Den Titel Ich bin Schüler entlieh er der koreanischen Übersetzung des Titels des Werks Wan Meng über sich: Meine Philosophie des Lebens (2003) des chinesischen Schriftstellers Wang Meng (geb. 1934), der als Kandidat für den Literaturnobelpreis empfohlen wurde. Später kam Lee zu dem Schluss, dass es ihm an der notwendigen Begabung fürs Schreiben fehlt, auch wenn ihm das Essayschreiben besser lag als das Romanschreiben. „Ich habe das Gefühl, dass ich alles, was in mir steckt, in dieses eine Buch fließen lassen habe. Deshalb schreibe ich in letzter Zeit nicht mehr,“ sagt er. „Ich muss wohl abwarten, bis sich in mir wieder die Inspiration wie Wasser in einer Quelle ansammelt.“ Weitere Punkte auf seiner Liste wie eine Besteigung des Gebirges Baekdu-san, eine Kreuzfahrt sowie eine Langstreckenwanderung hat er bereits abgehakt. Übrig bleiben noch: Eine Reise nach Afrika, das ihn schon als Kind faszinierte; Zaubertricks lernen, um die Menschen zum Lachen zu bringen; einmal alle vier Jahreszeiten tief im Gebirge Jiri-san oder in der Wildnis des Himalaya verbringen. Das Leben damals und heute Lee Chan-ung steht jeden Morgen um
2 1. Lee Chan-woong, Jahrgang 1951, ging nach 34 Arbeitsjahren bei einer Bank in Rente. Seine erste Beschäftigung im Ruhestand bestand darin, im Kulturzentrum eines Zeitungsverlags Essayschreiben zu lernen.
2. Zehn Jahr lang schrieb Lee Essays über das, was er bei seinen Alltagsaktivitäten sah und empfand. Seine gesammelten Werke wurden 2013 unter dem Titel „Ich bin Schüler“ veröffentlicht.
halb acht, wenn sein Wecker klingelt, auf. Während er Kohlsaft und Obst zu sich nimmt, markiert er interessante Artikel in der Zeitung, um anschließend in einem nahe gelegenen Center für Kouksundo (koreanische Meditationsübung zum Trainieren von Körper und Geist) 90 Minuten Danjeon-Atemübungen zu machen. Er besitzt mittlerweile den Schwarzen Gürtel. Wenn er nach Hause kommt, ist seine Frau, eine überzeugte Katholikin, meist schon auf dem Weg zur Kirche. Nach der Lektüre der am Morgen markierten Zeitungsartikel loggt er sich in ein Online-Forum ein, in dem rund 70 Familienmitglieder, Verwandte und Freunde registriert sind. Am meisten freut er sich über Postings von seiner Enkelin, seinem bislang einzigen Enkelkind. Sie lebt in Spanien, wo sein jüngster Sohn zurzeit arbeitet. Wenn er mit dem Schreiben und Lesen der Postings und dem Hochladen von Fotos fertig ist, ist es schon fast Mittag. Ist er verabredet, geht er zum Essen hinaus, ansonsten versorgt er sich selbst, wenn seine Frau bis Mittag noch nicht von der Kirche zurück ist. Seine Frau
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und er waren früher Kollegen. Dieses Jahr haben sie ihren 40. Hochzeitstag gefeiert. „Meine Frau sagt, ich sei patriarchalisch. Das ist wohl, weil ich bei uns zu Hause alle großen und kleinen Entscheidungen treffe.“ So bestand er zu Beginn ihrer Ehe darauf, dass sie unbedingt vier Zimmer bräuchten, denn seine verwitwete Mutter sollte bei ihnen leben, und an den Tagen, an denen er als ältester Sohn gegen Mitternacht die traditionellen Jesa-Ahnenverehrungsrituale auszurichten hatten, mussten auch die daran teilnehmenden Geschwister und Verwandten bei ihnen übernachten können. Zu der Zeit konnte er sich nur den Kauf eines Vierzimmer-Einfamilienhäuschens in einer Gegend mit schlechter Verkehrsanbindung leisten. Als er Jahre später in eine bequeme, moderne Vierzimmer-Hochhauswohnung umzog, musste er für den Kauf einen hohen Kredit aufnehmen. Fast zehn Jahre mühte er sich mit der Rückzahlung ab. Lee hat drei ältere Schwestern, eine jüngere Schwester und zwei jüngere Brüder. Kinderreichtum ist typisch für die Babyboomer-Generation. Doch die Klagen seiner Frau
scheinen nicht nur auf seine patriarchalische Art als ältester Sohn der Familie zurückzugehen. Religion Lee Chan-ung hat eine völlig andere Einstellung zur Religion als seine Frau. „Wenn meine Frau mir von dem, was in der Kirchengemeinde so passiert ist, erzählt oder über die Nachbarn klatscht, höre ich kaum zu. Es interessiert mich einfach nicht. Auch nach 40 Jahren Eheleben habe ich immer noch das Gefühl, sie nicht wirklich gut zu kennen. Wenn ich sie in der Kirche oder zuhause beim Beten sehe, erscheint sie mir manchmal wie eine Fremde.“ Während seine Frau in den Glauben hineingeboren wurde, ließ Lee sich nur taufen, um sie heiraten zu können. Ihr Taufname ist Juliana und seiner Augustinus. „Für mich ist Religion kein Kernbestandteil des Lebens. Ich glaube nicht, dass man dafür sein Alltagsleben aufgeben sollte. Ist es nicht viel wichtiger, ein aufrichtiges Leben zu führen?“ Lee Chan-ung scheint eingehend über Glauben und Leben nachgedacht zu
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1. Jeden Morgen geht Lee zum Center für Kouksundo in der Nachbarschaft um Danjeon-Atmen zu üben. Vor einigen Jahren machte er den Schwarzen Gürtel im Kouksundo. 2. Neun Jahre lang unterrichtete Lee als Freiwilliger BWL für Beautiful Seodang, eine gemeinnützige Vereinigung, die in ihrer Young Leaders Academy kostenlos Kurse auf Universitätsebene anbietet. Lee gab im Juni dieses Jahres seine letzte Unterrichtsstunde.
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haben. So verbrachte er einmal drei Wochen im Tempel Woljeong-sa in den Bergen Odae-san, wo er an einem Kurzprogramm zur Vorbereitung von Laien auf das Tempelleben teilnahm. Auch unterwarf er sich im Mary-Ward-Exerzitienhaus in Okcheon-gun, Provinz Chungcheongbuk-do, zehn Tage lang geistlichen Übungen. „Der Buddhismus ist für mich weniger Religion als geistige Heimat. Deshalb hatte ich angenommen, dass das Leben in einem Tempel befreiend sein würde und war dann umso mehr geschockt von all dem, was untersagt war.“ Im Exerzitienhaus der Jesuiten verbrachte er seine Tage im Schweigen, nur einmal täglich gab es ein Beratungsgespräch mit einer Nonne. Sich zurückerinnernd meint er: „Die Nonne sagte mir, ich solle von meiner Gier, Gott begegnen zu wollen, ablassen und statt dessen auf einen Fingerzeig von ihm warten, aber das konnte ich nicht. Beim Abschied sagte ich mir, dass ich bei der nächsten Gelegenheit wiederkommen werde.“ Wie das große Steingesicht Nicht nur über Religion, sondern auch über sein Leben im Ruhestand hat Lee Chan-ung schon recht früh seine eigene Philosophie zurechtgelegt: Genau wie Ernest, der Protagonist in Daniel Hawthornes Erzählung Das große Steingesicht (1850), der in jungen Jahren sein Rollenvorbild gewesen war, beschloss Lee, „ein Leben zu leben, dass über die eigene Familie hinaus auch für andere eine Hilfe ist“. Er erinnert sich: „2009 stieß ich zufällig auf folgende Sätze: Wofür möchten Sie in Erinnerung behalten werden?; Wer mit 50 noch keine Antwort darauf geben kann, hat sein Leben verschwendet; In diesem Moment musste ich an Ernest denken und mir wurde klar, dass ich anderen helfen möchte.“ Genau zu diesem Zeitpunkt lernte er bei der Teilnahme an einem von einer Bür-
Es bleibt noch einiges zu tun: Eine Reise nach Afrika, das ihn schon als Kind faszinierte; Zaubertricks lernen, um die Menschen zum Lachen zu bringen; und einmal alle vier Jahreszeiten tief im Gebirge Jiri-san oder in der Wildnis des Himalaya zu verbringen. gerinitiative organisierten Programm für Ruheständler Suh Jae-kyoung, den Vorstandsvorsitzenden der privaten Non-Profit-Organisation Beautiful Seodang, kennen. Auf Seos Empfehlung wurde er Lehrer an der Young Leaders Academy (YLA) der Beautiful Seodang. YLA ist ein Programm, das darauf abzielt, Hochschulstudenten Charakterbildung, Kompetenz und einen Sinn für soziales Engagement zu vermitteln. Die kostenlosen YLA-Kurse umfassen die Lektüre der Klassiker, BWL und Freiwilligenarbeit. Die Lehrkräfte sind meist Ruheständler aus Medien-, Geschäfts- und Finanzwelt. Sie arbeiten unentgeltlich und unterstützen die Kurse sorgar aus eigener Tasche. Vor kurzem stieß er bei der gemeinsamen Lektüre von Peter Druckers Was ist Management – Das Beste aus 50 Jahren mit seinen Schülern wieder auf die Frage, die ihn 2009 an Ernest erinnert hatte: Wie möchte ich in Erinnerung behalten werden? Und er fand die Antwort: „Als jemand, der sich bemüht hat, wie Ernest zu werden.“ Er fügt hinzu: „Die Studenten von heute haben ihre Träume verloren. Der Druck, dass einem nur eine niedrig bezahlte
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Gelegenheitsbeschäftigung bleibt, falls man nach dem Uni-Abschluss nicht sofort eine Festanstellung als Angestellter findet, scheint sie ihrer Träume beraubt zu haben. Sie können einem leid tun.“ Im Juni 2018 beendete er seine neunjährige Lehrtätigkeit bei YLA. Sein Hörvermögen hatte sich dermaßen verschlechtert, dass er öfters nicht richtig verstehen konnte, was gesagt wurde. Außerdem war seine Stimme wegen Rachenentzündung oft heiser. Doch das heißt nicht, dass er die Freiwilligenarbeit endgültig aufgegeben hat. „Von nun an will ich Arbeiten nachgehen, die geistig und körperlich weniger anstrengend sind. Ich werde mir einmalige Arbeiten vornehmen wie Reinigungs- oder Reparaturarbeiten von Häusern armer Menschen in der Nachbarschaft.“ Lee Chan-ung ist in der Stadt Mokpo, Provinz Jeollanam-do, geboren, wo er eine berufsbildende Oberschule abschloss. Danach fand er Arbeit bei einer Bank in Seoul und besuchte gleichzeitig Abendkurse an einer Universität. Damals erklärte er in einem Essay für das Universitätsmagazin, warum Ernest sein Vorbild ist: „Ich mag ihn, weil sein
Traum schlicht ist. Ich mag ihn, weil er nicht listig ist. Ich mag ihn, weil er aufrichtig ist. Ich mag ihn, weil er so gewöhnlich ist. Ich mag ihn, weil er ein sanftmütiger Denker ist.“ Für ewig Schüler Wenn man seine Essay-Sammlung Ich bin Schüler liest oder sich mit ihm unterhält, hat man das Gefühl, dass Lee Chanung nicht jemand ist, der danach strebt, wie Ernest zu werden, sondern bereits Ernest ist. Denn auch er ist ein gewöhnlicher, sanftmütiger Mensch, der schlichten Träumen folgt. „Es gibt eigentlich nichts, was ich bereue. Ich habe in meinem Leben nichts Großes versäumt. Und ich habe nie aufgehört zu lernen und das Gelernte umzusetzen. Selbst wenn ich morgen sterben sollte, würde ich denken, dass ich ein tolles Leben hatte,“ sagt er. Schon vor zehn Jahren machte sich Lee Chan-ung Gedanken über „gutes Sterben“, setzte sein Testament auf und stimmte der Organspende zu. Ohne Zweifel ist er ein „glücklicher Babyboomer“. Doch das Glück fiel ihm nicht in den Schoß, er war selbst seines Glückes Schmied.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Was für Heilmittel braucht sie wirklich? Oh Hyun-jong (geb. 1973) erzählt auf Basis ihrer brillanten Vorstellungskraft spannende Geschichten in verschiedenen Genres wie Liebesroman, Spionageroman, Wuxia etc. Ihr wird daher das Verdienst zugeschrieben, zur Erweiterung des Horizonts der koreanischen Erzählliteratur beigetragen zu haben. In all ihren Geschichten wird das Innenleben des Menschen scharfsinnig erfasst.
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Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
eitdem sie 1999 mit der Auszeichnung ihrer Erzählung Vergiftung mit dem Nachwuchspreis der Literaturzeitschrift Munhak Sasang (Literature & Thoughts) debütierte, veröffentlichte Oh Hyeon-jong in ihrer 20-jährigen Karriere sechs Romane und drei Erzählbände. Man würde erwarten, dass eine Autorin mit einem solch umfangreichen Publikationshintergrund mit dem einen oder anderen Literaturpreis als „Verdienstorden“ geehrt worden wäre, aber Oh wurde keine der zahlreichen Auszeichnungen zuteil. Das liegt wohl kaum an ihrem schriftstellerischen Vermögen, sondern ist eher ein Ausdruck der Schattenseite des derzeitigen Zeitalters der „Literaturpreis-Schwemme“, in dem Preise quasi weitere Preise „zeugen“ und diejenigen, die einmal leer ausgehen, auch weiterhin übersehen werden. Die Tatsache, dass sie ohne Anerkennung und Würdigung ihrer Leistung beständig in ihrem eigenen Schritttempo weiterschreibt, dürfte schon Ohs schriftstellerische Qualität bezeugen. Ihre Romane behandeln sehr unterschiedliche Stoffe und Themen. In der Frühphase trugen sie stärker autobiographische Züge. Zu nennen sind z.B. Ohs erster Roman Du bist eine Hexe über die sich schmerzhaft langsam entfaltende Liebe einer Schriftstellerin in ihren Dreißigern, die während ihres M.A.-Studiums schreibt, der Entwicklungsroman Zeit zum Fremdsprachenlernen, der die Versuche und Verzweiflungen der Schüler einer elitären Fremdsprachenoberschule beschreibt, und der Roman Heilige Snobs, der das verzweifelte Ringen um Dating und Einstieg ins Berufsleben von Studentinnen in ihren Zwanzigern thematisiert. All diese Werke sind als autobiographisch ins-
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piriert zu verstehen. Es gibt Autoren, die die eigenen Erlebnisse und Gedanken gekonnt zu fiktionalisieren verstehen, aber letztendlich den Rahmen des Autobiographischen nicht zu sprengen vermögen. Meist ist das auf mangelnde Vorstellungskraft und Begabung zurückzuführen. Oh Hyeon-jong jedoch beschränkt sich nicht auf den autobiographischen Bereich, sondern zeigt großes Geschick beim Aufbau der Narration. Ihr zweiter Roman Die Abenteuer der Bond Girl Mimi (2007) ist eine radikale Umarbeitung der 007-Filme aus feministischer Perspektive. Wie im Film wird James Bond auch in Ohs Roman als vor Sexappeal strotzender Beau dargestellt, aber anders als auf der Leinwand, wo das Bond Girl nur eine untergeordnete Rolle zur Betonung von Bonds Männlichkeit spielt, erscheint Mimi proaktiv und kompetent. Am Anfang des Romans dürstet es Mimi nach Bonds Liebe und sie rennt ihm hinterher, aber Bond weist sie unter dem Vorwand seiner Mission und Pflichten als Spion ab. Mimi, die Bonds Spur folgt und seinen Aufenthaltsort ausfindig macht, verwandelt sich im zweiten Teil des Romans selbst in eine Spionin, löst die durch Bonds Eitelkeit und Inkompetenz verursachten Probleme und rettet die Organisation aus großer Gefahr. 013 übertrifft 007 als Agent. In Süß und kalt (2013) erzählt Oh eine völlig andere Art von Geschichte. In diesem ihrem fünften Roman, der als „grausame Initiationsritus-Geschichte“ zusammengefasst werden kann, scheut ein junger Mann aus Liebe zu seiner Freundin nicht davor zurück, zum Mörder zu werden, wobei er mit den dunklen Wahrheiten von Mensch und Welt konfrontiert wird. Oh scheint es erst in diesem Werk zu gelingen, eine rein fiktive Wahrneh-
mung der Welt und Darstellung der Charaktere zu präsentieren, ohne sich wie bis dahin auf autobiographische Erlebnisse oder gemeinsame kulturelle Zusammenhänge zu stützen. Ihr sechster Roman Die Degenklinge des Meuchelmörders von einst, der nicht nur in Bezug auf Stoff und Thema, sondern auch im Erzählstil völlig neuartig ist, ist ein Paradebeispiel für Ohs Allroundtalent als Erzählerin. War Die Abenteuer des Bond Girl Mimi eine Reinterpretation und Transformation eines Hollywood-Blockbusters, so ist Die Degenklinge des Meuchelmörders von einst ein Versuch, in die Fußstapfen der traditionellen asiatischen Gattung Wuxia zu treten und sie doch gleichzeitig hinter sich zu lassen. Das Motiv der Rache und die übersteigert dargestellte Kampfkunst des Protagonisten folgen zwar treu der Tradition der Wuxia-Kampfkunst-Romane, aber der Aufbau der Rahmenerzählung, das misslungene Attentat des Protagonisten auf den Mächtigen und v.a. der moderne, verfeinerte Stil und die Gedankenführung unterliegen nicht den Clichés der traditionellen Wuxia, was das kreative Vermögen der Autorin unterstreicht. Die Erzählung Die Geschichte der Heilmittel ist in ihrem vom Verlag Munhak Dongne Publishing Group herausgegebenen Erzählband Ich war der König und der Clown (2017) enthalten. Dieser Band mit seinen acht Erzählungen wirft gewichtige Fragen auf, indem er Position und Rolle des Autors thematisiert und Überlegungen rund um diese Problematik anstellt. Ist es denn nicht gerade der Autor, der in seinem Werk zum König, aber auch zum Clown wird? In der autobiographischen Erzählung In Busan bekommt die Protagonistin, die an die Autorin Oh erinnert, von einer älteren, im Rundfunkbereich tätigen Frau bei der ersten Begegnung zu hören: „Das Zeitalter der Erzählung ist vorbei.“ Die wenig entgegenkommenden Reaktionen der Bankangestellten oder Visumagentur-Mitarbeiter angesichts des unsicheren Schrifstellerberufs der Protagonistin in der Erzählung Das Familienregister lesen liegen wohl auf derselben Linie wie die Episode in In Busan. Die Gedanken wie z.B. „Begegnungen und Abschiede, Furcht und Einsamkeit werden in offiziellen Dokumenten nicht festgehalten“, die der Protagonistin beim Durchgehen der Familienregistereinträge wie Name, Geburtsund Sterbedatum ihrer Vorfahren durch den Kopf gehen, lassen sich paradoxerweise als Stolz auf und Vertrauen in Erzählungen, die eben all diese Dinge festzuhalten vermögen, interpretieren. Im Nachwort des Erzählbands sagt die Autorin: „Ob König in einer Tragödie oder Clown in einer Komödie – das mag ruhig durch ein Würfelspiel am Mittag entschieden werden. Ich glaube, ich kann nun jeder Rolle, die mir gegeben wird, gerecht werden.“ Eine solche Aussage dürfte wohl auf Bewusstwerden und Überzeugtsein von der eigenen Identität als Schriftstellerin beruhen. Die Erzählung Die Geschichte der Heilmittel ist keine Refle-
© Lee Cheon-hui
xion über Literatur und Erzählung auf Metaebene. Es ist eine Art Liebesgeschichte zwischen einer M.A.-Studentin der Englischen Literatur und einem Studenten, der im bereits etwas fortgeschrittenen Alter Traditionelle Koreanische Medizin studiert. Ihre Beziehung hängt irgendwo zwischen guter Bekanntschaft und Liebespaar in der Luft, sie entwickelt sich nicht weiter, wird aber auch nicht abgebrochen, was an Ohs ersten Roman Du bist eine Hexe erinnert. Wie der Titel andeutet, wird die Geschichte der verschiedenen Heilmittel erzählt, die die Protagonistin im Laufe ihres Lebens eingenommen hat bzw. immer noch einnimmt. Die fast dreißigjährige Protagonistin ist erkältet und hustet wie ein bellender Hund. Seob, der Traditionelle Koreanische Medizin studiert, bereitet zwar für sie Heilmittel zu, aber die Erkältung wird bis zum Ende der Erzählung nicht besser. Der Leser merkt allmählich, dass das nicht an Seobs mangelndem Fachkönnen liegt. Obwohl die beiden sich schon ziemlich lange sehen, haben sie „noch nie Händchen gehalten“, weshalb die Protagonistin besorgt meint, dass es einen „Abstand zwischen ihm und mir“ gibt, „der sich nie verringern“ wird. Als sie dann unerwartet einen Anruf von Seob erhält, der sie zum Abendessen herausbittet, weil er ein Restaurant aufgetan hat, das wirklich hervorragendes Kimchi-Stew zubereitet, fühlt sie sich mit ihren noch nicht einmal dreißig Jahren bereits alt und denkt bei sich, dass sie dieser Beziehung noch überdrüssiger ist als ihrer nicht enden wollenden Erkältung. Am Ende der Erzählung ruft sie Seob an und sagt „Ich, ich brauche Heilmittel. Heilmittel”, um schließlich in Tränen auszubrechen. Dem Leser wird an dieser Stelle völlig klar, dass mit „Heilmittel“ weder ein von Seob zubereitetes Tonikum der traditionellen Medizin gemeint ist noch ein in der Apotheke erhältliches Medikament der westlichen Medizin. Und auch Seob, der das Telefongespräch nicht einfach beendet, sondern wortlos ihrem Weinen zuhört, scheint das wissen.
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