WINTER 2019
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
BUSAN
ISSN 1975-0617
JAHRGANG 14, NR. 4
Hafen der Poesie und Passion Busan: Auf den Wellen der Poesie; Busan: Drehscheibe des internationalen Austausches; Jagalchi-Markt: Dialog aus Lärm und Stille; Erinnerungen an die Kriegshauptstadt; Stadt des Films mit facettenreicher Infrastruktur
BUSAN
IMPRESSIONEN
Kimjang
Vorbote des Winters Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
U
© Image Today
m die Zeit, wenn nur noch eine Handvoll rot gefärbter Blätter an den Zweigen hingen, waren alle Familienmitglieder emsig mit den Vorbereitungen auf den Winter beschäftigt. Die im Gemüsegarten gezogenen Chinakohlköpfe mit ihren dicht an dicht liegenden Blättern wurden geerntet und im Hof gestapelt. Danach wurden die Kohlköpfe halbiert und mit ihren gelben Herzblättern nach oben zum Einsalzen in Bottiche gelegt. Die großen Kimjang-Festivitäten (Kimjang: Einlegen des Kimchi-Wintervorrats) begannen und erfüllten das ganze Haus mit dem pikanten Aroma der Gewürze. Kimchi steht nicht nur für die koreanische Küche an sich, sondern ist quasi auch ein Repräsentant der koreanischen Kultur. Dieses fermentierte Nahrungsmittel wurde von unseren Vorfahren entwickelt, um die Gemüseversorgung für die Wintermonate zu sichern. Reich an Milchsäurebakterien, entwickelt Kimchi während des Reifeprozesses eine Vielzahl distinktiver Aromen. Wird Baechu (Chinakohl) in Salz eingelegt, behält der Kohl seine knackige Frische, beginnt jedoch gleichzeitig zu gären, da die Enzyme im Salzwasser eine chemische Reaktion mit den im Kohl enthaltenen Ballaststoffen in Gang setzen. Die Würzmischung – eine Kombination aus verschiedenen pflanzlichen und tierischen Zutaten wie Rettichstifte, Knoblauch, Lauch, Chilipulver, fermentierte Meeresfrüchte, Tintenfisch und Pinienkerne – verwandelt Kimchi in ein perfektes, lange haltbares Nahrungsmittel. Das so zubereitete Kimchi wird traditionell in tönernen Vorratskrügen in der Erde gelagert und die Wintermonate über verzehrt. Heutzutage wird Kimchi jedoch oft in speziellen, hochmodernen Kimchi-Kühlschränken aufbewahrt. Da Kimchi je nach Region und Familienrezept unterschiedlich zubereitet wird, lassen sich an die 200 verschiedene Sorten unterscheiden. Rote Chilischoten wurden Mitte des 18. Jhs zum Würzen hinzugefügt und bei dem Chinakohl, der heutzutage als Hauptzutat verwendet wird, handelt es sich um eine veredelte Sorte, die im späten 19. Jh. nach Korea kam, wo Chinakohl bereits ab dem 15. Jh. angebaut wurde. Nach den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul gelangte Kimchi zu internationaler Bekanntheit. Der Export begann 2000 und im Dezember 2013 wurde die uralte Kimjang-Kultur des Herstellens und Teilens von Kimchi in die Liste des Immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen. Heutzutage kaufen viele vakuumverpacktes Kimchi im Supermarkt oder bestellen die Beilage online, anstatt sie selber einzulegen. Aber sobald die Kimjang-Zeit naht, vermisse ich immer noch die alten Zeiten, als ich den Kopf so weit in den Nacken legte, dass er gen Himmel zeigte, und darauf wartete, dass meine Tante mir einen Streifen frisch eingelegten Chinakohl-Kimchi in den Mund fallen ließ.
Von der Redaktion
Busan: Von 1950 bis 2020 Am 25. Juni 1950, als der Koreakrieg mit Nordkoreas Überschreiten des 38. Breitengrads begann, konnten die südkoreanischen Streitkräfte die Invasion nicht zurückschlagen. Die USA kamen zwar sofort zur Hilfe, aber die amerikanischen und südkoreanischen Truppen wurden wiederholt zurückgedrängt. Sie zogen sich nach Süden zurück, um sich dann von ihrer Position hinter dem Busan-Perimeter aus dem Feind entgegenzustellen. Der Busan-Perimeter war eine 230km lange, am südöstlichen Ende Südkoreas verlaufende Verteidigungslinie. Das sich dahinter erstreckende Gebiet, zu dem auch der Hafen von Busan gehörte, entsprach flächenmäßig rund einem Zehntel des südkoreanischen T10erritoriums. Der Fluss Nakdong-gang deckte sich in etwa mit der stärker gefährdeten westlichen Frontlinie. Dort fanden bis zur Landung der UNO-Streitkräfte in Incheon am 15. September über sechs Wochen lang blutige Kämpfe gegen die Koreanische Volksarmee Stalt. „Die Amphibienlandung in Incheon, die die entscheidende Wende brachte, wäre bei einem Zusammenbruch der Verteidigungslinie am Nakdong-gang nicht möglich gewesen. Ein Zusammenbruch dieser Linie hätte den Zusammenbruch der Nation bedeutet und die Republik Korea würde heute nicht existieren“, erinnert sich General Paik Sun-yup, der die Erste Division in Schlachten führte, in seinen Kriegsmemoiren Von Pusan bis Panmunjeom. Die Busan gewidmete SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe ist zeitlich abgestimmt auf den 2020 anstehenden 70. Jahrestag des Ausbruchs des Koreakriegs. Busans Rolle als provisorische Hauptstadt und „Rettungsleine der UNO-Truppen“ war ausschlaggebend für das Überleben der Nation in diesem verheerenden Konflikt. Über Hafen und Flugfelder der Stadt kamen überlebenswichtige Bedarfsgüter und Verstärkung an. Unsere Autoren, die alle entweder gebürtige Busaner sind oder schon lange in Busan leben, nehmen die LeserInnen mit auf eine Reise ins Busan von heute, eine Expedition in eine Stadt voller Energie und Phantasie. Die Erzählung ist ein bedacht ausgewählter Epilog, der einen kleinen Eindruck von Busan als Zufluchtsort für Schriftsteller und Künstler vermittelt. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Winter 2019
Published quarterly by THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea https://www.koreana.or.kr
Rote Berge Choi So Young 2019. Denim auf Leinwand, 46 × 46 cm.
VERLEGER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT COPY EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTORIN DESIGNER
Lee Geun Kim Seong-in Ahn In-kyoung Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young Anneliese Stern-Ko Kim Sam, Kim Sin Ji Geun-hwa, Ham So-yeon KIm Ji-yeon Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong
LAYOUT & DESIGN
Kim’s Communication Associates
44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZUNG
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Eom Yuseong
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84.
THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
GEDRUCKT WINTER 2019 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2019 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch, Russisch und Spanisch.
SPEZIAL
Busan: Hafen der Poesie und Passion 04
SPEZIAL 1
Busan: Auf den Wellen der Poesie Kim Soo-woo
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SPEZIAL 3
Jagalchi-Markt: Dialog aus Lärm und Stille Lee Chang-guy
SPEZIAL 2
Busan: Drehscheibe des internationalen Austausches
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SPEZIALE 5
Stadt des Films mit facettenreicher Infrastruktur Jeon Chan-il
SPEZIAL 4
Erinnerungen an die Kriegshauptstadt
Park Hwa-jin
Choi Weon-jun
42 INTERVIEW
54 KUNSTKRITIK
64 REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Die Natur in die Stadt bringen
Tragik der Geschichte, eingehüllt in Herzenswärme
Kriegswunden und Hoffnung
Lim Hee-yun
Ryu Tae-hyung
Choi Jae-bong
Die Mildawon-Zeiten Kim Dong-ni
48 HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
60 VERLIEBT IN KOREA
Kranichtanz: Getragen von der Würde eines Gelehrten
Eine „Grenzgängerin“
Kang Shin-jae
Choi Sung-jin
SPEZIAL 1
Busan: Hafen der Poesie und Passion
Busan
auf den Wellen der Poesie Busan, Koreas größte Hafenstadt und nach Seoul die zweitgrößte Stadt des Landes, ist ein beliebtes Touristenziel, das mit vielen Sehenswürdigkeiten und kulinarischen Köstlichkeiten lockt. Es ist aber auch eine Festivalstadt mit einem reichen Angebot an Kunst- und Kulturveranstaltungen. Der Charme von Busan liegt in seiner geographisch bedingten Offenheit und seiner über die Jahrhunderte gewachsenen Hybridität. Kim Soo-woo Dichterin
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Der Haeundae-Strand ist mit mehr als zehn Millionen Besuchern pro Jahr Koreas beliebtestes Ferienziel. Neben Sonnen und Surfen ziehen die Spazierwege am Strand, Festivals sowie Freizeit- und Unterhaltungseinrichtungen aller Art das ganze Jahr über Besucher an. Die noblen Apartmenthochhäuser in dieser Gegend Busans gehören zu den teuersten Wohnimmobilien des Landes. © Busan Tourism Organization
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Inseln Oryuk-do
Haeundae-Strand
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Suyeong Bay Yachting Center (Yachthafen)
UN-Gedenkfriedhof
Gwangan-BrĂźcke
Büchergasse
Gwangalli-Strand
Yeong-do
Busan Cinema Center
Busan-Hafenbrücke
Gamcheon Kulturdorf
Gedenkhalle der Provisorischen Hauptstadt
Chinatown
Jagalchi-Markt
© Ahn Hong-beom
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ie Küste von Busan, die über 300 km am südöstlichen Rand der Koreanischen Halbinsel entlang mäandriert, ist sowohl sanft als auch rauh. Die kobaltblauen Wasser des Ostmeers werden auf ihrem Weg in die südlichen Gewässer ruhiger. Schon seit alten Zeiten hat die Natur entlang dieser lyrischen Kurve ihre reichen Gaben ausgeschüttet und die Menschen angezogen. Diejenigen, die Leib und Seele den Küsten anvertrauten, wuchsen inspiriert von Sensibilität und Fantasie des Ozeans heran. Daher sind die Träume, die Busan evoziert, vielfältig, und die Stimmen, mit der die Stadt die Menschen anlockt, mannigfaltig.
Die verschiedenen Gesichter Busans
Busan hat sieben Strände mit kreideweißem Sand. Am östlichen Ende der Stadt liegt der Imnang-Badestrand und am westlichen Ende Songdo, der erste künstliche Badestrand des Landes, der vor über hundert Jahren eröffnet wurde. Dann gibt es noch den Dadaepo-Strand mit dem größten Musikbrunnen der Welt. Am überfülltesten ist immer der Haeundae-Strand, der oft als Landschaftskalendermotiv verwendet wird und dafür sorgt, dass das angrenzende Wohngebiet nach Seoul die höchsten Immobilienpreise Koreas aufweist. Den Besucher erwarten aber nicht nur Strände, sondern auch herrliche, von tiefblauen Meer umspülte Klippen wie Igidae, Taejongdae und Morundae. Diese in ihrer Ursprünglichkeit erhaltenen Felsen sind von Wäldern bedeckt, in denen seltene und edle Pflanzen und Tiere heimisch sind. Vom üppigen Grün aus betrachtet, erscheint das Meer noch tiefer und ist von noch eindringlicherer Schönheit. Eine gemächliche Schiffstour, bei der man das nächtliche Panorama der Stadt
Busan genießen kann, ist ein romantisches Interludium, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Entlang der Küste von Busan erstrecken sich rund 60 Flussmündungen ins Meer. Für Angler ist es ein besonderes Vergnügen, eine Stelle zu finden, an der sich der Horizont frei und weit vor den Augen ausdehnt. Und für Feinschmecker ist die Krönung einer Busan-Reise der Besuch des in der Stadtmitte gelegenen Haenyeo-Dorfes, wo die legendären, bejahrten Tiefseetaucherinnen ihren frisch aus dem Meer geholten Fang anbieten. Dann gibt es da noch die herrlichen Brücken, die den Ozean überspannen und eine bezaubernde Aussichtsfahrt versprechen. Wenn man über die Gwangan-Brücke, die Busan-Hafenbrücke und anschließend über die Namhang-Brücke fährt, erreicht man Songdo, das südliche Ende von Busan. Dort findet man den von geschäftigem Treiben nur so brummenden Busaner Hafen mit seinen Riesenkränen und Containern, der ein sicherer Ankerplatz und Zwischenstopp für ein- und auslaufende Frachtschiffe ist. Überquert man anschließend die Eulsukdo-Brücke, gelangt man ans westliche Ende von Busan.
Hybridität und Individualität
Das Meer spricht in den verschiedensten Bildern zu uns. Es schenkt uns eine Vorstellungskraft, die auf unsere jeweiligen Erfahrungen zugeschnitten ist. Wenn wir am Ufer stehen, sehen wir uns unseren ganz persönlichen Wellen gegenüber. Für junge Menschen verkörpert das Meer das Herzklopfen der Jugendzeit, für die Einsamen einen geliebten Menschen, für die Erschöpften die Quelle des Lebens, und die Zornigen lehrt es Toleranz. Für
1. Der 1986 fertiggestellte Yachthafen Suyeong Bay Yachting Center wurde 1988 eröffnet. Während der Asienspiele 1986 und 2002 sowie bei den Olympischen Sommerspielen 1988 fanden hier die Yachtwettbewerbe statt.
1 © Image Today
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2. Die am Eingang der Busan Bucht gelegenen Oryuk Inseln („Oryuk“ bedeutet „fünf, sechs“), die symbolische Wahrzeichen der Stadt sind, wurden zur „Landschaftlich reizvollen Stätte Nr. 24“ gekürt. Nur die Insel Deungdae- seom (Leuchtturm-Insel) ist bewohnt.
2 © Busan-Hafenbrücke (Foto: Kwon Jeong-uk)
Arbeiter bedeutet das Meer die Grundlage des Lebensunterhalts, für Schriftsteller eine Schatzkammer der Geschichten und für Schiffskapitäne eine Reise zu weit entfernten Orten. Für denjenigen, der Erkenntnis erlangt hat, steht es für Gehorsam gegenüber den Prinzipien der Natur und des Lebens, und für denjenigen, der noch zu lernen hat, für freudige Erwartung. Am Morgen ist das Meer vielleicht ein Mädchen mit im Wind flatterndem Haar und am Abend ein Großmütterchen mit faltigen Händen. Die noch erhaltenden neolithischen Überreste zeugen von Busans
langer Geschichte als Fischerstadt. Die Dörfer entlang der Küste bewahren bis heute die Jahrhunderte alten Bräuche schamanistischer Rituale und den Glauben an Magohalmi (Großmutter Mago), die Riesengöttin, die die Natur erschaffen hat, und an den Drachenkönig, den Herrscher der Unterwasserwelt. Als sich Busan zu einer Metropole entwickelte, verwandelten sich diese ruhigen Fischerdörfer in Lebensräume voller Menschen, die hier ihr täg-
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Jedes Mal, wenn sich Ströme von Menschen in die Stadt ergossen, sah sich Busan gezwungen, ihnen Nahrung und Unterkunft zu verschaffen. Und jedes Mal gab die Stadt alles, was sie zu geben hatte. lich Brot verdienen. Vor allem aber war Busan Schauplatz der dramatischen Ereignisse der modernen und zeitgenössischen Geschichte Koreas. Während der japanischen Besatzung (1910-1945) legten hier zwischen Korea und Japan pendelnden Fähren ab und mit dem Ausbruch des Koreakrieges 1950 wurde die Stadt zum tränenreichen Ziel für Flüchtlinge aus dem ganzen Land. Später nutzten in den Vietnamkrieg entsandte Truppen sowie unzählige Hochseefischerboote Busan als Abfahrts- und Anlegehafen. Jedes Mal, wenn sich Ströme von Menschen in die Stadt ergossen, sah sich Busan gezwungen, ihnen Nahrung und Unterkunft zu verschaffen. Und jedes Mal gab die Stadt alles, was sie zu geben hatte. So übte sich Busan im Laufe seiner langen Geschichte in Offenheit und Toleranz. Menschen aus der Fremde wurden aufgenommen, sodass sich unterschiedliche Kulturen vermischten, was Busan zu einem Schmelztiegel der Kulturen machte. Die daraus resultierende Hybridität ist wohl der wahre „Geist von Busan“. Hybridität und Toleranz sind zwei Seiten einer Medaille. Die Fähigkeit, stillschweigend mit all den aufreibenden historischen Ereignissen fertig zu werden, kommt von Busans Großzügigkeit. Diese Großzügigkeit war die Kraft, die das „Minjung“ (die einfachen Leute als Graswurzeln einer Gesellschaft) von Busan herausbilden ließ, weshalb die Minjung-Volkskultur ausgeprägt entwickelt ist. Die dynamische und kreative Natur des Busaner Minjung-Volks treibt die Populärkultur der Stadt an, zu der neben traditioneller Volkskunst auch Popmusik, Filme und Festivals zählen.
Berghang-Träume
Die am Hang gelegenen Viertel sind eine weitere lyrische Facette von Busan. Nach dem Koreakrieg und der anschließenden Industrialisierung wuchs die Stadt und die Armen bauten ihre Hütten hoch oben auf den Hügeln. Unterhalb der einander überlappenden Schichten von Flachdächern mit Wassertanks erscheint ein anderes Busan. In einem Bergdorfviertel von Yeong-do geboren und aufgewachsen, blickte ich als Kind durch die gesprungene Fensterscheibe auf das nächtliche Meer von Busan. Eines Nachts sah ich ein riesiges Schiff vor Anker liegen. Wie herrlich das aus ihm strömende Licht war, das sich wie goldene und silberne Fäden über das Wasser verstreute!
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Wenn es abgelegt hatte, lief kurz darauf ein anderes ein. So lernte ich die Tiefe und Breite des Lebens kennen. Die Vorstellungskraft, die das Meer mich entwickeln ließ, machte es mir möglich, so zu leben, wie ich heute lebe: als Dichterin und Wandererin, die mit dem Rucksack auf dem Rücken durch die Welt streift.
Dynamische Kulturstadt
In Busan ist das Meer nicht etwas, das zu denjenigen kommt, die darauf warten, es ist vielmehr ein Tor der Kreativität, auf das man zugehen und das man öffnen muss. Inmitten des Küstenkolorits, zu dem sich das blaue Tor öffnet, erwartet den Besucher ein reichhaltiges Angebot an Kulturfestivals wie das Busan International Film Festival, die
Yeong-do, eine 14,15km² große Insel vor der Südküste Busans, beherbergte einst Flüchtlinge des Koreaskriegs. 2011 wurde im Zuge von Renovierungsarbeiten das Huinyeoul Maeul (Weißes Stromschnellendorf) geschaffen, das mittlerweile zur bekannten Kulisse für Filme und TV-Serien avanciert ist. Von einem drei Meter hohen Uferdamm aus ist die japanische Insel Tsushima zu sehen. © Busan-Hafenbrücke (Foto: Kwon Gi-hak)
Busan Biennale, das Sea Art Festival, das Busan International Rock Festival, das Busan International Performing Arts Festival oder das International Sea Literature Festival. Unter dieser wachsenden Zahl von Festivals sind mittlerweile auch einige international bekannt. Daneben gibt es noch verschiedene Festivals mit stark regionalem Flair. Das Busan Jagalchi Festival erinnert an die lange Verbindung der Stadt mit dem, was ihre Lebensgrundlage darstellt. Teil dieses Festivals ist der Ritus Yongsinje, bei dem der Drachenkönig Yongsin um seinen Schutz für die Reise übers Meer und eine reichliche Ernte gebeten wird, sowie der Trostritus für die Seelen der Fische. Beim Haeundae Sand Festival formen Künstler Sandskulpturen aller Art. Und jedes Jahr im Herbst bestickt das Busan Feuerwerk Festival den Nachthimmel mit fantastischen Farben und Lichtern. Auf dem Sardellenfestival tobt das Leben wie die tosenden Wellen im Meer. Das Busan Sea Festival wird gleichzeitig an fünf Stränden der Stadt eröffnet. Und unzählige andere Feste mit maritimen Themen bieten das
ganze Jahr über geselliges Beisammensein und Romantik. Auf der anderen Seite versprühen die B-Boy (Breakdance) Wettbewerbe im Yongdusan-Park das leidenschaftliche Temperament von Busan. Es war dieses den Geist der Stadt prägende Temperament, das die Kultur der Stadt zu einer Kraft des Minjung-Volkes entwickelt hat. Kunst und Kultur abseits des Mainstream wie z. B. Indie-Kunst und Kunstkritik wirken als Quellen der kreativen Kraft, die die Identität von Busan festigt. All das geschieht vor der Kulisse der schimmernden Wellen. Des Wassers Glitzerlichter umarmen die sich ständig und unauffällig kräuselnden Wellen, verschmelzen zu einem Gedicht, das im tiefen Ton warm und kraftvoll erklingt.
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Herzerwärmende Landschaften auf Denim Kim Soo-woo Dichterin
C 1 © Yonhap News Agency
hoi So Young ist eine der bedeutendsten Kunst-
dachte ich mir, dass es möglich sein müsste, mittels
schaf fenden, die die landschaftlichen und
des Materials Denim mit der Welt zu kommunizie-
ästhetischen Charakteristika von Busan originär
ren. Ich drücke auch gerne naturnahe Themen wie
einfängt. Unter ihren Händen wird eine verblichene
Meer, Berge und Häuser mit Stoffen, die einen hand-
Bluejeans zum Material für ihr nächstes Projekt,
gefertigten Touch haben, aus. In meinem zweiten
bei dem sie Meer, Berge und Straßen von Busan zu
Studienjahr habe ich zum ersten Mal mit Denim von
einer herzerwärmenden Landschaft auf Denim zu-
einer abgewetzten Jeans als Material experimentiert
sammenfügt.
und bin dann allmählich zu größeren Arbeiten übergegangen.
Warum arbeiten Sie mit Denim? Jeans sehen unabhängig von Alter oder Geschlecht an jedem gut aus. Über die Kluft zwischen Arm und
Merkmal von Busan?
Reich hinaus tragen viele Menschen in jedem Land
Das Meer natürlich. Ich liebe meine Heimatstadt. Das
der Welt und an jedem Ort Jeans. Natürlich gibt es
Tolle an Busan ist, dass man immer noch irgendwo-
auch Jeans von Luxusmarken, aber allgemein gese-
hin gehen kann, selbst wenn man den ganzen Tag
hen gibt es bei Jeans keine Klassenunterschiede. Also
herumläuft. Berge, Flüsse und Meer: Alle heißen
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Was ist aus Ihrer Sicht das herausragendste
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einen mit offenen Armen willkommen. Als Kind habe ich am Haeundae-Strand gespielt und schon damals das unendliche Blau des Horizonts geliebt. Meine Arbeiten verlangen zwar akribische Detailtreue und sind recht kompliziert, aber das fertige Werk soll rund, bescheiden und voller Gefühle sein. Genau wie das Meer, das ich liebe. Nach welchem Wert sollten die Menschen heute am meisten streben? Ich denke, man muss sich selbst wahren und bewahren. Das heißt, wir müssen zu unserem wahren Ich finden. Auch wenn man für andere unbedeutend und winzig erscheint, ist es wichtig, dass man seinem Wesen treu bleibt. Wer sich selbst bewahrt, bewahrt auch die anderen. Wenn jemand seine eigene Welt besitzt, erscheint ein Leuchten auf seinem Alltagsgesicht. Ich freue mich, wenn ich denke: „Ich kann das! Ich brauche es nur in Angriff zu nehmen!“ Erfolge – sei es nun der Beginn eines Studiums oder die Eröffnung einer Einzelausstellung – das sind Dinge, die die eigene Welt ausmachen. Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus? Ich denke daran, einige Zeit zu reisen. Danach möchte ich durch Yoga, Meditation, vegetarische Ernährung und Wandern eine höhere Lebensqualität erreichen. Materielle Dinge und Berühmtwerden sind für mich nicht so wichtig. Ich suche langsam und ganz bewusst nach Wegen, wie ich mir selbst treu bleiben kann und will mich nicht von Erfolg oder Ruhm beirren lassen.
1. Choi So Young, die Denim Malfarben vorzieht, hält ihre Heimatstadt Busan auf der Leinwand fest. Vor über zehn Jahren, als sie in ihren 20ern war, wurde eine ihrer Denim-Collagen für mehrere hunderttausend Dollar bei Christie’s in Hongkong versteigert. 2. Opening the Skies, 2019. Denim auf Leinwand. 73 × 53,3 cm. 3. Food Alley II, 2014. Denim auf Leinwand. 116,5 × 91 cm. 4. Yeongdo Bridge II, 2013. Denim auf Leinwand. 160 × 81,5 cm. 4
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13
S
ay sue Me ist eine Band, die Surfrock macht. Bei einem
Welche Musiker waren Rollenvorbilder und für wen?
Glas Bier beschlossen 2012 vier Musiker – Choi Su-mi
Da brauchen wir gar nicht erst alle einzeln zu antworten.
(Gesang und Rhythmusgitarre), Kim Byung-kyu (Solo-Gitar-
Wir alle wurden von den US-Indie-Rockbands Pavement
re), Ha Jae-young (Bass) und Kang Se-min (Schlagzeug) –
und Yo La Tengo beeinflusst. Vor kurzem haben wir Yo La
eine Band zu gründen. Vom Üben in einem Musikstudio in
Tengo kennengelernt und bewundern sie seitdem mehr
der Nähe des Gwangalli-Strands über Auftritte in Busaner
denn je.
Bars haben sie es mittlerweile auf die Weltbühne geschafft. Während der Arbeit an ihrem zweiten Album erlag Schlag-
Was sind die Stärken der Busaner Indie-Musikszene
zeuger Kang Se-min den Folgen eines Unfalls. Am Schlag-
verglichen mit anderen Regionen?
zeug ist derzeit Lim Sung-wan.
Sie hat einen unverwechselbar originären Charakter. Die Bands hier kümmern sich nicht um Trends. Wir spielen ein-
Welchen Einfluss hatte der Gwangalli-Strand auf die Mu-
fach, was uns gefällt, ohne darüber nachzudenken, welche
sik von Say Sue Me?
Art von Musik andere Bands machen oder was gerade in
Beim Komponieren oder Aufführen von Musik kann es vor-
der Indie-Szene angesagt ist.
kommen, dass man plötzlich an eine Wand stößt. Dann machen wir einen Spaziergang am Meer oder legen bei Hühn-
Wie haben Sie sich gefühlt, als Elton John Ihren Song
chen und Bier eine Pause am Strand ein. Es gilt wohl für jede
Old Town im Radio vorgestellt hat?
Art von Arbeit, aber gerade bei schöpferischen Arbeiten ist
Zunächst war uns gar nicht klar, was für eine große Sache
das Wichtigste, seine Gefühle herauszulassen, und in dieser
das war. Erst nachdem wir uns die Sendung angehört hat-
Hinsicht haben wir wohl wirklich großes Glück.
ten, überkam uns Stolz und Glück.
Say Sue Me dankt Elton John Ryu Tae-hyung Musikkolumnist
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2 © Yonhap News Agency
Wie entstehen Ihre Songs?
© Hung Shu Chen
gab es deutliche Unterschiede zur koreanischen Musik-
Zuerst macht Byung-kyu eine Demoaufnahme, die sich
szene. Wir dachten, wie schön es doch wäre, wenn sich die
jeder anhört. Für die Songs, an denen wir weiterarbeiten
koreanische Konzertkultur entsprechend ankurbeln ließe
wollen, schreibt Su-mi dann die Texte. Danach machen wir
und mehr junge Fans zusammen mit ihren Eltern kommen
eine Probeaufnahme und arbeiten das Arrangement aus,
würden.
bis wir das Gefühl haben, dass alles stimmt. Welche Zukunftspläne haben Sie? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie auf Einladung im Ausland
Unser neues Album ist im Oktober erschienen. Es ist eine
spielen?
Doppel-Single mit den Titeln Good People und Your Book,
In den meisten Städten, in denen wir aufgetreten sind,
die wir in verschiedenen Städten spielen werden. Vom 3.
stellten wir fest, dass die Leute unabhängig vom Wochen-
bis 13. Dezember werden wir in Toronto und danach in
tag zu den Konzerten kamen und dass im Publikum alle
Chicago, San Francisco und Seattle auftreten. Nächstes Jahr
Generationen vertreten waren. In diesen beiden Punkten
wollen wir unser drittes reguläres Album veröffentlichen.
1. Say Sue Me bei einem Auftritt auf dem SXSW, einem der größten Musikfestivals der Welt, im März 2018 im US-Bundesstaat Texas. 2. Sängerin und Rhythmusgitarristin Choi Su-mi auf der Bühne beim Megaport Musikfestival im März 2019 in Kaohsiung, Taiwan. 3. Say Sue Mes Aufnahmen (von links): erstes Studioalbum We’ve Sobered Up (2014), EP Big Summer Night (2015), zweites Studioalbum Where We Were Together (2018), Double A-side Just Joking Around / B Lover (2018), EP Christmas, It’s Not A Biggie (2018), und Double A-side Your Book & Good People (2019).
3 © Electric Muse
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15
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Busan: Hafen der Poesie und Passion
Busan
Drehscheibe des internationalen Austausches Es war Busan, von wo aus die „Joseon Tongsinsa“, die im 17. Jh. im Nachfeld der japanischen Imjinwaeran-Invasionen (1592-1598) ins Leben gerufenen diplomatischen Delegationen des Joseon-Reichs (1392-1910) aufbrachen, um den Frieden zwischen Joseon und Japan zu befördern. Busans historische Bedeutung als lebendiger Hub des internationalen Austauschs ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Park Hwa-jin Professorin für Geschichtswissenschaft, Pukyong University
D
er Hafen Busan, Koreas größtes Tor für Im- und Exporte, hat über seine Bedeutung für die Wirtschaft der Region hinaus entsprechend großen Einfluss auf die Wirtschaft des ganzen Landes. Seine günstige Lage am Ende des eurasischen Kontinents und gleich gegenüber Japan auf der anderen Seite der Koreastraße birgt ein enormes Potential als Logistik- und Distributionshub Ostasiens. Busan wickelt mehr als 60% des koreanischen Im- und Exports ab. Nach Angaben der Busaner Hafenbehörde belief sich die Containerumschlagleistung 2018 auf 21,663 Mio. TEU, womit Busan im welt-
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weiten Frachtumschlag zwei Jahre in Folge auf Platz 6 rangiert. Busans Geschichte des internationalen Austausches über Seewege reicht bis in die Antike zurück. Dadaepo, ein Küstenstädtchen, das heute zu Busan gehört, wird in der aus dem 8. Jh. datierenden Chronik Nihonshoki, den ältesten historischen Aufzeichnungen Japans, als „Tadairagen“ oder „Tatara“ bezeichnet, was darauf hindeutet, dass es bereits im frühen Mittelalter eine zentrale Rolle im
Busan, der erste, unter dem JapanischKoreanischen Freundschaftsvertrag von 1876 (auch als „Vertrag von Ganghwa-do“ bekannt) in der Joseon-Zeit eröffnete Hafen, liegt heute in puncto Frachtumschlag weltweit auf Platz 6. Die 2014 fertiggestellte Busan-Hafenbrücke erstreckt sich 3.368 m über das Hafenareal. © Busan-Hafenbrücke (Foto: Jeong Eul-ho)
Handels- und Kulturaustausch der beiden Nachbarreiche spielte. „Tatara“ bezeichnet zudem den traditionellen japanischen Schmelzofen für Eisen und Stahl und steht daher auch in Verbindung mit der Einführung der Eisenverarbeitungstechnologie.
Handelszentrum Nordostasiens
Das Samgukyusa (Memorabilia der Drei Königreiche), eine Sammlung von Legenden und historischen Berichten aus dem 13. Jh., beschreibt die
Region Busan bereits als Ort des frühen internationalen Seeaustausches. Der Legende nach hieß König Suro, Gründer von Geumgwan Gaya (Goldkronen-Gaya, 43-532), in der Nähe des heutigen Busan Heo Hwang-ok, seine zukünftige Gemahlin, willkommen, von der man annimmt, dass sie eine Prinzessin aus einem indischen Königreich namens „Ayuta“ war. Die Legende von Königin Heo Hwang-ok wird heute allgemein als historische Tatsache anerkannt: Historiker verweisen auf das Zwillingsfischmuster auf dem Tor zum Grabmal von König Suro in Gimhae als Beweis für die indische Herkunft der Königin. Wie die Anzahl der Ausgrabungsstätten und Relikte von Gaya in Busan und der Provinz Gyeongsangnam-do zeigt, beschränkten sich die Überseebeziehungen Gayas jedoch nicht nur auf Indien. Nach dem Zerfall der Gaya-Konföderation im frühen 5. Jh. gingen zahlreiche Gaya-Bewohner nach Japan. Dort trugen sie durch die Einführung von Fertigungstechniken zur Herstellung von Eisenwaren sowie der dunkelgrauen, unglasierten Sue-Keramik zur Entwicklung der alten japanischen Zivilisation bei. Wie der Name Gimhae (wörtlich: „Meer aus Eisen“) schon andeutet, war das Kerngebiet der Frühen Gaya-Konföderation reich an Eisenerz. Die verbündeten Gaya-Reiche, die an den schönen Ufern des Ostchinesischen Meers im Süden und des Flusses Nakdong-gang lagen, entwickelten sich dank ihrer reichen Eisenerzvorkommen zu einem wichtigen Handelszentrum in Nordostasien. Im Zuge der Diversifizierung der Konstellationen in Nordostasien nach dem Zusammenbruch der chinesischen Han-Dynastie (202 v. Chr.-220 n. Chr.) gewann Gaya als Zwischenstopp zwischen dem japanischen Archipel und dem chinesischen Kontinent an Bedeutung. Außerdem lag Gaya an einer Haupthandelsroute, wo sich die Seewege aus verschiedenen asiatischen Ländern kreuzten, sodass es die Nachbarreiche mit Eisen versorgen konnte. Die japanische Chronik Nihonshoki berichtet, dass Baekje-König Geunchogo Mitte des 4. Jhs ein Sortiment von Waren nach Japan sandte, zu dem auch 40 Stangen Eisen gehörten. Diese Stangen aus flach geklopftem Eisenerz waren ein wichtiges Grundmaterial für die Herstellung aller Arten von Eisenwaren. Ähnliche Eisenstücke wurden in Baekje- und Silla-Gräbern, aber auch in antiken Gräbern in ganz Japan gefunden. Insbesondere mehrere Dutzend, in den alten Gaya-Regionen ausgegrabene Eisenstangen weisen darauf hin, dass sie nicht nur als Grabbeigaben verwendet wurden, sondern auch als Zahlungsmittel sowie Material für Eisenwaren dienten.
Chinatown und das Japanische Viertel
Busans Chinatown entstand 1884, als das chinesische Qing-Reich (1644-1911) dort ein Konsulat eröffnete. Es befindet sich bis heute in der Straße gegenüber dem Hauptbahnhof. Die Straßen sind gesäumt von chinesischen Restaurants, Lebensmittelgeschäften, Wechselstuben usw., allesamt betrieben von chinesischstämmigen Koreanern. Es
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1 © Ahn Hong-beom
gibt auch Schulen für die Kinder. Diese am südlichsten gelegene Chinatown in Korea wurde von Chinesen gegründet, die während der späten Joseon-Zeit im 17. und 18. Jh. ankamen, um die Landgewinnungsarbeiten für den Hafen und den Bau des chinesischen Seezolldienstes voranzutreiben. Die heutigen Chinatown-Bewohner sind Nachkommen der dritten und vierten Generation. In der Anfangszeit erhielten die chinesischen Siedler Unterstützung aus ihrem Heimatland. Der Anteil der Chinesen, die nach dem Koreakrieg nach Busan zogen, ist auch nicht gering. 1953 kam es zu großen Veränderungen in Chinatown, als der Busaner Bahnhof durch einen Großbrand zerstört wurde und die Bordelle aus den Nachbarvierteln in die Gegend zogen. Sie wurden aus dem Viertel verdrängt, als Korea und China 1992 diplomatische Beziehungen aufnahmen und Busan und Shanghai ein Jahr darauf Partnerstädte wurden. Zur Feier dieses besonderen Anlasses wurde der Bezirk „Shanghai-Straße“ getauft und seit 2004 findet hier das Busan Chinatown Kulturfestival statt. Im Joseon-Reich gab es in Busan ein als „Waeg-
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wan“ bekanntes japanisches Viertel. Um die japanischen Piraten, die schon seit Ende des 14. Jhs verstärkt ihr Unwesen trieben, unter Kontrolle zu bringen und mit Blick auf Diplomatie und Handel mit Japan baute die Joseon-Regierung für die Japaner Gebäude in der Nähe offener Häfen. Solche „Waegwan“ wurden in drei Häfen eingerichtet: 1407 in den Häfen Busanpo und Jepo in Jinhae und 1426 im Hafen Yeompo in Ulsan. Sie waren als „Sampo Waegwan“ (Drei Waegwan-Häfen) bekannt. Als es jedoch 1544 in der Region Tongyeong zu Plünderungen durch die Japaner kam, wurden die Japanischen Viertel mit Ausnahme des Viertels in Busan abgeschafft. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Joseon und Japan, die nach den beiden Invasionen Japans (1592 und 1597) abgebrochen wurden, wurden im Zuge der „Diplomatie der guten Nachbarschaft“ von Tokugawa Ieyasu, des ersten Shogun des Edo Bakufu (letztes feudales Militär-Shogunat: 1600-1886), wiederhergestellt. Daraufhin wurden die Japanischen Viertel an einigen Stellen entlang der Südostküste zum Teil wiederaufgebaut, wobei das Waegwan in Busan rund 500 japanische Männer beherbergte. Ein weiteres in der Region Choryang, das Ende des 17. Jhs entstand, umfasste ca. 330.000 m2 mit Einzelhäusern, Unterkünften für Gesandte und Handelseinrichtungen. Die Gebäude wurden von der Joseon-Regierung zur Verfügung gestellt, die Innenräume wurden im japanischen Stil mit Tatami-Matten ausgelegt. Trotz Kontrollstellen, die ein freies Kommen und Gehen der Bewohner einschränkten, war es den Japanern erlaubt, auf
koreanischem Territorium ein kleines Dorf zu errichten, wo sie sich – traditionell gekleidet und mit einem japanischen Schwert an der Hüfte – bewegen konnten.
Ausgangspunkt des kulturellen Austausches
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3 © Ausflug an einem schönen Tag, Naver Blog
1. Busans Chinatown, das sich entlang der dem Hauptbahnhof gegenüber liegenden Nebenstraßen erstreckt, begann sich im Jahr 1884 zu entwickeln. Diese beliebte Touristenattraktion ist bekannt für ihre interessanten Wandmalereien, die thematisch auf Charakteren und Erzählungen aus der Sanguo yanyi (Geschichte der Drei Reiche) basieren. In diesem Viertel leben viele ethnische Chinesen. 2. Die „Texas Street“ am Eingang zu Chinatown ist gesäumt von Souvenirläden und Nachtclubs für ausländische Seeleute. Wenn Ozeanfrachter im Hafen einlaufen, drängen sich die Matrosen in den Straßen. 3. Eine steinerne Markierung weist darauf hin, dass sich in Dumopo ein „Waegwan“ (Japanisches Viertel) befand. Das 1607 angelegte Japanische Viertel in Dumopo bestand über 70 Jahre, bevor es schließlich geschlossen und durch ein neues in Choryang ersetzt wurde.
Seit alten Zeiten gab es immer wieder bewaffnete Konflikte zwischen Korea und Japan. Aber während der rund 260 Jahre des Edo Bakufu unterhielten das Shogunat und das späte Joseon-Reich gutnachbarliche Beziehungen, die durch die als „Joseon Tongsinsa“ bekannten diplomatischen Delegationen des Joseon-Reichs auf den Weg gebracht worden waren. Nach der Wiederherstellung der bilateralen Beziehungen im Jahr 1607 schickte Joseon zwölf Mal Freundschaftsdelegationen nach Japan. 2014 starteten zwei NGOs – die Kulturstiftung Busan und das japanische Liaison Council of All Places Associated with Chosen Tsushinshi (Liaison-Rat für alle mit Joseon Tongsinsa in Verbindung stehenden Orte) – gemeinsame Anstrengungen zur Kompilation der Documents on Joseon Tongsinsa/Chosen Tsushinshi: The History of Peace Building and Cultural Exchanges between Korea and Japan from the 17th to 19th Century, die 2017 schließlich ins UNESCO-Weltdokumentenregister eingetragen wurden. Es handelt sich um 63 Dokumente (124 Schriftstücke und Bilder) aus Korea und 48 (209 Schriftstücke und Bilder) aus Japan. Diese Registrierung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil ein Dokumentenerbe aus Busan erstmals ins UNESCO-Archiv aufgenommen wurde und es sich zudem um den ersten gemeinsamen Eintrag von Korea und Japan in die UNESCO-Liste handelt – möglich gemacht durch die Zusammenarbeit von NGOs aus beiden Ländern. Jede der Delegationen nach Japan umfasste rund 400 bis 500 Mitglieder, darunter Abgesandte, Assistenten, Kopisten, Militäroffiziere und Musiker. Wenn die Delegation nach ihrem Aufbruch in Seoul Busan erreichte, verweilte sie erst einmal in der Hafenstadt, um sich auf ihre diplomatische Mission vorzubereiten und auf günstiges Wetter für die Überfahrt zu warten. Denn die Unbilden von Wind und Wetter machten die Koreastraße oft schwer passierbar. Sobald sich günstiges Segelwetter ankündigte, hielt sie im im Yeonggadae-Pavillon Opferriten für die Meeresgötter ab und lief dann im nahe gelegenen Hafen mit sechs Schiffen aus.
Friedensmissionen
Nach ihrer Landung auf der Insel Tsushima setzte die Delegation ihre 53 Stationen umfassende Reise nach Edo (das heutige Tokio) fort. Um die koreanischen Missionen gebührend willkommen zu heißen, schulterte Japan enorme Ausgaben, so wurden z.B. für die achte Mission im Jahr 1711 338.500 Arbeiter und 77.645 Pferde mobilisiert – eine Prozession von immensem Ausmaß, selbst nach heutigen Maßstäben. Für die Japaner, die zu dieser Zeit dem Westen gegenüber noch ihre
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isolationistische Politik der geschlossenen Türen verfolgten, war der Besuch der koreanischen Gesandtschaft stets ein willkommener Anlass zum Feiern, der mit entsprechend großartigen Begrüßungsevents einherging. Die Missionen fanden nicht nur bei den Regierungsbeamten große Beachtung, sondern auch bei Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, darunter Soldaten, gemeine Bürger, Kaufleute und Bauern. Die Japaner hielten es für eine Ehre, koreanische Gelehrte und Künstler kennenzulernen, die sie dann in ihren Unterkünften aufsuchten, um sich Gedichtenaustausch, Kritiken, Schriften, Malereien und Kalligraphien zu erbitten. Einige Delegationsmitglieder waren so damit beschäftigt, allen Wünschen der Gastgeber nachzukommen, dass sie kaum Zeit zum Schlafen fanden. Dokumente und Malereien, die diese einzigartigen Szenen beschreiben, sind sowohl in Korea als auch in Japan an vielen Orten erhalten. Japanische Künstler aus der Edo-Zeit nahmen die Kultur Joseons mit erstaunlich großem Interesse auf, was als treibender Faktor zur Belebung der japanischen Kunst und Kultur der Zeit erachtet wird. In Japan wurden über hundert Bücher, die diese Austauschaktivitäten in Form von Fragen und Antworten festhielten, veröffentlicht. Gelehrte und Beamte aus Joseon legten nach ihrer Rückkehr ebenfalls zahlreiche Berichte vor, die als wertvolles Material für die Forschung über das Japan von damals dienen.
Brücken zwischen Menschen schlagen Alok Kumar Roy Professor, Busan University
of Foreign Studies
A
m 25. und 26. November 2019, als Busan zum dritten
Mal seit 2009 den Sondergipfel des Verbandes Süd-
ostasiatischer Nationen (ASEAN) und der Republik Korea ausrichtete, herrschte reges Treiben in der Stadt. Das Treffen anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Dialogpartnerschaft war Auftakt für den ersten Mekong-ROK-Gipfel am nächsten Tag. Die Gespräche über Beförderung von Frieden und Prosperität machten noch einmal bewusst, dass der Dialog zwischen Staatsoberhäuptern auch die Kulturdiplomatie, in der „1+1“ mehr als 2 ist, voranbringt.
Austausch im Privatsektor Das ASEAN Culture House (ACH) in Busan, das Imagination und Interesse in Bezug auf die Kultur von einst weit entfernt zu scheinenden Orten stimuliert, steht für den „Mensch-zu-Mensch-Geist“ der Stadt. Sei es durch die Prä-
Busan aus Saro seunggu do (Seeroute der malerischen Schönheit) von Yi Seong-rin (1718–1777), 1748, Tusche und leichte Farben auf Papier, 35,2 × 70.3 cm. Yi Seong-rin, ein Künstler des Königlichen Hofamtes für Malerei (Dohwaseo), dokumentierte die lange Reise der Joseon-Abgesandten von Busan nach Edo in Japan. Das 30 Szenen umfassende Gemälde ist das einzige in Korea erhaltene Werk, das die Gesandtschaft der Joseon-Mission von 1748 darstellt.
© National Museum of Korea
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ASEAN Crafts: From Heritage to the Contemporary (Asiatisches Kunsthandwerk: von traditioneller zu zeitgenössischer Kunst), eine Sonderausstellung anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Dialogpartnerschaft zwischen der Republik Korea und den ASEANStaaten, zieht Besucher ins ASEAN Haus der Kulturen in Busan. Die Ausstellung ist bis zum 15. Januar 2020 zu sehen.
sentation von traditioneller Kleidung und Küche südostasiatischer
die Humankapitalentwicklung in der polytechnischen Bildung und im
Staaten oder durch das Angebot von Kursen zu Sprache und Kultur:
Gesundheitswesen zu erkunden. Für 2020 plant das CPSC ein ähnli-
Die vielfältigen Programme des ACH bringen von unterster Ebene an
ches Projekt für den Bereich Finanzen und Bankwesen. Allein im Jahr
bedeutende und lebendige Dialoge auf den Weg. Die Beziehungen des
2019 ermöglichte Busan Schulungen in den Bereichen Smart Farming,
ACH zu diversen akademischen und berufsbezogenen Einrichtungen
Meeres- und Fischereientwicklung, Herz-Lungen-Reanimation (nur für
unter den zehn ASEAN-Staaten haben den Austausch im Privatsektor
Laos) und Straßensicherheit (nur für Ecuador).
signifikant erhöht. Eine weitere Herausforderung für Busan als Global City ist die Integ-
Global sichtbar werden
ration seiner ausländischen Bewohner. Heute bereichern 65.000 Men-
In den vergangenen vier Jahren hat die Stadt Busan die Citizen’s Eura-
schen aus anderen Ländern die Stadt, darunter 12.000 Studierende.
sia Expedition geleitet, eine Kulturdelegation, die sich zum Ziel gesetzt
Den stärksten Anteil stellen Menschen aus den ASEAN-Staaten. Die In-
hat, das Bewusstsein über das wirtschaftliche Potential der Stadt und
tegration der ausländischen Einwohner gestaltet sich einfacher, wenn
ihre kulturelle Nähe zu Eurasien zu erhöhen. Die Expedition 2019, die
koreanische Bürger aktiv miteinbezogen werden. Das ACH übernimmt
die Delegation in insgesamt zehn Städte in den fünf Ländern China,
eine führende Rolle dabei, ausländische Einwohner und Studierende
Mongolei, Russland, Polen und Deutschland führte, hatte zwei zusätz-
in das Bemühen um ein für beide Seiten bereicherndes Miteinander
liche Aufgaben: anlässlich des 100. Jahrestags ihrer Gründung den
einzubinden.
historischen Spuren der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März zu
Das Streben nach städtischer Diplomatie ist für jede Weltstadt ein
folgen und anhand des Falls der Berliner Mauer 1989 etwas über die
wichtiger Agendapunkt. Die Busan Metropolitan City und die Busan
komplexe Aufgabe der Wiedervereinigung zu lernen.
Foundation for International Cooperation (BFIC) sind bemüht, dieser
Das von der BFIC betriebene Global Center unterstützt Einwanderer
Aufgabe mit einer weltoffenen Geisteshaltung nachzukommen, in-
und Expats durch das Angebot von Informationen, Dolmetsch- und
dem sie Brücken schlagen und Regionen durch menschliche Netzwer-
Übersetzungsdiensten (in 13 Sprachen) und Fachberatungen in Bezug
ke miteinander verbinden. Heute weiten sie ihre Aktivitäten über die
auf z.B. Gesetze und Vorschriften, Einwanderung, Arbeit, internationale
Kooperation mit Partnerstädten hinaus auf neue Bereiche aus, um die
Eheschließungen und Familienbeziehungen, Steuerangelegenheiten usw.
Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt zu verstärken.
In einer turbulenten Zeit, in der Globalisierung oft als Herausforde-
In den letzten Jahren hat sich Busans globale Präsenz durch seine
rung betrachtet wird, bieten die Erfahrungen von Busan neue Pers-
Kompetenz aufbauenden Schulungsprogramme deutlich erhöht. 2019
pektiven. Die Stadt hat auf vielfältige Weise unsere Wahrnehmung
hat die zwischenstaatliche Organisation Colombo Plan Staff College
von „Distanz“ zwischen Ländern und Kulturen verändert und ist leben-
(CPSC) eine 20-köpfige, aus medizinischen und technischen Fach-
diges Beispiel für eine Offenheit und innovative Planung, die Brücken
kräften bestehende Delegation aus Nepal nach Busan geschickt, um
über die Trennung schlagen können.
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SPEZIAL 3
Busan: Hafen der Poesie und Passion
Jagalchi-Markt
Dialog aus Lärm und Stille 22 KOREANA Winter 2019
Der Jagalchi-Markt in Busan, Koreas größter traditioneller Fischmarkt, ist ein Hotspot für Bürger und Touristen. Das Viertel Nampo-dong, in dem sich der Markt befindet, war einst ein malerisches Fischerdorf, dessen Ufer mit faustgroßen Kieselsteinen (Jagal) bedeckt waren, denen der Markt seinen Namen verdankt. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
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Der südlich vom Hafen Busan gelegene JagalchiMarkt befindet sich in einem Gebäude, auf dem Möwen ihre weißen Schwingen ausbreiten. Mit einer Fläche von 4.841m² umfasst es rund 700 Verkaufsstände im Innen- und Außenbereich. Im Erdgeschoss werden die frischesten Meeresprodukte verkauft, im ersten Stock gibt es Restaurants. Der Markt geht auf nicht lizensierte Stände zurück, die entlang der mit Kieseln bedeckten Ufer aufgebaut wurden. Die Straßenhändler brachten das Startkapital für den Markt auf, der 1972 offiziell seine Tore öffnete.
n einem Interview mit einer koreanischen Tageszeitung erklärte Jacob Fabricius, der vor kurzem zum Künstlerischen Leiter der Busan Biennale 2020 ernannt wurde, dass er den den städtischen Raum von Busan als solchen in eine Freiluftgalerie verwandeln möchte. Herzstück sei der Jagalchi-Markt. Seine Begründung: „Die pulsierende Energie des Marktes, der Hafen mit seinen ein- und auslaufenden Riesenfrachtern, die schmalen Gassen an den Hängen und die Händler, die fleißig die Fische filetieren und verkaufen, sind so interessant zu beobachten wie das Treiben hinter den Kulissen eines Theaters.“ Das Organisationskomitee der Biennale gab Fabricius gute Noten für den Scharfsinn, mit dem er die Identität Busans aus den Szenen des dynamischen Alltagslebens der Stadt herausfilterte. Es lobte auch seine Idee, die Kunst aus der Enge der Ausstellungshallen zu befreien und die Biennale als Gelegenheit zu nutzen, die Stadt mittels partizipativer und experimenteller Ausstellungsprojekte mit dem Lebensraum der Einheimischen als Kulisse neu zu entdecken. Der Kurator aus der dänischen Stadt Aarhus, der nur ein paar Mal in Busan gewesen war, hat offensichtlich genau erfasst, was die über 3,4 Mio. Busaner erwarten und wie er sie für sich gewinnen kann. Stellen wir uns einmal vor, wie Fabricius die Stadt entdeckte. Höchstwahrscheinlich begann er als gewöhnlicher Reisender, der, seine vorgefassten Meinungen auf seinen Touren immer wieder korrigierend, die Stadt aus einem breiterem Blickwinkel zu betrachten versucht. Lassen Sie uns seinen Spuren folgen!
Der Weg zum Markt
Beim Besuch einer fremden Stadt ist es empfehlenswert, sich zunächst von einem erhöhten Punkt aus einen Gesamtüberblick zu verschaffen, anstatt seine Energie durch verstohlene Blicke hier- und dahin zu verschwenden. So bekommt man schnell und effizient einen Überblick über geograhische Struktur und Kultur der Stadt. Fabricius dürfte dieser Empfehlung entsprechend erst einmal den 118m hohen, leuchtturmförmigen Busan Tower auf dem Hügel Yongdu-san bestie-
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gen haben. Leicht schwindlig von der Höhe, wird er, an der Spitze angekommen, vom Blick auf Yeong-do, der einem riesigen Felsen ähnelnden Insel vor Busan, überwältigt gewesen sein. Nachdem er gehört hatte, dass an klaren Tagen die etwa 50 Kilometer von Busan entfernte, rechts von Yeong-do gelegene japanische Insel Tsushima zu sehen sei, dürfte er wohl lange aufmerksam auf das weite Meer hinausgeblickt haben. Die kurvenreichen Gassen, die sich zwischen den dicht an dicht stehenden Häuschen den steilen Hügel hinauf schlängeln, erinnerten ihn vielleicht an das Dorf, in dem er früher einmal gelebt hatte. Danach wäre er gleichsam um sich spähend hinunter zum Kai gelaufen, wo kleine und große Schiffe, die er gerade unter seinen Füßen gesehen hatte, ständig kommen und gehen. Sein erstes Ziel wird wohl der Jagalchi-Markt gewesen sein, DIE touristische Attraktion der Stadt. Bei seinem zweiten Besuch hätte er dann, wie die Busaner auch, die U-Bahn zum Markt genommen. Vom Bahnhof Busan sind es nur drei Haltestellen bis zum Jagalchi-Markt. Er hätte wohl gedacht, dass die beste Methode, Busan hautnah zu spüren und zu erleben, darin bestehe, in die Menge einzutauchen, verstohlene Blicke auf die Gesichter der Leute zu werfen und ihren Unterhaltungen zu lauschen, auch wenn er kein Wort verstehen würde. Obwohl Fabricius schon wusste, dass der Markt nur einen 30-minü-
tigen Fußmarsch vom Bahnhof Busan entfernt ist, könnte er aber erst bei seinem dritten Besuch dorthin gelaufen sein. Ich stelle mir vor, wie er die Hauptverkehrsstraße meidet und vielleicht einen Block weiter durch eine Gasse in Chinatown geht, um dann einen der ansteigenden Pfade zum Hangviertel Daecheong-dong einzuschlagen. Auf Touristen, die exotischen Flair suchen, könnte die Gegend zu normal und vielleicht etwas heruntergekommen wirken. Fabricius dürfte aber wohl beim Schlendern durch die Gässchen eifrig mit Fotografieren beschäftigt gewesen sein, sich wohl dessen bewusst, dass dieser Ort vom harten Leben seiner einstigen Bewohner erzählt. Welchen Weg auch immer er einschlug: Es sind nicht die Verkehrsschilder, sondern der unverwechselbare Geruch, der ihm sagte, dass der Jagalchi-Fischmarkt nicht mehr allzu weit weg ist. Der ausgeprägte Fischgeruch weckt den olfaktorischen Sinn des Menschen. Der Jagalchi-Markt umfasst die Reihe der Läden und Stände zwischen Hauptstraße und Meer, die sich vom Trockenfischmarkt
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1. Auf der gemeinsamen Verkaufsfläche der Fischereigenossenschaft Busan, die sich am anderen Ende des Trockenfischmarktes befindet, ist eine Auktion in vollem Gange. Jede Nacht werden hier zwei Mal – um 22.00 Uhr und um 04.00 Uhr – frische Meeresprodukte versteigert, Samstag ist Ruhetag.
3 © Busan Metropolitan City (Fotos: Ahn Jun-kwan)
2. Die Händler beginnen um 08.00 Uhr und arbeiten bis spät in die Nacht. Nach dem Koreakrieg sicherte der Markt vielen Frauen, die sich alleine um die Familie kümmern mussten, die Lebensgrundlage. Die „Jagalchi Ajimae“ stehen für Ausdauer und Zähigkeit.
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unter der Yeongdo-Brücke bis zum Frühmarkt im Viertel Chungmu-dong hinzieht. Jeden Herbst findet hier das Jagalchi-Festival unter dem cäsarisch anmutenden Slogan „Oiso! Boiso! Saiso!“ („Kommt! Kuckt! Kauft!“ im Busaner Dialekt) statt, der den Charakter des Festivals gut beschreibt. Die Händler organisieren eine Vielzahl von ausgelassenen und unterhaltsamen Veranstaltungen, darunter Tanzen und Singen, Fische mit bloßen Händen fangen und freie Verkostungen.
Pulsierende Energie
Jeder Erstbesucher wird gern Koreas größten Fischmarkt, auf den die Einwohner Busans stolz sind, besichtigen und seine Stimmung genießen. Fabricius hätte wohl am östlichen Ende des Jagalchi-Marktes, und zwar auf dem Trockenfischmarkt neben der Yeongdo-Brücke, mit seinem Rundgang begonnen. Der stechende Meeresgeruch in der Luft hätte ihm verraten, dass dieser Markt die Quelle des Geruchs ist, der die ganze Gegend durchweht. Die bereits getrockneten Meeresprodukte – angefangen von Anchovis, Tintenfischen, Garnelen über
3. Im Jagalchi-Markt wimmelt es inner- und außerhalb des Gebäudes nur so von Verkäufern und Einkäufern. Der Markt gehört zu den touristischen Hauptattraktionen der Stadt.
Fischfilets bis hin zu Seetang, Purpurtang und Schalentieren – werden ausgelegt, um noch etwas gründlicher in Sonne und Wind zu trocknen. Am anderen Ende des Trockenfischmarktes befindet sich die gemeinsame Verkaufsfläche der Fischereigenossenschaft Busan. Dieser gemeinsame Markt brodelt rund um die Uhr voller Energie. Aber nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Fischverkäufer ihre Stände geschlossen haben und nach Hause gegangen sind, wird es erst richtig geschäftig, denn dann werden unzählige Kisten mit Fischen für die vor Tagesanbruch stattfindenden Auktionen aus den LKWs geladen. Es entfaltet sich ein quirliges Spektakel mit Reihen von auf dem nassen Boden ausgelegten, noch zappelnden Fischen aller Art, mit Händlern, die mit glänzenden Augen wild gestikulieren, und mit neugierigen Touristen, die für einen besseren Blick auf das Geschehen die Hälse recken. Neben der gemeinsamen Auktionsfläche steht ein Gebäude so riesig, dass sogar die Aussicht aufs Meer versperrt wird. Um die Absicht des Architekten zu erraten, muss man durch das Gebäude gehen und es durch den Ausgang Richtung Meer verlassen. Erst dann wird der Blick frei auf das Gebäude, eine Konstruktion, auf der Möwen ihre weißen Schwingen ausbreiten. Der Anblick, der sich dem Besucher beim Betreten bietet, hält einige unerwartete Überraschungen bereit. Einige mögen sich an den Bauch des Wals erinnert fühlen, in dem Pinocchios Vater Geppetto gefangen war und eine Kerze anzündete,
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Die Ajime haben ihr Leben hinter ihren Ständen am Kai hockend verbracht, wo sie Wind und Wetter trotzten, um sich und ihre Familie zu ernähren und die Kinder in die Schule zu schicken. andere an das gut unterteilte Innere eines riesigen U-Bootes. Auf beiden Seiten der engen Gänge befinden sich endlose Reihen von über 300 Geschäften gleicher Größe und Innenausstattung. Noch faszinierender sind die Fische und Meeresfrüchte, die sich in den Aquarien vor den Läden befinden. Sobald Verkäufer und Kunde einen Preis ausgehandelt haben, wird der Fisch an Ort und Stelle geschlachtet. Das letzte Zappeln eines Fisches auf dem Hackblock und die geschickten Bewegungen, mit denen die Händler den Fisch ausnehmen und filetieren, sind wohl der Inbegriff der „pulsierenden
Energie“, die Fabricius anzog. In einem der Restaurants im zweiten Stock kann sich der Kunde seinen Fisch mit einer reichhaltigen Auswahl an Beilagen servieren lassen. Fabricius hätte sich vielleicht mit einer Besucherin am Nachbartisch unterhalten. Mit etwas Glück hätte sie ihm weitere regionale Spezialitäten wie gegrillten Schleimaal und gegrillte Muscheln empfohlen. Eine neugierige Restaurantbesitzerin mit einer ausgeprägten Liebe zu ihrer Heimatstadt hätte sich vielleicht an der Unterhaltung beteiligt und erzählt, dass er sich am historischen Ursprungsort des Jagalchi-Marktes befinde, der vor 100 Jahren hier an der Kiesküste entstanden sei, und dass vor 50 Jahren die Straßenverkäufer mit Ach und Krach das Kapital zum Bau des Marktes gesammelt hätten. Ein erfahrener Dolmetscher, der die Äußerungen geschickt kürzer fassen kann, hätte den Satz „Wenn man es hier nicht bekommt, bekommt man es in ganz Korea nicht!“ in „Wir sind sehr stolz auf den Jagalchi-Markt“ umgewandelt.
Relatum – Narrow Gate von Lee Ufan, 2015, Stahlplatten, 220 × 320 × 3 cm; Steine, 100 × 100 × 100 cm Lees Relatum-Serie kontrastiert künstlich Produziertes und Naturgeschaffenes als Metapher für „Industriegesellschaft versus Natur“.
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Neues Zuhause für Vertriebene
Möglicherweise hätte Fabricius die Quelle des Bürgerstolzes bei einem Besuch des nahe gelegenen Busan Modern History Museum entdeckt. Dieses Museum beleuchtet, wie Busan nach der Öffnung seines Hafens im Jahr 1876 unter Invasionen und Ausbeutung durch Japan litt. Es braucht wohl kaum vieler Worte, um zu beschreiben, wie das Leben von Menschen, deren Land seiner Souveränität beraubt unter das Joch der Kolonialherrschaft gefallen war, aussah. Zu erwähnen ist jedoch die Tatsache, dass die Anfänge des Jagalchi-Marktes auf die lokalen Fischer zurückgehen, die ihren Fang an Behelfsständen entlang der Mongdol-Kieselsteinküste verkauften, die sich in einiger Entfernung von dem von Japanern betriebenen großen Fischmarkt befand. Unter ihnen gab es nicht wenige Haenyeo-Tiefseetaucherinnen, die zum Ernten von Meeresfrüchten den ganzen Weg von der Insel Jeju-do kamen. In diesem Herbst wurde in Yeong-do, der ersten Zwischenstation der Meerfrauen auf ihrem Weg zum Festland, endlich eine Statue zu Ehren der Haenyeo errichtet. Nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg und Koreas Befreiung ließen sich viele Koreaner, die nach Japan gegangen waren, in Busan nieder und während des Koreakrieges strömten unzählige Flüchtlinge zum Überleben in die Stadt. Warum machten sie Busan zu ihrem neuen Zuhause? Zum einen waren die Gewässer vor Busan seit alten Zeiten für ihre reichen Fischgründe bekannt, sodass die Leute witzelten, man brauche nur ein Netz auszuwerfen und schon sei der Lebensunterhalt gesichert. Die Fischarten sind seitdem zwar längst nicht mehr dieselben, aber in den Wintern des letzten Jahrhunderts, als Kabeljaue und Heringe ihre Wanderungen unternahmen, waren die Gewässer mit Fischerbooten aus allen Teilen des Landes überfüllt. In dem vom Verein zur Förderung des Jagalchi-Marktes veröffentlichten Bericht Lebendige Jagalchi-Geschichten (2011) steht, dass zwischen 1903 und 1904, also noch vor der japanischen Kolonialisierung im Jahr 1910, 862 japanische Fischer bzw. 227 Haushalte alleine nach Yeong-do auswanderten und sich auf der Insel ansiedelten. Unter Einsatz von fortschrittlichen Techniken und Ausrüstungen überfischten sie die Bestände und exportierten ihren Fang sogar nach China. Es gab noch einen weiteren Anreiz zur Siedlung: Seit der Frühen Neuzeit blühten in Korea nicht lizenzierte Märkte, die keine Steuern zahlten, auf. Insbesondere die Fischmärkte gewannen aufgrund des raschen Anstiegs von Angebot und Nachfrage sowie der relativ einfachen Handhabung der Produkte schnell an Umfang und Kraft. Für viele, die durch Krieg und Teilung der Halbinsel vertrieben worden waren, wurde der Jagalchi-Markt zur Existenzgrundlage. Wer ein scharfes Auge hat, dem dürfte schon die auffallend hohe Zahl weiblicher Händler auf dem Markt aufgefallen sein. Die Busaner nennen sie „Jagalchi Ajime“. „Ajime“ ist die dialektale Busaner Variante von „Ajumeoni“ (Frau mittleren Alters). Die Ajime haben ihr Leben hinter ihren Ständen am Kai hockend verbracht,
wo sie Wind und Wetter trotzten, um sich und ihre Familie zu ernähren und die Kinder in die Schule zu schicken. Mit stark dialektal gefärbter Stimme preisen sie ihre Waren an und feilschen über den Preis – manchmal flehentlich, manchmal lautstark, als ob sie jederzeit zu einem Kampf bereit wären. Ihre „Aufführungen“ hinterlassen bei Besuchern aus Nah und Fern einen bleibenden Eindruck als „Lokalkolorit“ von Busan. Geschichte und distinktives Flair des Marktes kombiniert mit den Aktivitäten der Ajime haben den Jagalchi zu einem Wahrzeichen der Stadt gemacht. Das sind wohl die von Fabricius erwähnten „Szenen des dynamischen Alltagslebens“, aus denen er die Identität Busans herausfilterte.
Behaglichkeit und Profanität
Busan ist keine Stadt des Edelmannes, sondern eine Stadt des gemeinen Mannes. Es ist keine Stadt der Sieger, sondern eine Stadt der Flüchtlinge. Dringender als Aufrechterhaltung von Ordnung oder Autorität ist, die elementaren Bedürfnisse und Wünsche des kleinen Mannes, der Tag für Tag hart für seinen Lebensunterhalt arbeitet, zu befriedigen. In einer Stadt, in der die Bewohner ständig danach streben, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen statt nach Perfektion zu suchen, sind die Gefühle, die aufsteigen, wenn man am Ende eines langen Tages im Bett liegt, nicht innere Ruhe oder Behaglichkeit, sondern eher Unbehagen, Gewöhnlichkeit und Scham – das dürfte wohl besonders auf Künstler zutreffen. Am Eingang des Kunstmuseum Busan gibt es eine Gerüst-Installation, die der weltberühmte Installationskünstler Tadashi Kawamata mit in ganz Busan gesammeltem Altholz schuf. Obwohl die Arbeit die Stadt gut genug repräsentiert, würde ich empfehlen, einen genaueren Blick auf die ebenfalls in diesem Museum ausgestellten Werke von Lee Ufan zu werfen. Die Stille und Ruhe, die der Künstler in den in Busan überall anzutreffenden Materialien wie Steine und Eisenplatten entdeckte, war keine transzendental oder spiritistisch gewonnene Erkenntnis, die man tief in den Bergen findet. Ich fühlte mich sofort an den Jagalchi-Markt erinnert. Lee spricht von „Beziehungen“ und „Gesprächen“ inmitten des Trubels einer Stadt von hoher Entropie. Es ist ruhig. Sehr ruhig.
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SPEZIAL 4
Busan: Hafen der Poesie und Passion
Das im südwestlichen Teil von Busan gelegene Viertel Gamcheon-dong entstand in den 1950er Jahren, als die Anhänger von „Taegeukdo“, einer neuen, im Taoismus verwurzelten Religion, sich in Scharen an den Berghängen niederließen. Die terrassenförmig angelegten Häuserreihen mit ihren labyrinthischen Gassen, die sich die Hänge entlang ziehen, bilden eine Landschaft ganz besonderer Art.
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Erinnerungen an die Kriegshauptstadt Busan war von Juni 1950, als der Koreakrieg ausbrach, bis zum 15. August 1953, als die Regierung nach dem Waffenstillstand nach Seoul zurückkehrte, De-facto-Hauptstadt der Republik Korea. Die Regierung nutzte das damalige Regierungsgebäude der Provinz Gyeongsangnam-do als Hauptquartier und die Kriegsflüchtlinge strömten in die benachbarten Viertel. Fernab der Heimatstadt, in die sie vielleicht nie wieder zurückkehren können würden, mussten sie sich ein neues Leben in einer fremden Umgebung aufbauen. Choi Weon-jun Dichter, Professor am Zentrum für lebenslanges Lernen, Dong-eui University Fotos Ahn Hong-beom
© Busan-Hafenbrücke (Foto: Jeong Eul-ho)
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usans Entwicklung zur zweitgrößten Stadt nach der Hauptstadt Seoul ist eng mit einer der größten Tragödien der modernen Geschichte des Landes verbunden: Der Koreakrieg war nämlich in vielerlei Hinsicht ein entscheidender Faktor für die rasche Expansion der Stadt. Die Bevölkerung von Busan, die 1949, kurz vor Kriegsbeginn, ca. 470.000 betrug, begann sprunghaft zu wachsen, als Flüchtlinge aus allen Teilen des Landes in die provisorische Hauptstadt strömten. 1955, zwei Jahre nach dem Waffenstillstand, überschritt die Einwohnerzahl die Eine-Million-Marke, da sich die meisten Flüchtlinge in der Stadt niederließen. Damit verwandelte sich Busan in eine Metropole. Die Flüchtlinge lebten in Notunterkünften und verdienten ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht. Das in der Nähe von Hauptbahnhof und Hafen gelegene Stadtviertel Jungang-dong mit seiner geschichtsträchtigen 40-stufigen Treppe erzählt beredt von den Freuden und Leiden der Flüchtlinge. Die hier in Erinnerung an die schweren Zeiten errichteten Skulpturen beschreiben ihr Leben: eine junge Mutter, die ihr Baby stillt, ein Straßenhändler, der seine Puffmaschine bedient, ein Lastenträger, der sich auf seiner Jige (koreanische Rückentrage in A-Rahmen-Form zum Transportieren schwerer Lasten) ausruht usw. Für diese Menschen war die Treppe eine Art Grenze zwischen Arbeit und Erholung. Im Bereich unterhalb der Treppe arbeiteten sich Tagelöhner, Kaugummihändler, Hafenarbeiter und andere Arbeiter die Finger wund; oberhalb der Stufen lag eine Behelfssiedlung aus Zelten und Baracken. Wenn sich eine kleine Verschnaufpause ergab, setzten sich die ausgemergelten Flüchtlinge auf die Stufen, streckten ihre Beine aus, machten ein Nickerchen oder vergossen Tränen bei dem Gedanken an die auseinander gerissene Familie. Ein weiterer Ort, der von Sorgen und Leid des Krieges erzählt, ist die Yeongdo-Brücke. Viel schmerzhafter als die Armut war für die Flüchtlinge, nicht zu wissen, wo sich ihre Angehörigen befanden. Als hätten sie es einander versprochen, begannen sie auf der Suche nach verlorenen Familienmitgliedern Aushänge ans Brückengeländer zu heften und warteten weinend auf ein Wiedersehen, das es vielleicht nie geben würde. Die im Süden von Busan gelegene Insel Yeong-do wurde durch den Bau der gleichnamigen Brücke im Jahr 1934 mit dem Festland verbunden. Es war die erste Brücke, die eine Insel ans Festland anband, und die einzige Klappbrücke des Landes. Da sie ein Wahrzeichen von Busan war, träumten die Flüchtlinge davon, auf dieser Brücke ihre Angehörigen zu treffen.
Provisorische Hauptstadt
Das Seokdang Museum der Universität Dong-A zeugt von Busans Rolle als provisorische Hauptstadt. Das Gebäude wurde 1925 fertiggestellt, als die japanischen Kolonialherren den Verwaltungssitz der Provinz Gyeongsangnam-do von Jinju nach Busan verlegten, um sich die strategische Lage der Stadt als Tor zum Hafen sowie als Ver-
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kehrsknotenpunkt für eine effizientere Ausübung ihrer Herrschaft zunnutze zu machen. Das heutige Museum, das während des Krieges Sitz der geflohenen Zentralregierung war, wurde nach dem Waffenstillstand wieder von der Provinzverwaltung genutzt, bevor es schließlich nach dem Umzug der Provinzregierung nach Changwon zum Sitz des Amtsgerichts Busan umfunktioniert wurde. Der von den Turbulenzen der Zeitgeschichte gebeutelte Bau wurde 2002 zum Registrierten Kulturgut (ein von der Regierung ausgewiesenes und verwaltetes Kulturerbe, das mit Blick auf Erhaltung und Nutzung von großem Wert ist) Nr. 41. bestimmt. Seit 2009 wird es von der Universität Dong-A als Museum und Stätte für historische Bildung
1 © Busan Heritage Night
1. Dieses Gebäude diente während des Koreakriegs als Residenz des Präsidenten. Das in den 1920er Jahren als Domizil für den japanischen Provinzgouverneur errichtete Bauwerk wurde 1984 zur heutigen Gedenkhalle der Provisorischen Hauptstadt. 2. Die Büchergasse in Bosu-dong entstand während des Koreakriegs, als ein aus Nordkorea geflüchtetes Ehepaar mit dem Verkauf von alten Zeitschriften und Büchern begann, die es in US-Militärstützpunkten und Trödelläden aufgetrieben hatte. In den 1960er und 70er Jahren gab es hier über 70 Buchläden, heute sind es noch rund 40. 3. Die Flüchtlinge in dem Barackenviertel Jungang-dong stiegen tagtäglich mit Wasserkrügen auf den Schultern die 40-stufige Treppe hinauf und hinunter. Die hier errichteten Skulpturen stellen das Leben dieser vom Krieg gezeichneten Menschen dar.
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genutzt. Vor kurzem wurde vom Bumin-Campus der Universität Dong-A bis zur Gedenkhalle der Provisorischen Hauptstadt eine Straße angelegt, um die historische Rolle Busans als Interimshauptstadt zu würdigen. Entlang der Straße zur Erinnerung an die Interimshauptstadt der Republik Korea sind neben einer alten Straßenbahn auch verschiedene an die vergangenen Tage erinnernde Installationen zu sehen. Das ebenfalls aus der Kolonialzeit stammende Gebäude der heutigen Gedenkhalle der Provisorischen Hauptstadt diente ursprünglich als Residenz des Provinzgouverneurs. Während des Koreakrieges wurde es von der Exilregierung als Sitz des Präsidenten genutzt. Heute steht es als Gedenkstätte für die historische Identität und Bedeutung Busans als Stützpunkt der Anstrengungen zur Überwindung der nationalen Krise. Die Ausstel-
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lung zeigt eine lebensgroße Wachsfigur von Rhee Syng-man (18751965), des ersten Präsidenten Südkoreas (1948-1960), eine Nachbildung seines Büros, während des Krieges verwendete Gegenstände sowie Repliken einer Baracke, eines provisorischen Klassenzimmers für Füchtlingskinder und eines Standes des Gukje-Marktes, die einen Einblick in das damalige Leben geben.
Straßen am Berghang
In Busan gibt es ungewöhnlich viele, an Hängen angelegte Straßen. Ihre Gesamtlänge beträgt 65 km, was Busan den Beinamen „Stadt der Hangstraßen“ eingebracht hat. Die Flüchtlinge, die dringend eine Bleibe brauchten, sahen sich auf der Suche nach Platz für ihre Zelte und Hütten immer weiter den Hang hinauf gedrängt. Sie führten ein hartes Leben in diesem Viertel, in dem sich in einem Labyrinth unzähliger verschlungener Gassen Häuschen an Häuschen drängte. Diese Orte des Elends sind heute beliebte Touristen-Hotspots, allen voran das Kulturdorf Gamcheon. Vom Klinikum der Pusan (Busan) National University aus führt die Straße den Gamcheon-Hügel hinauf, von wo aus man rechter Hand einen Blick auf das terrrassenförmig angelegte Kulturdorf hat. Das Taegeukdo-Dorf, wie die Gegend anfänglich hieß, wurde von den Anhängern einer neuen Glaubenslehre namens Taegeukdo (Weg des Ultimativen Höchsten), die im Krieg den Hauptsitz dorthin
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verlegten, gebaut. Die Einheimischen nannten es „Zugdorf“, denn die nachts beleuchteten Fenster der horizontal am Hang aneinander gereihten Baracken mit ihren Dachpappe-Dächern erinnerten an einen durch die Dunkelheit fahrenden Zug. Die dicht an dicht gedrängten Häuschen, deren Flachdächer farbenfroh gestrichen sind, scheinen aus Legosteinen gebaut zu sein, was der Landschaft einen außergewöhnlichen Anstrich verleiht. Gässchen, die sich in alle Himmelsrichtungen ziehen, treffen auf Gässchen und verbinden sie horizontal, während steile Treppen am Hang auf steile Treppen treffen und vertikale Verbindungen herstellen. Vor kurzem wurde das alte Dorf im Zuge eines Stadterneuerungsprojekts in eine kreative Kultur- und Kunstgemeinde umgewandelt. Dabei wurden die ursprünglichen Gebäude saniert und das Viertel mit Wandmalereien und Straßenkunstobjekten herausgeputzt. Es ist nun eine Touristenattraktion, die auch von internationalen Medien wie Le Monde und CNN empfohlen wird.
Der unter Federführung des United Nations Command angelegte UN-Gedenkfriedhof ist den Angehörigen der Alliierten UN-Truppen gewidmet, die ihr Leben im Koreakrieg gelassen haben. Im April 1951 eingerichtet, zieht der Friedhof Besucher aus dem In- und Ausland an. Die Nationalflaggen der 21 Länder, die Südkorea unterstützt haben, bleiben das ganze Jahr über gehisst.
Freiluft-Märkte
Dass die Kriegsflüchtlinge, die Tag für Tag aufs Neue mit den Härten eines Lebens in einer fremden Stadt zu kämpfen hatten, inmitten all der Widrigkeiten ihre Hoffnung nicht verloren und ihre Familien durchbringen konnten, ist nicht zuletzt den Märkten zu verdanken. Die Busaner Märkte, die ihnen eine wertvolle Lebensgrundlage boten, waren Orte voller herzzerreißender Geschichten. Insbesondere der Gukje- und der BupyeongKkangtong-Freiluftmarkt waren repräsentative „Dottegi-Sijang“: „chaotische Märkte“ voller Käufer und Behelfsstände, die nach der Unabhängigkeit zunächst allerlei japanische Kriegsgüter verkauften und während des Koreakrieges aus den US-Militärstützpunkten geschmuggelte Waren für den Alltagsbedarf anboten. Der Gukje-Markt, auf dem von anderen Ländern gespendete, gebrauchte Hilfsgüter zu haben waren, entwickelte sich zum Dreh- und Angelpunkt der Mode. Der Markt verdankt den Zusatz „gukje“ (international) der Tatsache, dass dort bekanntermaßen so gut wie alles zu finden war. Der Bupyeong-Kkangtong-Markt, Koreas erster öffentlicher Markt, verkaufte nach dem Krieg unter der Hand Armeebedarf. Der Name „Kkangtong“ (Blechdose) rührt daher, dass auf diesem Markt allerlei Konserven, die für die in Busan stationierten US-Soldaten gedacht waren, schwarz verkauft wurden. Diejenigen, die dort mit US-Militärgütern handelten, wurden „Yankee-Händler“ genannt. Sie machten reichlich Profite vom Weiterverkauf von Alkohol, Zigaretten und Lebensmitteln, die sie von koreanischen Frauen, die mit US-Soldaten zusammen waren, erstanden hatten. Dieser Markt gilt auch als Wiege einiger der regionalen Spezialitäten von Busan. Busans berühmte Eomuk (eine Art Fischkäse) wurden hier geboren,
ebenso Doeji-gukbap (Reis in Schweinefleischsuppe), das im Krieg aufkam. Daneben bereiteten die Händler aus Essensresten aus den US-Kasernen, die alle in einen Topf geworfen und gekocht wurden, eine Art Stew zu. Man könnte sagen, dass das damals als „Schweine-Stew“ oder „UN-Suppe“ bekannte Eintopfgericht der Vorgänger der heutigen Budae-Jjigae (scharfer „Armee-Stew“ mit Würstchen, Dosenfleisch und Gemüsen) ist. Da es Fleisch enthielt, war es eine wichtige Proteinquelle für die Flüchtlinge.
Gebrauchtbücher-Gasse
Die Büchergasse im Viertel Bosu-dong, einer ca. 150 Meter langen, schmalen Gasse mit an die 40 Buchhandlungen, war der landesweit größte Marktplatz für Bücher. Während des Krieges war es völlig normal, dass die Studenten ihren Unterricht in aus Planen und Planken zusammengeschusterten Klassenzimmern fortsetzten, die überall eingerichtet wurden, sei es auf dem Berg Gudeok, auf den Hügeln hinter Bosu-dong oder auf der Insel Yeong-do. Diese als „Vereinigte Universität in Kriegszeiten“ bekannten Einrichtungen waren ein Zusammenschluss aus mehreren, in der Seouler Innenstadt angesiedelten Universitäten. Die Studenten kamen auf dem Weg zur oder von der Universität häufig durch Bosu-dong, weshalb es nur natürlich war, dass in der Gegend eine Büchergasse entstand. Da sich die Situation der Verlagsbranche aufgrund des Krieges verschlechterte, war es für die Studenten schwierig, überhaupt Bücher zu kaufen, geschweige denn Lehrbücher. Daher waren die Stände mit gebrauchten Büchern immer von Kunden umlagert, die Bücher kaufen oder verkaufen wollten. Als dann ein Straßenverkäufer nach dem anderen sein eigenes Geschäft aufzumachen begann, nahm die Büchergasse Gestalt an. Zu dieser Zeit verdienten verarmte Intellektuelle ihr täglich Brot damit, ihre kostbaren Bücher mit Tränen in den Augen feil zu bieten. Die Bücher, die auf diese Weise zusammenkamen, machten denn Ort zu einer Schatzkammer des Wissens und zu einem kulturellen Hotspot des Busan von heute.
UN-Gedenkfriedhof
Der UN-Gedenkfriedhof weckt unmittelbar Erinnerungen an den Krieg. Er ehrt die im Koreakrieg gefallenen Soldaten der Vereinten Nationen. Hier ruhen insgesamt 2.297 Soldaten aus elf Ländern, darunter Großbritannien, der Türkei, Kanada, Australien und den Niederlanden. Ebenso wie das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau in Polen und der Friedenspark Hiroshima in Japan ist der UN-Friedhof ein Ort von hohem Symbolgehalt, da er für alle, die mit den vom Krieg geschlagenen Narben in der heutigigen Zeit leben, den unschätzbaren Wert von Frieden und Freiheit unterstreicht. Der UN-Friedenspark, der UN-Skulpturenpark und die UN-Friedensgedenkhalle, die sich in der Nähe des Friedhofs befinden, fördern die Harmonie des Globalen Dorfes und sind Ausdruck des Wunsches nach Frieden und Wohlergehen der ganzen Menschheit.
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Einheimische Gerichte aus Kriegszeiten
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enn man die Busaner nach typischen regionalen Gerichten ihrer Stadt fragt, nennen die meisten ohne zu zögern Doeji-Gukbap (Reis in Schweinefleischsuppe) und Milmyeon (Weizennudeln in kalter Brühe). Diese Gerichte, die
heutzutage für Busan stehen, haben jedoch noch keine lange Geschichte. Sie kamen erst während des Koreakriegs auf, als sich die unterschiedlichen Geschmäcker und Esskulturen der Flüchtlinge aus den verschiedenen Regionen des Landes vermischten.
Milmyeon Milmyeon ist eine Variante von Naengmyeon (Buchwei-
Milmyeon. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Milmyeon
zennudeln in kalter Brühe), das Kriegsflüchtlinge aus
jedoch zu einer Busaner Spezialität, indem das Rezept
Nordkorea in ihren Heimatorten aßen. Da Buchweizen-
auf Basis der typischen Geschmacksnoten der lokalen
mehl aber nur schwer aufzutreiben war, verwendete
Küche – scharf, salzig, beißend und pikant – variiert
man das Weizenmehl aus den Hilfsgüterlieferungen
wurde.
und ersetzte die Buchweizennudeln durch Weizennu-
Obwohl sich die Rezepte je nach Restaurant leicht un-
deln.
terscheiden, besteht Milmyeon im Wesentlichen aus
Milmyeon, das nur halb so viel wie Naengmyeon kos-
Nudeln auf Basis von Weizenmehl und Kartoffelstärke
tete, war ursprünglich die zweite Wahl für diejenigen,
und einer Brühe aus ausgekochten Rinderbeinknochen,
die sich das teure Buchweizennudelgericht nicht leisten
verschiedenen Gemüsen und Heilkräutern. Genau wie
konnten. Wenn zwei Leute nur Geld für eine einzige
Naengmyeon serviert man auch Milmyeon entweder
Portion Naengmyeon hatten, entschieden sie sich für
in kalter Brühe (Mul-Milmyeon) oder mischt die Nudeln
zwei Portionen
mit einer scharfen Soße (Bibim-Milmyeon). Die erste Variante, bei der die bissfesten Nudeln in einer kalten Fleischbrühe, auf der eine zarte Eisschicht schwimmt, serviert werden, ist von mildem, erfrischendem Geschmack. Die zweite Variante, für die eine Würzsoße aus Chilipulver, gehacktem Lauch, Knoblauch und Zwiebeln zubereitet wird, ist so scharf wie das Temperament der Busaner. Würzig und süß zugleich ist dieses Gericht eine erfrischende Sommerdelikatesse für die Koreaner, die gerne „Hitze mit Hitze bekämpfen“.
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Milmyeon, eine von Busans Spezialitäten, wurde während des Krieges von nordkoreanischen Flüchtlingen erfunden. Die aus Weizenmehl und Kartoffelstärke hergestellten Nudeln werden in kalter Brühe serviert.
Doeji-Gukbap ist eine berühmte lokale Spezialität, die die unterschiedlichen Geschmacksvorlieben und Gewohnheiten der aus dem ganzen Land stammenden Flüchtlinge in sich birgt. Gekochter Reis und Fleischstücke in Schweineknochenbrühe werden mit einer Soße zum Abschmecken serviert.
© Busan Metropolitan City
Doeji-Gukbap Eine weitere lokale Spezialität ist Doeji-Gukbap, gekoch-
Busaner Doeji-Gukbap, das von Kriegsflüchtlingen aus
ter Reis in Schweinefleischbrühe mit reichlich Schweine-
Nordkorea entwickelt wurde. Die nur auf Fleisch-Was-
fleischscheiben. Vermischt mit Schnittlauch, Knoblauch,
ser-Basis gekochte klare Brühe, deren Ursprung im
scharfen Chilischoten, Zwiebeln, Kimchi u.ä. ist eine
Westen der Provinz Gyeongsangnam-do liegt, ist klar
Schüssel dieser herzhaften Suppe mit Reis eine vollwer-
und leicht.
tige Mahlzeit.
Zudem gibt es auch noch verschiedene Arten, das Ge-
Das heutige Rezept für Schweinefleisch-Gukbap spiegelt
richt zu servieren. In der Basisversion wird sowohl für
die kulinarischen Vorlieben der verschiedenen Regionen
die Brühe als auch für die Einlagen nur Schweinefleisch
wider. Ursprünglich bestand Gukbap nur aus Brühe,
verwendet, während die Variationen eine Reihe unter-
Reis und Fleischscheiben, die in einer Schüssel serviert
schiedlicher Zutaten enthalten: Doeji-Gukbap auf reiner
wurden. Als sich dann aber immer mehr Menschen aus
Schweinefleischbasis für Brühe und Einlagen, Sundae-
anderen Teilen des Landes in Busan ansiedelten, berück-
Gukbap mit gekochten Schweinefleischscheiben und
sichtigte man bei der Zubereitung auch die kulinarischen
koreanischer Blutwurst, Naejang-Gukbap mit gekoch-
Vorlieben und Traditionen anderer Regionen.
ten Eingeweideteilen, Seokkeo-Gukbap mit gekoch-
So gibt es z.B. drei Brühe-Versionen: milchig-weiß, hell
ten Schweinefleischscheiben und Eingeweideteilen,
und klar. Die trübe, milchig-weiße Brühe, für die Schwei-
Modum-Gukbap mit gekochten Schweinefleischschei-
neknochen ausgekocht werden, ist von vollmundigem
ben, koreanischer Blutwurst und Eingeweideteilen; für
Wohlgeschmack. Sie erinnert an Momguk von der In-
Ttaro-Gukbap werden Reis und Suppe getrennt (ttaro)
sel Jeju-do, einer mit Golftange und Kimchi gekochten
serviert; Reis, Brühe und gekochte Schweinefleisch-
Schweinebrühe, und Tonkotsu-Ramen aus dem japani-
scheiben können aber auch alle separat serviert wer-
schen Kyushu, ein ebenfalls auf Schweinefleischbasis zu-
den (Suyuk-Baekban); bei Doeji-Guksu wird der Reis
bereitetes Nudelgericht. Die helle Brühe, die durch Aus-
durch Nudeln Reis ersetzt. Diese große Auswahl zeigt,
kochen von Eingeweideteilen und Kopf eines Schweines
dass verschiedene regionale Varianten für gekochtes
gewonnen wird, entspricht dem Originalrezept des für
Schweinefleisch in die Busaner Spezialität eingeflossen
seinen tiefen und vollmundigen Geschmack berühmten
sind.
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SPEZIAL 5
Busan: Hafen der Poesie und Passion
Stadt des Films mit facettenreicher Infrastruktur
Das 24. Busan International Film Festival (BIFF) wurde am 3. Oktober 2019 im Busan Cinema Center eröffnet. Das 2011 fertiggestellte Center – ein Komplex aus zwei vierstöckigen und einem neunstöckigen Gebäude – ist Exklusivveranstalter und Herzstück von Busans Filminfrastruktur.
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Busan ist nicht nur deshalb als „Stadt des Films“ bekannt, weil es Gastgeber des Busan International Film Festivals (BIFF) ist. Den Namen verdankt es vielmehr seinen diversen Filminstitutionen und -organisationen, die in ihren jeweiligen Bereichen beeindruckende Leistungen erbringen. Jeon Chan-il Filmkritiker, Präsident des koreanischen Verbandes für Kulturinhalte und Kritik
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017 erschien das Buch Busans kulturelle Infrastruktur und Festivals, herausgegeben vom Institute for Humanities and Social Sciences der Pukyong National University. Als Mitverfasser fragte ich mich damals selbst: Kann Busan sich wirklich zu einem Zentrum der Kultur entwickeln? Anfangs war ich eher skeptisch. Doch während der Recherchen für meinen Beitrag änderte ich meine Meinung komplett – zumindest was den Filmbereich betrifft. Davor hatte ich noch nie ernsthaft über Busans Filminfrastruktur nachgedacht, sondern angenommen, dass das BIFF alles ist, was die „Filmstadt Busan“ und die „Busaner Filmindustrie“ zu bieten haben. Doch das war ein großes Missverständnis und Vorurteil. Nach eingehenden Recherchen wurde klar, dass die Stadt in Bezug auf cineastische Einrichtungen und Institutionen gut aufgestellt ist. Sogar das Korean Film Council sowie das Korea Media Rating Board, deren Zuständigkeitsbereich ganz Korea umfasst, sind 2013 von Seoul nach Busan umgezogen, was Busans Status als Filmstadt weiter gehoben hat. Darüber hinaus gibt es natürlich noch weitere Akteure und Festivals, deren Einfluss nicht unerwähnt bleiben darf: Die Cinematheque Busan, das Busan Cinema Center, die Busan Film Commission und die Busan Film Critics Awards sind alle tragende Säulen der Koreanischen Filmindustrie.
Vorreiterrole
Unter „Kinemathek“ versteht man ein Filmarchiv oder einen Ort, in dem archivierte Filme aufgeführt bzw. angeschaut werden können. Die 1999 auf dem Gelände der Suyeong-Marina in Haeundae eröffnete Cinematheque Busan war die erste ihrer Art in Korea. Sie zeigte bislang meistens wertvolle Klassiker sowie qualitativ hochwertige Kunst- und Indie-Filme, die in kommerziellen Kinos selten laufen. Die Kinemathek, die seit 2007 auch über ein Filmarchiv verfügt, hat zudem mit einem breitgefächerten Bildungsangebot dazu beigetragen, das film- und kinobezogene Wissen des allgemeinen Publikums zu erhöhen. Sie ist mittlerweile ins 2011 eröffnete Busan Cinema Center umgezo© NewsBank
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gen. Das Center, das in einem von dem österreichischen Architekturbüro Coop Himmelb(l)au entworfenen Gebäude untergebracht ist, hat einen entscheidenden Beitrag zur Wiederbelebung nicht nur der Kinemathek, sondern auch des BIFF geleistet. Zu den Kerninstitutionen der Busaner Filminfrastruktur zählt auch die 1999 von der Metropolregierung eingerichtete Busan Film Commission (BFC), die erste ihrer Art in Korea und die zweite in ganz Asien. Zu der Zeit erlebte die koreanische Filmindustrie eine Renaissance und Aufgabe der Kommission war es, ein One-Stop-Verwaltungsprocedere für die Unterstützung von Filmproduktionen zu entwickeln. Andere Städte und Provinzen zogen nach, sodass es heute landesweit insgesamt 13 regionale Filmkommissionen gibt. Nach dem Stand von Dezember 2018 hat die BFC die Produktion von insgesamt 1.303 Filmen und visuellen Contents unterstützt und setzt sich für einen weiteren Ausbau der Filmindustrie-Infrastruktur ein. Ergebnisse dieser Bemühungen sind z. B. das Busan Cinema Studio und das Cinema House Hotel in Busan, die ein angenehmeres Arbeitsumfeld während der Shootings bieten, das Busan Cinema Venture Center zur Unterstützung von regionalen Start-ups im Bereich Film und visuelle Medien, die Busan Asian Film School zur Förderung der professionellen Ausbildung im Filmbereich sowie das Busan Visual Industry Center, das Unternehmen in der Film- und Videobranche aus Busan sowie der Metropolregion Seoul anzieht und kreative Humanressourcen heranzieht.
Einen eigenen Weg bahnen
Im September 1950 wurde in Busan – damals noch die provisorische Hauptstadt Südkoreas – die Korean Association of Film Critics (KAFC) gegründet. Ihr folgte 1958 die Busan Film Critics Association (BFCA), die heute landesweit einzige regionale Filmkritiker-Vereinigung. Zu ihren erklärten Zielen gehören Verbesserung und Entwicklung der Filmkultur durch Rezensionen zu Filmen aus dem In- und Ausland, Schärfung des kritischen Auges der Öffentlichkeit sowie Förderung von Forschungen und Durchführung von diesbezüglichen Aktivitäten. Die BFCA übernahm auch die Federführung bei den 1958 von der Tageszeitung Busan Ilbo ins Leben gerufenen Buil Film Awards. Mit ihren strengen Filmkritiken und Empfehlungen von qualitativ hochwertigen Werken trug die BFCA nicht nur zur Entwicklung des koreanischen Films bei, sondern vertiefte auch das diesbezügliche Verständnis und Urteilsvermögen der allgemeinen Öffentlichkeit. Seit 2000 verleiht die BFCA zudem die Busan Film Critics Association Awards, die für regionalen Touch und Unkonventionalität bekannt sind. Diesem Filmkritikerpreis haftet ein beabsichtigter Schwenk hin zu regionalen Filmen oder Filmen jenseits des Main-
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© Busan Metropolitan City
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1. Kinofans bei einer Filmvorführung während des 24. Filmfestivals auf dem BIFF Square, einer Freilichtbühne im alten Stadtkern von Nampo-dong. Bis 2003, als der Hauptveranstaltungsort nach Haeundae verlegt wurde, fanden die wichtigsten BIFF-Events auf diesem Platz statt.
stream an, was besonders deutlich wird, wenn man die von der BFCA preisgekrönten Filme mit denen der KAFC vergleicht: Zum Beispiel wurde im Jahr 2000 bei den 20. KAFC Awards der Film Peppermint Candy (1999) unter der Regie von Lee Chang-dong als bester Film ausgezeichnet, der anhand eines originären Plots die unglückliche Geschichte des Protagonisten gekonnt mit der Tragik der modernen Geschichte Koreas verbindet. Hingegen ging im selben Jahr bei den damals ersten Busan Film Critics Association Awards die höchste Auszeichnung an Hong Sang-soos Virgin Stripped Bare by Her Bachelors (2000), der die Dreiecksbeziehung zwischen zwei Männern und einer Frau thematisiert. Bei den KAFC Awards war Hong leer ausgegangen. Den Preis für die beste Regie vergab die KAFC damals an Lee Chang-dong, während die BFCA diese Auszeichnung dem Regisseur Bae Changho zusprach, und zwar für seinen in der Öffentlichkeit relativ unbekannten Film My Heart. Dieser Trend wiederholte sich auch 2018, als bei den KAFC Awards Jang Joon-hwans 1987: When the Day Comes (2017) zum besten Film gekürt wurde. Vor dem Hintergrund
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Ich hatte stets angenommen, dass das BIFF alles ist, was die „Filmstadt Busan“ und die „Busaner Filmindustrie“ zu bieten haben. Doch das war ein großes Missverständnis und Vorurteil. Nach eingehenden Recherchen wurde mir klar, dass die Stadt in Bezug auf cineastische Einrichtungen und Institutionen gut aufgestellt ist.
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2. Lady-Bird Transformation (Mirage) von Ralf Volker Sander, 2012, Stahl, 10,2 × 4.6 × 2,6 m Diese Skulptur auf dem Dureraum Square des Busan Cinema Center wurde unter einer Vielzahl internationaler Bewerbungen ausgewählt. Von vorne gesehen ist die Skulptur wie eine Frauengestalt geformt, von der Seite ähnelt sie jedoch einer Möwe. 3. Jubelnde Menge bei einer Freilicht-Performance, die als Teil des 2017 Busan Food Film Festa im Busan Cinema Center veranstaltet wurde.
© Busan Cinema Center, Busan Food Film Festa
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© Moon Jin-woo
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© Showbox
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© Centre du cinéma de Busan
1. Studierende der Filmakademie des Busan Cinema Center bei einem Kurs über Videoproduktion. Die Akademie bietet pro Jahr mehr als 50 Kurse für angehende Filmemacher an. 2. Busan bietet Kulissen für viele Filme. Beomil-dong ist in einer Reihe beliebter Streifen zu sehen, darunter Kwak Kyung-taeks Friend (2001), Im Kwon-taeks Low Life (2004) und Bong Joon-hos Mother (2009). 3. Eine Szene aus Nameless Gangster: Rules of the Time, 2012 unter der Regie von Yoon Jong-bin gedreht. Kulisse des Films war die Yeongdo-Werft von Hanjin Heavy Industries & Construction. 4. Filmdirektor Yeon Sang-hos Hit Train to Busan (2016) wurde in den Busan Cinema Studios gedreht. Diese beiden von der Filmkommission gemanagten Innenstudios sind jeweils 826 m² bzw. 1.653 m² groß.
4 © Next Entertainment World
des Aufstands für Demokratie im Juni 1987 erzählt dieser Film von der Sehnsucht der koreanischen Bürger nach Demokratie. Der Busaner BFCA-Preis wurde hingegen für The Remnants (2016) verliehen, einen Dokumentarfilm, der die Geschichte der kleinen Leute thematisiert, die sich 2009 im Seouler Stadtviertel Yongsan gegen die Zwangsräumung im Zuge eines geplanten Sanierungsprojekts wehrten. Während der Auseinandersetzungen mit der Polizei kam es zu einem Brand, der mehrere Todesopfer forderte. Diese nicht geringen Unterschiede in der Akzentsetzung der beiden Filmverbände sind zwar nicht immer gegeben, zeigen aber doch deutlich die Existenzberechtigung der BFCA. Während die KAFC, die in Bezug auf Größe und Mitgliederzahl konkurrenzlos ist, heute orientierungslos hin und her schwankt, hält die BFCA konsequent an der für sie charakteristischen Linie fest.
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Noch mehr Festivals
Es gibt natürlich noch weitaus mehr nennenswerte Institutionen und Verbände, die mit der Filmindustrie der Stadt in Verbindung stehen. So ist Busan z.B. Gastgeber mehrerer Filmfestivals, darunter das 2019 bereits zum 21. Mal ausgerichtete Independent Film Festival Busan unter der Regie der 1999 gegründeten Association of Busan Independent Film, die Buil Film Awards, die für Fairness und Transparenz des Auswahlverfahrens bekannt sind, und das Busan International Short Film Festival, das 1980 als „Korea Short Film Festival“ ins Leben gerufen wurde und seitdem einschneidende Veränderungen durchlaufen hat. Und es geht noch weiter: In Haeundae lockt die sog. „Filmstraße“ neben Einheimischen auch Touristen aus dem Inund Ausland an. Im „Texas-Viertel“ gegenüber dem Busaner Hauptbahnhof verwöhnt das chinesische Restaurant Jang Seong Hyang, das durch Park Chan-wooks Oldboy (2003) für seine frittierten ManduMaultaschen bekannt wurde, den Gaumen der Gäste. An der Straße Daecheong-ro im Bezirk Jung-gu heißt zudem das Busan Museum of Movies die Besucher willkommen. Busan hat den Titel „Stadt des Films“ auf jeden Fall verdient!
Erfreuliche Ergebnisse des 24. BIFF
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as 24. Busan International Film Festival (BIFF) im Jahr 2019
die ungekünstelten Charaktere und die realitätsnahe Darstellung
konnte einige wertvolle Ergebnisse erzielen, die die künftige
sowie der Mise en Scène im Western-Stil, der an John Fords Der
Richtung des Festivals bestimmen dürften. Von den insgesamt
Schwarze Falke (1956) oder Clint Eastwoods Erbarmungslos (1992)
299 eingeladenen Filmen aus 85 Ländern wurden 118 (95 Langfil-
erinnert, haben ohne Zweifel gewisse Erwartungen an die Zu-
me, 23 Kurzfilme) auf dem Festival welturaufgeführt und 27 (26
kunft des kasachischen Films geschürt.
Langfilme, 1 Kurzfilm) feierten ihre internationale Premiere, was
Doch zugegebenermaßen ließ sich eine gewisse Verunsicherung
noch einmal den internationalen Status des BIFF als Asiens bestes
über die Zukunft des BIFF, das sich bereits eines beachtlichen
und größtes Filmfestival unterstreicht.
internationalen Ansehens erfreuen kann, nicht ganz abschütteln.
Am beachtenswertesten war diesmal die Retrospektive zu Ka-
Der angekündigte Taifun blieb aus, das Wetter spielte im Ver-
meramann Jung Il-sung. Dadurch konnten die koreanischen Film-
gleich zu den Vorjahren mit und es war das zweite Festival unter
retrospektiven, die bislang nur Regisseuren und Schauspielern
der Leitung des 2018 umgebildeten Organsiationskomitees. Den-
gewidmet waren, inhaltlich erweitert und vertieft werden. Es wird
noch lag die Zahl der Besucher mit 189.116 um ca. 6.000 unter der
erwartet, dass nicht wenige internationale Filmfestivals diese
von 2018, als der Festivalstandort von einem Taifun heimgesucht
Neuerung benchmarken werden.
wurde. Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich das Festival
Für Furore sorgte das 24. BIFF auch dadurch, dass es zum ersten
noch immer nicht ganz von den Folgen der politischen Konflikte,
Mal in seiner Geschichte mit einem Film aus Zentralasien eröffnet
die durch die Vorführung des Dokumentarfilms The Truth Shall
wurde, und zwar mit The Horse Thieves. Roads of Time (2019) des
Not Sink with Sewol (koreanischer Titel: Taucherglocke) im Jahr
kasachischen Regisseurs Yerlan Nurmukhambetov, der 2015 auf
2014 ausgelöst wurden, erholt hat. In dem Jahr plante das BIFF
dem 20. BIFF für Walnut Tree (2015) mit dem Preis der Kategorie
die Vorführung dieses Dokumentarfilms, der die Bemühungen
„New Currents“ ausgezeichnet wurde, und der japanischen Regis-
zur Rettung der ein halbes Jahr zuvor gesunkenen Passagierfäh-
seurin Lisa Takeba. Die brilliante Inszenierung des einfachen, aber
re Sewol kritisierte. 304 Passagiere starben, die meisten waren
sich dramatisch entwickelnden, im Titel angedeuteten Ereignisses,
Oberschüler auf Klassenfahrt, die angewiesen wurden, an Bord zu bleiben, anstatt in die Rettungsboote zu steigen. Die Regierung und die Stadt Busan forderten, die Ausstrahlung der umstrittenen Dokumentation abzusagen, doch das BIFF zeigte den Film. 2016 trat der Bürgermeister von Busan aufgrund von Vorwürfen, regierungskritische Inhalte zu unterdrücken, von seinem BIFF-Vorsitz zurück. Im selben Jahr riefen koreanische Filmverbände ihre Mitglieder im Namen der künstlerischen Freiheit zu Boykotten des Festivals auf. Das BIFF-Komitee hatte damals große Schwierigkeiten, das Programm zu füllen. Es ist allerdings noch zu früh festzustellen, ob es sich bei dem Besucherrückgang um eine vorübergehende Flaute oder um den Vorboten einer ernsthafteren Krise handelt. Doch es steht außer Zweifel, dass nach den Ursachen gesucht und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden sollten.
© Busan International Film Festival
Direktor David Michôd (rechts außen), Hauptdarsteller Timothée Chalamet (zweiter von rechts) und andere Cast-Mitglieder von The King, eines vielbeachteten Films beim Busan International Filmfestival 2019, posieren zusammen mit Kinogängern für ein Foto.
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INTERVIEW
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Die Natur in die Stadt bringen Oh Kyung-ah brach ihre Karriere beim Rundfunk ab, um in Großbritannien Landschaftsarchitektur und Gartengestaltung zu studieren. Es war eine Entscheidung für ein zweites, neues Leben, das ihr Gesundheit und Glück bringen sollte. Heute empfindet sie es als äußerst bereichernd, farbenfrohe Oasen, die die Menschen geistig zur Ruhe kommen lassen, in die Hochhauswüsten der Städte zu bringen. Lim Hee-yun Reporterin für Kultur, The Dong-a Ilbo Fotos Ha Ji-kwon
„K
aum war ich einen Monat weg, herrscht schon überall Chaos. Oh je!“ Die Gartendesignerin Oh Kyung-ah macht sich nach ihrer Rückkehr von einem längeren Besuch ihrer Tochter, die in Kenia arbeitet, sofort an die Arbeit. In ihrem etwa 660m2 großen Garten, der ihr Haus in Sokcho, einer an der Ostküste gelegenen Hafenstadt in der Provinz Gangwon-do, umgibt, wachsen an die 100 Pflanzenarten. Auf meine Frage, um was für Pflanzen es sich handele, spult sie mühelos die koreanischen Namen und auch fremd klingende Namen ab. Ein Anbau des Hauses dient als Unterrichtsraum des Oh Kyung-ah Institut für Gartengestaltung. Hier gibt sie von Zeit zu Zeit Kurse in Gartengestaltung und -kultur. Ihre Arbeit besteht aber nicht nur darin, Laien zu diesem Hobby zu ermutigen. Sie arbeitet auch an Großprojekten wie der
Gartendesignerin Oh Kyung-ah blickt aus dem Oh Kyung-ah Institut für Gartengestaltung, das sich in einem Anbau ihres Hauses in Sokcho, Provinz Gangwon-do, befindet.
Gestaltung des Seed Bank Garden auf dem Gelände der Internationalen Gartenbauausstellung 2013 in der Suncheon-Bucht oder jüngst an der Gestaltung des Dachgartens eines Einkaufskomplexes in Bucheon, Provinz Gyeonggido.
Arbeit, die gesund und glücklich macht
Lim Hee-yun: Sie haben also früher Skripte für Radiosendungen verfasst? Oh Kyung-ah: Ich habe an der Universität Französistik studiert und gleich nach dem Abschluss für den Hörfunk zu arbeiten begonnen. Abgesehen vom Mutterschaftsurlaub habe ich von 1989 bis 2005 ununterbrochen gearbeitet. Lim: 2003 wurden Sie bei den Entertainment Awards des Rundfunksenders MBC sogar mit dem „Drehbuchautor-Preis des Jahres“ ausgezeichnet. Was hat Sie dazu gebracht, sich auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere urplötzlich dem Gartendesign zuzuwenden? Oh: Ich musste Tag für Tag an die DIN A4-Seiten Sendeskript verfassen, was mich geistig völlig ausgelaugt hat.
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Auch meine Gesundheit hatte sich verschlechtert, sodass ich häufig unter kleineren Beschwerden wie Nasennebenhöhlenentzündungen zu leiden hatte. Als ich dann eines Tages über die Mapo-Brücke fuhr, sah ich den dunklen, smogverhangenen Himmel über dem Stadtteil Yeouido. In dem Moment dachte ich, dass es schön wäre, einer Arbeit nachzugehen, mit der ich bis ins Alter hinein ein gesünderes und glücklicheres Leben führen könnte. Lim: Das brachte Sie dann zur Gartenarbeit? Oh: Ja. Ich bin in einem Haus mit Innenhof aufgewachsen. Dort blühten zu jeder Jahreszeit die unterschiedlichsten Blumen und Kletterrosen berankten die Mauern. Wirkliches Interesse und Freude an der Gartenarbeit entdeckte ich dann nach meiner Heirat. Kaum von der Arbeit nach Hause, warf ich meine Tasche ins Wohnzimmer und lief sofort in den Garten hinaus. Mein Mann meinte: „Wenn du mit deiner Rundfunkarbeit beschäftigt bist, bist du immer völlig angespannt und gereizt, aber kaum bist du im Garten, wirkst du sofort ruhiger und sprichst in einem viel entspannteren Ton.“ Da beschloss ich, nach einer zweiten Beschäftigung zu suchen, die etwas mit Gärten zu tun hat. Ohne etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, recherchierte ich einfach im Internet und stieß dabei auf Gartendesign. In meiner Schulzeit wurde ich kein einziges Mal für gutes Schreiben ausgezeichnet, dafür häufiger für meine Kunst. Das brachte mich zu dem Schluss, dass es für mich wohl nichts Besseres geben könnte, als meine geliebte Gartenarbeit mit Design zu verbinden. Ich machte mich sofort daran, meine Bewerbung
für ein Programm in England zu verfassen. Damals war ich 38. Lim: Das dürfte keine leichte Entscheidung gewesen sein. Wie war es dann vor Ort? Oh: Das Studienfach war wie auf mich zugeschnitten, aber ansonsten machte ich eine wirklich schwere Zeit durch. Meinen Mann hatte ich in Korea zurückgelassen und nur meine beiden Töchter mitgenommen, die damals die sechsjährige Grundschulzeit hinter sich hatten. Mein holpriges Englisch reichte gerade mal fürs Eröffnen eines Bankkontos, aber darüber hinaus musste ich auch noch eine Schule für die Kinder suchen und mich um ihr Wohl kümmern. Tag für Tag gab es brenzlige Situationen. Wenn ich morgens die Augen aufschlug, dachte ich als Erstes daran, was an dem Tag wohl wieder schieflaufen würde. Die sieben Jahre in England waren wohl die schwierigsten meines Lebens. Lim: Wie war das Gartendesign-Studium? Oh: Weil ich mich mit Pflanzen nicht so gut auskannte, war das Designen von Gärten erst mal unmöglich. Nach einer Besprechung mit meinem Professor beschloss ich, ein einjähriges Praktikum zu machen. Ich begann ein Praktikum beim Team von Kew Gardens in London, der ältesten modernen Gartenanlage der Welt. Dieses eine Jahr hat mir immens viel gebracht und ist bis heute mein größtes Plus. In Kew Gardens werden nämlich nicht nur Pflanzen gezüchtet, die der reinen Zurschaustellung dienen, sondern auch Pflanzen für Forschungszwecke. Ich meldete mich freiwillig für die verschiedensten Abteilungen und arbeitete mit allen
„ Es ist nicht so, dass es keine Schmetterlinge und Bienen mehr in den Städten gibt, sondern die Art und Weise unseres Lebens in den Städten verhindert, dass wir sie zu Gesicht bekommen.“
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In diesem Anbau gibt Oh von Zeit zu Zeit Kurse in Gartengestaltung und -kultur.
möglichen Pflanzen, angefangen von tropischen Pflanzen in Gewächshäusern bis hin zu krautigen Freiland-Sorten. In dieser Zeit habe ich diverse Erfahrungen sammeln können, die so nur vor Ort zu erhalten sind, angefangen von der Wasserversorgung über Schädlingsbekämpfung bis hin zum Schnitt. Lim: Gibt es einen großen Unterschied zwischen einem Gartendesigner und einem Gärtner oder Landschaftsgestalter? Oh: Ein Gartendesigner ist etwas völlig anderes als ein normaler Gärtner. Er ist zuständig für das Entwerfen und Planen des gesamten Umfelds eines Gebäudes, für welches wiederum der Architekt verantwortlich ist. Der Gartendesigner gestaltet den Raum so, dass die physikalischen Eigenschaften des Bauwerks und die Merkmale der einzelnen Pflanzen miteinander harmonieren, angefangen bei der genauen Anzahl von Sträuchern und krautigen Pflanzen über Farbkontraste von Blüten und Blättern bis hin zur spezifischen Textur der einzelnen Pflanzen. Wenn notwendig, gibt der Gartendesigner auch die Anfertigung spezieller Blumentöpfe oder Skulpturen in Auftrag. Er ist also jemand, der Erscheinungsbild und Ambiente einer Wohnstätte als Ganzes umfassend designt.
Zuflucht für den Geist
Lim: Heute geben Sie ja auch Kurse. Wofür interessieren sich die Teilnehmer am meisten? Oh: Eine der häufigsten Fragen ist, wie man Pflanzen richtig pflegt, sodass sie nicht eingehen. Pflanzen sterben aus den unterschiedlichsten Gründen, selbst wenn ihr Besitzer sie richtig pflegt. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Pflanzen, die in der Stadt gezogen werden, aus ihrem natürlichen Habitat genommen sind. Daher ist es unmöglich, dass sie die in Nachschlagewerken angegebene durchschnittliche Lebensdauer erreichen. Jemandem, der zu Hause Pflanzen aufziehen möchte, würde ich raten, es einfach mal zu versuchen und sich keine Gedanken darüber zu machen, ob sie vielleicht eingehen werden. In Korea sind Pflanzen zudem auch zu sehr vernünftigen Preisen zu haben. Lim: Ein Großteil der Koreaner wohnt jedoch in Städten und dazu noch in Wohnhochhäusern. Grenzt es denn nicht schon an Extravaganz, in einem solchen Wohnumfeld Pflanzen zu ziehen? Oh: Auf gar keinen Fall. Pflanzen sind für unsere geistige Gesundheit unentbehrlich. Beim Lesen von Online-Kommentaren spürt man, wie gereizt alle heutzutage sind. Auch
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© Monthly Gardening
Psychologen weltweit empfehlen nachdrücklich Gartenarbeit: Wenn man sieht, wie die ersten jungen Triebe sprießen, soll die Bildung körpereigener Heilhormone stimuliert werden, Hormone, die z.B. entstehen, wenn die Eltern erleben, wie ihr Kind die ersten Schritte macht. Vor einigen Jahren ermöglichte die British Medical Association sogar die Verschreibung von Gartenarbeit. Zweimal pro Woche zwei Stunden am Tag im Garten zu arbeiten helfe bei manchen Krankheiten besser als Schmerz- oder Beruhigungsmittel einzunehmen. Viele Pflanzen gedeihen auch in Innenräumen gut. Die meisten davon sind Arten, die im subtropischen oder ariden Klima wachsen. Dazu gehören z.B. großblättrige Spezies wie Gummibäume oder Steckenpalmen. Lim: Ich habe gehört, dass Sie vor kurzem für einen Einkaufskomplex in der Provinz Gyeonggi-do einen Dachgarten designt haben. Dachgärten scheinen zurzeit immer beliebter zu werden. Oh: Der Einkaufskomplex hatte gerade erst geöffnet, sodass überall noch Baumaterialien herumlagen, aber kaum hatten wir einige Pflanzen gesetzt, kamen Schmetterlinge und Bienen angeflogen, als ob sie nur in ihren Verstecken darauf gewartet hätten. Es ist nicht so, dass es keine Schmet-
terlinge und Bienen mehr in den Städten gibt, sondern die Art und Weise unseres Lebens in den Städten verhindert, dass wir sie zu Gesicht bekommen. In jüngster Zeit wird in immer mehr kommerziell genutzten Räumen versucht, durch Anlegen von Gärten mehr Kunden anzulocken. Gärten sind aber besonders dort nötig, wo sich Hochhäuser dicht an dicht drängen. Im Kreis Yangyang-gun ganz hier in der Nähe leben über 20.000 Menschen. Das entspricht etwa der durchschnittlichen Zahl der Einwohner, die in einer koreanischen Großstadt in drei Wohnhochausanlagen leben. Weil sich unzählig viele Menschen auf so engem Raum dicht an dicht drängen, fühlen sie sich schnell unruhig und unsicher, denke ich. Auch wenn es nur ein winziges Eckchen ist: Für unser Wohlbefinden ist es unerlässlich, die Natur in unseren städtischen Lebensraum zu holen.
Erfreuliche Pläne
Lim: Besuchen Sie auf Ihren Städtereisen auch immer die berühmten Gärten vor Ort? Oh: Ja. Bei der Flugreservierung plane ich stets einen Stopover in Städten mit besonderen Gärten ein. Bei meiner Keniareise habe ich z.B. einen Zwischenstopp in Thailand gemacht, um mir den Botanischen Garten Nongnooch anzusehen. Es ist auch schon mal passiert, dass ich einen bekannten Urlaubsort besuchte und kein einziges Mal am Strand war, weil ich mir nur die Gärten angeschaut habe. Auch in Dubai, wo viele eine Zwischenlandung machen, gibt es einen beeindruckenden Garten. Lim: Gibt es besondere Gärten in Korea, die Sie empfehlen würden? Oh: Es gibt sehr viele. Zu nennen sind z.B. der Garten der Morgenstille in Gapyeong, Provinz Gyeonggi-do; der Jade Garden in Chuncheon, Provinz Gangwon-do; der Seomi-Garten in Namhae, Provinz Gyeongsangnam-do und der Oedo Botania auf der Insel Oe-do, die zur Stadt Geoje gehört. Den Seomi-Garten besuche ich öfters, weil er im englischen Stil gestaltet ist und dort hauptsächlich krautige Pflanzen wachsen, was in Korea selten zu finden ist. Traditionelle koreanische Gärten sind natürlich auch sehenswert, so z.B. der Garten Soswaewon in Damyang und der Garten um den Pavillon Seyeonjeong auf der Insel Bogil-do im Kreis Wando, Provinz Jeollanam-do, oder der Garten Seoseokji im Kreis Yeongyang in der Provinz Gyeongsangbuk-do. Lim: Auf welche Punkte sollte man bei dem Besuch eines
Gartens besonders achten, um ihn noch besser genießen zu können? Oh: Achten Sie zunächst auf Grundfarbton und Harmonie der einzelnen Farben. Ein Garten kann z.B. ausschließlich in Weiß und Hellrosa gestaltet sein, um einen Pastelltoneffekt zu erzeugen, während ein anderer für eine kunterbunte Atmosphäre auf Farbenvielfalt setzt. Wer noch etwas tiefer gehen möchte, sollte sich auch die Farben der Töpfe und Kübel anschauen. Es gibt auch Gärten, die ganz auf Blüten verzichten und nur mittels der Textur der Blätter einen speziellen Effekt erzielen. Andere arbeiten mit Gestalt und Form, indem sie z.B. runde Blüten mit kugeligen Skulpturen kombinieren. Lim: Gibt es auch Filme, in denen Gärten eindrucksvoll dargestellt werden? Oh: Dazu kann ich nichts sagen, da ich meistens SF-Filme schaue. Ach, übrigens: Der Titel des britischen Films Der Kontrakt des Zeichners (1982) unter der Regie von Peter Greenaway wurde im Koreanischen mit „Mord in einem englischen Garten“ übersetzt, was schlichtweg falsch ist. Die Handlung spielt zwar in England, doch der Garten ist ein äußerst klassischer französischer Garten im Barockstil. Lim: Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus? Oh: In diesem Jahr war ich zu oft auf Dienstreisen. Nächstes Jahr möchte ich mehr Zeit in Sokcho verbringen und mich wieder stärker der Arbeit in meinem Garten widmen. Und dann möchte ich „The Shed“, dem Gartencafé, das ich 2019 eröffnet habe, den letzten Schliff geben. Und Kinderbücher schreiben. Vielleicht eine Serie, die Kindergeschichten mit einigen Grundkenntnissen über Gärten verbindet. Je früher man anfängt, etwas über Gärten und Gärtnern zu lernen, desto besser.
1. Oh Kyung-ah schuf diesen Garten, indem sie einen ausrangierten Container in der Seouler Stadtmitte zu einer Oase der Ruhe und Erholung inmitten der schnelllebigen Hauptstadt verwandelte. 2. Ein Garten im Hof der Joongang OB & GYN Clinic in der Stadt Sokcho. Da kein Sonnenlicht in den Hof kommt, wurden für das Design Gewächse wie Farne, Moose und blühende Lanzenfunkien gewählt. 3. Die Skizze für einen Kunstgarten-Ruheraum, eingereicht bei der 2014 Seoul Living Design Fair und unterstützt von der Hana Financial Group.
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Kranichtanz
Getragen von der Würde eines Gelehrten Der Kranichtanz aus der Region Dongnae, der in einer Gruppe von wenigstens drei bis maximal Dutzenden von Tänzern aufgeführt wird, steht für hehren Geist und Ideale der konfuzianischen Gelehrten, die durch Nachahmung der Bewegungen eines Kranichs symbolisch zum Ausdruck gebracht werden.
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Mit freundlicher Genehmigung von Lee Seong-hun
Der traditionelle koreanische Volkstanz Hakchum (Kranichtanz), der aus der Region Dongnae in der Stadt Busan stammt, bringt die Erhabenheit der konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit durch Nachahmen der Bewegungen eines Kranichs zum Ausdruck. Mangels historischer Aufzeichnungen lässt sich nur vermuten, dass sich der Kranichtanz aus anderen Formen des koreanischen Volkstanzes entwickelte. Der Dongnae-Hakchum, der von der Stadt Busan zum Immateriellen Kulturgut Nr. 3 designiert wurde, zeichnet sich durch die besondere Spontaneität seiner Improvisationen aus. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor
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ongnae ist heute zwar nur noch einer von vielen Verwaltungsbezirken der Millionenstadt Busan, aber während der Joseon-Zeit (1392-1910) war es ein wichtiges regionales Verwaltungzentrum und ein Dreh- und Angelpunkt von Kunst und Kultur. Die Ausbildungsstätte für Gisaeng (professionelle Unterhalterin), die sich gleich neben dem örtlichen Regierungsbüro befand, wurde von wohlhabenden Kunstliebhabern frequentiert, und die berühmten natürlichen heißen Quellen in der Gegend zogen Herrschaften mit viel Zeit und gutem Geschmack an. Im Dongnae-Yaryu, einer lokalen Version des Maskentanz-Schauspiels, die um den ersten Vollmondtag des Mondjahres aufgeführt wurde, traten eine Reihe unterschiedlicher Tänzer auf. Der lokalen Überlieferung nach soll eines Tages ein als Yangban (Hochwohlgeborener) verkleideter Mann erschienen und einen Tanz aufgeführt haben. Das Publikum war von der Anmut seiner an einen tanzenden Kranich erinnernden Bewegungen sofort in den Bann geschlagen. Dieser Moment war die Geburtsstunde des „Dongnae-Kranichtanzes“. Lee Seong-huns Kurzfassung über Ursprung und Hintergrund des Tanzes, für den er in Anerkennung seiner Expertise von der Stadt Busan als „Träger des Immateriellen Kulturgutes Nr. 3“ ausgezeichnet wurde, ist vielleicht aber auch keine vollständige Erklärung. „Es ist ein Volkstanz. Zeitpunkt oder Details seiner Entstehung wurden nie dokumentiert, sodass sich lediglich auf Basis der Erinnerungen der Ortsältesten von Dongnae Vermutungen anstellen lassen“, sagte Lee. „Was das Immaterielle Kulturerbe betrifft, so existiert kein Archetyp, sodass unzählige Variationen und Änderungen unvermeidlich sind. Da die Japaner während der Kolonialherrschaft (1910-1945) den Tanz in ihrem Versuch, die koreanische Kultur auszulöschen, verboten hatten, dürfte er vor dieser Zeit in wohl etwas anderer Form aufgeführt worden sein.“
Geist der konfuzianischen Gelehrten
Wie auch immer der Anfang und die Urform gewesen sein mögen: In seiner jetzigen Form ähnelt er dem Volksmaskentanz Deotbaegichum aus der im Südosten Koreas gelegenen Region Gyeongsang-do, wurde jedoch um die Nachahmung Kranich-typischer Bewegungen ergänzt. Anzumerken ist, dass die Tänzer, die in der Maske ehrenwerter konfuzianischer Gelehrter die graziösen Bewegungen eines Kranichs nachahmten, keine echten Gelehrten waren. „Die Seonbi (konfuzianische Gelehrten) der Joseon-Zeit, die sich ausschließlich ihren Studien zu widmen hatten, hielten Tanzen für unter ihrer Würde“, erklärte Lee. „Dennoch ist der Kranichtanz von ihrem Geist durchdrungen. Wahrscheinlich assoziierte man den erhabenen Charakter eines Seonbi mit der würdevollen Anmut eines Kranichs. In diesem Sinne haben die Tänzer der Vergangenheit wohl versucht, Geist und Ideale der Gelehrten zum Ausdruck zu bringen.“ Der Kranichtanz war ursprünglich ein Solotanz, wird heutzutage aber oft in Gruppen von drei bis zu mehreren Dutzend Tänzern aufgeführt. Der aus dreizehn festgelegten Grundbewegungen bestehende Tanz dauert ungefähr 14-einhalb Minuten. Krönung und Quintessenz ist für Lee Baegimsawi, eine
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Bewegung, bei der der Tänzer ein Bein weit nach vorne setzt und mit gebeugtem Knie auf und ab federt. Ebenfalls bemerkenswert sind die Verkörperung eines fliegenden Kranichs, für den der Tänzer mit weit schwingenden Armen läuft, sodass die ausladenden Ärmel seines Gewands wellenartig nach hinten fließen, sowie die Darstellung eines nach Nahrung suchenden Vogels. Bei der letzteren schwingt der Tänzer die Arme in die Luft, um sie dann am unteren Ende des Rückens zusammenzubringen, wobei er sich in der Taille nach vorne beugt und seinen Hals von einer Seite zur anderen reckt. Diese scheinbar einfachen Bewegungen erfordern für eine korrekte Ausführung ein nicht geringes Maß an Übung und Geschick. „Während sich der Tänzer im westlichen Ballett auf die Zehenspitzen stellt, setzt er bei den meisten traditionellen koreanischen Tänzen mit der Ferse auf, aber beim Kranichtanz quasi mit der ganzen Sohle des Fußes. Es gilt, selbstbewusste Würde auszustrahlen, auch wenn man gleichsam mit gebeugtem Rücken über ein Schneefeld trottet“, sagte Lee. Der schwierigste Teil des Tanzes ist das Atmen. Lee erklärte: „Wenn man die Intensität der Atmung auf einer Skala von 1 bis 10 misst, bewegen sich andere traditionelle Tänze wie Seungmu (Mönchstanz) oder Salpuri (Tanz zur Vertreibung des Bösen) sanft zwischen den Stufen 2 bis 7, während beim Kranichtanz die Atmung intensivere Sprünge aufweist, also z.B. auf 2 sinkt, um dann urplötzlich auf 8 hochzuschnellen.“ Ein weiteres Charakteristikum sind die spontanen, zwischen den festgelegten Tanzfiguren eingefügten Komponenten, die die einzelnen Tänzer in freier, aber geordneter Weise improvisieren, wobei sie jedoch stets die Beschaffenheit der Bühne und die Gesamtzahl der Tänzer bedenken. „Ich nenne es lieber ‚Improvisation‘ als ‚Freier Tanz‘, denn der letzteren Bezeichnung fehlt etwas der gebührende Respekt“, sagte Lee. „Die beiden Begriffe mögen noch so ähnlich sein, aber meiner Ansicht
„Obwohl Herr Lee weder besonders groß noch besonders stattlich gebaut ist, füllt er beim Tanzen die ganze Bühne. Es ist, als ob er einen Kranich in sich trüge.“
Für Lee Seong-hun liegt der besondere Charme des Dongnae-Kranichtanzes in den zwischen den Sets festgelegter Bewegungen eingefügten Improvisationen. © Korea Cultural Heritage Foundation
nach beeinflusst eine korrekte Bezeichnung die Einstellung des Tänzers. Die Improvisationen ermöglichen die Harmonie von künstlerischer und natürlicher Ästhetik, die zu einem vornehmen Ganzen verschmelzen.“
Einzigartige Begleitung
Der Kranichtanz wird von typischen Schlaginstrumenten begleitet, darunter Kkwaenggwari (Handgong), Jing (großer Gong), Janggu (Sanduhrtrommel) und Buk (Trommel). Ein weiteres Element, das sich in anderen Volkstänzen nicht findet, ist das begleitende Gu-eum (Summen). Gu-eum umfasst die Imitation koreanischer Instrumente wie Gayageum (zwölfsaitige Zither), Ajaeng (große siebensaitige Zither) oder Haegeum (zweisaitige Fidel), die Imitation von Geräuschen der Natur sowie melodisches Summen und Ausrufe. Lee stimmt seine Bewegungen auf das Summen ab und nicht auf den Handgong, der dem Tanz seine rhythmische Struktur verleiht: „Die menschliche
Stimme drückt Gefühle aus, daher fällt es mir leichter, mich in den Tanz einzufühlen. Die Schlaginstrumente werden unter die Stimme eingelegt. Die Stimme rundet ab, indem sie auffällige Instrumentengeräusche unterdrückt.“ Der Sänger gibt keine kohärenten Lautfolgen mit Bedeutung oder strukturierter Form von sich, sondern gleitet quasi auf den Tanzbewegungen und füllt den Bühnenraum zu geeigneten Zeiten und Anlässen. Aber das kann nicht jeder Sänger. Lees langjährige Mitarbeiterin ist die Sängerin Kim Sinyeong.
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1 © Korea Cultural Heritage Foundation
Bevor Kim ihre Lehrerin traf, war das Singen für sie reiner Zeitvertreib und über das Summen wusste sie nichts: „Die Stimme meiner Lehrerin war völlig anders als alles, was ich davor je gehört hatte, sie besaß einen unerklärlichen, ans Herz rührenden Reiz.“ Leider war es nicht möglich, direkt von ihr zu lernen, weshalb Kim jede Gelegenheit nutzte, sie bei ihren öffentlichen Auftritten summen und singen zu hören. „Um herauszufinden, welcher Klang am besten zu mir passt, musste ich mich zunächst einmal mit der ganzen regionalen Vielfalt der traditionellen Lieder und Klänge vertraut machen, darunter die der nordwestlichen Provinzen (Seodo-Sori), der südlichen Provinzen (Namdo-Sori) und der zentralen Provinz Gyeonggi-do (Gyeonggi-Sori). Irgendwann konnte ich dann auf Basis meiner Erfahrungen für jedes der verschiedenen Tanzgenres einen passenden Summstil bestimmen.“ Der Stegreifcharakter des Summens macht es eher zu einer intuitiv erworbenen Fähigkeit als zu einer Technik, die durch formelles Training erlernt werden kann. Im Gegensatz zum epischen Sologesang Pansori oder anderen Volksliedern gibt es beim Kranichtanz keinen Handlungsstrang, der den Sänger inspirieren könnte, weshalb ihrerseits „das Summen besser wird, je besser der Sänger den Tanz vesteht“, erklärte Kim. „Der Sänger kann beim Singen den Tanz erfassen oder auch nicht. Erfasst er ihn nicht, bedeutet es, dass der Sänger noch wenig Erfahrung und Gefühl für den betreffenden Tanz hat “, sagte Kim. „Ich fühle mich wohl, wenn ich zu Meister Lees Tanz singe. Wir haben schon so lange zusammengearbeitet, dass ich eine klare Vorstellung von seinem Tanzstil habe und auch davon,
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wie ich meinen Gesang auf jedes Detail seiner Tanzbewegungen abstimmen kann. Es ist noch nicht so lange her, dass ich diese Stufe erreicht habe. Es gibt andere Tänzer, die ebenfalls ausgezeichnet sind, aber mit denen es für mich etwas schwierig ist, zusammenzuarbeiten. Dann kann ich nicht so singen, wie ich eigentlich möchte.“ Lee, der Kim aufmerksam zugehört hatte, sagte mit fester Stimme: „Nachdem sich ein Sänger alle Formen des Singens angeeignet hat, muss er versuchen, alle Formen der menschlichen Freuden und Leiden durch seine Stimme zum Ausdruck zu bringen. Die Klänge aus den Tagen der Not, denen des Glücks und denen des Schmerzes müssen tief aus der Kehle aufsteigen und über seine Lippen quellen. Da der Klang seiner Stimme sein eigenes Leben widerspiegelt, sollte er sich in kritischer Selbstbetrachtung schulen. Dadurch kristallisiert sich schließlich der Charakter seiner Stimme und seines Gesangs heraus.“
Das dürfte sich Lee in den letzten dreißig Jahren auch immer wieder selbst gesagt haben, wenn er versuchte, Tanz „aus seinem Körper herauszuziehen“. Sein Tanz scheint von allen bestimmenden Momenten seines Lebens geprägt worden sein: von dem Tag, als er als Fünfzehnjähriger aus dem Elternhaus geworfen wurde, weil er das Tanzinstitut, in dem er zufällig vorbeigeschaut hatte, nicht vergessen konnte und Tänzer werden wollte; von den zehn Jahren seiner Jugend, die er in einem Tanzinstitut lebte und die kalten Blicke der anderen ertragen musste; von der Zeit, in der er nach einer Muskelverletzung vom modernen zum traditionellen Tanz wechselte; und von dem Moment, als er schließlich den Kranichtanz für sich entdeckte, während er die Darstellenden Künste der Region Dongnae studierte. Kim antwortete auf Lees Rat mit einem verständnisvollen Nicken: „Meine Lehrerin sagte, dass eine wahre Sängerin nicht nur mit dem Mund, sondern mit ihrem ganzen Körper und Geist singen muss. Man sollte viele Tränen vergießen und viel lernen, um das ganze Universum in seinen Gesang einfließen zu lassen.“
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Ans Herz rührende Tänze und Gesänge
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1. Lee Seong-hun (Mitte) führte eine Gruppe von Tänzern bei der Darbietung des Dongnae-Kranichtanzes im Kunst- und Kulturzentrum Osan an (6. Sept. 2019). Die Aufführung war Teil eines Events mit dem Titel „Sollen wir pungnyu?“ (pungnyu: sich der Feinen Künste erfreuen) 2. Lee Seong-hun, mit 15 aus dem Elternhaus geworfen, verfolgte seinen Traum vom Tanzen in dem Tanzinstitut, wo er auch lebte. In den frühen 1980er Jahren begann er als Mitglied des Tanzensembles der Stadt Busan mit Aufführungen des DongnaeKranichtanzes. 2016 wurde er von der Stadt Busan für seine Vorführungen als Träger des Immateriellen Kulturgutes Nr. 3 ausgezeichnet. 3. Die Vokalistin Kim Sin-yeong, die den Kranichtanz mit Summen begleitet, ist bemüht, ihren eigenen Summstil zu schaffen, der den ihrer verstorbenen Lehrerin Yu Geum-seon noch übertrifft.
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© Ahn Hong-beom
Der Tänzer und die Sängerin, die so lange zusammen aufgetreten sind, sagten über die Kunst des anderen: „Obwohl Herr Lee weder besonders groß noch besonders stattlich gebaut ist, füllt er beim Tanzen die ganze Bühne. Es ist, als ob er einen Kranich in sich trüge.“ Und Lee kommentierte: „Der Sänger muss auch den Charakter des Tänzers gut kennen. Da Kim Sin-yeong meine kleinen Marotten genau kennt, kann ich gut nach ihrem Summen tanzen. Aber sie muss sich von ihrer verstorbenen Lehrerin lösen. Selbst wenn sie das Klanggefühl ihrer Lehrerin beibehält, muss sie versuchen, einen eigenen, unverwechselbaren Klangstil zu schaffen. Das mag zunächst vielleicht nicht so gut ankommen, aber nur so kann sie einen originären Stil kreieren.“ Nach seiner Arbeit befragt, wirkt der Tänzer, der nun seinen Tanz bzw. seine Kunstwelt getrennt von seinem realen Ich bzw. seiner realen Welt betrachten kann, gelassen. Er sagte, dass er seine eigene Fantasiewelt erschaffe, sobald er auf der Bühne stehe und die Musik zu spielen beginne. Dann fühle er sich, als ob er durch ein Shangri-La streife. In dieser seiner eigenen Fantasiewelt gebe er sich Mühe und versuche, sich Jahr für Jahr weiter zu verbessern. Aus der Antwort der Sängerin, die wohl glaubt, aus ihrer Stimme noch nicht alles herausgeholt zu haben, sprach so viel Bescheidenheit wie aus der bedeckten Haltung, in der sie neben dem Tänzer saß. Kim sagte, dass der summende Sänger eine begleitende Rolle im Kranichtanz spiele, weshalb er dem Tanz folgen und sich völlig darin verlieren müsse. Sie warte auf den Tag, an dem sie sich völlig in den Sänger einfühlen kann. Trotz der subtilen Unterschiede in ihren Antworten stellten sich wohl beide Künstler in ihrer Fantasie vor, wie tausend Tänzer auf dem Gwanghwamun-Platz im Herzen Seouls den Kranichtanz aufführen. Während sich die tausend Tänzer mit der Würde eines edel gesinnten Gelehrten bewegen, ihre langen weißen Gewänder im Wind flattern und der summende Gesang durch Himmel und Erde schwingt, würde die Welt ein noch schönerer Ort werden, zumindest um soviel schöner wie ihre Anstrengungen für den Tanz und den Gesang.
KUNSTKRITIK
Tragik der Geschichte, eingehüllt in Herzenswärme Die Oper 1945 wurde dieses Jahr von der Koreanischen Nationaloper auf die Bühne gebracht, um an den 100. Jahrestag der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919 und die anschließende Gründung der provisorischen Regierung Koreas in Shanghai zu gedenken. Vor dem Hintergrund der derzeitig wieder angespannten Beziehungen zwischen Korea und Japan kommt dem Werk eine besondere Bedeutung zu. Ryu Tae-hyung Musik-Feuilletonist
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Die Oper 1945, die von der Koreanischen Nationaloper von Ende September bis Anfang Oktober 2019 aufgeführt wurde, spielt in düstersten Zeiten, aber die vom Produzenten eingestreuten humoristischen und satirischen Einlagen vermittelten dem Publikum ein Gefühl der Wärme. In dieser direkt nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelten Szene bereiten die Frauen in einem Übergangslager für Flüchtlinge in der Mandschurei Reiskuchen zu. © Korea National Opera
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ensation der diesjährigen Oper-Herbstsaison war 1945. Dieses von der Koreanischen Nationaloper von Ende September bis Anfang Oktober 2019 im Seoul Arts Center und im Daegu Opera House uraufgeführte Werk, das auf dem gleichnamigen, vom Koreanischen Nationaltheater aufgeführten Theaterstück beruht, bestach durch seine superbe Qualität. Die Produktion wurde auf Vorschlag des Komponisten Choe Uzong, der vom Originaldrehbuch des Autors Pai Samshik zutiefst beeindruckt war, auf den Weg gebracht. Die Handlung spielt in der Mandschurei im Jahr 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft. Anhand von Episoden in einer Notunterkunft, in der vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Koreaner auf dem Weg zurück in die befreite Heimat vorübergehend untergebracht sind, wird das Leben der damaligen Zeit detailliert und lebendig wiedergegeben. Protagonistinnen sind die Koreanerin Buni und die Japanerin Mizuko, die vom japanischen Militär sexuell versklavt wurden. Nach der Befreiung Koreas schlägt Buni Mizuko vor, dass jede ihre eigenen Wege gehen sollte. Doch fällt es ihr schwer, die schwangere Mizuko im Stich zu lassen, sodass sie sie als ihre stumme Schwester ausgibt und nach Korea mitnehmen will. Die Handlung bringt das Publikum
dazu, über die nationalistisch geprägte Schwarz-Weiß-Sicht der koreanisch-japanischen Beziehungen hinaus über Toleranz und Großmut nachzudenken. Dass die Zuschauer tief von der Oper ergriffen waren, lag nicht nur an der thematischen Fokussierung auf der menschlichen Natur und der Tragik des Lebens, sondern auch daran, dass Autor Pai selbst das Libretto schrieb, wodurch die Handlung an Plastizität gewann. Die dramatische Spannung wurde zudem dadurch erhöht, dass der Komponist eine Reihe von in der damaligen Zeit beliebten Musikstücken unterschiedlichen Hintergrunds und Stils auf exquisite Weise einstreute. Zudem ließ der für seine geistreiche Interpretation und sein hervorragendes Auge für Bühnengestaltung bekannte Regisseur Koh Sun-woong sogar in die traurigsten Szenen geistreichen Humor einfließen, sodass das Werk sich nicht in Melodramatik verlor, sondern vielmehr Empathie hervorrief. Dazu bot Dirigent Chung Chi-yong, der für seine feinfühlige, aber kraftvolle Orchestrierung bekannt ist, eine erstklassige musikalische Vorführung.
Die Musik dient der Sprache
Mit Sicherheit waren es aber die Rezitativtexte, die die größte Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die Rezitative, bei denen der Fokus stärker auf dem Text als auf der Melodie liegt, erinnerte an Opernwerke des 20. Jhs wie Wozzeck oder
1. Von links: Komponist Choe Uzong, Dirigent Chung Chi-yong, Regisseur Koh Sun-woong und Drehbuchautor Pai Sam-shik. Die Oper 1945 sorgte in der Herbstsaison 2019 für die größte Furore in Koreas Szene der Darstellenden Künste, da sie gekonnt ein gut ausgearbeitetes Skript, schöne Musik, eine erstklassige Aufführung und eine überragende Produktion verband.
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2. Eine Koreanerin, die in einer provisorischen Unterkunft von den anderen wegen ihrer Heirat mit einem Japaner verurteilt wird, verteidigt sich gegen die Vorwürfe. Die Oper stellt die Schwarz-Weiß-Logik des Nationalismus in Frage und plädiert für Toleranz auf Basis von Verständnis und Mitgefühl für die Schmerzen der anderen.
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Lulu des österreichischen Komponisten Alban Berg. Untertitel verhalfen zudem zu einem vertiefteren inhaltlichen Verständnis. Choe erklärte, dass er sich beim Komponieren immer wieder fragte: „Welche Lieder wurden damals wohl wie gesungen und wie wurden sie bekannt?“ Für ihn waren die 1930er und 40er Jahre, die historisch gesehen Zeiten des Leidens waren, eine „musikalische Schatzkammer“. Die Oper bot schließlich eine bunte Mischung unterschiedlichster Stile, die von dem Kinderlied Mama, Schwester und dem in den 30ern beliebten Trott-Lied Der pfeifende Zug in die Mandschurei über Jazz-Musik bis hin zu den damals weit verbreiteten Changga (koreanischer Gedichttext vertont mit westlicher Melodie) und Militärliedern reichte. Aber das Werk ist kein zusammengestückeltes Pasticcio. Choe hörte sich die ausgewählten Musikstücke auf einem Grammofon wiederholt an und bearbeitete sie für die Oper. Dabei sah er von einem theoretischen Ansatz auf Grundlage von Tonleitern, Tonsystemen und Formen ab und versuchte statt dessen sich zunächst mit den Liedern vertraut zu
machen, um die bekannten Melodien in einem neuen Kontext frisch und neu klingen zu lassen. So wurden diese sich durch die ganze Aufführung ziehende „musikalische Fiktion“ letztendlich zu einem Mechanismus, der Fühlen und Mitfühlen förderte und zum Eintauchen in das dramatische Geschehen einlud. Natürlich ist Choe nicht der Erfinder dieser Methode. Schon früher haben Musiker wie Bach, Mozart und Beethoven nicht selten Anleihen bei allseits beliebten und vertrauten Melodien ihrer Zeit gemacht. Auch in der Oper 1945 ließen die direkten musikalischen „Zitationen“ und die indirekt eingewobene Gegenwärtigkeit das Bühnengeschehen realistischer wirken. Bereits in seiner allseits gelobten Oper Arriving on the Water Like the Moon (2014 uraufgeführt) strebte Choe unbeirrt eine Musik an, die der Sprache dient. In 1945 ging er noch ein gutes Stück darüber hinaus und füllte Sprache in das alte, aber doch immer wieder neue „Gefäß“ namens Musik. Daran waren das vertiefte Können und die breiter gewordene Schaffenswelt des Komponisten zu erkennen.
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Bewegende dramaturgische Gestaltung
1945 behandelte zwar einen schmerzhaften Teil der koreanischen Geschichte, bescherte dem Publikum aber durch humorvolle und satirische Elemente spannende und entspannende Momente. Das Lied Der pfeifende Zug in die Mandschurei, bei dem der ganze Cast in Schlangenformation aufgereiht singend über die Bühne zieht, brachte Bühne und Künstler den Zuschauern ein großes Stück näher und erntete spontanen Applaus. Das japanische Lied, gesungen von Geschwistern, die während der japanischen Kolonialherrschaft auf die Welt kamen und daher keine genauen Vorstellungen von „Vaterland“ haben, oder das von Mizuko gesungene Lied war so wohlklingend und rein wie der Vollmond am klaren Herbsthimmel. Der kleine Wirbel über den von einem der Charaktere mitgebrachten getrockneten Pollack, oder die Szene, in der die Frauen Reiskuchen zubereiten, ist keine Darstellung der Armut der damaligen Zeit, sondern eher ein Ausdruck der Fülle, da sie deutlich machen, dass nichts und niemand die Träume eines Menschen zerstören kann, auch wenn die Leiden aufgrund von Armut und Nomadenleben noch so groß sein mögen. Die Dramatik erreichte ihren Höhepunkt, als Mizuko sich als Japanerin entpuppt, wobei der geschickte Wechsel von Spannung aufbauenden bzw. abbauenden Szenen ein natürliches und abgerundetes dramatisches Ganzes schuf. Die fein gesponnene Originalgeschichte von Pai Samshik und die ausgereifte Musik von Choe Uzong sorgten zusammen mit der Inszenierung von Koh Sun-woong für einen fließenden Handlungsverlauf. Im vierten Akt fiel der Vorhang zwischen den Menschen, die es in den Zug geschafft hatten, und Buni und Mizuko, denen das nicht mehr gelang – ein symbolischer Moment, der die Teilung Koreas andeutet. Bei der Zugszene kam die Musik des französischen Komponisten François Couperin zum Einsatz, die ein Abrutschen in klischeehafte Banalität verhin-
derte. Das Duett, das Buni und Mizuko im darauf folgenden Epilog vor dem Hintergund verschneiter Fluren sangen, dürfte wegen seiner filmszenenhaften Inszenierung einen nachhaltigen Eindruck in den Herzen der Zuschauer hinterlassen haben.
Formidable Besetzung
Eine Oper kann nicht erfolgreich sein, wenn der Gesang schlecht ist. Das gilt umso mehr, wenn es sich um die Adaptation eines Theaterstücks handelt. Die Sopranistin Lee Myung-joo in der Rolle von Buni bewies erneut ihr Talent, das sie bereits auf großen Bühnen wie bei der Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie mit dem Seoul Philharmonic Orchestra demonstriert hatte. Die Sopranistin Kim Soonyoung, die bereits in Musicals überzeugt hatte, porträtierte Mizuko in ihrer gelassenen Art vortrefflich. Auch der Tenor Lee Won-jong in der Rolle von Oh In-ho, der sich zu Buni hingezogen fühlt und ihr hilft, und die Mezzosopranistin Kim Hyang-eun, die Bak Seop-seop, einen lebenstüchtigen und zähen, aber in seiner Menschlichkeit liebenswerten Charakter, verkörperte, zogen das Augenmerk auf sich. Das von Chung Chi-yong geleitete Korean Symphony Orchestra erhielt eine subtile Spannung zwischen tonaler und atonaler Musik aufrecht und brachte mit seiner Darbietung Lyrizität und Fülle der Liedtexte hervorragend zum Ausdruck. Die zweite Hälfte des Jahres 2019 war geprägt von der Verschlechterung der koreanisch-japanischen Beziehungen aufgrund der unterschiedlichen Geschichtsauffassung der beiden Nachbarländer. Die Oper 1945, die vor diesem Hintergrund auf die Bühne gebracht wurde, erzählte von zwei Trostfrauen unterschiedlicher Nationalität, die über die Konflikte der beiden Nationen hinaus einander mit Warmherzigkeit begegnen. Gerade das verleiht ihr besondere Bedeutung.
Die Dramatik erreichte ihren Höhepunkt, als Mizuko sich als Japanerin entpuppt, wobei der geschickte Wechsel von Spannung aufbauenden bzw. abbauenden Szenen eine natürliches und abgerundetes dramatisches Ganzes schuf.
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1, 2. Der Zug, der die Bewohner der provisorischen Unterkunft zurück nach Korea bringen soll, kommt an, aber Buni und Mizuko schaffen es nicht einzusteigen. Buni beschließt, an der Seite ihrer japanischen Leidensgenossin Mizuko zu bleiben, anstatt mit ihren Landsleuten nach Hause zurückzukehren.
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VERLIEBT IN KOREA
„E
in nahes und doch fernes Land“ – mit diesem alten Cliché beschreiben Korea und Japan seit langem ihre Beziehung zueinander. Die Künstlerin Hitomi Sakabe kann dem nur zustimmen. In ihren Augen sind die beiden Länder unterschiedlicher als die meisten Nachbarländer auf der Welt und die Unterschiedlichkeit manifestiert sich am deutlichsten im Nationalcharakter. Dieser Kontrast ist einer der Hauptgründe, warum Sakabe nicht wieder nach Japan zurückgekehrt ist, und das, obwohl die Geschichte der modernen Malerei in Japan weiter zurückreicht als in Korea und auch das Interesse an den Schönen Künsten ausgeprägter ist. „Verglichen mit der koreanischen Gesellschaft ist die japanische viel stabiler und berechenbarer, es gibt kaum große Veränderungen. Korea hingegen sprüht vor Dynamik und Vitalität“, sagt sie. „Während Japan in sich geschlossen und auf seine spezifische Art einmalig ist, ist Korea dem Rest der Welt gegenüber offener und die Koreaner kommen besser mit Fremden zurecht als die Japaner.“ „Für meine Begriffe ist Japan viel zu sehr in sich geschlossen und eng“, erklärt sie und fügt hinzu, dass sie, wenn sie in Japan leben würde, vielleicht noch nicht einmal arbeiten würde. „Die meisten japanischen Frauen, darunter auch meine Freundinnen, haben den Status quo internalisiert und verspüren im Vergleich zu den Koreanerinnen auch weniger Motivation, berufstätig zu sein.“
Tiefere Wurzeln schlagen
Bedenkt man die gemischten, ja manchmal feindseligen Gefühle der Koreaner gegenüber Japan, könnte sich ein
japanischer Expat in Korea durchaus unwohl fühlen. Aber Sakabe, die mittlerweile länger in Korea als in Japan gelebt hat, fühlt sich heimisch. Sie hat sich so sehr an Korea gewöhnt, dass ihre Heimatbesuche immer mit einem Kulturschock verbunden sind. Die in Tokio geborene Sakabe wuchs in einer kleinen Küstenstadt in der Nähe von Nagoya in Zentraljapan auf. 1996, als sie in der 7. Klasse war, kam sie mit ihren Eltern nach Korea. Sie besuchte die Sunhwa-Mittel- und Oberschule für Kunst in Seoul, studierte Moderne Malerei und Design und schloss die Graduiertenschule der Seoul National University mit der Promotion in Designwissenschaft ab. Sakabe heiratete einen im IT-Bereich tätigen Koreaner, den sie während des Studiums kennenlernte. 2010 und 2015 kamen ihre beiden Kinder zur Welt. Nach der Geburt des ersten Kindes begann Sakabe mit dem Illustrieren von Kinderbüchern. Sie hat eine ganze Reihe von Bilderbüchern herausgebracht und ihre Bilder in mehreren Ländern ausgestellt. Da sie weiche, von Hand gezogene Linien vor geraden, computergenerierten Strichen bevorzugt, finden sich in ihren Bildern klumpig-pummelige Figuren und bunte Landschaften, die Kindheitserinnerungen wecken. Sakabe, die sich selbst als „Grenzgängerin“ oder „marginalen Menschen“ bezeichnet, sagt, dass das gegenwärtige Zeitalter multiple Kompetenzen verlange. „In der heutigen Zeit, in der Multitasking gefordert wird, versuche ich meinen Arbeitsbereich auszuweiten. Die Ungewissheit der Zukunft zwingt mich, neue Herausforderungen anzunehmen.“ „Wenn ich im Hauptberuf Malerin, Designerin oder Illust-
Eine „Grenzgängerin“ Hitomi Sakabe, die als Teenagerin nach Korea kam, hat mittlerweile einen Großteil ihres Lebens außerhalb Japans verbracht. Während ihrer Zeit in Korea hat die Professorin und Künstlerin viele Grenzen überschritten und immer das Beste aus der jeweiligen Situation gemacht. Choi Sung-jin Chefredakteur, Korea Biomedical Review Fotos Heo Dong-wuk
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Hitomi Sakabe, die Graphikdesign an der Fakult채t f체r Design f체r visuelle Kommunikation der Keimyung University unterrichtet, illustriert auch Kinderb체cher. In den Semesterferien und nach den Unterrichtsstunden widmet sie sich ihren Malereien und Illustrationen.
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ratorin wäre, wäre alles viel einfacher gewesen, denn dann hätte ich nur ein einziges Thema wählen und mich unter verschiedenen Aspekten damit befassen können. Aber da meine Position mir nicht erlaubt, mich nur auf eine Sache zu konzentrieren, wage ich mich in verschiedene Bereiche, um mich weiterzuentwickeln.“ Als Hauptthema ihrer Arbeiten und Interessen nennt Sakabe „Archivieren“ bzw. die Gegenwart festhalten. Menschen und Ausschnitte aus dem Alltagsleben wie z.B. Kleiderschnitte sind ihre Lieblingsthemen. Sie arbeitet als Dozentin an der Fakultät für Design für visuelle Kommunikation der Keimyung Universität in Daegu, einer Stadt, die sie als das „Nagoya von Korea“ bezeichnet. In historischer und industriegeschichtlicher Hinsicht kommt beiden Städten eine ähnliche Bedeutung für das jeweilige Land zu. „Ich versuche, meinen Studenten einen möglichst guten Unterricht zukommen zu lassen“, sagt Sakabe. „Ich überlege mir immer, wie ich meine Stärken nutzen kann, um sie zu fördern.“ Urlaub, Semesterferien und die Zeit nach dem Unterricht widmet sie ihren Gemälden und Illustrationen. Ihr Lieblingskünstler ist Henri Matisse. Ihr gefällt die heitere und angenehme Stimmung der Werke dieses französischen Künstlers.
Ernüchternde Realität
Derzeit sind die Beziehungen zwischen Korea und Japan aufgrund des anhaltenden Disputs über die Entschädigung koreanischer Zwangsarbeiter während der Kolonialherrschaft auf einem Tiefstand. In diesem Zwist, der kennzeichnend für die seit jeher unbehaglichen Beziehungen der beiden Nachbarländer ist, scheinen schmerzhafte Erinnerungen und schwelender Groll stets unter der Oberfläche zu lauern. Als sich Sakabe in der Oberschule Seite an Seite mit ihren koreanischen Klassenkameraden mit der Geschichte Koreas beschäftigte, nannten Lehrer und Schüler die Japaner nur „Japse“. Sakabe glaubt, dass Korea und Japan aufgrund ihrer unglücklichen gemeinsamen Geschichte niemals einfach „ein ausländisches Land“ füreinander sein können. „Viele Japaner, die schon lange in Korea leben, empfinden so etwas wie eine Erbschuld, auch mir geht es so.“ Sakabe gesteht, dass sie sich in dem Land, in dem sie bereits über zwei Jahrzehnte lebt, manchmal immer noch als Fremde fühlt. „Man kann zwar schlecht verallgemeinern, aber viele Japaner halten die Koreaner für etwas ungehobelt, während die Koreaner glauben, dass die Japaner ihre wahren Gefühle verbergen. Aus meiner Sicht sind beide Völker feinfühlig, wenn auch auf unterschiedliche Art.“ Sie nennt die Beziehungen zwischen den älteren und jüngeren Gene-
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rationen als Beispiel: „Für Koreaner ist das Alter ein wichtiger Faktor. In Korea z.B. behandeln einige Ladenbesitzer jüngere Kunden manchmal etwas von oben herab, während in Japan selbst Professoren bemüht sind, ihren Studenten gegenüber gute Umgangsformen zu wahren.“ Unter dem Strich gesehen ist Sakabe aber froh, dass ihre Kinder Koreaner sind, denn sie glaubt, dass koreanische Kinder mehr Schneid besitzen, pragmatischer sind und positiver auf Veränderungen reagieren als ihre japanischen Altersgenossen. Sie hat sich so an die koreanische Art gewöhnt, dass sie manchmal etwas perplex ist, wenn sie Japan besucht. „Die japanische Gesellschaft hat ihre eigenen Normen, und die Menschen werden schnell verlegen, wenn sie vom Standardmaß abweichen. In dieser Hinsicht ist Korea offener und allgemein kosmopolitischer.“
Gleich aber anders, anders aber gleich
Auf die Frage nach dem derzeitigen Riss in den diplomatischen Beziehungen meint Sakabe, dass es mehr als Politik brauche, um die Probleme zu lösen. Einige ihrer koreanischen Bekannten fragen ihre Kinder, welche Mannschaft sie in einem Fußballspiel Korea gegen Japan unterstützen würden. Sakabe betont, dass internationale Beziehungen etwas anderes als Sportwettkämpfe sind, bei denen es nur einen Gewinner gibt. „Wir sind Nachbarn, die miteinander auskommen müssen. Ein Individuum kann woandershin ziehen, wenn er oder sie die Nachbarn nicht mag. Ein Land kann das nicht.“ Wenn Sakabes Familie Japan besucht, schickt sie ihre Kinder in die Schule in der Nähe ihres Elternhauses. Sie hält es für wichtig, dass sie lernen, was kulturelle Diversität bedeutet, denn einseitige, engstirnige Ansichten können Vorurteile bewirken. Sakabe sagt, dass sie keine großartigen Zukunftspläne hat, sondern nur hoffe, weiterhin das machen zu können, was sie jetzt macht. „Ich habe verschiedene Grenzen überschritten und werde auch in Zukunft Grenzen überschreiten, was sich auch nachteilig auswirken könnte“, sagt sie. „Andererseits ist gerade meine Position als Grenzgängerin für mich zu einem Pluspunkt geworden. Manchmal erleben wir, dass die vermeintlichen Außenseiter zu erfolgreichen Spielern werden. Ich betrachte mich als solch eine unbekannte Größe.“ „Wir alle wollen mit anderen verbunden sein und Gemeinschaften bilden, seien sie nun groß oder klein. Wir möchten, dass andere uns anerkennen. Wir sind anders und doch gleich, gleich und doch anders“, schrieb Sakabe auf den Einband ihrer Sammlung mit illustrierten Essays mit dem Titel Stein auf Stein, so geht das Leben weiter.
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1, 2, 3. Das im Sommer 2019 veröffentlichte Bilderbuch Tolle Zeit in Mamas Heimatstadt zeigt, wie Sakabes Kinder die Heimatstadt ihrer Mutter erlebten: Erinnerungen, die Sakabe in warmen Zeichnungen aufleben lässt.
„Wir sind Nachbarn, die miteinander auskommen müssen. Ein Individuum kann woandershin ziehen, wenn er oder sie die Nachbarn nicht mag. Ein Land kann das nicht.“ KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
© Encyclopedia of Korean Culture
Kriegswunden und Hoffnung Busan, die Interimshauptstadt Südkoreas während des Koreakriegs (1950-1953), galt als der sicherste Fluchtort, sodass die Bevölkerungszahl innerhalb kurzer Zeit von 470.000 auf 840.000 stieg. Die literarischen Werke, die hier entstanden, werden unter der Sammelbezeichung „Fluchtliteratur“ zusammengefasst. Sie beschreiben Leid und Verzweiflung des Lebens auf der Flucht, aber auch den starken Willen, trotz aller Aussichts- und Hoffnungslosigkeit überleben zu wollen. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
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er Koreakrieg, der von Juni 1950 bis Juli 1953 dauerte und schmerzhafte Narben in der Bevölkerung hinterließ, wurde von feinfühligen Schriftstellern, die Frustration und Wunden des Bruderkriegs beschrieben, literarisch verarbeitet. Besonders der Rückzug am 4. Januar 1951, als die südkoreanische Armee und die verbündeten UNO-Truppen, die bis zur chinesischen Grenze vorgerückt waren, wegen der Gegenoffensive der chinesischen Volksfreiwilligenarmee Seoul aufgeben und sich wieder nach Süden zurückziehen mussten, bot Stoff für zahlreiche Erzählungen und Gedichte, die unter „Fluchtliteratur“ subsumiert werden. Dazu zählen u.a. die Erzählung Evakuierung von Heungnam (1955) von Kim Dongni (1913~1995), die die zum Jahresende 1950 gestartete Operation zur Evakuierung von Zivilisten in der nordkoreanischen, am Ostmeer gelegenen Stadt Heungnam thematisiert; der Roman Die hohe, blaue Leiter (2013) von Gong Jiyoung (1963~) sowie der Roman Menschen aus dem Norden. Menschen aus dem Süden (1996) von Lee Hochol (1932~2016), der aus der nordkoreanischen Stadt Wonsan stammte, aber später in Südkorea lebte. Etwas enger definiert meint „Fluchtliteratur“ nur die Werke, die von Menschen erzählen, die um die Zeit des Rückzugs am 4. Januar 1951 Seoul verließen und nach Daegu oder Busan gingen. In der Hafenstadt Busan am südöstlichen
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Ende der Halbinsel, der zweitgrößten Stadt Südkoreas, fristeten unzählige Flüchtlinge in erbarmungswürdigen Verhältnissen ihr Leben, darunter auch Schriftsteller. Die Flüchtlinge, die nichts als die nackte Haut hatten retten können, mussten die überlebenswichtigen Probleme Nahrung und Unterkunft lösen. Diejenigen, die keine Bleibe fanden, mussten sich mit Lehmhütten oder Höhlen behelfen, wo sie auf das Kriegsende und die Rückkehr nach Seoul warteten. Kim Yi-seok (1914~1964), ein aus Pjöngjang stammender, nach Südkorea übergesiedelter Schriftsteller, beschreibt die Zustände in seiner Erzählung Winterschlaf (1958) wie folgt: „Der Wind aus dem Norden tobte den ganzen Tag und drohte, als er durch unser Zimmer pfiff, die Bretterwände umzufegen und das Blechdach davonzutragen, als seien ihm die Baracken mitten auf dem Feld lästig.“ Bei Leuten, zu denen man nur eine vage Beziehung hatte, unterzukommen, war auch nicht einfach. Hwang Sunwon (1915~2000), der ebenfalls aus dem Norden stammt, beschreibt in seiner autobiographischen Erzählung Zirkuskünstler (1952) die Misere, die er und seine Familie in Daegu und Busan erlebten, auf realistische Weise. In beiden Städten musste Hwangs Familie bei Bekannten unterkommen, wo sie aufgrund der nackten Verachtung der Familie des Hausherrn schließlich vertrieben wurden bzw. man sie
spüren ließ, dass es besser wäre, wenn sie gingen. Hwang, der seine Unfähigkeit, als Oberhaupt für seine Familie sorgen zu können, beklagt und mitansehen muss, wie seine jungen Kinder in dieser Situation Geld verdienen, vergleicht seine Situation und die seiner Familie mit einer Zirkustruppe und ihrem Leiter: „Ich hoffe nur, meine kleinen Pierrots, dass ihr, wenn ihr später eine eigene Zirkustruppe habt, mit euren eigenen kleinen Pierrots eine solche Vorstellung und solche Kunststücke nicht wiederholt.“ Lee Hochol, der alleine aus dem Norden nach Busan gekommen war, führte seine literarischen Studien fort, während er zunächst im Hafen, danach in einer Nudelfabrik und später als Pförtner Geld verdiente. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete er in seiner Debüterzählung Heimatlos (1955). Die Erzählung beginnt mit der ungeschminkten Darstellung des Unterkunftsproblems: „Der Frachtwaggon, in dem wir eine Nacht verbracht hatten, war oft in der folgenden Nacht verschwunden. Wir mussten mehrere Male an einem Abend von einem Waggon zum nächsten wechseln.“ In der Erzählung Regentage (1953) des ebenfalls in Nordkorea gebürtigen Schriftstellers Son Chang-seop (1922~2010) werden Dong-uk und seine Schwester Dong-ok, die während des Rückzugs am 4. Januar nach Busan kommen und in einem schäbigen Haus zur Miete wohnen, durch die Augen von Dong-uks Freund Won-gu betrachtet. Der Regen, der die ganze Erzählung hindurch fällt, steht für die Fesseln einer Realität, die die Geschwister quälen und einpferchen. Glücklicherweise kann Dong-ok, die ein verkrüppeltes Bein hat, so gut malen, dass die Geschwister von dem Geld, das sie mit dem Porträtieren von GIs verdient, gut leben können. Aber schließlich geht diese Einkommensquelle verloren. Gegen Ende der Erzählung werden die Geschwister um ihre gesamten Ersparnisse betrogen und aus dem Mietzimmer hinausgeworfen, woraufhin sich ihre Spuren schließlich verlieren. Die Erzählung beschreibt das Leben der Flüchtlinge realitätsnah, wobei sie gleichzeitig an eine dem Menschenleben eigene Urangst und Tragizität im Sinne des Existentialismus rührt. Repräsentativ für die epische Literatur mit Busan als Kulisse der damaligen Zeit wäre jedoch die Erzählung Die Mildawon-Zeiten (1955) von Kim Dongni. Diese Erzählung, in der zur damaligen Zeit aktive Schriftsteller unter leicht veränderten Namen auftreten, bietet einen Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten und die Stimmung, die in den Zeiten der Flucht in den Busaner Schriftstellerkreisen herrschte. Nach Geschichte der koreanischen Literaturwelt des Literaturkritikers Kim Byeong-ik (geb. 1938)
wurde der Protagonist Yi Jung-gu dem Schriftsteller Yi Bong-gu (1916~1983) nachempfunden. In den 1950er Jahren kamen in Seoul viele Literaten fast täglich in Myeongdong zum Trinken zusammen, aber Yi Bong-gu verlor selbst, wenn er etwas zu tief ins Glas geschaut hatte, kaum je Fassung oder sein kultiviertes Auftreten, was ihm den Spitznamen „Graf von Myeong-dong“ einbrachte. Cho Hyeon-sik und Frau Gil sind jeweils dem Literaturkritiker Cho Yeonhyeon (1920~1981) und der Schriftstellerin Kim Mal-bong (1901~1962) nachempfunden. Der gebürtige Busaner Dichter Cho Hyang (1917~1984) und der Romancier Oh Yeongsu (1909~1979) erscheinen in der Erzählung als Jeon Pileop bzw. Oh Jeong-su. Der junge Dichter, der gegen Ende der Erzählung aus gebrochenem Herzen und der Ungewissheit der Zukunft den Freitod wählt, ist Jeong Un-sam (1925~1953), es wurde also nur der Familienname ausgetauscht. Ein weiterer junger Dichter namens Cheon Bongrae (1923~1951), der zwar nicht in dieser Erzählung vorkommt, beging unter ähnlichen Umständen Selbstmord, was erahnen lässt, wie trostlos die Situation damals war und wie groß die Verzweiflung der Literaten der Zeit. Der Protagonist Yi Jung-gu erreicht Busan mit dem letzten Zug, der am 3. Januar 1951, einen Tag vor dem Rückzug der koreanischen Truppen und der UNO-Streitkräfte, in Seoul abfährt und am nächsten Tag in der im Süden gelegenen Hafenstadt ankommt. Dort wird das Kaffeehaus Mildawon in Gwangbok-dong, wo die Künstler aus Seoul zusammenkommen, sein Stützpunkt. Mit Hilfe der Schriftstellerkollegen lassen sich Probleme wie Übernachtung, Essen und Trinken mit knapper Not lösen. Kim Byeong-ik schreibt in seinem Buch Geschichte der koreanischen Literaturwelt über das Mildawon: „Dieses Kaffeehaus über dem Büro des Nationalverbands der Kulturorganisationen in Gwangbok-dong war Zufluchtsort für die Schriftsteller, die sonst nirgendwohin konnten, eine Adresse, über die sich schwer auffindbare Kollegen kontaktieren ließen, ein Büro für Schriftsteller, die keinen Platz zum Arbeiten hatten, und auch Ausstellungsraum, in dem nicht selten illustrierte Gedichte präsentiert wurden.“ Der Protagonist sagt zu sich selbst: Mit Tod und Trennungen vorne und hinten, mit Wanderleben und Ablauffristen rechts und links, sind sie dennoch fröhlich wegen vertrauter Gesichter und einer Tasse Kaffee? Das Mildawon ist also ein Raum, der für eine enge kollegiale Verbundenheit steht, die sich selbst inmitten von Problemen und Sorgen bewährt. Die Erzählung Die Mildawon-Zeiten ist damit eine Art wirklichkeitsgetreue Dokumentation der Freuden und Leiden der Schriftsteller in den bedrückenden Zeiten des Krieges.
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(2n de dit ion )
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