FRÜHJAHR 2020
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
UNSER HEIM HEUTE
Zimmer voller Erinnerungen ; Wohnhochhäuser und Aufkommen der Mittelschicht ; Geteiltes Wohnen als urbane Lösung ; Hanok-Renaissance ; Eine neue Welle in Sachen Möbel
JAHRGANG 15, NR. 1
ISSN 1975-0617
IMPRESSIONEN
Dol-Janchi Wünsche für Gesundheit und langes Leben
A
uf meinem Handy sind die Fotos vom Dol-Janchi (Feier zum ersten Geburtstag eines Kindes) meiner Enkelin angekommen. Diese Feier fand an einem heiteren Frühsommertag Anfang Juni 2019 im Bankettraum eines Hotels statt. Die niedliche Jobawi-Mütze (traditionelle koreanische Kopfbedeckung für Frauen und Mädchen) hatte sie sich erst nach langem Überreden aufsetzen lassen, dann aber wieder weggeschleudert. Zwei kleine Tische waren gedeckt mit Tteok (Reiskuchen), Obst und allerlei bunten Gegenständen. Auf einem kunstvollen Turm aus dicken, gewundenen Garnsträngen lagen ein mit Pfingstrosen bestickter Seidenbeutel und eine dekorative rote Schärpe. Als meine Enkelin den Golfball anstupste, entfernte ihre Mutter ihn mit einem gemurmelten „Was macht das Ding denn hier?“ und ließ die Kleine noch einmal wählen. Diesmal griff sie strahlend lächelnd nach einem Riesenspielzeugmikrofon. Die um sie herum stehenden Familienmitglieder scherzten: „Vielleicht wird sie ja mal ein aufregendes Leben als Sängerin führen.“ Dol-Janchi ist die traditionelle koreanische Zeremonie anlässlich der Vollendung des ersten Lebensjahres eines Babys. „Dol“ verweist auf den Abschluss des ersten Zyklus von zwölf Monaten, „Janchi“ meint „Feier“. Dahinter steht, dass in der Vergangenheit, als der grundlegende Lebensbedarf oft nicht gedeckt und die Gesundheitsversorgung schlecht war, viele Babys den ersten Geburtstag gar nicht erst erlebten. Der Doljanchi-Brauch hat die Zeitläufte jedoch ungeachtet der Tatsache, dass Korea heute eine der geringsten Kindersterblichkeitsraten der Welt hat, bis heute überstanden. Höhepunkt der Feier ist Dol-Jabi (Jabi: nach etwas greifen), bei dem die Zukunft des Babys anhand der auf einem Tisch liegenden symbolhaltigen Gegenstände, nach denen das Baby greift, „vorausgesagt“ wird. Symbole eines langen und gesunden Lebens sind dabei Garnstränge, Nudeln, Baekseolgi (Weißer Reiskuchen) und Susupat-Tteok (in gestampften roten Bohnen gewälzte Mohrhirsebällchen). Geld steht natürlich für Reichtum. Gegenstände wie Papier und Pinsel, Bücher und Tuschestein, Pfeil und Bogen sowie Mapae (Kupferplakette, mit der Hofbeamte für Dienstreisen in die Provinz Pferde anfordern konnten), die Gelehrsamkeit, Kampfkunst oder Status symbolisierten, wurden vor Jungen platziert. Vor Mädchen wurden zusätzlich noch Haushaltsgegenstände wie z.B. Nähnadeln, Schere, Indu (Plätteisen zum Bügeln), Garnspulen und Stoffstücke ausgebreitet. Heutzutage ist diese Unterscheidung nach Geschlecht verschwunden und die Palette umfasst auch Golfbälle, Mikrofone, Stethoskope, Richterhämmer und sogar Computermäuse. Als ich mir die Zukunft meiner Enkelin vorstellte, die das Mikrofon gewählt hatte, erinnerte ich mich daran, was ihre Mutter – meine Tochter – vor 30 Jahren auswählte: Sie reckte sich über die vor ihr ausgebreiteten Gegenstände, schnappte sich einen der weit vorne aufeinander gestapelten Reiskuchen und biss ein großes Stück davon ab. Vielleicht genießt sie jetzt deshalb ein Leben als glückliche Mutter mehrerer Kinder und mit reichlich Essen auf dem Tisch. Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts © Yang Jun-seok
Von der Redaktion
Wie erschwinglich ist Wohneigentum? Ki-woo, der Sohn der mittellosen Familie Kim aus dem Oscar-gekrönten Film Parasite, würde laut Regisseur Bong Joon-ho 564 Jahre brauchen, um sich das Haus der wohlhabenden Familie Park leisten zu können. Um in Seoul Wohneigentum zu erwerben, müsste ein durchschnittlich verdienender Koreaner 21,1 Jahre lang sein gesamtes Einkommen sparen, diejenigen auf der unteren Hälfte der Einkommensleiter sogar 48,7 Jahre. Südkorea, die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat mit Wohnungsknappheit und stark steigenden Wohnimmobilienpreisen zu kämpfen. Das Wirtschaftswunder am Han-Fluss vollzog sich mit Fokus auf die Hauptstadt Seoul, die im Zuge der rasanten Entwicklung zu einer der bevölkerungsreichsten und teuersten Metropolen der Welt wurde. In dieser Megastadt leiden die Jungen und die Armen am meisten unter der Wohnungsmisere. Viele von ihnen müssen sich mit den bescheidensten aller Bleiben wie Zimmern auf dem Flachdach oder Halbsouterrain-Einzimmerwohnungen zufriedengeben. Die älteren Generationen profitierten noch von der Wohnungspolitik der Regierung, die zur Versorgung der Bürger mit bezahlbarem Wohnraum den Bau großer, an preisliche Regulierungen gebundener Wohnhochhauskomplexe in Auftrag gab. Diejenigen, die auf diese Weise in den Besitz einer eigenen Wohnung kamen, genossen auch satte Profite. Laut Statistics Korea sind 61,4% aller Wohnimmobilien in Korea Hochhausapartments. Zählt man Reihenhäuser und Apartmenteinheiten in Privathäusern hinzu, erreicht der Anteil von „unter einem Dach befindlichen“ Wohneinheiten sogar 75,4%. Noch bis vor einigen Jahrzehnten lebten in Großstädten die meisten einkommensschwachen Haushalte in einem Zimmer in einem Privathaus zur Miete. Zum Auftakt der SPEZIAL-Reihe „Unser Heim heute: Träume und Begierden“ der vorliegenden Ausgabe erinnert die Schriftstellerin Yoon Sung-hee an die Anfänge des modernen Wohnungsbaus in Korea. Die weiteren SPEZIAL-Beiträge beleuchten, wie Hochhausapartments zur vorherrschenden Wohnform wurden, welche Alternativen es dazu gibt und wie traditionelle Hanok-Häuser heutzutage genutzt werden. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST FRÜHJAHR 2020
Published quarterly by THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea https://www.koreana.or.kr
Block Town Yoo Han-yi 2013. Farbe auf Papier. 117 × 137 cm.
HERAUSGEBER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT COPY EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTORIN DESIGNER
Lee Geun Kim Seong-in Ahn In-kyoung Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young Anneliese Stern-Ko Kim Sin Ji Geun-hwa, Ham So-yeon Kim Ji-yeon Kim Nam-hyung Yeob Lan-kyeong
LAYOUT & DESIGN
Kim’s Communication Associates
44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZUNG
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Park Ji Hyun Eom Yuseong
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84.
THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
GEDRUCKT FRÜHJAHR 2020 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2020 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. Ba-1033, 8. August, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch, Russisch und Spanisch.
SPEZIAL
Unser Heim heute: Träume und Begierden 04
SPEZIAL 1
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SPEZIAL 4
Zimmer voller Erinnerungen
Hanok-Renaissance
Yoon Sung-hee
Jeon Bong-hee
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SPEZIAL 2
Wohnhochhäuser und Aufkommen der Mittelschicht
SPEZIAL 5
Eine neue Welle in Sachen Möbel
Park Hae-cheon
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SPEZIAL 3
Geteiltes Wohnen als urbane Lösung Park Seong-tae
Mit freundlicher Genehmigung von Monthly Green Friendly House
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50 UNTERWEGS
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Geschmack der Langsamkeit bewahren
Yeoju: „Unsichtbares Land“, durch die Augen der Weisheit
Namul – Zutat und Gericht zugleich
Park Mee-hyang
Lee Chang-guy
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
EIN GANZ NORMALER TAG
Künstlergarten in Berlin erweckt Traum vom Frieden
Leben, zusammengenäht aus 40 Jahren
Kim Hak-soon
Kim Heung-sook
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VERLIEBT IN KOREA
62 ENTERTAINMENT
Im Nachleuchten des Karma
Über den Gender-Gap hinaus
Choi Sung-jin
Lee Hyo-won
RUND UM ZUTATEN
Jeong Jae-hoon
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Zwischen JENER und DIESER Seite der Welt Choi Jae-bong
Wer hat die Katze getötet? Youn Dae-nyeong
SPEZIAL 1
Unser Heim heute: Träume und Begierden
© Choe Gyeong-ja
Jungnim-dong, Seoul (1990) von Kim Ki-chan Auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 1990 weist das nicht so weit vom alten Zentrum der Hauptstadt Seoul gelegene Viertel Jungnim-dong noch das typische Aussehen und die typische Atmosphäre der 1960er Jahre auf. Die engen Gassen und steilen Treppen, durch die der Transport von Dingen nur per Handkarren und Körperkraft möglich war, sind bis heute erhalten.
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In der Vergangenheit war „zur Miete wohnen“ eine übliche Wohnform und stand für die „Mühsal des Lebens“ in Großstädten. Doch es gab nicht nur Sorge und Leid. Es gibt auch Geschichten, die vom warmen und bunten Leben mehrerer Familien unter einem Dach erzählen. Heutzutage, wo Wohnhochhäuser über sechzig Prozent aller Wohnimmobilien ausmachen und der allgemeine Lebensstandard gestiegen ist, scheinen Mietzimmer zu Orten voller Nostalgie zu werden. Yoon Sung-hee Schriftstellerin
ZIMMER VOLLER ERINNERUNGEN
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eine Eltern begannen ihr Eheleben in einem Zimmer am Eingangstor des Hanok-Hauses meines ältesten Onkels. Das war vor rund fünfzig Jahren. Als dann mein älterer Bruder geboren wurde, zogen sie in ein Mietzimmer im Haus eines Nachbarn. Das in ㄷ-Form angelegte Hanok hatte ein großes Eingangstor und einen weitläufigen, auf drei Seiten von Wohnräumen umgebenen Hof. Die Familie des Vermieters benutzte den Hauptflügel in der Mitte und vermietete die beiden Seitenflügel. Wir lebten in dem Zimmer am Ende des rechten Seitenflü-
gels. Auch heute noch spricht meine Mutter manchmal über die damaligen Zustände: „Unsere Kücheneinrichtung bestand aus einem armseligen, aus Brettern zusammengezimmerten Geschirrschrank und einem Petroleumofen.“ Und nie vergisst sie zu erwähnen, dass die Hausbesitzerin und auch alle anderen Frauen, die dort wohnten, ganz vernarrt in mein Brüderchen waren und den Kleinen abwechselnd auf dem Rücken trugen. Ich wurde in diesem Haus geboren. Manchmal stelle ich mir den Tag, an dem ich zur Welt kam, vor. Da es
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gegen Ende Februar war, muss es noch kalt gewesen sein, weshalb man kurz vor der Niederkunft wohl kaum mit Briketts gespart haben dürfte, um das Zimmer warm zu halten. Wer hat mich wohl aus dem Bauch meiner Mutter in Empfang genommen? Und was mögen die Leute gedacht haben, als sie meinen ersten Schrei hörten?
Um die gemeinsame Wasserpumpe herum
Wenn ich an mein Geburtshaus in Suwon, der Hauptstadt der Provinz Gyeonggi-do, denke, fällt mir als Erstes die Wasserpumpe in der Mitte des Hofes ein. Sie wurde gemeinsam genutzt. Meine Mutter saugte das Wasser durch kräftige Auf- und Abbewegungen des Griffes an. Wenn es dann herausgelaufen kam, wuschen alle Mieterinnen im Kreis hockend die Wäsche. Ich saß gern auf der schmalen Holzveranda vor unserem Zimmer und sah ihnen zu. Wir stellten uns alle an der Pumpe an und wuschen uns der Reihe nach das Gesicht und putzten uns die Zähne. Aber das alles liegt so weit zurück, dass ich nicht mehr sicher bin, ob diese Bilder echte Erinnerungen oder Trugbilder, zusammengepuzzelt aus anderen Bildern, sind, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. In diesem Hof machte ich meine ersten Schritte. Dann dappelte ich, bis ich schließlich herumsprang. Ich saß auf dem Hof und malte mit dem Finger Bilder auf den Erdboden, sodass meine Kleider immer schmutzig waren. Ich erinnere mich auch daran, dass ich weinte, als die älteren Jungs aus der Nachbarschaft auf die Hügel hinter dem Haus zum Spielen gingen, mich aber nicht mitnehmen wollten. Nachdem mein Bruder den Fernsehapparat im Zimmer unseres Vermieters entdeckt hatte, lief er sofort nach dem
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Aufwachen dorthin. Wenn Mutter ihn dann abends abholte, brachte er sie oft in Verlegenheit, weil er ein Riesentheater machte und partout nicht in unser Zimmer zurück wollte. In dem Jahr, in dem wir in dieses Mietzimmer zogen, eröffnete meine Mutter ein Ratensparkonto mit fünf Jahren Laufzeit. Im Jahr darauf legte sie auf diese Weise Geld für vier Jahre an, im darauffolgenden Jahr für drei Jahre und so weiter. Als fünf Jahre später alle fünf Ratensparkonten am selben Tag fällig wurden, hob sie das gesamte Geld ab und kaufte ein Haus. Damit erfüllte sie ihren Wunsch, vor der Einschulung meines Bruders umzuziehen, weil es in unserer alten Nachbarschaft keine Grundschule gab. Über hundert Mal hat sie zu uns Geschwistern gesagt: „Auch wenn wir uns das Haus vom Mund absparen mussten, so habt ihr doch jeden Tag ein Ei zu essen bekommen.“
Mutters Wünsche
Unser neues Zuhause lag so nah an der Grundschule, dass wir in den Pausen schnell nach Hause konnten, um das, was wir vergessen hatten, zu holen. Ich erinnere mich noch dunkel an den Tag, an dem wir in das neue Haus einzogen. Öffnete man das Eingangstor, sah man als erstes den Hof. Dort wuchsen jedoch weder Gras noch Bäume, es gab nur eine einsame Außentoilette in einer Ecke. Während die Erwachsenen mit dem Transport der Umzugssachen beschäftigt waren, stellte ich mir vor, dass es in unserem Hof einen großen Baum mit einer Schaukel gäbe. Ich stellte mir auch vor, mich zusammen mit Mutter um Blumenbeete zu kümmern. Ich glaubte, dass meine Eltern all das bald für ihre geliebte Tochter wahr machen würden. Aber die Realität sah anders aus.
Meine Eltern bauten auf dem Hof einen Laden. Das Haus wurde ungeschickt in zwei Hälften geteilt und Mutter eröffnete eine Gaststübchen im Laden. Aber das war noch nicht das Ende der Enttäuschungen: Das Haus hatte zwar drei Zimmer, aber ich konnte kein eigenes bekommen. Meine Eltern schliefen im Raum neben der Gaststube, mein Bruder und ich mit Oma im Hauptschlafzimmer. Die anderen beiden Zimmer wurden vermietet. Das Ehepaar in dem kleineren Zimmer hatte ein Neugeborenes, das bald in Stoffwindeln auf unserer Maru-Holzdiele seine ersten Schritte machte. Als es dann auf unsicheren Beinchen dappelte, aber noch nicht in der Holzdiele herumspringen konnte, zog die Familie wieder aus. Mutters Gaststube lief gut. Wir kauften einen Fernseher und auch einen Kühlschrank. Einige Jahre später wurde der Laden um ein weiteres Stockwerk mit drei Zimmern erweitert. Der Lagerraum links neben der Eingangstür wurde abgerissen, ein weiteres Zimmer angebaut. Meine Eltern waren jetzt zu richtigen Vermietern geworden. Neben dem Restaurant errichteten sie ein weiteres Gebäude, in das eine Schreinerei einzog. Der Schreiner machte mir ein Holzschwert, das ich in meinen Hosenbund steckte und mit mir herumtrug. Ich spielte bis zum Sonnenuntergang auf dem Schulhof, weshalb meine Kleider immer schmutzig waren. Mutter versetzte mir einen auf den Hintern und schimpfte mich einen Dreckspatz. Aber das mochte ich, denn ich wusste genau, dass sie mit dem Klaps nur den Dreck von meiner Hose abzuklopfen versuchte. Diejenigen, die bei uns Zimmer mieteten, kamen aus dem ganzen Land. Ich wollte immer wissen, woher sie kamen, um die Orte dann auf der
© Choe Gyeong-ja
Karte zu suchen. Alle benutzten das Klohäuschen im Hof, sodass wir einander auf ganz natürliche Weise zu Gesicht bekamen. Auf die Frage, an welchen der Mieter ich mich denn am besten erinnern könne, wäre die Antwort zweifellos „an den Trunkenbold“. Seine Augen waren stets blutunterlaufen und im Sommer trug er nichts weiter als ein weißes Unterhemd und Shorts aus Ramie-Leinen. Wenn sich unsere Blicke trafen, grüßte er mich freundlich. Ab und zu kam eine Frau,
die seine Ehefrau zu sein schien, und dann stritten die beiden bis zum Morgengrauen. Der Mann starb in seinem Zimmer; es war das erste Mal, dass ich mit dem Tod konfrontiert wurde.
Samen für meine Geschichten
Mein Traum war, einmal umzuzie-
hen. Ich beneidete immer die Schüler, die auf meine Schule wechselten. In eine neue Schule gehen, neue Freunde kennenlernen, mit dem Lehrer ins Klassenzimmer gehen und mich den noch fremden Klassenkameraden vorstellen – allein die bloße Vorstellung war schon beängstigend. Trotzdem war es etwas, das ich wenigstens ein-
Jungnim-dong, Seoul (1980) von Kim Ki-chan Mädchen wie diese, die nach der Schule in einer Nachbarschaftsgasse Gummitwist spielen und dabei Verse singen, sind heutzutage ein seltener Anblick.
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Diejenigen, die bei uns Zimmer mieteten, kamen aus dem ganzen Land. Ich wollte immer wissen, woher sie kamen, um die Orte dann auf der Karte zu suchen.
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Haengchon-dong, Seoul (1974) von Kim Ki-chan Zu Beginn der Industrialisierung war es üblich, dass sich mehrere Familien in einem HanokHaus jeweils ein Zimmer mieteten. Diese Häuser hatten meist eine gemeinsam genutzte Wasserpumpe und Plattformen für Vorratskrüge mit Würzpasten und - soßen im Hof.
mal erleben wollte. Während meiner gesamten Grund-, Mittel- und Oberschulzeit hatte ich in ein- und demselben Haus gewohnt. Während des Studiums lebte ich eine Weile weg von zu Hause, kehrte dann aber wieder ins Elternhaus zurück. Nachdem mein Bruder geheiratet hatte und ausgezogen war, zog Vater in das Zimmer meines Bruders. Und als ich dann so vor zehn Jahren auszog, belegte er mein altes Zimmer mit Beschlag. Das Zimmer meines Bruders wurde zum Abstellraum. Mir wurde klar, dass mein Vater und meine Mutter erst nach dem Auszug von uns Kindern jeder ein eigenes Zimmer für sich hatten. Mutter, eins von acht Kindern, hatte nie einen Raum für sich gehabt, bei Vater, der vier Geschwister hatte, war es dasselbe. Danach, wenn ich auf der Straße Leute im Alter meiner Eltern sah, fragte ich mich oft: Wann haben sie wohl ein Zimmer für sich allein bekommen? Wurden sie wie meine Eltern in Familien mit vielen Kindern geboren? Haben sie ihr Eheleben auch in einem Mietzimmer begonnen, Kinder bekommen, sich den Rücken krumm gemacht und jeden Pfennig zur Seite gelegt, damit die Kinder einmal ihr eigenes Zimmer haben können? Haben sie ihnen Sammlungen wie Klassiker der Weltliteratur für Jugendliche gekauft? Es wird auch Leute geben, die in ihrem ganzen, 70 oder 80 Jahre langen Leben noch nie ein Zimmer für sich allein hatten. Einige haben vielleicht erst nach dem Tod des Ehepartners ein Zimmer, das sie alleine nutzen. Meine Eltern leben immer noch in ihrem alten Haus. Es sieht etwas seltsam aus, da jedes Mal, wenn sie eine gewisse Summe angespart hatten, ein weiteres Mietzimmer angebaut wurde. Das Viertel ist jetzt alt und heruntergekommen, weshalb es nicht leicht ist,
neue Mieter zu finden. Vor ungefähr zehn Jahren zog ich aus dem Haus in eine Hochhauswohnung um. Ich gehe aber oft zum Abendessen zu meinen Eltern. Einige Jahre habe ich Silvester bei ihnen verbracht, weil ich sie am Morgen des 1. Januar mit „Ein frohes neues Jahr!“ begrüßen wollte. Aber dieser löbliche Vorsatz geriet irgendwann in Vergessenheit. Ich begann mich in meinen eigenen vier Wänden immer wohler zu fühlen und heutzutage übernachte ich nur noch selten bei meinen Eltern. Bis fast zu meinem 40. Geburtstag habe ich im Elternhaus gelebt, aber jetzt kann ich mich seltsamerweise nur noch an die Tage meiner Kindheit, die ich dort verbracht habe, erinnern. So z.B. an den Tag, als ich mit anderen Kindern in einer Gasse Gummitwist spielte und mein Bruder angerannt kam, um mir ins Ohr zu flüstern: „Er ist da!“ Der Farbfernseher, auf den wir schon einige Tage gewartet hatten, war angekommen. Das Gefühl der Freude ist noch ganz deutlich präsent. So schnell ich konnte, sauste ich nach Hause. Es scheint, als ob das Kind, das nach Luft schnappend den neuen Farbfernseher in Augenschein nahm, immer noch in diesem Haus lebt. Leute, die einzogen und auszogen, Leute, die sich stritten und scheiden ließen, Leute, die sich bei Nacht und Nebel davonstahlen, und Leute, die von der Polizei abgeführt wurden – solche Leute waren meine Nachbarn. Die Eingangstür meines alten Zuhauses bestand aus Holz mit Einsätzen aus stark texturiertem Glas. Blickte ich durch diese Einsätze nach draußen, schienen aus einer Person mehrere Dutzend geworden zu sein. Ich betrachtete die Leute auf diese Weise. Die Menschen, denen ich so zuschaute, wurden die Samen meiner Erzählungen. Und so entstanden Geschichten.
© Choe Gyeong-ja
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SPEZIAL 2
Unser Heim heute: Träume und Begierden
WOHNHOCHHÄUSER UND AUFKOMMEN DER MITTELSCHICHT Die heute vielen Koreanern vom Hörensagen vertraute Wendung „Republik der Wohnhochhäuser“ ist der Titel eines 2007 erschienen Buches der französischen Geografin Valérie Gelézeau. Darin erklärt sie, dass die im allgemeinen koreanischen Sprachgebrauch als „Apartment“ bezeichneten Hochhauswohnungen bzw. Wohnhochhäuser ein Symbol der „komprimierten Modernisierung“ und eines „gegenseitig begünstigenden Dreiecksbündnisses von Regierung, ChaebolKonglomeraten und Mittelschicht“ sei. Hier einige Einblicke in diese StandardWohnform, die ein Objekt der Kritik und des Neides zugleich ist. Park Hae-cheon Professor, Fakultät für Design, Dongyang University
D
as Konterfeit einer Familie, die glücklich lächelnd vor einem Wohnhochhaus mit 100m2 großen Apartments und einem Mittelklassewagen steht, prangte einst auf zahlreichen Werbeplakaten von Bauunternehmen. Wer aber waren die Menschen auf diesem Foto, das den durch das rasante Wirtschaftswachstum erreichten materiellen Wohlstand so deutlich zum Ausdruck brachte? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Blick auf das Seoul Mitte, Ende der 1970er Jahre werfen, und hier insbesondere auf den südlich des Flusses Han-gang gelegenen
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Stadtteil Gangnam. Diese Gegend, die davor Ackerland war, wurde damals zu einem modernen, rasterförmig angelegten Stadtteil entwickelt und großflächig mit Wohnhochhausblöcken bebaut. In diese Apartments zogen Angehörige einer neu aufkommenden gesellschaftlichen Schicht ein: Menschen mit Hochschulabschluss und einem „White-Collar-Beruf“, die in den 1940ern kurz vor oder nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft geboren waren. Sie hatten in ihrer Kindheit und Jugend die Schrecken des Koreakrieges erlebt, stu-
dierten in den 1960ern und wurden in den 70ern zu wichtigen Akteuren der Industrialisierung Koreas.
Aufstieg der Mittelschicht
Interessant ist, dass diese Geburtenkohorte Mitte, Ende dreißig war, als in Gangnam der Bau von Apartmentkomplexen begann. Die meisten waren aus anderen Regionen des Landes in die Hauptstadt gezogen, hatten einen festen Beruf und Familie und schauten sich nach Wohneigentum um. Sie ließen sich die durch die Wohnungspolitik der Regierung gebotene Gelegen-
Apgujeong-dong (1978) von Jun Min-cho Dieses Foto von 1978 zeigt einen Bauer beim Pflügen seines Feldes, einem der letzten Reste Agrarboden im südlich des Han-Flusses gelegenen Viertel Apgujeong-dong. Innerhalb von nur zehn Jahren verwandelte sich die einst von Reisfeldern, Obstgärten und bewaldeten Hügeln geprägte Landschaft in den heute hochpreisig-fürnehmen Stadtbezirk Gangnam. © Jun Min-cho
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heit nicht entgehen und zogen in die Apartmentkomplexe in Gangnam ein, wo sie den neuen, modernen Lebensstil zu genießen begannen. Anfang der 1980er Jahre etikettierte man sie als „Mittelschicht“. Das Preisdeckelungssystem für Apartments, das die Regierung 1977 einführte, spielte eine äußerst wichtige Rolle beim Aufstieg dieser neuen Bewohner von Gangnam in die Mittelschicht. Dieses System, das in den Folgejahren wiederholt abgeschafft und wieder eingeführt wurde, hatte damals das Ziel, zur Erhöhung der niedrigen Wohnungsversorgungsquote massenweise Apartments zu günstigen Preisen bereitzustellen. Diejenigen, die siegreich aus der harten Konkurrenz um das Bunyanggwon, das Recht auf den Kauf eines der neuen Apartments, erlangt hatten, konnten so unter dem Marktpreis zu Wohneigentum kommen und beim Verkauf einen netten Gewinn einstreichen, als die Immobilienpreise im Zuge der weiteren Stadtentwicklung rasant anstiegen. Der gemachte Profit erlaubte dann den Kauf eines größeren Apartments. Diese „Wachstumslegende der Mittel-
schicht“ war einer der Hauptstützpfeiler der koreanischen Gesellschaft im späten 20. Jahrhundert. Doch wo Gewinn ist, ist auch Verlust. Die Wohnungspolitik der Regierung führte dazu, dass die Bauunternehmen Grundriss und Designs der bestehenden Apartments bei Neubauten einfach ohne große Änderungen kopierten. Es gab keine Anreize für Modifikationen, da die neuen Wohnungen sowieso vor der Fertigstellung zu den von der Regierung vorgegebenen Preisen verkauft werden mussten, was auch immer problemlos der Fall war. Struktur und Grundausstattung der Apartments in den großen Wohnkomplexen, die in den 80ern in den neuen Stadtteilen Seouls und in den 90ern in den aus dem Boden gestampften Satellitenstädten von Seoul wie Bundang, Ilsan und Pyeongchon gebaut wurden, waren abgesehen von kleineren Grundriss-Modifikationen lediglich „Abzüge“ der Apartments in Gangnam, die in den 70er Jahren von der Korea Land and Housing Corporation und privaten Bauunternehmen hochgezogen worden waren.
1 © Seoul Museum of History
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Wandel des Lebensstils
Das Leben in Apartments trug stark dazu bei, dass die Koreaner ihren Alltag nach westlicher Art mehr und mehr „in der Vertikalen“ verbrachten. Traditionell hatten sie statt in Betten auf Futons geschlafen, die abends auf dem warm beheizten Boden ausgebreitet und morgens wieder weggeräumt wurden. Selbst diejenigen, die in Einfamilienhäusern westlichen Stils mit Küche und Bad im Haus wohnten, nahmen ihre Mahlzeiten an einem niedrigen Esstisch auf dem Boden sitzend ein. Ferngeschaut wurde im Sitzen oder Liegen, bevorzugt an der heißesten Stelle des bodenbeheizten Zimmers. Das Anbang (Hauptzimmer), in dem die Familie gewöhnlich fernsah, wurde daher „Anbang-Kino“ genannt. Doch durch die Apartmentkomplexe, die überall in und um Seoul entstanden, konnte sich der neue Lebensstil so richtig verbreiten, und Sofas, Kaffeeund Esstische mit Stühlen sowie Betten verdrängten die traditionelle Einrichtung in Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer. Mit dem neuen Lebensstil änderte sich natürlich auch die Inneneinrich-
2 © imagetoday
tung. Für das Leben auf dem Boden hatten die Alltagsgegenstände möglichst in Reichweite zu sein. Daher waren kleine, tragbare Tische sehr nützlich, da man damit die Gegenstände, die man gerade benutzte, leicht zu seinem jeweiligen Sitzplatz mitnehmen konnte. Aber in einem nach dem westlichen Lebensstil gestalteten Innenraum mussten diese Gegenstände nicht mehr unbedingt in greifbarer Nähe des Benutzers bereitliegen, da es nicht weiter beschwerlich war, sich von Sofa oder Stuhl zu erheben und ein paar Schritte zu machen, um sich das Gebrauchte zu holen. Das heißt Sichtweite war wichtiger als Reichweite. Entsprechend legten die Apartmentbewohner bei der Platzierung von Dingen mehr Wert auf die visuelle Ordnung. Früher, als man auf dem Boden saß und sich die meisten Gegenstände oberhalb der Augenhöhe befanden, musste man aufschauen. Als man dann auf Stuhl oder Sofa zu sitzen begann, hatten sie im Sichtfeld zu sein, wenn man vom jeweiligen SitzmÖbel aus seinen Blick auf sie richtete oder stehend auf sie herunterschaute.
Veränderte Einkaufsgewohnheiten
Während die Apartmentkomplexe in den neuen Stadtteilen Seouls in den 1970er und 80er Jahren durch die Verbreitung des westlichen Wohnstils innenarchitektonische Veränderungen mit sich brachten, führten die neuen Wohnhochhäuser in den Satellitenstädten der Metropolregion in den 90ern zu einem Wandel der Einkaufskultur. Früher gehörte es zum Alltag einer Hausfrau, einmal am Tag auszugehen und auf dem lokalen Markt oder in den Läden innerhalb des Wohnkomplexes fürs Abendessen einzukaufen. In den Satellitenstädten mit ihren Wohnhochhauswäldern entwickelte sich eine andere Art der Einkaufskultur: An den Wochenenden fuhr man mit der Familie zu einem Hypermarkt und kaufte große Warenvorräte preisgünstig ein. Doch der Großeinkauf brachte neue Probleme mit sich. Zunächst war es praktisch unmöglich, ohne Auto all die Dinge, die einen Einkaufswagen mit einem Volumen von 120 Litern füllten, zu transportieren. Zuhause stellte sich dann ein weiteres Problem: Um
die eingekauften Lebensmittel, Tiefkühlkost, Obst und Getränke aufzubewahren, war ein größerer Kühlschrank erforderlich. Um dem neuen Einkaufstrend zu folgen, benötigte man also unbedingt ein Auto und einen großen Kühlschrank, was wiederum zu einem Aufschwung in der Auto- und Haushaltsgeräteindustrie führte.
Aufkommen von Luxusapartments
Auf die Verbreitung des modernen Lebensstils, die mit dem Bau von Apartmentkomplexen einherging, folgte nach der Asienkrise 1997 ein weiterer Wandel. Um die unter der Rezession leidende Bauindustrie zu retten, schaffte die Regierung das Preisdeckelungssystem für neue Apartments ab. Darauf reagierten die privaten Bauunternehmen mit dem Experiment „Noch größer, noch luxuriöser“. Dieser Versuch startete in den New Towns wie Yongin am Rande der Hauptstadtmetropole, setzte sich anschließend fort in Form von Wohnhochhaus- und Geschäftskomplexen im Viertel Daechi-dong in Seoul sowie in Jeongja-dong in Bundang, und erfasste dann
1. Das typische Wohnzimmer eines Apartmentbewohners der späten 1970er Jahre war ausgestattet mit Fernsehapparat, Tisch und Sofas sowie einem Bild an der Wand. Das Foto zeigt ein Wohnzimmer in den 1978 fertiggestellten Samho Apartments in Seocho-dong, Seoul. 2. Die Innenausstattung eines in jüngster Zeit gebauten Apartments mit modernem Einbaumobialiar. Die Deregulierung der Apartmentpreise spornte die Konkurrenz unter den Baufirmen an und veranlasste sie, luxuriösere Wohnimmobilien zu bauen.
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3. Ein Garten auf dem Gelände eines großen Wohnhochhaus-Komplexes in Ilsan New Town nördlich von Seoul. Grünanlagen mit Teichen, kleinen Hügeln mit Wasserfällen und hochpreisigen Skulpturen sind zu Kernmerkmalen von Luxusapartments geworden.
© Cheonglam Landscape
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© imagetoday
14 KOREANA Frühjahr 2020
Die Wohnungspolitik der Regierung führte dazu, dass die Bauunternehmen Grundriss und Designs der bestehenden Apartments bei Neubauten einfach ohne große Änderungen kopierten. Es gab keine Anreize für Modifikationen, da die neuen Wohnungen vor der Fertigstellung sowieso zu den von der Regierung vorgegebenen Preisen verkauft werden mussten, was auch immer problemlos der Fall war. Ein Wohngebiet in Sejong, einer neuen, multifunktionalen Verwaltungsstadt in der Provinz Chungcheongnam-do, ist vollgepackt mit himmelwärts ragenden Apartmenttürmen. Nach dem Stand von 2018 sind über 60% aller Wohnimmobilien in Korea Hochhausapartments. Die Versorgung mit Wohnhochhäusern wächst weiterhin Jahr für Jahr.
die nach dem altersbedingten Abriss neu gebauten großen Wohnkomplexe in Gangnam, woraus sich schließlich der Trend der „Nach-Gangnam-Ära“ entwickelte. Die Wohnungspreise, die im Zuge des strukturellen Wandels des Vermögensmarktes emporschnellten, katapultierten die Innenräumlichkeiten auf eine völlig neue Ebene. Wohnzimmer und Küche wurden geräumiger, Einbaumöbel wurden Standard und die Materialien für den Innenausbau hochwertiger. Dabei entwickelten sich zwar das durch Bauschadstoffe verursachte Sick-Buildung-Syndrom und atopische Dermatitis zu einem gesellschaftlichen Problem, aber auch das vermochte den Trend nicht umzukehren. Side-by-Side-Kühlschrank, Kimchi-Kühlschrank, Trommelwaschmaschine und Kochinsel füllten die viel geräumiger gewordene Küche. In einer Ecke des Wohnzimmers oder im Eingangsbereich der Wohnung beanspruchten Antikmöbel von unklarem europäischen Stil Platz oder auch Gemälde junger Künstler. Das größere Wohnzimmer verlangte nach einem größeren TV-Bildschirm, das Saubermachen übernahm der Staubsaugerroboter. Den Höhepunkt erreichte dieser Trend mit den Premium-Kühlschränken. Nach dem einschlagenden Erfolg von Kühlschränken dekoriert mit eleganten und romantischen Mustern des Modedesigners André Kim (19352010), zogen Elektronikunternehmen unter dem Motto „kunstvolle Haushaltsgeräte“ oder „modische Haushaltsgeräte“ mit ähnlichen Produkten nach. Dafür wurden z.B. Kristalle oder Kunstleder verwendet; es gab auch eine Kollaboration mit einem avantgardistischen Designer aus Italien. Die berühmte Maxime des modernen Designs „Die Form folgt der Funktion“ wurde also quasi durch „Die Form
folgt dem Wohnungspreis“ ersetzt.
Prächtige grüne Räume
Mitte der 2000er Jahre kam es im Zuge von Abriss und Neubau von Apartmentkomplexen in Gangnam dazu, dass sich das Augenmerk vom Wohnungsinneren auf das Außengelände verlagerte. Die Parkplätze, die dort bis dahin den meisten Platz beansprucht hatten, wurden in den Untergeschossen untergebracht. Dort, wo einst Autos parkten, entstanden prachtvolle Gartenanlagen mit Ökoteichen, Fußgängerbrücken, künstlichen Hügeln und Bächlein, Rastplätzen, Kajakanlagen für Kinder und von Zierbäumen gesäumte Spazierwege. Die Bauunternehmer schufen inmitten des Wohnkomplexes einen Outdoor-Bereich mit Resort-Charakter, in dem die Bewohner dem Alltag entfliehen können. Der Boom des Vermögensmarktes und die immer weiter auseinanderklaffende Einkommensschere in den ersten zehn Jahren des 21. Jhs waren die Schlüsselfaktoren, die diesen neuen, von der Deregelierung der Wohnimmobilienpreise verursachten Trend vorantrieben. Zu dieser Zeit erschienen zudem preiswerte ausländische Möbel- und Wohnkulturmarken auf dem koreanischen Markt, die schnell unter den jungen Leuten, die noch keine eigene Wohnung besaßen, an Beliebtheit gewannen. Die koreanische Mittelschicht des 20. Jhs, für die der Besitz einer eigenen Wohnung und eines Autos charakteristisches Merkmal war, verschwand so allmählich in der Geschichte. Die im letzten Jahrhundert vorangetriebene Wohnungspolitik der Regierung hat aber mit Sicherheit reiche Früchte getragen, wenn man bedenkt, dass heute Apartments über 60% aller Wohnimmobilien in Korea ausmachen.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15
Derselbe Raum, unterschiedliche Leben Evergreen Tower (2001), eine Serie von Familienporträts des koreanischen Künstlers Jung Yeon-doo, zeigt 32 Familien, die im selben Wohnhochhaus in Seoul wohnten. Wie unterscheidet sich das Leben, das diese verschiedenen Menschen in einheitlich strukturierten Räumen führen? Und was las der Künstler darin?
Park Hae-cheon Professor, Fakultät für Design, Dongyang University
B
ühne dieser Fotoserie ist der Sangnok
stattungselemente nach der Fertigstellung
Tower (Evergreen Tower), ein Wohn-
des Wohnhochhauses einfach so gelassen
hochhaus mit Mietwohnungen, das 1996
haben. Unterschiede lassen sich nur bei den
im Seouler Viertel Gwangjang-dong für
Menschen, den Möbeln und den Haushalts-
Angestellte des koreanischen Konglomerats
artikeln feststellen.
POSCO fertiggestellt wurde. Anders als bei
Das heißt, dass das, was nicht bewegt
den herkömmlichen, mit Stahlbeton gebau-
werden konnte, in allen Wohnungen iden-
„In einem Apartment verlieren die Ge-
ten Wohnhochhäusern wurde bei diesem
tisch ist, aber alles, was sich bewegen ließ,
genstände ihr Volumen und werden quasi
Gebäude zum ersten Mal der Stahlskelettbau
verschiedenartig. Hierin kommt das Kennzei-
zu Bildern, die in Form von Linien auf einer
angewandt, was große Aufmerksamkeit auf
chen eines Apartment-Mieters deutlich zum
ebenen Fläche existieren. Alles ist auf dieser
sich zog. Das 25-geschossige Wohnhochhaus
Ausdruck: Da die Wohnung kein Eigentum
einen ebenen Fläche arrangiert, alles ist mit
erregte mit einer Vorhangfassade aus Alumi-
war, beschränkte sich die Freiheit der Mieter
einem einzigen Blick zu erfassen. Weder für
nium – einer damals noch neuen Konstrukti-
in puncto Einrichtung nur auf privates Mo-
den Menschen noch für die Dinge gibt es ei-
onsweise in Korea – einiges Aufsehen. Doch
biliar und Einrichtungsgegenstände. Gleich-
nen Ort, an dem sie sich verstecken können.
die Wohnzimmerstruktur, die Jung in seiner
zeitig offenbart sich in den Wohnzimmern
Alles ist offen. Doch diese Offenheit ist keine
Bilderreihe einfing, unterscheidet sich nicht
ein äußerst wichtiges Merkmal, das vielen
tiefe Offenheit, sondern nur eine oberflächli-
besonders stark von anderen herkömmli-
koreanischen Apartments gemeinsam ist: die
che.“
chen Apartmentkomplexen der Zeit.
visuelle Ordnung des Wohnzimmers.
Zweidimensionale Ordnung
Im Inneren eines Apartments finden die
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang
Objekte also keinen Ort zum Verstecken, es
einen Blick in den in den späten 1970er
bleibt ihnen nur die vollständige Offenba-
Bei diesen Apartments springt als ers-
Jahren erschienen Essay-Band Die Literatur
rung. Gerade dadurch erhält der Blick eine
tes ins Auge, dass das Innendesign der
unseres Zeitalters: Das dicke und das dünne
allwissend-allmächtige Kraft, die besonders
Wohnzimmer die typischen Merkmale einer
Leben des koreanischen Literaturkritikers Kim
im Wohnzimmer mit voller Stärke zum Aus-
Mietwohnung deutlich widerspiegelt: Alle
Hyeon (1942-1990) werfen. Darin beschreibt
druck kommt. Nolens volens müssen sich
32 Wohnzimmer haben dieselbe Decken-
er auf Grundlage seiner eigenen Erfahrun-
die Objekte im Wohnzimmer widerstandslos
beleuchtung, dieselben Tapeten. Es scheint,
gen mit dem Wohnen in einem Wohnhoch-
vor den Blicken eines jeden, der durch die
dass die Bewohner die ursprünglichen, von
hauskomplex am Han-Fluss die Merkmale
Eingangstür tritt, entblößen und ihre Identi-
der Baufirma angebrachten festen Aus-
eines Apartment-Interieurs wie folgt:
tät preisgeben wie ein „Bild, das in Form von
16 KOREANA Frühjahr 2020
© Jung Yeon-doo
Linien auf einer zweidimensionalen Fläche existiert“. Beachten sollte man hierbei auch die Rolle
Und doch: Jeder ein anderes Leben Die visuelle Ordnung des so strukturierten
Evergreen Tower (2001) von Jung Yeon-doo. Sechs der 32 Fotos dieser Serie.
Wohnzimmers erfuhr jedoch in den 1980er
des Balkonfensters, das als „gläserne Wand“
Jahren, als aus diesem Raum eine Art Heimki-
die vordere Seite des Wohnzimmers kom-
no wurde, eine grundlegende Veränderung.
wird über jede Fotografie noch eine weitere
plett einnimmt. Im Wohnzimmer fällt der
Bis dahin hatte der Fernsehapparat in frei-
Schicht mit in unterschiedlichen Stellungen
Blick automatisch auf das Balkonfenster, weil
stehenden Einfamilienhäusern im Anbang
posierenden Familienmitgliedern gelegt. Die-
es sich dem betrachtenden Blick gegenüber
(Hauptzimmer) gestanden. Doch als es übli-
se drei Layer entfalten sich wie die Bilder in einem Aufklapp-Bilderbuch.
befindet und auch die Funktion ausübt, das
cher wurde, auf Stühlen und Sofas statt auf
Licht ins Wohzimmer zu lassen. Aber nicht
dem Boden zu sitzen, wanderte der Fernse-
Auf diese Weise werden die drei Schichten,
nur das: Es dient dazu noch als eine Art
her ins Wohnzimmer. So war es nur natürlich,
„ihres ursprünglichen Volumens beraubt“,
„Fluchtebene“, die das Wohnzimmer sich den
dass das TV-Gerät an eine Wand des Wohn-
platt aufeinander gedrückt. Kim Hyeon sag-
Augen des Betrachters sofort offenbaren
zimmers gestellt wurde, und zwar im rechten
te einmal, dass die Wohnhochhäuser die
lässt. Die Geraden, die sich von den vier Eck-
Winkel zum Balkonfenster, und das Sofa an
Denkweise der koreanischen Mittelschicht
punkten des Balkonfensters aus erstrecken,
die Wand gegenüber.
verkörpern. Jung Yeon-doo setzt durch sein
verlaufen den Wandkanten entlang und
Jung Yeon-doo hält die besondere Ordnung
Werk noch eine weitere These hinzu: Apart-
verleihen dem Blickfeld des Betrachters eine
des Apartment-Wohnzimmers, die sich auf
ments sind für die Koreaner die Bühne eines
perspektivische Ordnung. Diese Ordnung
diese Weise weiterentwickelt hat, in seinen
glücklichen Heims, auf der sie auf eine Weise,
hat jedoch keine Tiefe: Sie ist oberflächlich,
Fotografien fest. Auf einer identischen Hinter-
die sich anscheinend von den anderen unter-
da die Geraden nur bis auf die Fluchtfläche
grundschicht aus Deckenleuchte und Tapete
scheidet, aber in Wirklichkeit nicht besonders
und nicht bis auf einen Fluchtpunkt zulaufen
und einer zweiten aus in Form eines Heimki-
unterschiedlich ist, ihre Identität inszenie-
können.
nos arrangierten Einrichtungsgegenständen,
ren.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 17
dünnen Jacke nach draußen zu gehen, erfüll-
Erinnerungen aufzeichnen
ten der Gemeine Flieder und die Gewöhnlichen Robinien die ganze Nachbarschaft mit ihrem verführerischen Blütenduft. Etwa um die Zeit war auch das Quaken der Frösche in
Es war einmal ein „Apartment-Kind“, das im Dunchon Jugong Apartmentkomplex am
der Ferne zu hören. Im Hochsommer veran-
südöstlichen Ende von Seoul geboren wurde und dort 17 Jahre lang wohnte. Damit
stalteten die Singzikaden ihre Konzerte, die
die Erinnerungen an diese seine Heimat, die im Zuge des Neubaus bald verloren
im Herbst von den Grillen mit ihrem zirpen-
gehen sollte, nicht auch noch verloren gingen, begann es, sie niederzuschreiben.
den Gesang abgelöst wurden. Während ich
Lee In-kyu Chefredakteurin, Hallo und Tschüss, Dunchon Jugong Apartments
heranwuchs und den Zyklus der Jahreszeiten lernte, wuchsen auch die Bäumchen mit ihren dünnen Ästen heran und markierten jedes Jahr, das ins Land ging, mit einem neu-
D
er 1980 fertiggestellte Dunchon Jugong
en Jahresring. Meine Familie zog dann aber von der Schule dachte ich nur daran, so
während meiner Oberschulzeit um und als
Apartmentkomplex entstand ihm Rah-
schnell wie möglich meine Schultasche zu
ich in meinen 30ern wieder einmal in das
men der damaligen, auf großmaßstäbliche
Hause abzustellen und wieder zum Spielen
Viertel kam, waren diese Bäume so groß
Wohnungsversorgung angelegten Politik
hinauszurennen. Ich flitzte auf den Grasflä-
geworden, dass sie sogar die fünfstöckigen
der Regierung. Die über einhundert Wohn-
chen und dem Spielplatz in der Nähe unserer
Apartmenthäuser um einiges überragten.
hochhäuser mit bis zu zehn Stockwerken, die
Wohnung hin und her, bis meine Mutter
auf einem Areal von ca. 595.000 m2 standen,
ihren Kopf aus dem Fenster unserer Woh-
wurden auch „Streichholzschachtel-Wohn-
nung im siebten Stock steckte und mich zum
hochhäuser“ genannt. Aber dort war es wirk-
Abendessen rief.
Bewohnbarkeit und Rentabilität Während innerhalb des Dunchon Apartmentkomplexes der Wald wuchs, schossen
Ab und zu besuchte ich auch Freunde, die
außerhalb Gebäude wie Pilze aus dem Bo-
Grünflächen, die sich über eine größere
in einem anderen Block etwas entfernt von
den. Sobald Seoul mit Hochbauten gesättigt
Fläche als die Wohngebäude selbst erstreck-
mir wohnten, und die Aussicht, die man von
war, wurden um die Hauptstadt herum sog.
lich wunderschön.
ten, und kleine Hügel lagen zwischen den
ihrem Wohnzimmerfenster aus hatte, war
New Towns (Satellitenstädte) angelegt. Aber
einzelnen Wohnhochhäusern. Schlenderte
jedes Mal eine andere. Dieser riesige Apart-
diese Expansion ins Umfeld führte nur zu ei-
man die mäandrierenden Fußpfade entlang,
mentkomplex war für mich wie ein riesiger
nem neuen Andrang in Richtung Metropolre-
kam man sich wie auf einem Waldspazierung
Spielplatz, wo es immer wieder neue Wege
gion Seoul. Nach der Asienkrise 1997 machte
vor. Auf den Stühlen vor den Wohngebäu-
zu entdecken gab, mochte ich auch noch so
sich in Korea der Neoliberalismus breit, was
den und den Bänken auf den Spielplätzen
oft darin herumgestreift sein.
viele Veränderungen mit sich brachte. Die
saßen die Großmütter und plauderten mit-
Die Landschaft des Viertels präsentierte
Leute suchten nach einer „Gans, die goldene
einander. Es war ein ruhiges, Gelassenheit
sich zu jeder Jahreszeit in neuem Gewand.
Eier legt“. Die schnellste Methode, die Gans
ausstrahlendes Wohnviertel.
Meine Heimat
Im Frühling blühten auf dem Hügel hinter
zum Eierlegen zu bringen, war abreißen und
unserem Haus als Erstes die gelben Asiati-
neu bauen. Wurden alte Wohnhäuser mit
schen Kornelkirschen, gefolgt von der Pracht
wenigen Stockwerken durch wesentlich hö-
Selbst als ich noch unsicher auf meinen
der schneeweißen Kobushi-Magnolien und
here Apartmentgebäude ersetzt, bedeutete
Beinchen war, stieg ich mit plumpen Füßen
den Kirschblüten. Es dauerte dann nicht lan-
das höhere Profite für die Bauunternehmen,
die Apartmenttreppen hinauf und hinunter.
ge, bis ich mit meiner Mutter im Gras hockte,
die auf gleichbleibender Fläche mehr Woh-
Auf dem Spielplatz in der Nähe unserer Woh-
um Beifuß zu sammeln, den wir zum Müller
nungen unterbringen konnten.
nung lernte ich, wie man Freundschaften
im Viertel brachten, um damit duftende
Auch mein heimatliches Wohngebiet konn-
schließt, und mit diesen Freunden wurde ich
Reiskuchen zu machen, die wir mit unseren
te diesem Lauf der Dinge nicht entkommen.
in die Grundschule unserer Apartmentsied-
Nachbarn teilten.
Kurz nach der Millenniumwende, als unser
lung eingeschult. Auf dem Nachhauseweg
18 KOREANA Frühjahr 2020
Wenn es warm genug war, um mit einer
Wohnkomplex etwas über zwanzig Jahre
alt wurde, stand sein Neubau langsam zur
komplex meine Heimat ist, in der ich gebo-
Debatte und 2003 wurde ein Neubauko-
ren und aufgewachsen bin“ und dass ich es
mitee ins Leben gerufen, das diesen Plan
„schade und traurig finde, dass ich mich von
vorantreiben sollte. Aus der Perspektive
diesem geliebten Ort verabschieden muss“.
Wohnhausblöcken und großzügigen offenen
wenn wir nie miteinander darüber gespro-
Räumen dazwischen mehr als angenehm
chen hatten, so fühlten doch alle im Stillen
zum Wohnen. Doch aus der Sicht der Renta-
das gleiche Bedauern. Die Dokumentation
bilität wurden diese positiven Seiten anders
der Nachbarschaft, die bald nicht mehr exis-
interpretiert.
2
3
tieren sollte, wurde fortgesetzt und umfasst
Als einer der letzten Apartmentkomplexe,
bislang vier Bücher und sogar einen Doku-
in denen die Gebäude in großzügigen Ab-
mentarfilm mit dem Titel Ein langer Abschied
ständen voneinander standen, winkten im
(A Long Farewell, 2017).
Falle der Neubaus nämlich große Gewinne.
Am Abend vor dem Abriss der Riesenrut-
Nach der Gründung des Neubaukomitees
sche, die eine Art Wahrzeichen des Dunchon
verfiel der Komplex dann recht schnell. Es
Apartmenkomplexes war, kamen alle, die bei
dauerte nicht lange, bis die Bewohner nach
dem Projekt mitgemacht hatten, zusammen,
und nach aufhörten, sich um das äußere
um Feuerwerkskörper abzuschießen und
Erscheinungsbild von Gebäuden und Nach-
einander Dankeschön zu sagen. Im Herbst
barschaft zu kümmern. Die Neubaupläne
2017, als die meisten Bewohner ausgezogen
zogen sich zwar insgesamt stark in die Län-
waren und der Abriss unmittelbar bevor-
ge, wurden aber zielsicher Schrittchen für
stand, kamen viele von ihnen noch einmal
Schrittchen vorangetrieben.
1
© Lee In-kyu
wesentlich mehr, als ich erwartet hatte. Auch
© Ryu Jun-yeol
Das Gleiche empfanden viele andere – sogar
© Raya
der „Bewohnbarkeit“ war die weitläufige Dunchon-Wohnanlage mit ihren niedrigeren
zurück, um ein letztes Mal Abschied zu nehmen. Zwei Jahre später war der riesige
Projektstart Als ich hörte, dass das Neubauvorhaben
Apartmentkomplex verschwunden, ausgestorben wie einst die Dinosaurier.
allmählich konkrete Züge annahm, konnte ich einfach nicht glauben, dass meine Heimat, in der alle Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend bewahrt waren, spurlos verschwinden sollte. Und das würde nicht nur mir passieren. Es fühlte sich so an, als ob die ganze dort verbrachte Zeit mit all ihren wertvollen Erinnerungen und auch die menschlichen Beziehungen zwischen den Bewohnern sich in Nichts auflösen würden. Bevor es dazu kommen würde, wollte ich diese Erinnerungen aufzeichnen. 2013 gab ich im Eigenverlag ein Büchlein heraus und eröffnete eine begleitende Facebook-Seite. So begann mein Projekt Hallo und Tschüss, Dunchon Jugong Apartments. Im Rahmen dieses Projekts erklärte ich zum ersten Mal laut, dass „dieser Apartment-
1. Die 1980 fertiggestellten Dunchon Jugong Apartments umfassten 143 Blöcke mit insgesamt 5.930 Haushalten. Die Pläne für den Neubau wurden 2017 genehmigt, Ende 2019 waren die Abrissarbeiten beendet. Auf dem rund 0,5km2 großen Gelände entsteht eine „New Town im Miniformat” mit 10.032 Wohneinheiten, die bis 2022 fertiggestellt werden sollen.
4
2. Ein zu Frühlingsbeginn in voller Blüte stehender Judasbaum in der Gartenanlage der Dunchon Jugong Apartments. 3, 4, 5. Die zahlreichen Bäume und nacheinander blühenden Sträucher und Blumen schmückten die Dunchon Jugong Apartments zu jeder Jahreszeit mit einem anderen Blütenkleid. Das Foto unten zeigt Lee In-kyu (in Rot), die Autorin dieses SPEZIALBeitrags, mit ihrem Bruder auf einem schneebedeckten Spielplatz.
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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 19
SPEZIAL 3
Unser Heim heute: Träume und Begierden
GETEILTES WOHNEN ALS URBANE LÖSUNG In der heutigen Zeit, in der sich die Familie auflöst und Zukunftsängste ein neues Ausmaß erreichen, bietet geteiltes Wohnen allen, die nicht nach Immobilienwerten, sondern Lebeswerten streben, neue Alternativen. Insbesondere in Seoul, wo das Immobilienpreis-Einkommen-Verhältnis im weltweiten Vergleich besonders unausgewogen ist, ziehen Hausgemeinschaften, die nicht nur die Gemeinschaftlichkeit wiederbeleben, sondern auch stabile Wohnverhältnisse ermöglichen, das Augenmerk auf sich. Park Seong-tae Geschäftsführender Direktor, Junglim Foundation
I
m Zuge der jahrzehntelangen Industrialisierung und Urbanisierung erfuhr auch die koreanische Wohnkultur einen extremen Wandel. Die Gemeinschaftskultur von einst ist verloren gegangen, obwohl die Haushalte in Wohnhochhäusern lediglich eine Wand trennt. Sie haben sich von ihren Nachbarn emotional distanziert, sodass nachbarlicher Austausch inzwischen eine Seltenheit geworden ist. Nach dem Koreakrieg (1950-1953) wuchs die Einwohnerzahl von Seoul rapide: Während sie 1950 noch bei knapp 1,7 Millionen lag, stieg sie im Zuge der in den 1960ern vehement vorangetriebenen Wirtschaftsentwicklung sprunghaft an, 1990 war bereits die Zehn-Millionen-Marke überschritten. Wohnungspolitisch gesehen war
20 KOREANA Frühjahr 2020
daher der Bau von großen Wohnhochhaus-Siedlungen die einzige Lösung. Doch mit dem Anstieg der Immobilienpreise v.a. in begehrten Wohnlagen wurden Apartments zu Objekten materieller Besitzwünsche und Investitionspläne, während ihre Bedeutung als Lebensraum schwand. Nebenwirkungen waren Gruppenegoismus, Konflikte zwischen den Bewohnern und Abbruch der Kommunikation. Die allmähliche Trennung der Individuen von der Familie hatte den Zerfall der Gemeinschaften zur Folge. Das Ergebnis: Trotz der Anhäufung materiellen Reichtums können die meisten heute nicht behaupten, glücklicher als in den Zeiten des Darbens zu sein. Mit dem Schwinden der Gemeinschaft sind auch der mit locke-
rer Distanziertheit und Rücksichtnahme geführte emotionale Austausch und damit das Glücksempfinden des Einzelnen geschwunden. Als Reaktion darauf kamen in den 2010er Jahren neue Wohnformen wie Cohousing, Sharehouse (eine Art Hausgemeinschaft) und genossenschaftliche Wohnprojekte auf.
Einpersonenhaushalte
Der Wandel der Wohnform geht auf einige Phänomene wie den rapiden Anstieg der Zahl von Ein- und Zweipersonenhaushalten zurück. Bis zu den 1980ern war die Zahl der Einpersonenhaushalte statistisch noch unbedeutend, 2018 machte sie jedoch bereits ca. 30% aller Haushalte aus. Zusammen mit den Zweipersonenhaushal-
ten beträgt der Anteil sogar über 40%. Dieser Trend wird sich voraussichtlich noch weiter verstärken. Gleichzeitig stehen immer mehr Häuser und Wohnungen leer: 2019 waren allein in Seoul ca. 3.000 und landesweit über 1,4 Mio. Wohnimmobilien unbewohnt und verlassen. Für die Koreaner galt der Erwerb der eigenen vier Wände lange Zeit als Lebensziel. Doch mit der Auflösung der Familie, der Zunahme von Einpersonenhaushalten und der vorerst stagnierenden Tendenz der früher stets gestiegenen Wohnimmobilienpreise
wird allmählich der sehnliche Wunsch nach Wohneigentum schwächer. Für einen Einpersonenhaushalt ist die Wohnung eher ein Objekt des Nutzens als des Besitzens. Entsprechend steigt die Zahl von sog. Officetels (Studioapartments mit Grundausstattung wie Kochgelegenheit) und Einzimmerwohnungen – Wohnformen, die zur zunehmenden sozialen Isolation des Einzelnen geführt haben. Dem geteilten Wohnhaus, liegt hingegen das Konzept „eines Hauses, in dem man alleine und gleichzeitig zusammen lebt“ zugrunde. Der Markt
dafür ist zwar noch klein, weitet sich aber beständig aus und dürfte weiterhin wachsen. Nennenswerte Beispiele sind das Tongui-dong Haus der Junglim Foundation, das Uhjjuhdah-Haus des Architektenbüros SAAI sowie die Sharehouse-Wohngemeinschaften der Marke Woozoo. Das Tongui-dong Haus unterscheidet sich insofern von den anderen geteilten Wohnhäusern, als dass es bereits am Reißbrett als Sharehouse entworfen und nicht im Nachhinein umgebaut wurde. Dabei schuf die Junglim Foundation in Zusammenarbeit mit der Architekten-
Die Bewohner eines von Woozo betriebenen Co-Living-Hauses beim Plaudern im gemeinsamen Wohnzimmer. Um ein harmonisches Wohnmilieu zu befördern, achtet das Unternehmen bei der Auswahl der Bewerber auf gemeinsame Interessen und ähnlichen Geschmack.
© Woozoo
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 21
1
1, 3. Im Erdgeschoss des Tongui-dong Haus im Seouler Stadtbezirk Jong-ro befindet sich das Büro der Junglim Foundation. Die Bewohner können es als Bibliothek nutzen und an den von der Stiftung veranstalteten Foren und anderen Events unentgeltlich teilnehmen. 2. Das Tongui-dong Haus ist ein dreistöckiges Gebäude mit sieben Schlafzimmern im zweiten und dritten Stock. Um Küche, Wohnzimmer und Bad, die gemeinsam genutzt werden, möglichst großzügig zu gestalten, wurden zwar Abstriche bei der Größe der privat genutzten Zimmer gemacht, aber jedes Zimmer hat ein großes Fenster und bietet effizient nutzbaren Stauraum.
2 © Rooming
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3 © Kim Yong-kwan
gruppe Seoul Social Standard einen detaillierten Entwurf für das Gebäude und sein Wohnkonzept, um die Ressourcen effizient zu nutzen und Faktoren, die das Zusammenleben mit fremden Personen unangenehm machen könnten, so gut wie möglich zu beseitigen.
Effiziente Ressourcenverteilung
In den von Alleinstehenden bevorzugten Officetels werden Schlaf- und Küchenbereich sowie Badezimmer nur vom Bewohner genutzt, wodurch die Privatsphäre gewahrt wird. Er wird nicht von anderen gestört, Interaktionen sind selten. Dagegen können Sharehouse-Bewohner engere Beziehungen untereinander aufbauen. Im Tongui-dong Haus wohnen sie-
ben Personen. Die jeweils privat genutzten Zimmer wurden relativ klein gehalten, die Gemeinschaftsküche ist dafür mit gut 33m 2 großzügig geschnitten, sodass jeder auch schon mal Freunde einladen kann. Das Küchen-Sharing bringt die Bewohner auf natürliche Weise in Kontakt miteinander, auch Mahlzeiten werden geteilt. Badezimmer, Toiletten und Waschküche werden ebenso von allen genutzt, weshalb der Wohnbereich großzügiger geschnitten werden konnte. Der britische Zukunftsforscher John Thackara argumentiert in seinem Buch How to Thrive in the Next Economy: Designing Tomorrow’s World Today (2015) unter Bezugnahme auf Zitate von Harvard-Psychologen, dass Menschen angesichts begrenzt vorhandener
Ressourcen stärker miteinander kooperieren statt zu konkurrieren. Er prognostiziert, dass in Zukunft die Sharing Economy unvermeidlich sein wird und der Nutzungswert (die Nützlichkeit einer Ware) ihren Tauschwert (den Marktpreis dieser Ware) übertreffen wird. Die einzelnen Bewohner eines Sharing-Wohnhauses brauchen die für das tägliche Leben notwendigen Gegenstände wie z.B. Küchenutensilien nicht extra anzuschaffen, da sie geteilt werden, wodurch gleichzeitig Verschwendung reduziert wird. Im Erdgeschoss des Tongui-dong Haus befindet sich das Büro der Junglim Foundation, das für Foren und Treffen aller Art genutzt wird. Dort werden bei Abwesenheit der Bewohner auch Postsendungen und Paketlieferungen angenommen. Und das ständig brennende Licht gibt den Bewohnern, die erst spät von der Arbeit zurückkommen, das warme Gefühl, von ihrer Familie begrüßt zu werden. Es muss aber nicht unbedingt ein Büro sein. Auch kommerziell genutzte Räume wie ein Café oder Laden im Erdgeschoss vermitteln ein beruhigendes Gefühl. In einem reinen Co-Living-Gebäude kann man sich schnell einsam fühlen, wenn die meisten Bewohner tagsüber außer Haus sind und erst spätabends zurückkommen. Die Kombination mit einer kommerziellen Einrichtung bietet den Bewohnern mehr Gelegenheiten zur Interaktion.
Lockere Gemeinschaft
Kann geteiltes Wohnen als Gemeinschaft betrachtet werden? Wohl nicht im strengen Sinne. Denn in einem Wohnhaus, das man miteinander teilt, soll nicht die Gemeinschaft als solche, sondern die „Gemeinschaftlichkeit“ wiederbelebt werden. Im vorindustriellen Korea, als die Mobilität noch
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23
privaten Schuhschrank untergebracht werden; die Waschmaschine sollte nur zu den festgelegten Zeiten genutzt werden. Es kommt auch vor, dass die Bewohner aus bestimmten Notwendigkeiten heraus neue Regeln aufstellen. Interessant ist, dass diejenigen, die in der großen Erwartung einer eng verbundenen Gemeinschaft einziehen und sich entsprechend eifrig um Kontakte bemühen, als Erste wieder ausziehen. Dies bestätigt, dass der moderne Mensch von heute allzu enge Beziehungen leicht als belastend empfindet. Daher schreibt die Sharehouse-Marke Woozoo ihre Wohnungen für Mieter mit gemeinsamen Interessen aus, also z.B. für potentielle Start-up-Gründer oder für Frauen, die Baseball mögen.
NachbarschaftsTreffpunkt
Nicht nur die Zahl der Co-Living-Gebäude für Singles steigt, sondern auch die von genossenschaftlichen Wohnprojekten mit zwei- oder mehrköpfigen Familien als Zielgruppe. Ein repräsentatives Erfolgsbeispiel dafür ist das Wohnprojekt „Sohaengju“ im Seongmi-
1. Sohaengju#1, das erste im SeongmisanDorf in West-Seoul gelegene Co-LivingProjekt, besticht durch sein charakteristisches Design. Die Bewohner waren an Planung und Entwurf beteiligt, was die verschiedenen Räumlichkeiten einzigartig macht. 2. Bewohner des Youngdu-dong Haus bei einem geselligen Zusammensein in der auch als Esszimmer fungierenden Gemeinschaftsküche. Sechs Haushalte teilen sich das in Ost-Seoul gelegene Co-Living-Haus. Ebenfalls gemeinschaftlich genutzt werden u.a. ein kleiner Theater- und Vorführraum, ein Buchladen-cum-Café, eine Bibliothek und ein Lernraum für Kinder.
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Kann geteiltes Wohnen als Gemeinschaft betrachtet werden? Wohl nicht im strengen Sinne. Denn in einem Wohnhaus, das man miteinander teilt, soll nicht die Gemeinschaft als solche, sondern die „Gemeinschaftlichkeit“ wiederbelebt werden.
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eingeschränkt war, blieben Familien, Freunde und Bekannte meist in der Heimatregion. Man mischte sich oft bis zu einem Grade, der heute als aufdringlich empfunden würde, in die Angelegenheiten der anderen ein. Die „Gemeinschaftlichkeit“, die das geteilte Wohnen anstrebt, bedeutet: die positiven Seiten des traditionellen Gemeinschaftslebens bewahren und die negativen möglichst außen vor lassen. Es strebt nach einer „lockeren Gemeinschaft“, in der die Bewohner sich nicht einsam oder gesellschaftlich isoliert fühlen und einander in schwierigen Situationen mit Rat und Tat beistehen, dabei aber einen gewissen Abstand halten. Ist z.B. der Nachbar krank, erwartet in einem Großstadt-Wohnhochhaus heute niemand, dass der Bewohner nebenan ihn zum Arzt bringt. In einer „lockeren“ Gemeinschaft nimmt man diese Mühe auf sich. In Co-Living-Wohnhäusern ist die Achtung der Privatsphäre sehr wichtig. Deshalb befinden sich im Tongui-dong Haus Privat- bzw. Gemeinschaftsbereiche auf unterschiedlichen Etagen. Es gibt auch eine Hausordnung: Schuhe sollten z.B. nicht im gemeinsamen Eingangsbereich stehen, sondern im
2 © Yayasan Junglim
san-Dorf in Seoul, wobei das erste Sohaengju-Haus von neun Familien gemeinsam gebaut wurde. Die Bewohner ziehen also nicht einfach in ein von einem Bauträger errichtetes Fertighaus ein, sondern beteiligen sich am Entwurf. Auch wenn die künftigen Bewohner das Gebäude nicht komplett nach ihrem Geschmack gestalten können, werden individuelle Wünsche in Bezug auf z.B. Dachboden oder Balkon akzeptiert, was den einzelnen Wohneinheiten einen individuellen, an freistehende Einfamilienhäuser erinnernde Note verleiht. Außerdem verfügt das Wohngebäude über einen Gemeinschaftsraum, der die Rolle eines Gemeindesaals übernimmt. In einem gemeinsamen Bereich, für
den jeder Haushalt einen dem Bau von ca. 3,3m 2 entsprechenden Beitrag zahlte, erziehen die Familien ihre Kinder zusammen und essen zusammen. Zudem gibt es einen gemeinsamen Lagerraum zum Verstauen selten genutzter Dinge. In das Gebäude sind zudem noch drei kleine Unternehmen aus dem Viertel eingezogen. Im 2018 fertiggestellten Yongdudong Haus in Seoul wohnen sechs Parteien: ein Paar in den 70ern, drei Paare in den 30ern und 40ern, eine Familie mit vier und eine mit drei Kindern. Sie teilen sich Küche, Wäscheraum und eine kleine Bibliothek. In einer solch familienorientierten Hausgemeinschaft ist vor allem die gemeinsame Kinderbetreuung wichtig. Die Kinder
sind gerne bei den Nachbarn und übernachten auch schon mal dort. Und die Erwachsenen kümmern sich bereitwillig um die Nachbarskinder. Das Yongdu-dong Haus lotet zudem die Möglichkeit, als Gemeindezentrum zu fungieren, aus. Unter den Bewohnern ist z.B. ein Lehrer, der ausländischen Studenten Koreanisch beibringt. Die Studenten essen zusammen in der Gemeinschaftsküche und lernen in der Bibliothek. Kann in der nahe gelegenen Kita ein Kind nicht rechtzeitig abgeholt werden, weil die Eltern noch auf der Arbeit sind, wird es von einer Erzieherin ins Yongdu-dong Haus gebracht, wo es mit den dort wohnenden Kindern spielen kann, bis die Eltern es abholen.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 25
Klein ist schön Wie groß ist die Wohnung? In welchem Schulbezirk liegt sie? Welche Preissteigerung ist zu erwarten? Das sind die Kriterien, nach denen die meisten Koreaner den Wert einer Wohnimmobilie messen. Doch jüngst steigt die Zahl derer, die ein kleines, aber in seiner Art einmaliges Haus, in dem sie ein einfaches Leben führen können, bauen möchten.
N
ur wenige Koreaner wohnen in einem
individuell gestaltetem Wohnraum kommen
einem kleinen Hof vor dem Haus sowie die
Haus oder einer Wohnung, wo noch die
zu können, war für viele attraktiv. Es führte
Ungestörtheit eines allein stehenden Hauses
Erinnerungen an die Kindheit lebendig sind.
dazu, dass vor allem Familien, die des Lebens
ein „gutes“ Haus ausmachen.
Konnten sich die Eltern kein Wohneigentum
in einer Hochhauswohnung überdrüssig
leisten, hieß es bei Ablauf des Jeonse-Miet-
geworden waren, junge Ehepaare, deren
vertrags umziehen. Und selbst nach dem
Wertvorstellungen nicht denen der älteren
Wer sich für ein kleines Haus entscheidet,
Kauf einer Eigentumswohnung werden sie
Generation entsprachen, aber auch ältere
gehört meist nicht zu den besonders Be-
diese jedes Mal, wenn die Wohnungsprei-
Paare, deren Kinder von zu Hause ausgezo-
tuchten. Da man für Grundstückskauf und
se kletterten, verkauft haben, um in eine
gen waren, sich ein Stückchen Land in der
Hausbau mit einem begrenzten Budget aus-
noch größere und noch schönere Wohnung
Stadt oder ein preiswertes Baugrundstück
kommen muss, sind auch einige Nachteile
umzuziehen, oder in ein Stadtviertel mit
in den Randgebieten kauften und dort ein
hinzunehmen: Wegen der relativ kleinen
anerkannteren Mittel- und Oberschulen, um
Häuschen mit Hof davor errichteten.
Grundstücksfläche muss in die Höhe gebaut
Vertikale Bewegungslinien
den Kindern noch bessere Bedingungen für
Solch „maßgeschneiderte“ Häuser spiegeln
werden. Für ein Ehepaar reicht ein zwei-
die Hochschulreifeprüfung und damit die
Ideen und Wünsche ihrer Bewohner wider,
stöckiges Haus, aber für Familien mit Kindern
Aufnahme in eine der Top-Universitäten des
darunter z.B. eine große Küche, eine Biblio-
muss ein Dachzimmer eingerichtet oder die
Landes zu bieten.
Wert neu definiert
thek, ein Musikzimmer oder ein gemütliches
Split-Level-Bauweise angewandt werden, bei
Dachzimmer. Statt sich wie bis dahin der
der die Zimmer in der Höhe gegeneinander
vorgegebenen Struktur eines serienmäßig
versetzt sind, um mehr Platz zu schaffen.
Das Doppelhaus, das in den koreanischen
gebauten Wohnhochhauses anpassen zu
Statt sich, wie bisher gewohnt, auf der
Medien erstmals vor rund zehn Jahren Er-
müssen, konnten sie nun in einem nach ih-
in die Breite ausgerichteten Ebene einer
wähnung fand, war eine verlockende Alter-
ren eigenen Vorstellungen entworfenen, in
eingeschossigen Wohnung horizontal zu
native für die Nullachtfünfzehn-Hochhaus-
seiner Art einmaligem Heim wohnen!
bewegen, bewegen sich die Bewohner eines
wohnungen. Die koreanische Bezeichnung
Die Bewohner eines „Erdnuss-Hauses“
kleinen Hauses vertikal. Der Flur wird durch
„Erdnuss-Haus“ geht darauf zurück, dass
beurteilen den Wert eines Hauses nicht
eine Treppe ersetzt. In einem kleinen Haus
zwei identische Doppelhaushälften durch
mehr nach Größe, Zimmerzahl oder Schul-
befinden sich zudem Elternzimmer und Kin-
eine gemeinsame Wand getrennt sind. Da
bezirk-Zugehörigkeit. Ihnen wird erneut be-
derzimmer nicht auf einer Ebene, was für
sich in diesem Fall zwei Familien die Kosten
wusst, dass Details wie Fenster, die die schö-
mehr Privatsphäre sorgt. In einer einstöcki-
für Grundstück und Hausbau teilen können,
ne Landschaft ins Innere lassen, strukturelle
gen Hochhauswohnung schließen Jugendli-
Aussparungen und Interieur, die die Effekte
che oft ihre Zimmertüren ab, um ungestört
des Sonnenlichts verändern, die Freude an
sein zu können. Mit der Split-Level-Bauweise
kommt man günstiger zu Wohneigentum. Das Konzept, zu erschwinglichen Kosten zu
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können die einzelnen Räume individueller und gemütlicher gestaltet werden. Gleichzeitig verringert sich der Abstand zwischen den Räumen, was den Austausch unter den Familienmitgliedern intensiver werden lässt. So nehmen die kleinen Häuser je nach topographischer Lage des Bauplatzes, Umgebung, Familienstruktur sowie Vorlieben und Erwartungen der Familienmitglieder sehr unterschiedliche Formen an.
Einfach leben Lebt man in einem großen Haus, wächst proportional zur Größe die Zahl unnötiger Dinge. Hat man ein großes Wohnzimmer, kauft man nicht nur ein großes Sofa, sondern eventuell auch Fitnessgeräte oder einen Massagesessel. Und weil reichlich Platz ist, denkt man weniger daran, ungenutzte Gegenstände wegzuwerfen. Doch ein kleines Haus zieht einen Strich unter diese Nachlässigkeit. Das profane Verlangen, das im Leben Erreichte durch die Größe von Wohnung
Mit freundlicher Genehmigung von Monthly Green Friendly House
bzw. Haus und die darin angehäuften Gegenstände zu bestätigen, hat keinen Platz in einem kleinen Haus. In dem Moment, in dem man dort einzieht, muss man einfach vieles wegwerfen. Das macht bewusst, um wie viel
Das Seroro (wörtl.: in die Vertikale), ein fünfstöckiges, auf einem 33,7m² großen Grundstück gebautes Wohnhaus, liegt gleich neben der alten Seouler Stadtmauer in Changsin-dong. Wie der Name besagt, ist das Haus in der Vertikalen angelegt, wobei sich auf jeder Etage ein unterschiedlich genutzter Raum befindet: Garage im Erdgeschoss, darüber Arbeitsraum, Küche, Schlafzimmer, Bad und Ankleidezimmer.
schöner ein einfaches Leben frei von materieller Fixierung sein kann.
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Unser Heim heute: Träume und Begierden
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HANOK-RENAISSANCE Einst als unbequem und ungeeignet für das moderne Leben empfunden, erleben die traditionellen koreanischen Hanok-Häuser heute eine Renaissance. Die Hanok, die hauptsächlich dank der für historische Viertel größerer Städte erlassenen städtebaulichen Beschränkungen erhalten geblieben sind, erwachen derzeit als attraktive kommerzielle Einrichtungen zu neuem Leben, wiewohl noch nicht als Wohnhäuser. Jeon Bong-hee Professor für Architektur, Seoul National University
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nzureichende Klimatisierung, schlechte Lärm- und Kälteisolierung, Sicherheitsbedenken – das waren einige der praktischen Probleme, die das traditionelle koreanische Hanok-Haus in der modernen Zeit für das Alltagsleben unbeliebt machten. Da diese Probleme jetzt gelöst sind, sind umgebaute Hanok wieder angesagt und werden für ihre originäre Ästhetik geschätzt.
Viertel mit hoher HanokKonzentration
Die Neubewertung der Hanok nahm ihren Ausgang in den bei den Stadtneuentwicklungsprojekten vernachlässigten, rückständigeren Gebieten der Innenstadt, wo sich eine dichte Konzentration von Hanok-Häusern findet. Ein Paradebeispiel dafür ist das Seouler Viertel Bukchon (Nördliches Dorf). Für dieses Gebiet galten auf-
grund der Nähe zu wichtigen staatlichen Institutionen wie Blauem Haus (Amtssitz des Präsidenten) und seiner Lage zwischen den beiden Königspalästen Gyeongbok-gung und Changdeok-gung Regulierungen, die den Hochhausbau beschränkten. So blieb Bukchon mit seinem Labyrinth aus Gässchen, die von veralteten Wohnhäusern gesäumt wurden, zunächst von der Stadtentwicklungswelle verschont. In den späten 1980er Jahren kam es jedoch zu einer Lockerung der Regulierungen, sodass aufs Geratewohl dreioder vierstöckige Gebäude hochgezogen wurden. Als dann im Zuge der 1997 ausgebrochenen Asienkrise die Immobilienblase platzte, schärfte sich das Bewusstsein dafür, dass eine solch geballte, rücksichtslose Entwicklung weder Hauseigentümern noch Bürgern nützt. Schließlich wurde der von der Stadt Seoul konzipierte Plan, nach
Das Hanok-Dorf in Jeonju, das während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) aus Widerstand gegen die den koreanischen Markt beherrschenden japanischen Kaufleute errichtet wurde, ist heute eine bekannte Touristenattraktion. Die einander überschneidenden Ziegeldächer der über 600 Häuser bieten einen bestechenden Anblick.
dem Bukchon als ein Viertel mit hoher Hanok-Konzentration unter Bewahrung des architektonischen Bestandes entwickelt werden sollte, durchgeführt. Die Gebiete mit hoher Hanok-Konzentration waren zwar vergleichsweise heruntergekommen, aber dank ihrer Lage in der Stadtmitte war die kommerzielle Nachfrage groß. Da es Ziel der städtebaulichen Entwicklung war, Bukchon zur Touristenattraktion zu machen, wurden traditionelle Häuser renoviert und in Cafés, Läden, Arztpraxen, Bibliotheken und Gemeindeämter umgewandelt. Heutzutage verbringen viele Koreaner, die in modernen Hochhauswohnungen leben, gerne ihre Zeit in kommerziell genutzten Hanok-Räumlichkeiten – eine Erscheinung, die im krassen Gegensatz zur Frühzeit der Modernisierung steht, als die meisten Koreaner in traditionelle Hanbok gekleidet in Hanok-Häusern lebten und zum Arbeiten in Gebäude westlichen Stils gingen. Die Politik zur Wiederbelebung der Stadtteile mit hoher Hanok-Konzentration, die in Seoul ihren Anfang nahm,
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verbreitete sich Laufe der Zeit auch auf die Städte in den einzelnen Provinzen. Weil die Stadtentwicklung Koreas, die im späten 20. Jh. auf den Weg gebracht wurde, auf die Schaffung neuer urbaner Zentren an der Peripherie bestehender Großstädte fokussierte, wurde der alte innenstädtische Raum bei der Stadtentwicklung zunächst vernachlässigt. Um zu verhindern, dass diese Innenstädte mit ihrem Gässchenlabyrinth und kleinen Gebäuden zu Slums verkommen, entschied man sich für die einzig machbare Lösung: die Entwicklung zu Touristenattraktionen. Entsprechend wetteiferten viele Städte miteinander darin, das Panorama ihres alten Stadtkerns, wo ein Hanok neben dem anderen stand, zu bewahren und gleichzeitig zu entwickeln.
Umweltfreundliches Wohnen
Die Politik zum Erhalt der traditionellen Hanok wird mit breiter Unterstützung der Bürgerschaft bis heute fortgeführt. Dafür gibt es einige Gründe. Allen voran: Des Nullachtfünfzehn-Stils der Beton-Wohnhochhäu-
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Mit freundlicher Genehmigung von House Full of Happiness
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ser überdrüssig geworden, suchten die Menschen nach Alternativen. Und just zu diesem Zeitpunkt verbreitete sich der Wellbeing-Hype, der Lebensqualität und gesunde Lebensweise ins allgemeine Bewusstsein rückte, was wiederum den Wert des Hanok als stil- und geschmackvollen Raum zum Wohnen neu entdecken ließ. Als weitere Antriebskraft hinter dem aktuellen Hanok-Boom fungierte der Bewusstseinswandel in Sachen Umweltprobleme. Verglichen mit Stahlbetonkonstruktionen verursachen Holzbauten bei Konstruktion und Abriss weniger Kohlendioxidausstoß und Industrieabfälle, wodurch Hanok-Häuser in den Ruf besonderer Ökofreundlichkeit gekommen sind. Daneben hat aber auch die fortschreitende Globalisierung eine große Rolle gespielt. Die Zahl der ausländischen Besucher pro Jahr, die bis zu den in Seoul ausgetragenen Olympischen Sommerspielen 1988 bei weniger als zwei Millionen lag, stieg allmählich und erreichte 2016 beinahe die Achtzehn-Millionen-Marke. Und auch die Zahl der ins Ausland reisenden Koreaner verzeichnete einen ständigen Zuwachs. Mit dem zunehmenden internationalen Austausch sind insgesamt Interesse und Wertschätzung in Bezug auf eine originär koreanische Stadtlandschaft und damit der Hanok gestiegen. Zwar wollen Touristen – wann und wo auch immer – bequem und einfach Kreditkarten nutzen und Standardkaffee trinken, aber sie erkunden auch die Sehenswürdigkeiten und Erlebnismöglichkeiten, die das von ihnen gewählte Reiseziel zu bieten hat. Was nun architektonischen Stil angeht, so tragen Hanok durch ihre architektonische Beschaffenheit besonders vorteilhaft zum Stadtbild bei. Ihre Charakteristika umfassen zwei Teilaspekte: zum einen Struktur und Form,
zum anderen Nutzung des Innenraums. Die Grundstruktur eines Hanok besteht aus einem Gerüst vertikal und horizontal angebrachter Holzsäulen und Balken, über die Dachsparren und ein schräg abfallendes, ziegelgedecktes Dach platziert werden. Da Säulen und Querbalken Grundelemente sind, ist es möglich, die Wände verschiedenartig zu gestalten, und entsprechend können Öffnungen wie Türen und Fenster auf vielfältige Weise komponiert werden. Die strukturbedingt schräg abfallende Dächerlinien begrenzen einerseits die Formenvielfalt, vermitteln andererseits aber auch harmonische Homogenität, wenn mehrere Gebäuden dicht an dicht stehen. Traditionelle Hanok werden heutzutage immer häufiger zu Nicht-Wohnzwecken umgebaut. Dabei tendiert man dazu, ihre ursprüngliche Außenstruktur zu erhalten, den Innenraum jedoch auf Bedürfnisse und Gefühle der heutigen Zeit abzustimmen.
Fußbodenheizung
Eins der Hauptcharakteristika eines Hanok als Wohnhaus liegt in Anordnung und Nutzung der Innenräume, die sich in Ondol-Räume (Ondol: traditionelle koreanische Fußbodenheizung) und Maru (Holzdiele) unterteilen lassen. Man kann sagen, dass die Ondol-Fußbodenheizung das distinktivste Merkmal ist, das alte, im traditionellen Stil gebaute Wohnhäuser in Korea von den traditionellen Häusern anderer Länder unterscheidet. Das traditionelle Ondol-Heizsystem besteht aus unter einem erdgestampften Lehmboden verlegten Steinplatten und Schächten (Gorae), die unter diesen Platten verlaufen. Durch diese Schächte wurde dann die Brennhitze der Herdstelle, die sich meist in der Küche befand, geleitet, wobei der Rauch durch den Schornstein abzog. Bei den ältesten Ondol, die sich auf der koreanischen
© Moon Ji-yeon
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Halbinsel finden, verliefen die Schächte nur unterhalb eines Teils des Zimmers. Die ganzflächige Ondol-Heizung kam erst im 12. Jh. auf und verbreitete sich in den folgenden Jahrhunderten auf der ganzen koreanischen Halbinsel. Eine der größten Veränderungen, die die ganzflächige Ondol-Fußbodenheizung für das Alltagsleben der Koreaner mit sich brachte, war, dass sie begannen, auf dem Fußboden zu sitzen und zu schlafen, um die Wärme optimal zu nutzen. Die Böden des Hauses mussten daher stets sauber gehalten werden und beim Betreten des Hauses waren die Schuhe auszuziehen. Die Ondol-Nutzung, die in den traditionellen Hanok-Häusern für harte, warme und saubere Fußböden sorgte, hatte großen Einfluss auf die Wohnkultur des Landes. Auch heute noch ziehen die Koreaner nach dem Öffnen der Wohnungstür im Eingangsbereich zuallererst ihre Schuhe aus und bewegen sich in Wohn- und Schlafzimmer ent-
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weder barfuß oder in Hausschuhen. Das gilt auch für die Bewohner von modernen Wohnhochhäusern, die mit einer dem Ondol nachempfundenen modernen Fußbodenheizung ausgestattet sind. Der Innenraum des traditionellen Hanok lebt in diesem Sinne bis heute in den üblichen modernen Hochhauswohnungen weiter.
Moderne Ausstattung
Früher waren die Hanok-Häuser aufgrund ihrer mangelhaften Wärmeisolation kalt, und es war schwierig, Bad und Küche mit modernen Ausstattungen und Geräten zu versehen. Aber heute können diese Mankos dank fortgeschrittener Technologien ausgeglichen werden. Mit Behebung dieser Unbequemlichkeiten könnte die derzeitige Beliebtheit traditioneller Hanok-Häuser vielleicht mehr als eine vorübergehende Erscheinung sein und sich zu einer regelrechten „Hanok-Renaissance“ entwickeln.
1. Bei dem in Goseong, Provinz Gangwon-do gelegenen Haus Gamsolchae (Drei Kiefern) kamen leichte und schwere Holzrahmensysteme zur Anwendung, wobei sich die Schönheit des Hanok in den exponierten Holzbalken und Stützpfeilern manifestiert. In der Mitte der offenen Küche-Wohnzimmer-Kombination befindet sich eine Koch- und Lagerinsel. Das Haus wurde vom Architekturbüro Studiothewon entworfen. 2. Onion, eine im Seouler Stadtteil Jong-ro gelegene Bäckerei & Café, befindet sich in einem renovierten Hanok, das während der Joseon-Zeit das Polizeiamt beherbergte. Den im Hauptraum mit Holzboden an niedrigen Tischen sitzenden Gästen bietet sich ein schöner Blick auf die Umgebung. 3. Eine Galerie im Seouler Stadtteil Jong-ro. Immer mehr alte Hanok wurden renoviert und zu kulturellen Einrichtungen umfunktioniert, die das Beste aus der einzigartigen Atmosphäre traditioneller Häuser machen. 4. Dieses in den 1940er Jahren in Hyehwa-dong in der Seouler Stadtmitte im städtischen Stil errichtete Hanok wurde zum örtlichen Kommunalamt umgebaut. Damit wurde zum ersten Mal eine öffentliche Verwaltungsstelle in einem traditionellen Hanok untergebracht.
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© Bae Se-hwa
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EINE NEUE WELLE IN SACHEN MÖBEL
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ohnungen in Apartmentkomplexen und Mehrfamilienhäusern werden oft unabhängig vom persönlichen Geschmack der Bewohner mit einheitlichen Einbaumöbeln und Beleuchtungen ausgestattet. Vielleicht haben die Koreaner deshalb lange vergleichsweise wenig Interesse an Innenausstattung und Möbeldesign gezeigt. Der Möbelmarkt war mehr oder weniger unterteilt in ein kleines, auf importierte Luxusmöbel sowie Arbeiten traditioneller Kunstschreiner spezialisiertes Segment einerseits und preisgünstige Sperrholzprodukte für den Durchschnittsverbraucher andererseits. Nach der Millenniumwende wurde der persönliche Geschmack jedoch langsam wichtiger und die Nachfrage nach individuelleren Designs stieg. Angeführt wurde dieser Wandel von jungen, kreativen Designern. Hier einige repräsentative Arbeiten von vier Möbeldesignern, die den Markt mit ihren originären Stücken, in die sie traditionelle Designelemente einfließen ließen, wiederbelebten.
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1. Steam 11 von Bae Se-hwa. 2010. Walnuss. 120 × 70 × 71 cm (BTH). Dämpfen ist ein Holzbearbeitungsverfahren, bei dem das Holz vier bis fünf Stunden erhitzt wird, um es biegsam zu machen, und innerhalb von rund 15 Sekunden in die gewünschte Form gebracht wird, bevor es abkühlt und wieder verhärtet. Bae Se-hwa verwendet diese westliche Technik, um koreanische Ästhetik zum Ausdruck zu bringen. Der Stuhl reflektiert die natürliche Schönheit und Eleganz der Dachlinie eines traditionellen Hanok-Hauses.
2. Sarangbang von Song Seung-yong. 2011. Birke, Maulbeerbaumpapier, Verbundwerkstoff. 279 × 76.2 × 174 cm (BTH). Song Seung-yong lässt sich v.a. von Strukturen und Materialien des Hanok inspirieren. In Anlehnung an die Funktion des Sarangbang, des Herrenzimmers eines traditionellen HanokAnwesens, in dem der Hausherr schlief, las und Gäste empfing, schuf der Designer diesen schlichten, aber anmutigen Raum. Der gitterartige, mit Maulbeerbaumpapier verkleidete Holzrahmen schafft eine gemütliche Atmosphäre in diesem klappbaren Möbelstück.
3. Dami von Song Seung-yong. 2012. Valchromat. Lampe: 40 × 40 × 127 cm; rechteckiger Tisch: 140 × 38 × 45 cm; großer runder Tisch. Die eher aus Linien statt Flächen komponierten Stücke der Dami-Serie sind leicht. Das Set aus Tischen und Lampe weist sauber überkreuzende Linien auf, die an die Gitterstruktur der Fenster eines traditionellen Hanok erinnern. Die einfachen und strengen Formen besitzen ein einzigartiges Fluidum.
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1. Verspielte Welle von Kim Jin-sik. 2017. Marmor, Stahl. 220 × 105 × 74 cm (BTH). Kim Jin-sik erforscht die physikalischen Eigenschaften der Materialien. Dieser Tisch wurde inspiriert von der Vorstellung eines Tischtennisspiels über aufgebauschten Meerwellen. Der Designer versuchte, die über Tischplatte und Fuß heranbrandenden Wellen anhand von Maserung und Textur des Marmors darzustellen. Die Art und Weise, wie das „Netz“ in einen Metallrahmen eingefügt ist, erinnert an die in der traditionellen koreanischen Holzarchitektur verwendeten Techniken.
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2. HalfHalf Low 120 von Kim Jin-sik. 2016. Marmor, verspiegelter Edelstahl. 120 × 70 × 38 cm (BTH). Kräftige Maserung und Farben des Marmorfußes spiegeln sich in der gebogenen Fläche der halbkreisförmigen Edelstahlplatte wider und schaffen so eine ungewöhnliche Oberflächenstruktur. Der Tisch ist Teil einer Möbelserie, die formenmäßig Kreise und Rechtecke verbindet und textuell mit einem Stein-Stahl-Kontrast kombiniert. Das präzise kunsthandwerkliche Können des Designers hat ein Werk hervorgebracht, das von hoher Perfektion zeugt und bar jeden Makels ist.
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3. Dazzi von Ha Ji-hoon. 2012. Sperrholz, pulverbeschichteter Stahl. 100 × 45 × 85 cm (BTH). Dieser kleine Schrank gehört zu Ha Ji-hoons Serie von Möbelstücken mit Anlehnungen an die verschiedenen Designs der dekorativen Metallbeschläge Jangseok von traditionellen koreanischen Bandaji (Holztruhen). Kunstfertigkeit und Unermüdlichkeit, mit der der Designer Traditionelles neu interpretiert, haben ein Werk hervorgebracht, das traditionelle Ästhetik mit moderner Schlichtheit verbindet.
4. Pittsburgh von Ha Ji-hoon. 2015. Eichenholz, Aluminium. Tisch: 150 × 75 × 72 cm; Stuhl: 47 × 38 × 72 cm (BTH). Die strukturelle Eleganz der traditionellen Naju Soban, der tragbaren Tische aus Naju in der Provinz Jeollanam-do, spiegelt sich in diesem Tisch-Stuhl-Set wieder. Das in Zusammenarbeit mit einem anerkannten Tischlermeister für Naju Soban gefertigte Set war eine Auftragsarbeit anlässlich der Eröffnung des Raums für koreanisches Kulturerbe in der Cathedral of Learning der University of Pittsburgh in den USA.
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Geschmack der Langsamkeit bewahren Hervorstechendstes Charakteristikum der traditionellen koreanischen Küche ist die Fermentierung, die Zeit und Hingabe verlangt. Unter den allgemein für ihre tiefe und pikante Geschmacksnote geschätzten fermentierten Nahrungsmitteln ist Ganjang (Sojasoße) als Grundbestandteil der koreanischen Küche von entsprechender Bedeutung. Es gibt eine Familie, die seit 360 Jahren ihre Ssi-Ganjang (Ssi: Samen, Ganjang: Sojasoße) bewahrt. Die Verantwortung dafür liegt über Generationen hinweg einzig und allein bei der Jongbu (Frau des ältesten Sohnes des Stammhauses eines Familienclans). Park Mee-hyang Journalistin für Esskultur, The Hankyoreh Fotos Ahn Hong-beom
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ch hoffe, dass die Fahrt hierher nicht allzu beschwerlich für Sie war, es gibt hier doch nichts Besonderes, was sich zu zeigen oder anzubieten lohnen würde.“ Die Worte von Großmeisterin Ki Soon-do, deren Erscheinungsbild die Anmut und Großherzigkeit der Schwiegertochter einer Jongga (Stammfamilie: Familie des jeweils ältesten Sohns der einzelnen Generationen eines Familienclans) ausstrahlte, waren von einer warmen Herzlichkeit, die an gut gereifte Doenjang (Sojabohnenpaste) erinnerte. Ein weißer Jindo-Hund (Korea Jindo Dog) lief ihr hinterher, um den Gast gemeinsam mit ihr zu begrüßen. Die letzten 48 Jahre über hat Ki traditionelle Jang (fermentierte Gewürzsoßen und -pasten) hergestellt, ein hingebungsvolles Engagement, für das sie 2008 vom Ministerium für Landwirtschaft, Nahrungsmittel und ländliche Angelegenheiten zur Großmeisterin traditioneller koreanischer Gerichte ernannt wurde. Dieser Ehrentitel wird an Personen vergeben, die sich über zwanzig Jahre lang einem bestimmten Nahrungsmittel gewidmet haben oder fünf Jahre von einem Großmeister ausgebildet wurden und anschließend über zehn Jahre in derselben Branche tätig waren. Ki erhielt Ihren Großmeisterin-Titel im Bereich der Herstellung und Verarbeitung von Jinjang (über fünf Jahre gereifte, kräftige Sojasoße). Worin liegt das Geheimnis ihrer Sojasoße? Im großen Hof ihres Hauses in Damyang, Provinz Jeollanam-do, der ersten Cittàslow (Langsame Stadt; von Cittaslow International vergebene Auszeichnung für Städte, die den Fokus auf Lebensqualität, Erhalt der Kultur und Umweltschutz legen) in Asien, reihen sich auf einer großen Terrasse 1.200 irdene Jangdok-Vorratskrüge wie gut gedrillte Soldaten nebeneinander. In diesen Krügen reifen verschiedene Soßen und Pasten in unterschiedlichen Stadien der Fermentierung. „Möchten Sie einmal daran riechen?“, fragte Ki und führte mich zu einem der Krüge. Als ich den Deckel hob, schwebte mir ein außergewöhnlicher Geruch entgegen: Es war der unverwechselbare, leicht muffige Geruch, der Fermentiertem typischerweise anhängt, jedoch vermischt mit einem eigentümlichen, süßen Aroma. Ki braut drei Sorten Sojasoße: Cheongjang (cheong: klar), Jungganjang (jung: mittel) und Jinjang (jin: reif). Cheongjang ist eine leichte, weniger als ein Jahr fermentierte Sojasoße, die hauptsächlich zur Zubereitung klarer Suppen wie z.B. Kongnamulguk (Sojasprossensuppe) und Oinaengguk (kalte Gurkensuppe) verwendet wird. Mit der salzigeren und dunkleren Jungganjang mit einer Reifezeit von bis zu fünf Jahren wird üblicherweise Bulgogi (Gericht aus in dünne Scheiben geschnittenem, mariniertem Rindfleisch), Jangjorim (in Sojasoße geschmortes Rindfleisch) usw. gewürzt. Die über
fünf Jahre gereifte, kräftige Jinjang wird für die Zubereitung von u.a. Yukpo (eine Art Dörrfleisch) und Yakgwa (frittierte Honigkuchen) verwendet. Zur Zubereitung dieser Soßen werden gelbe Bohnen der neuen Ernte gut durchgekocht, zerstampft und zu Meju (ziegelsteinartige Blöcke) geformt, die zum Fermentieren und Trocknen auf einem Strohbett gelagert werden. Anschließend lässt man die Meju einige Monate in Sole reifen, bevor Sojasoße und Sojabohnenpaste durch Filtern getrennt werden. „Der Tag, an dem ich die Bohnen koche, muss frei von bösen Geistern sein, weshalb ich Körper und Geist einer Reinigung unterziehe. Ich mache keine Kondolenzbesuche, egal wie nahe mir der Verstorbene stand. Ich widme mich mit Körper und Geist der Arbeit. Die Basis für die Sojasoßen und -pasten ist für mich eine heilige Aufgabe.“
Äußerste Hingabe
Die jahrzehntelangen Bemühungen und Hingabe von Großmeisterin Ki Soon-do fanden auch international Beachtung. Weltberühmte Köche wie Eric Ripert aus New York und René Redzepi aus Kopenhagen suchten sie auf. Als US-Präsident Trump 2017 Korea besuchte, wurde beim Staatsbankett im Blauen Haus ein Gericht mit ihrer Ssi-Ganjang serviert und die über 300-jährige Geschichte der Sojasoße wurde zum großen Gesprächsthema. Laut Pressemeldungen soll für dieses Dinner eine Sojasoße verwendet worden sein, die älter als die Vereinigten Staaten ist. „Ich habe immer ein besonderes Auge auf die Ssi-Ganjang, die nur zu ganz besonderen Familienanlässen benutzt wird. Von der besten, frisch hergestellten Sojasoße fülle ich immer soviel in den Ssiganjang-Krug nach, wie im jeweiligen Jahr verbraucht wurde.“ Auf die Frage nach dem Geheimnis ihrer Sojasoße antwortete Ki, dass in ihre Soßen nur Bambussalz und Sojabohnen aus heimischem Anbau kommen. A und O ihrer Soße seien jedoch ihre Grundbestandteile nämlich das Wasser, das aus 167m Tiefe hochgepumpt wird, und das Bambussalz, für das nur Bambusrohr aus Damyang verwendet wird. Damyang, wo Ki herkommt, ist für seinen hochwertigen Bambus berühmt. Auserlesene Zutaten sorgen zwar für eine hervorra-
Ganjang (Sojasoße) gehört zu den grundlegendsten Würzmitteln der koreanischen Küche. In der Vergangenheit war die Herstellung des jährlichen Sojasoßenvorrats ein wichtiges Ereignis im Jahresreigen jeden Haushalts, wobei die von Haus zu Haus leicht abweichenden Geschmacksnoten hoch geschätzt wurden. Aber heutzutage verwenden die meisten Koreaner industriell gefertigte Soßen.
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„ Einen Probelauf gibt es nicht. Die Sojasoße, die nur einmal im Jahr hergestellt wird, bestimmt das ganze Jahr über den Geschmack von dem, was auf den Esstisch kommt.“
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Die Reihen von über 1.200 Krügen für Gewürzsoßen und -pasten im Hof von Ki Soon-dos Haus in Damyang, Provinz Jeollanam-do, bieten einen spektakulären Anblick. Seit 48 Jahren stellt Ki Würzmittel nach traditionellen Methoden her. 2008 wurde sie für ihren Beitrag zur Soßenherstellung und die Qualität ihrer Produkte zur Großmeisterin traditioneller koreanischer Gerichte im Bereich Herstellung und Verarbeitung von Jinjang ernannt.
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gende Geschmacksnote, aber erst das Können ist eine Garantie für Soßen auserlesener Qualität. Kis Bambussalz unterscheidet sich von allen anderen auf dem Markt. Mit Stolz in der Stimme erklärte sie: „Das aus dem Westmeer gewonnene Meersalz wird in einem aus rotem Lehm gefertigten Brennofen bei über 700°C vier Tage lang neun Mal gebacken.“ „Im elften Monat nach Lunarkalender werden die Sojabohnen für die Meju-Blöcke gekocht. Die Blöcke werden dann einen Monat lang fermentiert und sind um dem ersten Vollmondtag nach Lunarkalender, bereit für die Herstellung von Soßen und Pasten“, sagte Ki. „Es ist sehr wichtig, den richtigen Tag dafür zu wählen. Einen Probelauf gibt es nicht. Die Sojasoße, die nur einmal im Jahr hergestellt wird, bestimmt das ganze Jahr über den Geschmack von dem, was auf den Esstisch kommt.“ Der Raum zum Fermentieren ist ebenfalls aus rotem Lehm. Er entfernt den für Meju typischen, etwas moderigen Geruch und verleiht der Soße ihr zart süßes Aroma.
Kulinarische Erbstücke der Stammfamilie
„Sie haben sicher Hunger. Probieren Sie doch das hier mal. Da ist kaum Zucker drin.“ Die Hausherrin kam mit einem kleinen Tisch, auf dem sie mir Danggeun Jeonggwa (in Honig abgebrühte Möhren), Doraji Jeonggwa (in Honig abgebrühte Glockenblumenwurzeln) sowie Yakgwa (frittierte Honigkuchen) servierte. Ki hat sich nicht nur einen Namen für ihre Soßen und Pasten gemacht, sondern auch für die Zubereitung traditioneller Süßspeisen. Und in der Tat: Ein Bissen ihrer klebrigen Doraji-Jeonggwa – und schon breitete sich ein himmlischer Geschmack in meinem Mund aus.
Ein Geschmack so raffiniert und delikat, dass das Wort „süß“ allein ihm nicht gerecht zu werden vermag. Die anfängliche Süße wurde abgerundet von einer angenehmen Bitterkeit. Auch der Honigkuchen war von köstlicher Konsistenz und weder zu knusprig noch zu bröckelig. Was mochte nur das Geheimnis sein? Ki erklärte, dass sie nicht den gebrauchsfertigen Mullyeot (Stärkesirup) verwende, sondern nur selbstgemachten, auf traditionelle Weise hergestellten Jocheong, also Getreidesirup. Sie hatte wohl gemerkt, dass ich durstig geworden war, denn sie bot mir eine Schale Sikhye (süßer Reispunsch) an, der ebenfalls für eine geschmackliche Erleuchtung sorgte: Er war von angenehm süßem Geschmack und es schwammen mehr Reiskörner als bei industriell gefertigtem Reispunsch mit künstlichen Zusätzen darauf. „Je mehr Reiskörner, desto intensiver die Süße“, erklärte Ki. Die sanfte, süßliche Note kommt von dem gekochten und fermentierten Reis. Das Malz habe ich auch selber gemacht, aus frischen Gerstensprossen.“ Ki Soon-do ist die Jongbu der 10. Generation des Yangjinjae-Zweiges des Ko-Clans von Jangheung, Provinz Jeollanam-do. Eine Jongbu ist die älteste Schwiegertochter der Stammfamile (Jongga) eines Familienclans (Munjung), deren Pflicht darin besteht, die Traditionen der Stammfamilie fortzuführen, darunter natürlich auch die Esskultur. In den meisten Stammfamilien gibt es typische Gerichte, deren Rezepte von Generation zu Generation weitergegeben werden und die entsprechend von Stammfamilie zu Stammfamilie unterschiedlich sind. Es sind lokale Speisen, die aus den regionaltypischen landwirtschaftlichen Produkten das Beste herausholen. Zu den tradierten Familienrezepten der Kos zählen Ueongdeulkkaetang (Klettenwurzel-Perilla-Eintopf), Juksun-
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1. Ki umwickelt Meju-Blöcke mit Strohseilen, um sie zum Trocknen aufzuhängen. Meju, eine Grundzutat, die über den Geschmack der Gewürzpasten und -soßen entscheidet, wird etwa zu Winterbeginn hergestellt. Dafür werden gelbe Bohnen gekocht, zerstampft und zu ziegelsteinartigen Blöcken geformt, die an einem warmen Ort zum Fermentieren gelagert und anschließend zum Trocknen an eine sonnige Stelle gehängt werden. 2. In Kis Familie gibt es eine Reihe von Gerichten, deren Rezepte über die Generationen hinweg weitergegeben werden. Dazu gehört z.B. Ueongdeulkkaetang (Klettenwurzel-Perilla-Eintopf). Für diesen gesunden Eintopf, der am besten schmeckt, wenn er mit einer für bis zu fünf Jahren gereiften Sojasoße zubereitet wird, werden dünne Klettenwurzelnscheiben, Pilze und Zwiebeln in Perillaöl gebraten, in Wasser gekocht und unter Zugabe von gemahlenen Perillakörnern, gehackten Frühlingszwiebeln und Knoblauch noch einmal geköchelt.
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Langsamer, noch langsamer
Seit dem Tod ihres Ehemanns Ko Gap-seok vor zwanzig Jahren, ruht die Pflicht, die Stammfamilie und ihre Traditionen zu bewahren, einzig und allein auf den Schultern von
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jeon (Bambussprossen-Pfannküchlein), Ganjang-Kimchi (Kimchi auf Sojasoßenbasis) und Baegilju (hundert Tage lang fermentierter traditioneller Reiswein). Für den Klettenwurzel-Perilla-Eintopf werden in dünne Scheiben geschnittene Klettenwurzeln, Pilze und Zwiebeln in Perillaöl angebraten, in Wasser gekocht und anschließend unter Zugabe von fein gemahlenen Perillakörnern, gehackten Frühlingszwiebeln und Knoblauch noch einmal geköchelt. Resultat ist ein gesundes Gericht von raffinierter Milde. Unübertroffen in der Entfaltung des natürlichen Geschmacks der Zutaten sind auch die Bambussprossen-Pfannküchlein. Eine außergewöhnliche Spezialität unter den Gerichten dieser Stammfamilie ist aber der würzige, auf Basis von Sojasoße statt Jeotgal (fermentierte Meeresprodukte) zubereitete Kimchi. Ki hatte nie daran gedacht, einmal die älteste Schwiegertochter einer ehrwürdigen Stammfamilie zu werden. Sie wurde im Kreis Gokseong, rund vierzig Autominuten von Damyang entfernt, als jüngstes von sechs Kindern geboren. Die Kinder erhielten alle eine traditionelle, streng an den Werten der Yangban-Edelleute der Joseon-Zeit (13921910) orientierte Erziehung, zu der neben kindlicher Pietät auch Etikette und Tischmanieren gehörten. Als Nesthäkchen wurde sie aber auch verwöhnt und musste sich die Hände nicht schmutzig machen. Als sie dann mit 22 Jahren heiratete, fand sie sich plötzlich in der Küche abplagen, um die Ahnenverehrungszeremonie Jesa vorzubereiten, die über dreißig Mal im Jahr stattfand. Kaum war ein Jesa vorbei, stand schon wieder der nächste ins Haus, aber daneben musste sie auch noch ihrer Schwiegermutter bei der jährlichen Jang-Herstellung helfen. Sie sagte, sie nehme das als ihr Schicksal an. „Zu Lebzeiten meiner Schwiegermutter hatten wir rund fünfzig Krüge auf unserer Soßen-Terrasse stehen. Sobald wir Jang machten, kamen Verwandte und Nachbarn, um sich etwas davon zu erbitten. So gut schmeckte die Soße.“ Als sich der exzellente Geschmack ihrer Jang herumsprach, machte die Familie ein Geschäft daraus. „Nach dem Studium des Buddhismus an der Dongguk Universität wollte mein Mann Mönch werden. Aber das kam als Oberhaupt einer Jongga-Stammfamilie überhaupt nicht in Frage. Es ist nämlich die oberste Pflicht des ältesten Sohnes, die Familienlinie fortzusetzen. Ihm blieb daher nichts anderes übrig, als den ihm vorgeschriebenen Weg zu gehen.“
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Ki. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen zogen auch im Ausland Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Sojasoße wird im Pariser Großwarenhaus Le Bon Marché verkauft und sie wurde zum Salon international de l’Alimentation (SIAL), einer der drei weltgrößten Fachmessen für Nahrungsmittel, eingeladen. 2019 nahm sie an der Namdo Jongga Treasure Hunt teil, die gemeinsam von der Korea Tourism Organization und dem Verein der Jongga-Stammfamilien der Provinz Jeollanam-do ausgerichtet wurde. In ihrem Leben schien alles auf bestem Wege zu sein, doch dem war nicht unbedingt so. Ihr zweiter Sohn, der an einer Eliteuniversität über ein Sojasoße-bezogenes Thema promoviert hatte, verunglückte bei einem Unfall tödlich. Ki machte eine qualvolle Zeit durch, raffte sich dann aber wieder auf. Die Kraft dazu gaben ihr die traditionellen Soßen und Pasten. Ihr Unternehmen Goryeo Traditional Foods (auch bekannt als Kisoondo Traditional Jang), produziert nicht nur traditionelle, sondern auch moderne Jang-Sorten sowie Jang-basierte Beilagen. In einer Zeit wo alles „schneller, noch schneller“ gehen soll, ist Ki der festen Überzeugung, dass es ihre Berufung ist, die „langsamere, noch langsamere“ Herstellungsweise der traditionellen Soßen und Pasten zu propagieren. „Würden sich meine Jang nicht von den Produkten anderer unterscheiden, gäbe es ja gar keinen Grund für mich, sie herzustellen.“ Ihre Worte der Entschlossenheit, nicht den Verlockungen des kommerziellen Erfolgs zu erliegen, im Ohr, verließ ich das alte Haus. Bei meinem Abschied war der weiße Hund wieder an der Seite seiner Herrin.
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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
Künstlergarten in Berlin erweckt Traum vom Frieden In Berlin entstand ein Künstlergarten, in dem Pflanzen aus ganz Korea, dem letzten noch geteilten Land der Welt, einträchtig nebeneinander wachsen. Der temporäre Garten Das dritte Land, der anlässlich des 30. Jubiläums des Falls der Berliner Mauer auf dem Kulturforum am Potsdamer Platz angelegt wurde, öffnete seine Pforten am 23. Mai 2019. Er ist ein bedeutsamer Ort, der Menschen aus Deutschland sowie Nord- und Südkorea den Schmerz der Teilung und die Bedeutung der Einheit vergegenwärtigt. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Fakultät für Medien und Kommunikation, Korea University
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© Keum Art Projects
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uf dem Matthäikirchplatz am Kulturforum, wo einst die Berliner Mauer verlief, wurde ein Künstlergarten angelegt, dessen Kernstück dem Gebirgszug Baekdu Daegan auf der bekannten Tuschezeichnung Inwang jesaekdo (Der Berg Inwang-san nach dem Regen, 1751) des Joseon-Malers Jeong Seon (Künstlername: Gyeomjae, 1676-1759) nachempfunden ist. Aus dem Miniaturgebirge aus Basalt und Erde scheint dichter Nebel emporzusteigen, was eine traumhafte Stimmung heraufbeschwört. Die Gebirgskette Baekdu Daegan verbindet als Rückgrat der koreanischen Halbinsel Nord und Süd und ist als Schatzkammer der biologischen Vielfalt eins der wichtigsten natürlichen Ökosysteme der Welt. Der sich vom Baekdu-san, der höchsten Erhebung des Bergmassivs Baekdu Deagan an der nördlichen Grenze der koreanischen Halbinsel, über das Geumgang- und Seorak-Gebirge bis ins Jiri-Gebirge an der Südküste erstreckende Gebirgszug ist über seine ökologische Bedeutung hinaus auch in geisteswissenschaftlicher und soziokultureller Hinsicht von unschätzbarem Wert. Der mystische Künstlergarten, der wie ein stilles Gebet für Frieden und Versöhnung wirkt, ist das Ergebnis der Kollaboration von drei koreanischen Künstlern in den Vierzigern. Kim Keum-hwa, Kuratorin von Keum Art Projects, und die Installationskünstler Han Seok-hyun und Kim Seunghwoe realisierten den Künstlergarten nach gut dreijähriger Vorbereitung. Planung und Organisation übernahm Kim Keum-hwa, während Han für das
visuelle Konzept zuständig war und Kim Seung-hwoe für alle Arbeiten in Zusammenhang mit Pflanzen und Blumen.
Übereinstimmung von Kultur und Emotionen
Kim Keum-hwa, die in Berlin als Kuratorin einer Planungsagentur für Zeitgenössische Kunst aktiv ist, unterstützt Ausstellungsprojekte koreanischer und deutscher Künstler, Galerien und Firmen. Han Seok-hyun erkundet Möglichkeiten einer erweiternden Verknüpfung von zeitgenössischer Kunst und ökologischer Umsetzung. In Berlin und Seoul aktiv, pendelt der Künstler zwischen beiden Städten. Kim Seung-hwoes Schwerpunkt liegt auf sozialen, städtearchitektonischen und ökologischen Veränderungen rund um die Berliner Mauer nach ihrem Fall. Er nutzt Kunst im öffentlichen Raum als Instrument der Kommunikation zwischen Kunst und Landschaftsgestaltung. Han sagt, er habe sich bei der Konzeption des Gartens intensiv mit dessen optischen Gestaltung auseinandergesetzt, da die geographischen Besonderheiten des Baekdu Daegan die kulturelle und emotionale Homogenität des koreanischen Volkes maßgeblich beeinflussten. „Inwang jesaekdo ist ein repräsentatives Meisterwerk der Jingyeong sansuhwa (realistische Landschaftsmalerei) der Joseon-Zeit, das nicht nur in den beiden Koreas, sondern auch international bekannt ist. Es spiegelt die über die Zeitläufte hinweg weitergegebene kulturelle Empfindsamkeit auf beiden Seiten der Demarkationsli-
nie wider. Mit diesem kulturellen Kontext im Kopf, wollte ich die Schönheit des nach dem Regen von dichtem Nebel verschleierten Bergfußes zum Ausdruck zu bringen.“ Vor allem suchte Han nach Wegen, die an ein Tuschegemälde erinnernde Landschaft der koreanischen Berge gartenkünstlerisch einzufangen. Schließlich gelang es ihm, die gewünschte Atmosphäre durch weiße Wildblumen, die zwischen schwarzen Steinbrocken blühen, und Kunstnebelschwaden zu erzeugen.
Landschaft wie aus einem Tuschegemälde
Die Idee für den Künstlergarten kam Han 2016 in Berlin, wo er sich als Residenzkünstler am Künstlerhaus Bethanien aufhielt. „Als ich im Frühjahr 2016 zum ersten Mal nach Berlin kam, wirkten die Menschen dort auf mich unendlich friedlich und glücklich. Mir kam der Gedanke, dass die deutsche Wiedervereinigung ihnen Frieden und Stabilität gebracht hatte. Ich war zu Tränen gerührt, als ich in einem Dokumentarfilm den Moment, in dem die Mauer fiel, sah. Ich dachte bei mir, dass die deutsche Einheit durch den Willen beider Seiten und den freien Austausch möglich gemacht wurde, und wir Nord- und Südkoreaner uns daher öfter treffen und unterhalten sollten, statt nur auf eine politische Entscheidung zu warten. Plötzlich schoss es mir dann durch den Kopf, dass ich selbst in den letzten zehn Jahren mit niemandem über die Wiedervereinigung gesprochen hatte. Deshalb wollte ich ein Projekt mit Bezug zu den bei-
Die Installationskünstler Han Seok-hyun (links) und Kim Seung-hwoe bei der Arbeit an Das dritte Land, einem temporären, im Mai 2019 in Berlin eröffneten Künstlergarten. Dieser zum Gedenken an den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und als Ausdruck des Wunsches nach Frieden und Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel angelegte Garten befindet sich am Potsdamer Platz neben den Überresten der Berliner Mauer. Er bleibt bis Oktober 2020 geöffnet.
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1. Die beiden Künstler, die aus Basalt und Erde eine Replik des von den Koreanern als Rückgrat der koreanischen Halbinsel betrachteten Gebirgszugs Baekdu Daegan schufen, installierten ein Wassernebel-Sprühsystem, das die Berge in mystische Nebelschwaden hüllt. 2. Der Künstlergarten „Das dritte Land”, errichtet auf einer Fläche von 25m×50m, befindet sich vor der St. Matthäus Kirche. Ursprünglich hatten die Künstler geplant, 3.000 Pflanzen 60 unterschiedlicher Arten (37 aus Südkorea und 23 aus Nordkorea), zu setzen, aber aufgrund der lauwarmen Reaktion des Nordens musste die Zahl auf 1.500 Pflanzen 45 verschiedener Arten (31 aus Südkorea und 14 aus Nordkorea) beschränkt werden. 1 © Keum Art Projects
den Koreas in Angriff nehmen.“ Hauptthema des Künstlergartens ist „Die Natur kennt keine Grenzen“, worauf auch der Werktitel „Das dritte Land“ zurückzuführen ist. Kuratorin Kim Keum-hwa ließ sich dabei von Jacopo Bonfadio (1508–1550), einem Humanisten und Historiker der Renaissancezeit, inspirieren, der den Garten zu einer vom Menschen geschaffenen und zur Kunstform veredelten „terza natura“ (dritte Natur) erhob. Im Künstlergarten können sich die Besucher einer Landschaft erfreuen, die mit Pflanzen von der ganzen koreanischen Halbinsel geschmückt ist, Pflanzen, die ohne Grenze zwischen Nord und Süd zusammen wachsen. „Gärten sind Produkte der Sehnsucht des Menschen nach Natur und
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seines Verlangens nach Ordnung. Der Name dieses Gartens spiegelt diese Idee wider: Für unser Projekt wurde diese Bedeutung des Gartens mit einer utopischen Vorstellung in Bezug auf die koreanische Halbinsel verbunden, die sich über den geteilten Zustand der Nation hinwegsetzt.“
Vorstellung und Realität
Dieses Konzept der Künstler kollidierte jedoch während der Umsetzung mit der harten Realität der Teilung. Die anfänglich noch entgegenkommende, kooperative Haltung Nordkoreas wurde nach dem Scheitern des zweiten amerikanisch-nordkoreanischen Gipfeltreffens in Hanoi im Februar 2019 zurückhaltend. Infolge der Verschlechterung des
politischen Klimas wurden die Pflanzen nicht wie vereinbart geliefert, sodass derzeit nur 1.500 Pflanzen 45 verschiedener Arten im Künstlergarten zu sehen sind statt der geplanten 3.000 Pflanzen 60 unterschiedlicher Arten. Ein kleiner Trost war, dass die im zu Nordkorea gehörenden Teil des Baekdu Daegan heimischen Wildblumen aus dem in Südkorea gelegenen Baekdu Daegan Nationalen Arboretum im Kreis Bonghwa-gun, Provinz Gyeongsangbuk-do, besorgt werden konnten. Da zudem bis zur geplanten Eröffnung noch Zeit blieb, suchten Kuratorin und Künstler nach anderen Möglichkeiten der Einfuhr von Pflanzen aus Nordkorea. Sie kontaktierten u.a. den Botanischen Garten der Freien Universität Berlin, das Korea Natio-
nal Arboretum in der südkoreanischen Provinz Gyeonggi-do und den Joseon Central Botanical Garden in Pjöngjang. Es gab aber noch weitere Schwierigkeiten. Die Einrichtung eines Künstlergartens in der Großstadt Berlin war kein einfaches Unterfangen. Größte Hürde war der Erhalt einer Genehmigung vom Berliner Grünflächenamt. Um dieses mühsame Procedere kümmerte sich die Kuratorin Kim Keumhwa. Ordnungsgemäße Verfahren mussten strikt eingehalten werden, Abmessungen und Bauweise hatten deutschen Normen zu entsprechen. Es galt, sich durch den Vorschriftendschungel zu navigieren und Kompromisse zu finden, die den Anforderungen von Parkverwaltung und Pflanzenschutzamt genügten und gleichzeitig das gestalterische Konzept der Künstler bewahrten.
Die Finanzierung war ein weiteres Problem. Glücklicherweise konnten im März 2019, zwei Monate vor der Eröffnung, durch Crowdfunding 32.500€ gesammelt werden. Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Kreisen, darunter prominente Schauspieler und Musiker aus Korea, unterstützten das Projekt, sandten Ermutigungsbotschaften und rührten die Werbetrommel. Es folgten Geldspenden vom Arts Council Korea, vom Korea Culture Center in Deutschland und von der Hans und Charlotte Krull Stiftung. Da die nordkoreanischen Pflanzen immer noch nicht eingetroffen waren, befand sich das Projekt zwar noch in der Vorbereitungsphase, aber diese unter großen Anstrengungen erzielten Zwischenerfolge waren von besonderer Bedeutung. Dank des lebhaften Interesses und der Unterstützung der Berliner sowie des Kulturamts Mitte schloss der Berliner Garten nicht wie ursprünglich geplant nach sechs Monaten am 15. November 2019, sondern bleibt bis zum 30. Oktober 2020 geöffnet.
Unterstützung aus Deutschland
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Während der ersten Öffnungsperiode vom 23. Mai bis 15. November 2019 sorgten verschiedene Veranstaltungen für Atmosphäre. Die weltbekannte koreanische Sopranistin Jo Su-mi, die am Eröffnungstag auftrat, erklärte: „Ich wollte in Berlin, dem Symbol der Teilung und Einheit Deutschlands, die Botschaft des Künstlergartens unterstützen – den Wunsch nach innerkoreanischem Austausch und Frieden.“ Bei der Eröffnungsfeier traten Ju-Bora am Gayageum (koreanische zwölfsaitige Wölbbrettzither) und Jun Sung-eun am Blechklanginstrument Handpan gemeinsam auf. Die Singer-Songwriterin Lee Lang,
die für ihre Interpretation des nordkoreanischen Liedes Imjingang („Imjingang“ ist der Name eines von Nordnach Südkorea fließender Fluss) in Laut- und Gebärdensprache berühmt wurde, sang am 7. Juni 2019 in der St. Matthäus Kirche. Am 8. November präsentierte dort die Ehrwürdige Jeong Kwan, eine buddhistische Nonne, die die koreanische Tempelküche weltbekannt machte, ein vegetarisches Abendmahl der Harmonie mit dem Wunsch nach der Wiedervereinigung Koreas. Anschließend traten unter der Leitung von Kim Keum-hwa und dem Titel Kunst und Politik, Garten und Utopie eine Reihe von in Berlin tätigen Künstler verschiedener Nationalitäten auf. Mit der Verlängerung des Projekts bemühen sich die drei Künstler weiterhin um die Beschaffung nordkoreanischer Gewächse und Blumen. „Als ich erzählte, dass wir Blumen aus Nordkorea in unserem Garten anpflanzen wollen“, meinten alle, das sei unmöglich“, erzählte Han. „Ich glaube aber, es ist die Pflicht eines Künstlers, die Fantasie der Besucher zu beflügeln, indem er das scheinbar Unmögliche möglich macht.“ Ernst und entschlossen fügte er hinzu: „Wir werden uns auch in diesem Jahr um die Verwirklichung unserer Vorstellungen bemühen. Wir hoffen, dass einmal Menschen aus beiden Koreas in diesem Künstlergarten zusammenkommen und sich bei einer Schale Makgeolli-Reiswein unterhalten.“ Kuratorin Kim Keum-hwa wünscht sich: „Ich hoffe, dass es durch Fortschritte im innerkoreanischen Dialog möglich wird, dass nord- und südkoreanische Botaniker hier in diesem Garten zu Symposien zusammenkommen und über die Flora im Baekdu Daegan diskutieren.“
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VERLIEBT IN KOREA
Im Nachleuchten des Karma Anton Scholz
Anton Scholz vor seinem Haus, das er vor drei Jahren in Jangdeok-dong, Gwangju, baute. Scholz, der von 2003 bis 2011 an der Chosun University unterrichtete, lieĂ&#x; sich zu der Zeit mit seiner Familie in Gwangju nieder.
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Heute, drei Jahrzehnte nachdem er mit Taekwondo begann, ist Anton Scholz ein gefragter Koreaexperte, der sich als Journalist, Geschäftsmann und TV-Berühmtheit aus Gwangju einen Namen gemacht hat. Choi Sung-jin Executive Editor, Korea Biomedical Review Fotos Ha Ji-kwon
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it 16 klopfte Anton Scholz an die Tür eines Taekwondo-Studios. Man mag es Schicksal nennen oder eine durch sein Asieninteresse motivierte Handlung. Er sagte, es war sein Karma. Heute, 32 Jahre später, ist Scholz einer der bekanntesten Korea-Experten Deutschlands. „Schon in meiner Jugend habe ich mich sehr für die Östliche Welt interessiert, für ihre Philosophie, Religion und Kultur“, sagte er in Erinnerung an seine Teenagerjahre in Hamburg. „Mein Taekwondo-Meister, Sim Bu-yeong, hat seinen Schülern nicht nur Kampftechniken beigebracht, sondern auch, wie man nach dem Do strebt, also dem Weg der geistigen Kultivierung.“ Das Taekwondo-Training weckte sein Interesse am Buddhismus. 1994, sechs Jahre nach dem folgenreichen Klopfen an der Tür des Taekwondo-Studios, erhielt Scholz von einem buddhistischen Mönch aus Korea, der Deutschland besuchte, einen Rat. Er folgte diesem Rat und reiste zum ersten Mal nach Korea. „Eigentlich wollte ich nach einem Jahr oder so wieder zurück, aber jetzt habe ich schon fast die Hälfte meines Leben hier verbracht“, erzählte er. Während der ersten Jahre seines Aufenthaltes lernte er Koreanisch an der Seoul Nationaluniversität und beschäftigte sich eingehend mit Ostasienstudien, insbesondere mit Themen wie Meditation, den Acht Trigrammen der Weissagung („Bagua“ auf Chinesisch, „Palgwae“ auf Koreanisch) aus dem altchinesischen I Ching (Buch der Wandlungen) und der taoistischen Gedankenwelt von Lao-Tse. Danach kehrte er nach Deutschland zurück, um an der Universität Hamburg zu studieren, einer der wenigen deutschen Hochschulen, die zu der Zeit Koreanistik als Studienfach anboten. Im ersten Jahr war er der einzige, der im Hauptfach Koreanistik studierte. Im Studiengang „Ostasien“ waren Japanologie und Sinologie beliebter. Nach seiner Rückkehr nach Korea arbeitete Anton Scholz abwechselnd bzw. gleichzeitig als Berater, Journalist und
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Universitätslektor. Ein Großteil seiner Arbeit besteht darin, Ausländern bei Geschäftsunternehmungen in Korea zu unterstützen und Koreaner in Bezug auf Deutschland zu beraten.
Kulturelle Brücke
Scholz gründete eine One-Stop-Service-Agentur, die ausländischen Unternehmen bei Niederlassung und Aufnahme von Geschäftsaktivitäten in Korea behilflich ist. Seine Agentur hat auch internationalen Teilnehmern der Yeosu Expo 2012, der Leichtathletik-WM 2011 in Daegu und der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft Korea/Japan 2002 zur Seite gestanden. Scholz eröffnete zudem ein Medienunternehmen, das sich um Dolmetsch- und Übersetzungsdienstleistungen sowie Unterbringung und Transport für ausländische Journalisten kümmerte. Von 2003 bis 2011 unterrichtete Scholz an der Chosun University Deutsch und Interkulturelle Kommunikation. Während dieser Zeit ließ er sich mit seiner Familie in der im Südwesten Koreas gelegenen Stadt Gwangju, wo die Universität ihren Sitz hat, nieder. Scholz, der auch als offizieller Producer für die öffentliche Rundfunkanstalt ARD arbeitete, ist derzeit als freier Journalist tätig. Er tritt regelmäßig als Podiumsdiskutant in Fernsehdebatten und Talkshows auf und verfasst Meinungskolumnen für Zeitungen. Auf seiner Visitenkarte steht „Ehrenamtlicher Repräsentant der Freien Hansestadt Hamburg“.
„Mein Glück liegt in der Arbeit. Ich bedauere oft, dass ein Tag nur 24 Stunden hat“, meinte Scholz. Die Verbindung dieses Mannes, der sich selbst als „Workaholic“ bezeichnet, mit Korea, einem Land, das für seine langen Arbeitszeiten bekannt ist, war wohl vom Schicksal bestimmt. Wenn die innerkoreanischen Beziehungen weltweites Interesse auf sich ziehen und internationale TV-Nachrichtenteams ihn um Hilfe bitten, hat er alle Hände voll zu tun. Die Zusammenarbeit mit ausländischen Fernsehteams bietet Scholz eine weitere Chance, als inoffizieller Botschafter zu agieren, so z.B. 2002, als Korea und Japan die Fußball-WM gemeinsam ausrichteten. Damals bemerkten Teammitglieder gewisser Rundfunk- und Fernsehsender, dass sie Japan bevorzugen würden, und klagten darüber, dass die Koreaner sich oft nicht an Vereinbarungen hielten und ihr Verhalten zu wünschen übrig ließe. „Ich machte ihnen verständlich, dass dieser Eindruck auf einem Missverständnis beruhe“, sagte Scholz. „An den Wochenenden habe ich ihnen dann historische Stätten gezeigt und die koreanische Kultur erklärt. Nach der WM meinten meine deutschen Freunde, dass ihnen Korea jetzt besser gefalle.“
Offene Kritik
Scholz zögerte nicht, sein Gastland zu kritisieren, insbesondere die Medien und das Bildungssystem. Er äußerte Bedenken in Bezug auf die Nachrichtenberichterstattung, bei der bestimmte Reporter bestimmten Regierungsbehörden oder Chaebeol (auch „Jaebeol“. Familienkonglomerate)
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1. Scholz, der freiberuflich als Journalist und Berater tätig ist, am Computer in seinem Arbeitszimmer. Als bekannter Koreaexperte agiert er als inoffizieller Botschafter des Landes. 2. Anton Scholz (zweiter von links) bei der Teilnahme an der Sektion „Wirtschaftskrieg: Was ist zu gewinnen?” des im Juni 2019 im Hotel Shilla Seoul veranstalteten 10. EDAILY Strategy Forum. 3. Anton Scholz bei einem Auftritt in der KBS-Talkshow Journalism Talk Show J in der Diskussionsrunde zum Thema „Ex-Präsident Roh Moo-hyun und Medienreform”. Scholz, allgemein anerkannt wegen seiner scharfsinnigen Analysen und offenen Bemerkungen, ist häufig zu Gast in TV-Sendungen über aktuelle Themen.
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fest zugeteilt werden. Seine Kritik läuft darauf hinaus, dass „die Medien den Quellen zu nahe stehen und Außenseitern gegenüber zu verschlossen sind“. Ein weiterer Problempunkt sei der Wahrheitsgehalt von Presseberichten. Scholz verwies auf die Berichterstattung über die 550 jemenitischen Flüchtlinge, die 2018 auf der Insel Jeju-do ankamen. Das Asylgesuch der Flüchtlinge löste Kontroversen in der koreanischen Gesellschaft aus und entfachte Debatten darüber, ob die Regierung ihnen legalen Flüchtlingsstatus zuerkennen solle. „Die Gegner verbreiteten Falschnachrichten, um eine ablehnende Stimmung in Bezug auf die Flüchtlinge zu verbreiten“, sagte Scholz. „Selbst einige etablierte Medien brachten diese Storys ohne vorherigen Faktencheck auf ihren Social-Media-Seiten. Später stellten sich nicht wenige dieser Geschichten als falsch heraus.“ Die Diskussion über die Integrität der Nachrichtenmedien führte natürlich zu Jürgen Hinzpeter (1937-2016). Der deutsche Fernsehjournalist hatte die brutale Niederschlagung des Gwangju-Aufstands für Demokratie durch Regierungstruppen im Mai 1980 gefilmt. Seinem Mut ist es zu verdanken, dass die Welt über die Lage in der südkoreanischen Stadt, die vom Rest des Landes durch die Verhängung des Kriegsrechts isoliert worden war, erfuhr. „Ich habe Respekt vor Hinzpeter. Er war ein großer Journalist“, sagte Scholz. „Ich glaube, auch heute gibt es noch viele Reporter, die ihr Leben für berichtenswerte Themen riskieren.“ Scholz arbeitete an einem Dokumentarfilm über Hinzpeter mit. Er hatte auch eine kleine Rolle in dem Film A Taxi Driver (2017), der die Geschichte von Kim Man-seop erzählt. Der Filmcharakter basiert auf dem mittlerweile verstorbenen Taxifahrer Kim Sa-bok, der Hinzpeter bei seiner Berichterstattung über Gwangju zur Seite stand.
Ratschläge für die Wiedervereinigung
Zum Thema der Wiedervereinigung Deutschlands übergehend betonte Scholz, dass West- und Ostdeutschland nachdrücklich auf die Wiedervereinigung hingearbeitet hätten, wobei ihnen eine gute Portion Glück und perfektes Timing zur Hilfe kamen. „Ich glaube, dass Süd- und Nordkorea es ebenfalls schaffen können, auch wenn die Situation auf der koreanischen Halbinsel, die von Großmächten mit unterschiedlichen Interessen umgeben ist, komplizierter sein dürfte.“ Eine Wiedervereinigung der beiden Koreas dürfte schwer in absehbarer Zeit zu erreichen sein. Scholz verwies dennoch darauf, dass die beiden Koreas sich wie China und Hongkong auf das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ oder
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© EDAILY
3 Foto aus Journalism Talk Show J
andere Wiedervereinigungsszenarien einigen könnten. Die deutsche Lösung sollte nicht die einzige Option sein, betonte er. In diesem Zusammenhang äußerte er sein Bedauern über die Neigung der Koreaner, kritische Ratschläge einfach abzutun. „Viele Koreaner sagen: ‚Sie können unsere Situation nicht verstehen‘. In Wirklichkeit verstehen viele Ausländer die koreanische Situation durchaus gut, doch die Koreaner scheinen recht unwillig, unterschiedliche Meinungen und Lösungsvorschläge anzunehmen“, sagte Scholz. Bezüglich des koreanischen Bildungssystems findet Scholz, dass der Fokus falsch gesetzt wird: „Mir scheint, dass in Sachen Bildung statt Qualität eher Quantität betont wird, sodass den Schülern nicht genügend Raum für Kreativität bleibt.“ „Abgesehen vom Friedensnobelpreis ging bislang kein anderer Nobelpreis an Korea. Dafür gibt es einen Grund: Die Kinder müssen mehr spielen und weniger pauken. Lernen sollte also stärker auf echtes Lernen fokussiert sein und nicht auf reines Auswendiglernen für eine Prüfung.“ Nach Jahrzehnten in Korea genießt Scholz seine zweite Heimat, ist aber auch offen für neue Herausforderungen, die sich ergeben, neue Türen, an die er klopfen könnte. „Die Zukunft wird es zeigen“, meinte er.
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UNTERWEGS
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Yeoju
„Unsichtbares Land“, durch die Augen der Weisheit Yeoju, eine Autostunde von Seoul entfernt, liegt im Zentrum der koreanischen Halbinsel. Reis aus dieser Region ist bis heute bekannt für seine gute Qualität. Zudem ist Yeoju als Geburtsstätte des Goryeo-Seladon ein Zentrum der koreanischen Keramikindustrie. Doch die Meinungen über die Vorzüge der als Must-See-Touristenattraktionen gepriesenen sagenumwobenen Tempel in Yeoju und Umgebung sind geteilt. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
Von der Festung Pasa-seong in Yeoju, aus bietet sich ein spektakulärer Blick auf den Fluss Han-gang und die Bergzüge in der Umgebung. Die Mauern der während der Zeit der Drei Reiche vom Königreich Silla Mitte des 6. Jhs erbauten Festung haben eine Umfangslänge von 950m und sind bis zu 6,5m hoch. Feindliche Truppen, die sich auf dem Fluss näherten, waren leicht zu entdecken.
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eine Besichtigungstouren des kulturhistorischen Erbes des Kunsthistorikers Yu Hong-june war das erste koreanische geisteswissenschaftliche Buch, das millionenfach verkauft wurde. Es löste in den frühen 1990er Jahren einen landesweiten Boom von Besichtigungen historischer Stätten aus, denn Yu erklärte das koreanische Kulturerbe in leicht verständlichem und eloquentem Stil, sodass die Koreaner ihr kulturelles Erbe mit neuen Augen betrachten und schätzen lernten. Internationalen Besuchern diente das Werk als Kulturwegweiser. Im achten Band seiner Reihe empfiehlt Yu denjenigen, die nur einen Tag zur Erkundung von Koreas Natur und Kultur haben, zwei Reiserouten. Eine davon ist eine Tour nach Yeoju, eine Autostunde von Seoul entfernt. In seiner Begründung dafür nennt er u.a. Yeojus Kulturschätze: den Tempel Silleuk-sa, der dem Besucher einen Eindruck von der „Beschaulichkeit eines koreanischen buddhistischen Tempels“ gibt, den Tempel Godal-sa, „wo die Atmosphäre der historischen Relikte eines alten Tempels“ zu spüren ist, und die Gräber von König Sejong (reg. 1418-1450) und König Hyojong (reg. 1649-1659) mit der ihnen eigenen „Erhabenheit und Feierlichkeit“. Nicht zu vergessen die „herrliche Landschaft des Flusses Namhan-gang“. 2012 hat die Streaming Plattform CNN go den Silleuk-sa in die Liste der 50 schönsten Orte Koreas aufgenommen. Doch im Gegensatz zu ausländischen Besuchern, die diese Sehenswürdigkeiten bewundern, finden viele Koreaner nichts Besonderes daran. Yus Erklärungen über den ästhetischen Wert der Tempelruinen wecken bei ihnen keine große Neugier. Sie wirken allzu gewöhnlich. Warum entschied er sich für Yeoju und sparte prächtigere oder landschaftlich reizvollere Orte, die in Korea-Reiseführern allgemein empfohlen werden, aus?
Unsichtbares Land
Wenn westliche Ärzte zum ersten Mal mit östlicher Medizin in Berührung kommen, sind sie oft überrascht, dass auf den Diagrammen zur anatomischen Struktur des Körpers das muskuloskeleta-
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le System kaum zu sehen ist und der Fokus auf den Leitbahnen der Lebensenergie Gi (auch „Qi“) liegt. Francisco González Crussí (geb. 1936), ein mexikanischer Arzt und Schriftsteller, bemühte sich um eine Erklärung dieser unterschiedlichen Sicht von Körper und Welt. Während man im Westen versuchte, das komplexe System des menschlichen Körpers anhand der sichtbaren Muskeln, durch die sich der Wille manifestiert, zu verstehen, war man im Osten bestrebt, hinter die Quelle der Kraft der Körperbewegungen im unsichtbaren Puls der Blutgefäße und im Herzschlag zu kommen. Vielleicht wollte Yu in diesem Sinne die Koreas Natur und seinem Kulturerbe immanente „unsichtbare Energie“ zeigen und nicht ihre „Muskeln“. Die Koreaner betrachten Land nach „Pungsu-Jiri“, der traditionellen Geomantiklehre. „Jiri“ bedeutet einfach „Land“. „Pungsu“ ist jedoch nicht so
1. Das 223cm hohe und 46cm breite Bildnis des stehenden Buddha, das in die Klippen am Namhan-Flusslauf gemeißelt ist, stammt aus der frühen Goryeo-Zeit (935-1392). Es setzt den Stil des Vereinigten SillaReichs (676-935) fort, was am detailliert gearbeiteten Faltenwurf des Gewandes, dem verfeinerten Lotusblütensockel sowie dem Glorienschein zu erkennen ist. 2. Die Ziegelsteinpagode des Tempels Silleuk-sae wurde auf einem felsigen Grat des Tempelgeländes mit Blick auf den Namhangang-Flusslauf errichtet. Die 9,4 m hohe, zum Nationalschatz Nr. 226 erklärte Pagode dürfte von der um das 10. Jh. aus China eingeführten Ziegelsteinbauweise beeinflusst worden sein. 3. Der wahrscheinlich unter der Herrschaft von König Jinpyeong (reg. 579-632, Silla-Reich) errichtete Tempel Silleuk-sa wird wegen seiner anheimelnden Atmosphäre geschätzt. Auf seinem Gelände befinden sich zu Nationalschätzen erklärte Relikte, darunter eine Steinlaterne, eine Ziegelsteinpagode und die Halle des unendlichen Glücks.
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© Yonhap News Agency
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Im Gegensatz zu den meisten koreanischen buddhistischen Tempeln, die sich in den Bergen befinden, liegt der zu Yeoju gehörige Silleuk-sa an einem Fluss. Das älteste noch erhaltene Bauwerk des Tempels ist eine Ziegelsteinpagode auf einem Felsen mit Blick auf den Fluss Han-gang. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 53
leicht zu erklären, denn dafür muss man zunächst einmal „Gi“ verstehen, für das es in der westlichen Kultur kein richtiges Äquivalent gibt. Gi ist definiert als Quelle oder Basis aller Materie, die eine Form hat. Manchmal wird es aber auch als ein umfassender Begriff zur Beschreibung verschiedener Naturphänomene verwendet. Nach seit alten Zeiten überliefertem asiatischem Gedankengut haucht das der Erde immanente Gi allem Seiendem Leben ein. Die Erforschung dieser unsichtbaren Erdenergie ist Pungsu.
Einst blühende Stadt am Fluss
Yeoju hat viel mit Seoul gemeinsam: Durch beide Städte, die sich harmonisch in die umgebenden Berge fügen, fließt der Fluss Han-gang, der die mittlere Region der koreanischen Halbinsel in west-östlicher Richtung teilt. Auf dem Wasserweg braucht man einen Tag von Seoul nach Yeoju. Das heißt, Yeojus berühmter Qualitätsreis, aber auch Salz sowie fermentierte und fangfrische Fische und Meeresfrüchte aus dem Westmeer konnten innerhalb eines Tages in die Hauptstadt geschifft werden. Während der Goryeo-Zeit (918-1392), als Steuern in Form von Getreide eingezogen und über den Han-gang in die Hauptstadt verschifft wurden, legten Frachtschiffe mit Getreide-Abgaben und Handelsschiffe in Yeoju an; clevere Gelehrte und Beamte began-
nen dorthin zu ziehen. Und nach der Verlegung der Hauptstadt durch den König des neuen Joseon-Reiches (1392-1910) nach Hanyang (alter Name Seouls), wurde Yeoju ein Ort der Einflussreichen und Mächtigen. Damals war es sowohl kulturell als auch politisch von großer Bedeutung, dass die Hauptstadt innerhalb eines Tages erreichbar war. Es verwundert daher nicht, dass mehr als ein Fünftel aller Königinnen der Joseon-Zeit aus Yeoju stammen und dass in dieser Region mehr registrierte Nationalschätze und Schätze wie z.B. historische Gebäude oder Steinpagoden als in anderen Landesteilen zu finden sind. Der Transport von Fracht über den Wasserweg war zwar schnell und bequem, aber auch riskant. Ein Unfall führte oft zu Verlust von sowohl Eigentum als auch Menschenleben, weshalb die Flussschiffer nach altem Brauch Buddha um Schutz baten. Von den alten, in Fels gehauenen Buddhastatuen befinden sich nur zwei an Flussläufen. Beide blicken auf den Hangang. Die eine ist neben der alten Geumcheon-Anlegestelle in Chagdong-ri, Chungju, im mittleren Teil
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des Landes gelegen, die andere im „Feuchtgebiet Bucheoul“ (wörtlich „Buddha-Stromschnelle“) in Gyesin-ri, oberhalb der alten Fähranlegestelle Ipo in Yeoju. Die Felsen, in die die beiden Buddhas gemeißelt wurden, unterscheiden sich zwar in Steinbeschaffenheit, Zustand, Größe und Form, doch beide Steinreliefe stammen aus der Goryeo-Zeit und sind im Stil des Vereinten Silla-Reiches (676-935) gehalten. In der Vergangenheit blickten Passagiere und Schiffsmannschaft wohl zu den Buddhas auf, um für eine sichere Reise zu beten.
Ziegelsteinpagoden und Goryeo-Seladon
Im Gegensatz zu den meisten koreanischen buddhistischen Tempeln, die sich in den Bergen befinden, liegt der zu Yeoju gehörige Silleuk-sa an einem Fluss. Das älteste noch erhaltene Bauwerk des Tempels ist eine Ziegelsteinpagode auf einem Felsen mit Blick auf den Fluss Han-gang. Heutzutage ist die Haupthalle zentraler Ort aller buddhistischen Zeremonien und Rituale, aber einst stand die Pagode im Mittelpunkt. Unter den Flussläufen im südlichen Teil der koreanischen Halbinsel führt der Han-gang die größte Wassermenge. Die geringe Breite des Flusses führte in Kombination mit den sommerlichen Monsunregen in der Vergangenheit zu häufigen Überschwemmungen. Die Ziegelsteinpagode ist Ausdruck der Bitte um Schutz vor Hochwasser und sicheres Geleit. Besonders unterhalb der hohen Klippe, auf der die Pagode steht, kenterten viele Schiffe in den berüchtigten Strudeln. Die Errichtung der Pagode auf dieser Klippe machte vorbeifahrende Boote auf die Gefahr aufmerksam. Sie ist zudem ein Bibo, das die negative Energie dieses steilen Geländes unterdrücken soll. Bibo ist in der Pungsu-Lehre „Mittel“ zur Stärkung von etwas Schwachem oder zum Ausgleich eines Mangels. Wenn Berge und Felsen die Muskeln eines Landes sind, so sind seine Flüsse die Blutgefäße. Die Pagode soll durch Unterdrückung der negativen Energie das „Blut in den Blutgefäßen“ reinigen. Diese Bedeutung kommt der Pagode heute nicht mehr zu: Der Gangwolheon (Pavillon von Fluss und Mond) versperrt den Blick darauf. Pagoden aus Ziegelstein finden sich selten in Korea, wo die Ziegelherstellung ursprünglich unbekannt war. Das änderte sich, als das Vereinte Silla-Reich (668-935) buddhistische Mönche ins chinesische Tang-Reich (617/18-907) schickte, um sich mit neuen
buddhistischen Strömungen vertraut zu machen. Auf diese Weise gelangten zahlreiche Einrichtungen und Kulturgüter aus Tang-China nach Korea, darunter wohl auch Ziegelsteinpagoden. Nicht weit vom Silleuk-sa entfernt finden sich in Jungam-ri Spuren eines Brennofens für Baekja (Weißkeramik). Dieser Brennofen für Ziegelsteine im chinesischen Stil datiert aus dem Goryro-Reich des späten 10. Jhs, also etwa aus der Zeit, als die Ziegelsteinpagode von Silleuk-sa errichtet wurde. Vor dem geistigen Auge entsteht das Bild chinesischer Töpfer, die auf ihrer Reise nach Korea das Westmeer überqueren, um die Pagode zu errichten. An deren Bau waren auch Goryeo-Töpfer beteiligt, was an den dekorativen Dangcho-Arabesken (Dangcho: wörtlich „Tang-Gras“) auf den Ziegeln der Pagode zu erkennen ist. Interessanterweise führte die Einführung des Ziegelstein-Brennofens aus China zur Entwicklung des jadegrünen Goryeo-Seladons, das Xu Jing, ein Gesandter des Song-Reiches, in seiner Schrift Gaoli Tujing (Illustrierter Bericht über Goryeo, 1123)
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1. Das an die 60.000m2 umfassende Gelände, auf dem der Godal-sa einst stand, gibt Aufschluss über seine Größe und Bedeutung. Der in der zweiten Hälfte des 8. Jhs errichtete Tempel wuchs und gedieh mehrere Jahrhunderte lang. Zwei exquisite Stupas und andere Kulturschätze aus Stein sind bis heute erhalten. 2. Diese als Nationalschatz Nr. 4 registrierte steinerne, 4,3m hohe Stupa steht auf einer kleinen Anhöhe im hinteren Bereich des Tempelgeländes. Die aus der Goryeo-Zeit stammende Stupa zeichnet sich durch ihre elegante Form und die vollendeten plastischen Darstellungen von Drachen und Schildkröten aus.
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Das Grabmal von Königin Inseon, das gleich unterhalb des Grabhügels von König Hyojong (reg. 1649-1659) des Joseon-Reiches liegt, ist von Steinfiguren umgeben. Die königliche Grabstätte Yeongnyeong-neung umfasst das gemeinsame Grabmal von König Sejong (reg. 1418-1450) und Königin Sohyeon auf dem westlich gelegenen Gelände und die Doppelgräber von König Hyojong und Königin Inseon auf dem östlich gelegenen Areal. Die Grabanlagen strahlen die für die Königsgräber des Joseon-Reichs typische Würde und Getragenheit aus.
hoch lobte. Die hauptsächlich in der Provinz Gyeonggi-do, also in Hauptstadtnähe, betriebenen Brennöfen chinesischen Stils wurden von Goryeo-Töpfern in koreanische Tonerde-Brennöfen umgewandelt. Im Gegensatz zur chinesischen Technik des einmaligen Brennens bei sehr hohen Temperaturen verbreitete sich in ganz Korea die Technik des doppelten Brennens, einmal bei niedriger und einmal bei hoher Temperatur. Diese verfahrenstechnische Entwicklung ermöglichte die Keramikherstellung an allen Orten mit leicht abbaubaren Tonerdevorkommen und führte zur Blüte des Goryeo-Seladon. Die Töpfertradition überdauerte die Zeiten, heute gibt es in und um Yeoju rund 400 Töpferwerkstätten.
Lebendiges Land: Godal-sa
Es gab zwei Hauptlandrouten von Seoul nach Yeoju: eine nördlich des Han-Flusses, die andere südlich. Zu Fuß brauchte man auf beiden Strecken zwei Tage. Die nördliche Route entstand in der Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.). Sie verknüpfte die am Flusslauf von Namhan-gang gelegenen Ortschaften mit den umliegenden Tempeln und band sie an die Transportwege zu Wasser an. Von der Festung Pasa-seong in Yeoju aus bietet sich ein spektakulärer Blick auf den Fluss: Richtung Süden hat man eine ungehinderte Aussicht auf die
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Ipo-Brücke über den sich westwärts erstreckenden Fluss. Im Norden ist in der Ferne die herrliche Kette des Taebaek-Gebirges zu sehen. Steht man an dieser Stelle, verschwinden automatisch die Fragen, warum die Festung gerade an dieser Stelle erbaut wurde und warum die drei Reiche Goguryeo, Baekje und Silla so lange und hart um diesen Flecken Erde kämpften. Die Nordroute ist auch der Weg, den zwei Könige des Goryeo-Reiches einsam und verbittert zurücklegten: König Mokjong (reg. 997-1009), der nach seinem Sturz nach Chungju ins Exil geschickt wurde, und König Gongmin (reg. 1351-1374), der vor der Invasion der chinesischen Roten Turbane, einer buddhistischen Sekte, in Andong Zuflucht suchte. Entlang der Route liegt auch das weitläufige, verwaiste Areal, auf dem einst der Tempel Godal-sa stand. Über dem sich am Berg Hyemok-san erstreckenden Tempelgelände hängt immer noch der Hauch der Geschichte. Während der Goryeo-Zeit erstreckte sich die Tempelstätte über rund 12 km in alle vier Himmelsrichtungen. Hunderte von Mönchen sollen dort gelebt haben, was darauf hinweist,
dass der Tempel vom Goryeo-Herrscherhaus reich mit Privilegien und Geldmitteln unterstützt wurde. Gerade hierin ist nach Meinung einiger Forscher der Grund für den Untergang des Tempels zu suchen: Als das Goryeo-Reich Ende des 14. Jhs vom konfuzianisch geprägten Königreich Joseon abgelöst wurde, endeten Unterstützung und Begünstigungen des Hofes, und der Buddhismus hatte wohl nicht mehr die Kraft, auf eigenen Füßen zu stehen. Auf dem Tempelgelände gibt es noch viele steinerne Relikte wie Stupas und Pagoden, darunter die Stupa von Godal-sa (Nationalschatz Nr. 4) mit elaboriertem bildhauerischem Dekor. Die Pagoden sind zwar schon allein ihrer Formvollendetheit wegen sehenswert, gleichzeitig aber auch faszinierend als Beispiele für Bibo-Tempel, die errichtet wurden, um die Autorität des Königs mittels des Gi der Erde zu schützen und kundzutun. Daher hatte das einfache Volk in alten Zeiten großes Interesse an diesen Objekten. Heutzutage ist es jedoch schwierig, noch Spuren der früheren Majestät der Tempelbauten, die hier einmal gestanden haben, zu finden, da kann man sich noch so sehr in den Bergen links und rechts umsehen. Aber wenn Sie die Hügel hinter der einstigen Tempelstätte entlang schlendern und dem Geräusch des kalten Windes lauschen, werden Sie sich nicht länger innerlich leer und zerrissen, sondern warm und geborgen fühlen. Wahrscheinlich ist das ein Gefühl, das einem lebendigen Land entströmt.
Sehenswürdigkeiten in Yeoju
Festung Pasa-seong
1 Ipo-Brücke
Fluss Namhan-gang
Augen der Weisheit
Die südliche Route von Seoul nach Yeoju ist Teil des Straßennetzes, das in der Joseon-Zeit von der Hauptstadt bis nach Dongnae in Busan führte. Es ist der Weg, den König Sejong (reg. 1418-1450) zurücklegte, wenn er Yeoju, die Heimat seiner Verwandten mütterlicherseits, zwecks militärischer Übungen, die in Form von Jagdwettbewerben abgehalten wurden, besuchte. Dieselbe Route nahmen seine Nachfolger, wenn sie nach Yeoju reisten, um an König Sejongs Grab und viele Jahre später an König Hyojongs (reg. 1649-1659) Grab ihren Respekt zu erweisen. König Sejong, der ursprünglich in Gwangju, Provinz Gyeonggi-do, beigesetzt worden war, wurde später nach Yeoju umgebettet, das geomantisch gesehen der optimalste Ort sein soll. Etwas südlich von Yeongneung, König Sejongs Grabstätte, steht der Yeongwollu (Pavillon der Begrüßung des Mondes), der für den schönsten Panoramablick auf den Han-gang berühmt ist. Im Westen reicht der Blick bis zur Innenstadt von Yeoju, im Norden bis zu den Bergen, die sich einer Tuschelandschaft gleich jenseits des Flusses erstrecken. Darunter ist auch der Berg Hyemok-san, der sich über dem Godal-sa erhebt. „Hyemok“ bezeichnet im Buddhismus das „Auge der Weisheit“. In der Sutra der vollkommenen Erleuchtung heißt es: „Auch wenn die strahlende Sonne von einem Sonnenschirm verdeckt wird, ist das Auge der Weisheit klar und rein.“ Egal, wie hoch ich steige, mein Körper und Geist sind sich der Höhe nicht im geringsten bewusst. Bedeutet es, dass das reine Auge der Weisheit für mich noch weit entfernt ist?
Tempelstätte Godal-sa Neu errichteter Tempel Godal-sa
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2 Yeoju Ceramic World Königliche Grabstätte Yeongnyeong-neung
Seoul 77km
Yeoju
Alte 3 Fährüberfahrtstelle
Tempel Silleuk-sa
Geburtsort von 4 Kaiserin Myeongseong
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EIN GANZ NORMALER TAG
Leben, zusammengenäht aus 40 Jahren Egal wie hochwertig Stoff und Design sein mögen: Ohne die Hand des Schneiders wird kein Kleidungsstück daraus. Kim Jong-gu ist ein Schneidermeister mit vier Jahrzehnten Erfahrung. Unermüdlich arbeitet er in der Nähe von Dongdaemun Fashion Town in Seoul, einem Hub der K-Fashion, wo er Musterentwürfe der neuesten Designs anfertigt. Kim Heung-sook Dichterin Fotos Ha Ji-kwon
Schneidermeister Kim Jong-gu beim Zuschneiden in der Gemeinschaftswerkstatt im Seouler Stadtteil Sindang-dong. Das Schneiderhandwerk lernte er bereits vor über 40 Jahren als Teenager. 2018 wurde er von der Regierung als „Schneidermeister ersten Ranges“ ausgezeichnet.
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m Kleider anzufertigen, sind drei Dinge erforderlich: Stoff, Design und Näharbeit. Egal wie hochwertig Stoffe und Designs auch sein mögen: Ohne Nähen gibt es letztendlich kein Kleidungsstück, entsprechend wichtig ist die Nähkunst. Doch verglichen mit der Zahl derer, die von einer Designerkarriere träumen, interessieren sich relativ wenige fürs Schneidern. Kim Jong-gu hat nichts dagegen einzuwenden. „Nähen lernen ist schwer und es dauert lange, bis man es meisterhaft beherrscht. Daher ist es vielleicht selbstverständlich, dass nur wenige das Schneiderhandwerk lernen wollen. Außerdem ist das Ansehen von Designer und Schneider völlig unterschiedlich.“
Designer vs. Schneider
Kim betrat die Welt dieses alten Berufs aufgrund seiner schwierigen Familienverhältnisse. Bereits als Teenager nahm er Nadel und Faden in die Hand und ist seitdem nun schon gut vierzig Jahre lang am Schneidern. 2018 erhielt er die staatliche Anerkennung als „Schneidermeister ersten Ranges“. Während die meisten seiner Altersgenossen sich schon zur Ruhe gesetzt haben, beschäftigt sich Kim in der Werkstatt „Inseong Planning“ im Seouler Stadtteil Sindang-dong freiberuflich mit Auftragsarbeiten. „Als ich als Teenager mit dem Schneidern angefangen habe, setzte es bei jedem Fehler eine Kopfnuss, und als junger Mann dachte ich oft ans Aufhören, da die Bezahlung im Vergleich zum Arbeitseinsatz niedrig war, aber heutzutage werde ich als Schneider geschätzt. Außerdem gibt es keine Ruhestandsgrenze, d.h. ich kann arbeiten, solange ich will und kann. Tatsächlich gibt es Schneider in ihren Siebzigern und Achtzigern, die noch aktiv sind.“ Dass Kims Arbeit heute geschätzt wird, ist den besser gewordenen Zeitumständen
zu verdanken. Auf den Wogen der als „Hallyu“ bekannten Korea-Welle reitend, erlebt nach K-Pop und K-Beauty jetzt die etwas in den Abwind geratene K-Fashion-Industrie einen neuen Aufschwung. Auch die Regierungsmaßnahmen zur Bewahrung und Weiterentwicklung hervorragender Schneidertechniken geben dem Handwerk großen Auftrieb. So ist die Bewerberzahl an der Korean Advanced Sewing Skills Academy (KASSA) dermaßen gestiegen, dass der von Meisterschneider Kim geleitete Kurs sogar auf 20 Teilnehmer begrenzt werden musste. Als jemand, der die Mittelschule nicht abgeschlossen hat, ist Kim verlegen und glücklich zugleich, wenn er als „Herr Lehrer“ angesprochen wird.
Berufliche Fertigkeiten: Basis für Broterwerb
„Als mein Sohn früher mal sagte, er wolle auch Schneider werden, habe ich geantwortet, dass das nie und nimmer in Frage käme. Denn damals war Schneider noch kein gesellschaftlich anerkannter Beruf und der Verdienst gering. Heute würde ich es ihm empfehlen, aber damals sah ich in dem Handwerk keine Zukunft. Mein Sohn arbeitet heute in einem IT-Unternehmen und beschwert sich hin und wieder über seine Arbeit. Sollte er noch einmal sagen, dass er das Schneidern lernen will, werde ich es ihm nach besten Kräften beibringen.“ Koreas Näh- und Textilindustrie hat eine leidvolle Geschichte. Jeon Taeil (auch: Chun Tae-il), einer der bekanntesten Märtyrer der koreanischen Arbeiterbewegung, quälte sich für einen Hungerlohn den ganzen Tag an seiner Nähmaschine in einem kleinen, dunklen Raum in einem der Gebäude des Pyeonhwa Markts am Dongdaemun ab. Er war empört, dass sich Jugendliche über 14 Stunden pro Tag unter miserablen Arbeitsbedingungen abplagen mussten. Am 13. November 1970 setzte sich Jeon, der damals 22 war, vor dem Gebäude, in dem er arbeitete, mit dem Ruf „Haltet die Arbeitsgesetze ein!“ in Brand. Sein Tod führte zu Arbeiterprotesten und Gewerkschaftsbildung in Korea Heutzutage sind ein Großteil der NäherInnen und SchneiderInnen in Korea in ihren Fünfzigern. In Seoul arbeiten sie v. a. in den Vierteln rund um Dongdaemun Fashion Town. Normalerweise arbeiten ein Ehepaar oder zwei oder drei Verwandte zusammen und fertigen auf Basis von Untervertrag oder Unteruntervertrag Kleidungsstücke. Das Arbeitsumfeld hat sich zwar im Vergleich zu den Zeiten von Jeon Tae-il verbessert, die Arbeitszeiten sind jedoch immer noch lang und die Löhne niedrig. Kim Jong-gu wurde 962 in Goheung, Provinz Jeollanam-do in eine Bauernfamilie geboren. „Ich war das sechste Kind in einer Familie mit vier Söhnen und vier Töchtern. Da es schwer war, die Familie auf dem Land durchzubringen, zogen wir nach Seoul, ich war damals in der zweiten Grundschulklasse. Meine älteren Geschwister besuchten die reguläre Mittelschule. Ich ging auf eine sog. Higher Civic School für Leute, die keine reguläre Mittel- und
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Oberschulbildung bekamen, und mein Vater sicherte mir einen Job als Laufbursche in einer Schneiderei, wo ich essen und schlafen durfte, aber kein Geld bekam.“ Früh aufstehen und nach der Schule zur Arbeit in die Anzugschneiderei – so sah Kims Alltag aus. Es war die Zeit der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fortschreitenden Industrialisierung und Kim versank in Arbeit. Er schuftete bis Mitternacht oder gar die ganze Nacht hindurch, um dann morgens im Halbschlaf zur Schule zu stolpern. Manchmal dachte Kim ans Aufgeben und wollte nach Hause, aber dann erinnerte er sich an die Worte seines Vaters, dass das Erlernen einer beruflichen Fertigkeit der einzige Weg zu einem auskömmlichen Leben sei, und hielt durch. Da Kims Schule keine anerkannte, reguläre Einrichtung war, musste er zur Erlangung des Mittelschulabschlusses eine staatliche Anerkennungsprüfung ablegen. Er machte die Prüfung zwei Mal und zwei Mal fiel er durch, was bei seinen langen Arbeitsstunden, die kaum Zeit zum Lernen ließen, nicht verwunderlich war. Dagegen war es viel leichter, Arbeit zu finden. Er begann im Schneideratelier Jeil Lasa, wo er drei, vier Jahre als Arbeiter niedrigsten Ranges schuftete, und sammelte danach Erfahrungen in verschiedenen Schneidereien. Zu der Zeit fungierte die Bekleidungs- und Textilindustrie dank billiger Arbeitskräfte als Lokomotive des Wirtschaftswachstums Koreas, was sich jedoch in den 1980er Jahren zu ändern begann.
Glücklicher Freiberufler
„Als sich Kleidung von der Stange verbreitete, ging die Nachfrage nach Maßanzügen stark zurück. Ich hatte das Schneiderhandwerk unter großen Entbehrungen gelernt, aber jetzt gab es keine Arbeit mehr. Mir blieb nichts anderes übrig, als in einer Damenkonfektionsfirma anzufangen.“
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Während er dort für über ein Jahrzehnt arbeitete, heiratete er eine seiner Kolleginnen. Seine Frau geht bis heute ihrer alten Arbeit nach. Wann immer er Zeit hatte, las Kim Bücher, darunter die Werke von Konfuzius und Lao-Tse, oder auch Geschichts- und Managementbücher. Seine Favoriten sind Sorge dich nicht, lebe! von Dale Carnegie und Die Geschichte der Drei Reiche (korean.: Samgukji) von Luo Guanzhong, wobei er letzteres über zehn Mal gelesen hat. Landläufig heißt es: Freunde dich nicht mit jemandem an, der das Samgukji nicht gelesen hat; streite dich nicht mit jemandem, der es mehr als drei Mal gelesen hat; und geh jemandem, der es mehr als zehn Mal gelesen hat, ganz aus dem Weg. Kim sagt, dass die verschiedenen Menschentypen und die Beziehungen zwischen ihnen sowie die Strategien und Taktiken zum Gewinnen einer Schlacht, die im Samgukji erläutert werden, ihn immer wieder aufs Neue begeistern. Mit dem Chef der Damenkonfektionsfirma, für die er früher arbeitete, als Partner, betrieb Kim eine Zeitlang eine Fabrik für Damenbekleidung, die jedoch während der Finanzkrise, die 1997 ganz Asien erfasste, Insolvenz anmelden und schließen musste. Danach launchten die beiden eine eigene Marke und öffneten landesweit an die 50 Geschäfte. Aber steigende Personalkosten zwangen sie schließlich, die Herstellung nach China zu verlagern. „Ich habe die neue Produktionsstätte in der Stadt Weihai in der Provinz Shandong geleitet. Doch nach sieben Jahren wurden die Lohnkosten wieder zum Problem. Die rund 180 Arbeiter erwarteten mit zunehmender Joberfahrung natürlich auch höhere Löhne und streikten, aber unser Chef in Korea lehnte alle Forderungen ab. Letztendlich konnte ich es nicht mehr ertragen und kündigte.“ Kim hatte drei Jahre lang nach Feierabend an der Universität Shandong Chinesisch gelernt, sodass er sich in der an der Grenze zu Nordkorea gelegenen Stadt Dandong mit einem Chinesen zusammentun konnte, der einen nordkoreanischen Hintergrund hatte. Sie lieferten in Pjöngjang hergestellte Kleidung nach Südkorea. Aber auch dieses Geschäft fand ein abruptes Ende, als sich die innerkoreanischen Beziehungen verschlechterten und der wirtschaftliche Austausch zum Erliegen kam. Nolens volens kehrte Kim nach Südkorea zurück, wo er die darauf folgenden fünf Jahre in einer
„ Um seine Fähigkeiten zu perfektionieren, bedarf es einer klaren Zielsetzung: Das ist mein Wirkungsbereich und ich möchte einzig und allein das machen.“
Firma für Damenbekleidung arbeitete. „Früher habe ich immer für eine Firma gearbeitet, jetzt bin ich mein eigener Herr und genieße es, machen zu können, was ich will, wann ich will und wie ich will.“ Allerdings unterscheidet sich sein Tagesablauf heute kaum von dem aus seiner Zeit als Arbeiter. Er steht früh auf, geht ins Fitnessstudio nebenan und arbeitet nach dem Frühstück von 08.00 bis 20.00 Uhr in der gemeinsamen Werkstatt Inseong gihoek im Seouler Viertel Sindang-dong. In den Hauptstoßzeiten am Morgen und Abend ist die U-Bahn zwar überfüllt, aber Kim ist gerne unter jüngeren Leuten. Sonntags wandert er oft in den Bergen, geht mit der Familie in die Kirche oder sie fahren zum Essen ans Meer.
Schneider mit Reiseträumen
Die Werkstatt wird von fünf Personen gemeinsam genutzt, drei davon stellen wie Kim Jong-gu Modellkleider her, drei arbeiten an Schnittmustern. Jeder arbeitet selbstständig an seiner eigenen Werkbank und Nähmaschine. Zu Kims Kundschaft gehören Betreiber von Online-Shops, Vertreter der Einkaufspassagen in Dongdaemun, Unternehmer, die Musterstücke für internationale Bestellungen in Auftrag geben, und Zulieferer für Homeshopping-Anbieter. Gelegentlich gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Designer und Schneider, wobei es meist um die Machbarkeit bestimmter Designideen geht. „Es sind vor allem junge, noch unerfahrene
Designer, die mit solchen Ideen kommen, meistens braucht man ihnen das Problem aber nur zu erklären. Klappt das nicht, schneidere ich ein Modell nach den gemachten Vorgaben und zeige ihnen das Resultat. Spätestens dann gibt es einen Aha-Effekt und sie verstehen die Schwierigkeiten. Ein wirklich gutes Kleidungsstück ist etwas, in das der Fachmann hundert Prozent Hingabe und Können einfließen lässt und mit dem sowohl Designer als auch Kunde zufrieden sind. Es bringt nichts, wenn der Kleidermacher als einziger zufrieden ist. Das gilt zwar auch für andere Berufe, aber ich glaube, man kann diese Art von Arbeit nur machen, wenn man eine gewisse Veranlagung dafür hat, d.h. man muss mit wenigen Worten auskommen, hochkonzentriert und akribisch sein. Zweitens braucht man klare Ziele. Um seine Fähigkeiten zu perfektionieren, bedarf es einer festen Zielsetzung: Das ist mein Wirkungsbereich und nur das möchte ich machen.“ Kim hat einen festgelegten Preis pro Probestück wie z.B. Jacke oder Kleid und berechnet eine zusätzliche Gebühr je nach Aufwendigkeit des in Auftrag gegebenen Designs. „Beim Zuschneiden heißt es schnell urteilen. Zögern ist nur Zeitverschwendung. Kleider schneidern ist ein Wettlauf mit der Zeit. Ich muss den Liefertermin, den ich zugesagt habe, einhalten.“ Als der junge Kim Jong-gu mit dem Schneiderhandwerk begann, hatte er keinen Traum, aber jetzt hat er einen: „Ich möchte weniger arbeiten, mit meiner Familie reisen, Bücher lesen und etwas Neues lernen. Während meiner Zeit in China habe ich zwar viele Gegenden besucht wie den Berg Tai Shan, einen der fünf heiligen Berge des Taoismus, und den Berg Baekdu-san an der Grenze zwischen Nordkorea und China, aber es gibt noch viele Orte, die ich gerne einmal sehen möchte.“
Heutzutage übernimmt Kim Jong-gu hauptsächlich Auftragsarbeiten für Modedesigner, die Prototypen für ihre neuesten Kreationen brauchen. Mit flinker und geschickter Hand schneidert er aus ihren Ideen Modelle aus Stoff.
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ENTERTAINMENT
Über den Gender-Gap hinaus Angesichts der explosionsartigen Verbreitung der #MeToo-Bewegung in Korea verwundert es nicht, dass der Roman Kim Ji-young, geboren 1982 und dessen Filmversion bei einem bestimmten Publikum gut ankam. Aber es gab auch weniger begrüßenswerte Reaktionen in der koreanischen Gesellschaft, darunter auch in der Filmindustrie. Lee Hyo-won Freiberufliche Autorin
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© Mineumsa
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© Lotte Entertainment
1. Das Cover des 2016 vom Verlag Mineumsa veröffentlichten Romans Kim Ji-young, geboren 1982 von Cho Nam-joo. Der Roman, der als Teil einer Serie exzellenter, von vielversprechenden Nachwuchsschriftstellern verfasster Werke herausgegeben wurde, sorgte für heiße Debatten über Feminismus. Das mittlerweile in viele Sprachen übersetzte Werk erregte international Aufmerksamkeit. 2. Szenen aus dem gleichnamigen, im Oktober 2019 veröffentlichten Film, dem ersten Spielfilm der Filmemacherin Kim Do-young. Die Ankündigung der Filmadaption des Buches brachte heiße Diskussionen über Gender-Themen ins Rollen.
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im Ji-young, geboren 1982 verlieh der #Me Too-Bewegung Koreas im Herbst 2016 eine weitere Stimme. Die Darstellung, wie koreanische Frauen von Geburt bis Mutterschaft unter Geschlechterdiskriminierung zu leiden haben, traf quer durch viele Altersgruppen auf positive Resonanz. Gleichzeitig entfesselte der Roman aber auch frauenfeindliche Ausbrüche und Kritik. Drei Jahre später lässt sich feststellen, dass auch im Nachfeld der Veröffentlichung der Filmadaption die Reaktionen immer noch gespalten sind.
Ein Bestseller wird zum Film
Trotz antifeministischer Gegenreaktionen auf das Buch entpuppte sich die im Oktober 2019 veröffentlichte Filmversion Kim Ji-young, geboren 1982 als Kassenschlager. Angesichts des Erfolgs des Romans, von dem Ende 2018 bereits eine Million Exemplare verkauft worden waren, scheint das nicht weiter überraschend. Bedenkt man jedoch, dass die Koreaner nicht unbedingt die größten Leseratten sind, kann man schon von einer Meisterleistung sprechen. Und wer das Buch nicht kaufte, lieh es sich aus: Nach Angaben der Koreanischen Nationalbibliothek lag Kim Ji-young 2018 und 2019 auf Platz 1 der Listen mit den häufigsten Buchtitelanfragen. Cho Nam-joo, die als TV-Drehbuchautorin arbeitet, brauchte nur zwei Monate für diesen ihren Roman. Andeutungsweise, aber auch offen werden Genderfragen und Sexismus thematisiert, denen Frauen zu Hause, in Schulen und Hochschulen, im Berufsalltag und im öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Das Buch wurde ein Bestseller in China, Japan und Taiwan, die Veröffentlichungsrechte wurde an die USA und verschiedene europäische Länder verkauft. Ji-young („Ji-young“ ist ein beliebter koreanischer Mädchenname) führt im Gegensatz zu einigen Hollywood-Protagonistinnen keinen Kampf gegen die Ungerechtigkeiten, sondern kündigt mit Anfang 30 ihre Stelle und bleibt zu Hause, um sich um ihre Tochter zu kümmern. Es frustriert sie jedoch mehr und mehr, zu Hause festzustecken, und sie erinnert sich daran, dass sie mit vielen Träumen aufwuchs und zuletzt die Karriereleiter hochkletterte. Ji-youngs Erinnerungen sind aber nicht nur rosig. Während ihrer Kindheit bekam zu Hause ihr jüngerer Bruder und in der Schule die männlichen Klassenkameraden immer als Erste das Essen. Als Teenagerin
wurde sie beschuldigt, einen Stalker „angelockt“ zu haben und später wurde sie das Opfer eines Stalkers, der in der Toilette ihres Arbeitsplatzes eine versteckte Kamera angebracht hatte. Eines Tages, als sie gerade mit ihrem Baby auf einer Parkbank sitzt und einen Kaffee trinkt, macht sich ein Passant ganz unbefangen mit der Bemerkung über sie lustig, dass sie in aller Bequemlichkeit das Geld ihres Mannes ausgibt. Ihre Erfahrungen finden starken Widerhall, da Ji-young eine durchschnittliche koreanische Tochter, Mutter, Schwester, Frau und Nachbarin repräsentiert. Für Ji-young und die vielen anderen Ji-youngs in ganz Korea sind solche Beschimpfungen normaler Teil ihres Lebens. Gerade die Tatsache, dass ihr Schicksal so gewöhnlich ist, macht es so überzeugend. „Ji-youngs Leben ist nicht so viel anders als das Leben, das ich gelebt habe“, sagt Cho.
Verbreitete Frustrationen
Im Film bemerkt Ji-youngs fürsorglicher Ehemann (dargestellt von Gong Yoo, der in dem Zombie-Streifen Train to Busan den beschützenden Vater spielte), wie seine Frau zunehmend depressiver und gereizter wird. Als ihm schließlich klar wird, dass seine Frau psychisch leidet, bemüht er sich nach Kräften, sie zu unterstützen. In Korea sind patriarchalische Gesellschaftsnormen bis heute noch weit verbreitet. In dem vom Weltwirtschaftsforum jährlich erstellten Global Gender Gap Report rangiert die Republik Korea im Index 2020 unter den 153 erfassten Ländern in der Gleichstellung der Geschlechter auf Platz 108. Nach dem 2013 vom UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung veröffentlichten Bericht hat Korea mit 52,5% eine der höchsten Quoten von Tötungsdelikten mit Frauen als Opfer. Doch schon bevor die #MeToo- und die #TimesUp-Bewegungen in den USA im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein aufkamen, gab es in Korea bis dahin nie da gewesene feministische Proteste. Monate vor der Veröffentlichung des Romans Kim Ji-young, geboren 1982 wurde in einer Karaoke-Bar in der Nähe der U-Bahnstation Gangnam eine Frau von einem Fremden ermordet. Während des Gerichtsprozesses gab der Angeklagte als Tatmotiv an, dass die Frauen ihn ignoriert hätten. Als Reaktion auf dieses aus Frauenfeindlichkeit begangene Verbrechen schmückten BürgerInnen die U-Bahnstation mit Zehntausenden von gelben Post-it Notes. Später, im Mai 2018, demonstrierten über 12.000 Mädchen und Frauen gegen Geschlechterdiskriminierung und Gewalt an der U-Bahnstation Hyehwa in Seoul. Kurz davor
waren eine Reihe von hochkarätigen Popstars in einen „Spycam Porno“ Skandal verwickelt, bei dem heimlich sexuelle Stelldicheins gefilmt und in Umlauf gebracht worden waren.
Längst überfällige Thematisierung
Ein Genderthemen gewidmeter Film war längst überfällig im koreanischen Mainstream-Kino. Sollte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Filmproduzenten negative Folgen fürchteten, so erwiesen sich derartige Befürchtungen als nicht unbegründet. Nachdem Jung Yu-mi für die Titeltrolle der Ji-young ausgewählt worden war, erhielt sie zahlreiche Hasskommentare über die Sozialen Medien. Eine Petition zum Stopp des Projekts machte die Runde und die Webportale wurden schon vor der Premiere des Films mit schlechten Bewertungen bombardiert. Kritiker von Buch und Film behaupten, dass die Narration ein verzerrtes, übergeneralisiertes und sexistisches Männerbild zeichne und den Gender-Konflikt schüre. Einige vertreten sogar die Meinung, der Film sei eine Ausgeburt weiblicher Fantasie und die Protagonistin eine egozentrische, in Selbstmitleid versunkene Person. Dennoch ist bereits eine gewisse positive Wirkung des Films spürbar, die in nicht geringem Maße der Tatsache zu verdanken ist, dass Korea zu den Ländern mit einem in Relation zur Bevölkerung überdurchschnittlich hohen Kinobesucher-Anteil gehört. In den Medien wird Kim Ji-young in Beiträgen über den Gender-Gap in der Beschäftigungsrate zitiert, der nach der Heirat von 2% auf 28% hochschnellt. Im Dezember 2019 hat das Ministerium für Geschlechtergleichstellung und Familie Pläne bekanntgegeben, Frauen, die nach Mutterschaftsurlaub oder einer Auszeit für Geburt und Kindererziehung wieder ins Berufsleben zurückkehren wollen, zu unterstützen. Viele Journalisten haben solche Schritte auf den „Kim-Ji-young-Effekt“ zurückgeführt. Erwähnenswert ist auch, dass die Filmdirektion von Kim Ji-young in den Händen von Kim Do-young, ihres Zeichens Schauspielerin und Filmemacherin, lag. Genau wie in Hollywood, so herrscht auch in der koreanischen Filmindustrie noch alles andere als Geschlechtergleichstellung hinter der Kamera. Kim gehört zu den wenigen Frauen, denen in Korea die Chance, die Regie für ein großes Filmstudioprojekt zu übernehmen, gegeben wurde. Tatsächlich hat laut Angaben des Korean Film Council der Frauenanteil unter den koreanischen Filmemachern erst im Jahr 2018 die 10%Marke überschritten. Es ist zu hoffen, dass sich der „KimJi-young-Effekt“ auch diesbezüglich positiv auswirken wird.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63
RUND UM ZUTATEN
Namul
Zutat und Gericht zugleich Namul (Gemüse und Wildgewächse) gehören zu den traditionellsten und alltäglichsten Beilagen auf dem koreanischen Esstisch. Aufgrund der in jüngster Zeit zunehmenden Verbreitung der koreanischen Tempelküche, die vorwiegend auf Namul aller Arten basiert, erregt das Grünzeug internationale Aufmerksamkeit und wird im Zuge der Begeisterung für vegetarische und vegane Ernährung immer häufiger in erstklassigen Gourmetrestaurants verwendet. Jeong Jae-hoon Apotheker und Gastronomiekritiker
1 © gettyimages
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o wie einem bei Deutschland „Sauerkraut“ und bei Großbritannien „Fish’n’ Chips“ einfällt, wird jedes Land mit einem typischen Gericht assoziiert. Das heißt allerdings nicht, dass, wenn jemandem zu Mexiko nur „Tacos“ einfällt, die mexikanische Küche tatsächlich nur Tacos zu bieten hätte. Es bedeutet nur, dass die Person wenig Ahnung von mexikanischen Speisen hat. Es ist schwer, die über Jahrhunderte gewachsenen kulinarischen Traditionen eines Landes anhand von ein, zwei typischen Speisen zu beschreiben. Wenn aber jemand „Namul“ mit der Küche Koreas assoziiert, dann dürfte er sehr vertraut mit koreanischen Gerichten sein.
Quintessenz der koreanischen Küche
Alleine schon der Begriff „Namul“ ist in Bezug auf Bedeutung und Verwendung kompliziert. Das vom Nationalinstitut der koreanischen Sprache herausgegebene Große Wörterbuch der koreanischen Sprache listet zwei Bedeutungen: Erstens: „alle Arten essbarer Kräuter und Blätter“ wie z.B. Gosari (Adlerfarnsprossen), Doraji (Glockenblumenwurzeln), Dureup (Aralien-Blattknospen) oder Naengi (Hirtentäschel). Zweitens: „eine Beilage aus essbaren Gräsern, Kräutern oder Blättern, die roh, gekocht oder pfannengerührt und gewürzt sind“. Demnach ist Namul im Sinne der ersten Definition eine Zutat, nach der zweiten eine zubereitete Beilage. Als Zutat geht die Definition jedoch über Kräuter und Blätter hinaus und umfasst alles, was als Beilage zubereitet werden kann: So gelten z.B. auch Kartoffeln und Auberginen als Namul, wenn sie in Streifen geschnit-
1. Aralien-Blattknospen, Hirtentäschel und Koreanischer Wildlauch (von links), die im Frühling beliebtesten Namul der Koreaner, sprießen früh in Bergen und Feldern. Nach dem langen Winter erweckt ihr herzhaft-aromatischer Geschmack den Appetit. 2. Händlerinnen bieten in ihren Körben frische Namul aller Art zum Verkauf an – ein im Frühling häufiger Anblick auf traditionellen Märkten. Über 300 verschiedene Sorten essbarer Kräuter und Wurzeln finden sich in Korea. Die meisten Frühlings-Namul sind reich an Vitamin C und Mineralstoffen.
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ten pfannengerührt oder gedämpft und gewürzt werden. Zucchini und Rettich können – auf ähnliche Weise zubereitet – ebenfalls als Namul verzehrt werden. Andererseits treffen alle beiden Definitionen auf Kongnamul (Sojabohnensprossen) und Sukjunamul (Mungbohnensprossen) zu: Als Zutaten sind es in einem Siru (Dämpfer, traditionell aus Ton) gezogene Sprossen; wenn blanchiert und gewürzt, werden daraus jedoch Beilagen.
Saisonale Beilagen
Namul ist also schon rein linguistisch betrachtet ein Nahrungsmittel mit subtilen Implikationen. Um die kurze Wörterbuchdefinition „alle Arten essbarer Kräuter und Blätter“ zu verstehen, ist zusätzliches Wissen erforderlich. Zunächst muss man zwischen „essbar“ und „nicht essbar“ unterscheiden. Gelegentlich hört man in den Nachrichten von Menschen, die nach dem Genuss von giftigen Sprossen, die sie für Namul hielten, um ihr Leben kämpften. Da Namul repräsentative saisonale Nahrungsmittel sind, ist der Zeitpunkt des Pflückens entscheidend. Die meisten Namul werden im Frühling gepflückt, da viele nur als zarte Triebe genießbar sind. Je größer sie werden, desto zäher und härter werden sie, bis sie schließlich nicht mehr essbar sind. Allerdings können nicht alle Sprossen unbehandelt verzehrt werden, in vielen Fällen ist eine vorherige Detoxifikation notwendig. Dallae (Koreanischer Wildlauch: Allium monanthum), Dolnamul (Ausläufer-Fetthenne), Chamnamul (Bibernellenart: Pimpinella brachycarpa) und Chwinamul (Greiskraut (Gom-Chwinamul, Lingularia fischeri), Astern (Cham-Chwinamul, Aster scaber) u.a.) enthalten keine Giftstoffe und können roh gegessen werden, nicht jedoch Gosari (Adlerfarnsprossen) und Wonchuri (Taglilien), die nur gekocht unbedenklich sind.
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Die jungen Sprossen der auch als Zierpflanze beliebten Taglilie haben einen süßlich-herzhaften Geschmack. Sie enthalten Colchicin, das aufgrund seiner entzündungshemmenden Eigenschaften bei akuter Gicht als Arzneimittel zur Linderung der Symptome verwendet wird. Zudem legen jüngste Forschungen nahe, dass Taglilien nach einem Herzinfarkt kardiovaskulären Störungen effektiv vorbeugen. Verzehrt man die Namul jedoch, ohne sie vorher zu entgiften, kann das zu Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall führen. Denn je reifer die Taglilie, desto höher ihr Colchicin-Gehalt, d.h. um eine Lebensmittelvergiftung zu vermeiden, sollten die jungen Sprossen vor dem Verzehr blanchiert und anschließend reichlich in kaltem Wasser eingeweicht werden, um die wasserlöslichen Giftstoffe zu entfernen. Wild in Bergen und Feldern wachsende essbare Pflanzen heißen „San-Namul“ (San: Berg). Über 300 Arten sind in Korea heimisch, darunter Chwinamul mit gut 60 Arten, von denen 24 verzehrbar sind. Um die breite Namul-Vielfalt richtig zu genießen, bedarf es ausreichender Kenntnisse, wann welche Pflanzen gesammelt werden können und wie sie ohne Schaden für Leib und Leben zuzubereiten sind.
Fülle an Zubereitungsmöglichkeiten
E s g i b t z a h l r e i c h e M ö g l i c h ke i t e n d e r Namul-Zubereitung: blanchieren und den bitteren Gesch-mack durch Einweichen in kaltem Wasser entfernen; kurzbraten in der Pfanne; lange reifen lassen; mit Sojasoße oder DoenjangSojabohnenpaste würzen; mit Perilla- oder Sesamöl beträufeln; mit gemahlenen Sesamkörnern oder zermahlenen Perilla-Samen bestreuen oder eine Prise Chilipulver dazugeben. Geschmack und Aroma der so zubereiteten Namul sind so bunt wie die Blumen und Pflanzen auf den Feldern. Roh verzehrt duftet Cham-Chwinamul z.B. nach unreifen Äpfeln, blanchiert und gewürzt ist der Geschmack eher herb und wird mit jedem Bissen herzhafter. Bangpungnamul (Saposhnikovia), die ebenfalls eine unterschwellig bittere Note haben, verströmen darüber hinaus einen distinktiven, aromatisch-süßlichen Duft, der an
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eine Mischung aus Mandarinenschale und Minze erinnert. Der subtile Geschmack und das feine Aroma der typischen Bom-Namul (Bom: Frühling) Koreanischer Wildlauch und Hirtentäschel sind nicht einfach zu beschreiben. Rachel Herz, eine für ihre Arbeiten zur Geruchspsychologie bekannte kognitive Neurowissenschaftlerin, schreibt in ihrem Buch The Scent of Desire: Discovering Our Enigmatic Sense of Smell, dass es allgemein viel weniger Wörter zur ausschließlichen Beschreibung olfaktorischer Wahrnehmungen gibt als zur Beschreibung anderer sensorischer Wahrnehmungen. Koreanischer Wildlauch und Hirtentäschel sind Paradebeispiele dafür: Versucht man die geruchssinnliche Erfahrung nach dem Verzehr dieser Namul zu beschreiben, stößt man an die Grenzen sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Der Koreanische Wildlauch schmeckt wegen seines Allicingehalts
1. Hirtentäschel kommt in Suppen oder Eintöpfe auf Sojabohnenpastenbasis oder wird als Beilage serviert: Dafür wird die Pflanze gekocht und mit Sojabohnenpaste, roter Chilipaste, gehacktem Knoblauch und Lauch, Sesamkörnern und Sesamöl gewürzt. 2. Im Frühling gesammelte Aralien-Blattknospen werden normalerweise gekocht und mit einer aus Chilipaste, Essig und Zucker zubereiteten Soße serviert. 3. Mit Bibimbap kann man verschiedene Kräuter und Gemüse gleichzeitig genießen: Über Reis kommen Kräuter und Gemüse aller Art sowie meist ein Spiegelei. Das Ganze wird dann zusammen mit Chilipaste und Sesamöl verrührt. 2
stechend wie Knoblauch, hat aber darüber hinaus auch eine erfrischend süße Note. Hirtentäschel, das zur Familie der Kreuzblütler gehört, verströmt ein für Schwefelverbindungen typisches, starkes Aroma. Aber all diese Beschreibungen werden der spezifischen Aromakomposition nicht gerecht. Jeder Löffel der mit Sojabohnenpaste gekochten Hirtentäschelsuppe nährt in mir die Illusion, frühmorgens an einem Tag zwischen Winterende und Frühlingsbeginn auf einem Feld zu stehen und den Duft der feuchten Erde einzuatmen. Aber natürlich ist es noch besser, Koreanischen Wildlauch und Hirtentäschel einmal zu probieren, statt hundert Mal davon zu schwärmen.
Duft des Vorfrühlings
Die einzelnen Namul-Sorten getrennt zu kosten und ihre Aromen zu vergleichen ist zwar ein Genuss, aber es empfiehlt sich auch, sie vermischt mit Reis, einem Klecks Chilipaste, etwas Sesamöl und gekrönt mit einem Spiegelei zu probieren. Das Ergebnis ist Bibimbap, ein Gericht, das problemlos zu Hause mit schon fertigen Namul-Beilagen im Kühlschrank zubereitet werden kann. Neben Gukbap (Reis in heißßer Suppenbrühe) ist Bibimbap eines der ältesten Gerichte, die in koreanischen Restaurants angeboten werden. Als Basis-Geschmack dirigiert die süßlich pikante Schärfe der Chilipaste die verschiedenen Geschmacksnoten und Texturen der einzelnen Namul und kreiert so neue Geschmackssinfonien. Es gibt zwar auch kritische Meinungen in Bezug auf das Vermischen aller Zutaten beim Bibimbap, ein Namul-Kenner dürfte damit
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aber keine Probleme haben. Zubereitet aus verschiedenen Namul, ist Bibimbap die Quintessenz der koreanischen Küche, die für Vielfalt und Inklusivität steht. Einige Namul sind nur in bestimmten Regionen zu finden. Verschiedene davon wie Samnamul (Wald-Geißbart) und der auf der auf Insel Ulleung-do wachsende Bujikkaengi (Niedlicher Schöterisch) sind mit geschützten geografischen Herkunftsbezeichnungen versehen. In jüngster Zeit stehen Namul zunehmend im Fokus. So veröffentlichte z.B. ein Unternehmen die Ergebnisse einer systematischen Studie über Geschmack, Vor- und Zubereitung der beliebtesten Frühlings-Namul. Zudem bemühen sich immer mehr Gourmetrestaurants, neue Gerichte mit Namul als Zutaten zu kreieren. Damit ist Namul, eins der traditionellsten Nahrungsmittel, auf dem besten Wege, sich auch als ein innovatives zu profilieren.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Zwischen JENER und DIESER Seite der Welt
© Moonji Publishing Co., Ltd.
In Youn Dae-nyeongs achtem Erzählband Wer hat die Katze getötet? (2019), der fünf Jahre nach dem siebten erschien, sind anders als in seinen früheren Werken gesellschaftsbezogene Botschaften enthalten. Es scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass er einen Schritt über die für sein bisheriges Schaffen charakteristische Ergründung des Anfangs des Seins und den lyrischen Stil, der seine schriftstellerische Identität bis dahin prägte, hinausgemacht hat. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
Y
oun Dae-nyeong (geb. 1962) debütierte 1990 mit der Erzählung Mutters Wald, die ihm den Nachwuchspreis der Monatszeitschrift Munhak Sasang (Literature and Thought) einbrachte. Sein 1944 veröffentlichter zweiter Erzählband Aju-Angeln-Korrespondenz machte ihn zu einem der repräsentativen Schriftsteller der koreanischen Literaturszene des Jahrzehnts. Die Erzählungen Youns, der als „Anführer der Sensibilität der 1990er Jahre“ gilt, haben oft die Form von Reise- oder Liebeserzählungen, wobei Reisen und Dating über die Ebene des „reinen Sich-Bewegens durch realen bzw. emotionalen Raum“ hinausgeht. Seine frühen Werke werden meist von einem männlichen Protagonisten Anfang, Mitte dreißig in der ICH-Form erzählt. Die banalen Handlungen wie Aufbruch aus dem gewohnten Alltagsraum, Kennenlernen einer Frau, sich Verlieben und Trennen dienen als äußere Schale für philosophisch-ontologische Entdeckungsreisen. Laut einer Figur aus Aju-Angeln-Korrespondenz „ist die Welt in ‚diese‘ und ‚jene‘ Seite geteilt“. Die Protagonisten der Erzählungen wechseln aus einem bestimmten Anlass von „dieser Seite“ zu „jener Seite“ über, wobei „jene Seite“ das im banalen und sich wiederholenden Alltag vergessene bzw. verloren gegangene Wesen des Seins, d.h. den Anfang desselben verkörpert. Die folgende Stelle aus Youns Novelle Entlegener Ort in unserer Erinnerung (1996) beschreibt diese frühen Themen auf sehr ästhetisch-mysteriöse Weise: „Ja, manchmal, wenn man in einen verstaubten Spiegel schaut, sieht man ein bekanntes Gesicht, das – auf jener Seite der Erinnerung, zu der man nicht mehr gelangen kann, oder auf jener Seite der Reminiszenz –
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ruhig wie der Tagesmond am Himmel aufgeht. Ja, jeder ist aus dieser alten Landschaft gekommen, aus der Erinnerung. Und zuweilen vernehmen wir den schwachen Klang, den Ruf, der darin eingebettet ist.“ In Youns frühen Erzählungen werden manchmal reale Songtitel, Markennamen von Verbrauchswaren oder Namen von Straßen und Gebäuden erwähnt, was als Ergänzung für den thematisch abstrakt-philosophischen Gesamtzug der Erzählung gesehen werden kann. Die Figuren sind von der städtischen Konsumkultur fasziniert, sehnen sich aber gleichzeitig nach den längst vergangenen Zeiten der Mythen. In der originären Stimmung, die durch dieses Nebeneinander von Prä- und Postmodernem entsteht, liegt wohl der besondere Reiz seiner ersten Erzählungen. Es ist nur natürlich und manchmal sogar unvermeidlich, dass die Schaffenswelt eines Autors mit dem Älterwerden Veränderungen erfährt. Auch Youn Dae-nyeong ist keine Ausnahme, denn Trends und Tendenzen seiner Werke aus seinen frühen Dreißigern unterscheiden sich deutlich von denen aus seinen frühen Vierzigern.
Das ist deutlich in seinem Erzählband Die Schwalbe großziehen (2007) zu erkennen. In den acht Erzählungen dieser Sammlung verfolgt der Autor die Progression der Zeit in Abschnitten von einigen bis zu Dutzenden von Jahren und den damit verbundenen Wandel der Schicksale. Der Blick des Autors auf die Menschen und die Welt und die Art und Weise, diesen seinen Blick in seine Werke zu übersetzen, lassen den Leser das Vergehen der Jahre spüren. In der Titelerzählung Die Schwalbe großziehen verlässt die Mutter des ICH-Erzählers, wenn der Winter naht, das Haus, um den nach Süden ziehenden Schwalben zu folgen. In Youns früheren Erzählungen wäre dieses Davonlaufen der Mutter als Abenteuer der Suche nach dem Anfang des Seins zu interpretieren. Die Mutter sagt jedoch: „Die Frau ist eine Art Zugvogel, der aus dem Reich des Ewigen kommt und dahin geht“, d.h. sie kehrt nicht für immer zum Anfang des Seins zurück, sondern „verkehrt“ zwischen dieser und jener Seite. Der grundsätzliche Bruch zwischen dieser und jener Seite der Welt, der noch im Frühwerk des Autors betont wurde, existiert nicht länger. Außerdem liegt in dieser Erzählung der Fokus nicht allein auf der Mutter, der Blick richtet sich vielmehr auch auf den Vater und ICH, die beide wegen der Mutter zu leiden haben. Einsamkeit und Sehnsucht ziehen sich zwar nach wie vor durch Youns Werk, sie beschränken sich aber nicht mehr ausschließlich auf den Protagonisten, sondern werden vielmehr in den Beziehungen zwischen den einzelnen Charakteren relativiert. Während in den früheren Werken des Autors meist ein alleinstehender Mann als Protagonist erscheint, sind die Hauptfiguren in diesem Erzählband „Menschen, die in bestimmen Beziehungen zueinander stehen“, wie z.B. Eltern und Kinder, Eheleute oder Liebende. Youns frühere Erzählungen erfassten gekonnt die Momente der transzendentalen Sprünge, denen man im Alltag begegnet, die Erzählungen in diesem Band legen jedoch mehr Gewicht auf Kontinuität und Anhäufung des Alltäglichen. Das bedeutet, dass das Blickfeld
des Autors sich entsprechend erweitert hat, oder, um es anders auszudrücken, dass die lyrische Herangehensweise einer stärker epischen gewichen ist, was auch in den darauf folgenden Erzählbänden Starkschneewarnung (2010) und Keramikmuseum (2013) zu sehen ist. Sein jüngster Erzählband Wer hat die Katze getötet? enthält zwar viele Werke, die sich oberflächlich betrachtet wieder ums Reisen drehen, doch in Bezug auf die eigentlichen Themen lässt sich ein fundamentaler Wandel feststellen. Youn gesteht im Nachwort: „Nach dem 16. April 2014 habe ich ‚meinen Tod als Schriftsteller‘ durchgemacht, denn ich wurde von der bangen Ahnung ergriffen, nie wieder schreiben zu können.“ Daran lässt sich der dunkle Schatten des tragischen Unglücks der Sewol-Fähre im Frühling 2014 ablesen, einer Katastrophe, der Hunderte von Oberschülern auf Klassenfahrt zum Opfer fielen und die verursacht wurde durch Unfähigkeit und Korruption der betreffenden Reederei und Schiffsbesatzung sowie der für die Rettung zuständigen Wasserschutzpolizei und der Regierungsstellen, die für Management und Aufsicht dieser Polizei zuständig waren. Der Erzählband ist sozusagen das Ergebnis von Youns einsamen Kampf, als Schriftsteller wieder auf die Beine zu kommen, indem er „Nacht für Nacht eine Zeile an die andere reihte, gleichsam Faden für Faden spinnennetzartig verbindend“. Der Protagonist der Erzählung Zwischen Seoul und Nordamerika, ein Psychiater in seinen Fünfzigern, der vier Jahre zuvor durch einen Unfall seine einzige Tochter verloren hat, gelangt im Nachfeld des Sewol-Unglücks zu der Erkenntnis, dass für solche Katastrophen letztendlich seine Generation verantwortlich ist. In der Erzählung Pistole richtet der Sohn die Waffe auf seinen Vater, einen eingefleischten Nationalisten, der die Familienmitglieder körperlich misshandelt. Der Autor erklärte, er habe diese Erzählung geschrieben, „weil er seine Wut auf eine in der Realität existierende Person, die quasi die vom Staat verübte Gewalt symbolisiert, nicht unterdrücken konnte“. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich das Interesse des Schriftstellers Youn Dae-nyeong vom ontologischen Abenteuer einer Einzelperson auf reale, auf eine breitere und gesellschaftskritischere Ebene verlagert. Wer hat die Katze getötet? die Titelerzählung des gleichnamigen Bandes, befasst sich intensiv mit Fragen des Feminismus, eines der am heißesten diskutierten Themen im Korea der späten 2010er Jahre. Die beiden Protagonistinnen – die Immobilienmaklerin Hui-suk und ihre Kundin Seong-hui – sind der Gewalt der Männer in ihrem Leben ausgesetzt. Die physische Gewalt von Hui-suks Ehemann und die wirtschaftliche Ausbeutung Seong-huis durch ihren Vater beruhen auf einer „Art Schuldbewusstsein, das irgend jemand tief in mein Inneres gepflanzt hatte“. Es korreliert mit der „Angst [...], die so tief in ihrem Leben lauerte“. Während Seong-hui die von ihrem Ehemann verprügelte Hui-suk einige Tage pflegt, entsteht zwischen den Frauen, die beide unter Ausbeutung und Gewalt leiden, eine schwesterliche Freundschaft. Wo genau ist die Welt, der sie entgegensehen? Das ist die Frage, die der Autor leise an den Leser richtet.
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