Koreana Summer 2017 (German)

Page 1


IMPRESSIONEN


WENN DAS MEER SICH ENTBLÖSST Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts

D

as Watt ist die Innenhaut des Meeres. Zweimal am Tag, wenn sich der Horizont erhebt und Ebbe herrscht, enthüllt sich die geheimnisvolle Innenhaut des Meeres. Auf einmal spannt sich die Oberfläche des Wattenmeeres. Hier und da erwachen Lebewesen aus ihrem tiefen Schlaf. Die Schuppen des Fisches, der am Schnabel eines Wasservogels zappelt, glitzern silbern im Sonnenschein. Der Krebs, der mit erhobenen Scheren tanzte, um ein Weibchen anzuziehen, krabbelt blitzschnell in sein Loch zurück, als er eine Möwe entdeckt. In den wenigen Stunden der Ebbe haben die Menschen, die vom Wattenmeer leben, alle Hände voll zu tun. Ihre Surfbrett-ähnlichen Bbeolcha-Bretter schiebend, gleiten und schlittern sie über das weite Wattenmeer. Die Augen der Frauen, die in ihren Plastikeimern Hacke, Haken und Fischernetz tragen, funkeln vor Entschlossenheit. Bevor die Flut kommt und die Sonne untergeht, müssen sie Fische in ihre Netze sammeln und im Schlamm nach Minikraken und Manilamuscheln graben. Die Kinder sind schon längst in die Stadt gezogen, geblieben sind nur die Älteren, die mit ihren Rechen-dürren Händen mühsam Hoffnung für ihre Söhne und Töchter aus dem Watt herausziehen. Für sie ist das Wattenmeer sowohl Arbeitsplatz als auch Paradies. Die Küstenlinie der West- und Südküste der koreanischen Halbinsel weist viele Buchten auf, die die Kraft der Wellen brechen, was zu starken Sedimentablagerungen führt. Das Ergebnis ist ein riesiges, sanft gewelltes Wattenmeer. Es ist Habitat für zahlreiche Organismen wie Plankton, unzählige verschiedene Pflanzen- und Tierarten und dient auch als Lebensraum für vom Aussterben bedrohte Wasservögel. Unter dem Aspekt der Biodiversität zählt das Wattenmeer Koreas zusammen mit den Feuchtgebieten an der Küste des amerikanischen Bundesstaates Georgia u.a. zu den fünf bedeutendsten Wattgebieten der Welt. Doch durch Landgewinnungs- und Stadtentwicklungsprojekte nimmt die Wattfläche kontinuierlich ab. Der ungeduldige Mensch gibt in seiner Kurzsichtigkeit der zerstörten Natur nicht einmal die Zeit, sich selbst zu regenerieren. Fatal ist dabei, dass durch das Absterben des Wattenmeers auch der Ursprung des menschlichen Lebens an sich gefährdet wird. In der Urlaubssaison im Sommer locken die Küstendörfer mit diversen „Wattgebiet-Erlebnisprogrammen“ die Städter an. Die von Traktoren gezogenen sog. „Watt-Kutschen“ transportieren in ihren mit Sitzen ausgestatteten Anhängern die Touristen durch das Watt. Dort können sie dann auch Gummistiefel, Westen und Handschuhe sowie Hacken, Haken und Netzbeutel fürs Sammeln von Schalentieren ausleihen. Die Touristen verbringen einen unterhaltsamen Tag, indem sie im Watt Minikraken oder Krebse fangen oder nach Muscheln und anderen Delikatessen graben. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie dabei auch die Wichtigkeit der Lebewesen, die sie im organischen Zyklus des ursprünglichen Ökosystems entdecken, schätzen lernen.


Botschaft des Herausgebers

Koreana: 30 Jahre weltweit Brücken schlagen Koreana feiert mit der Sommerausgabe 2017 den 30. Geburtstag. Die Zeitschrift wird in elf Sprachen publiziert, um Kunst und Kultur Koreas in der ganzen Welt bekannter zu machen, und trägt so zur Beförderung von Freundschaft und gutem Willen zwischen Korea und der internationalen Gemeinschaft bei. In den letzten 30 Jahren hat sich Koreana - den stetigen Ausbau der internationalen Beziehungen Koreas reflektierend - beständig erneuert, um bei diesem Prozess als verlässliche Stütze zu fungieren. Koreana wurde 1987 im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele Seoul 1988 zunächst auf Englisch veröffentlicht. Im Jahr darauf kam die japanische Ausgabe hinzu und 1993, unmittelbar nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Südkorea, folgte die chinesische Ausgabe. Etwas später kamen die spanische und französische Ausgabe dazu. Mit der Verbreitung der Hallyu-Koreawelle nach dem Millenniumswechsel wurden als Reaktion auf das wachsende Interesse an der koreanischen Kultur Ausgaben in Russisch, Arabisch, Deutsch und Indonesisch auf den Weg gebracht. Mit der Entwicklung digitaler Medien erweiterten sich die Publikationskanäle um Webzine- und E-book-Service (www.koreana.or.kr). Vor kurzem wurde das Internet-Angebot um die koreanische und vietnamesische Version der Zeitschrift erweitert, sodass jetzt Informationen über koreanische Kultur und Kunst in insgesamt elf Sprachen zur Verfügung stehen. Koreana hat eine breite Palette von kultur- und kunstbezogenen Themen behandelt, angefangen bei Relikten aus der Altsteinzeit bis hin zu zeitgenössischer Medien- oder Installationskunst, von der prachtvollen Königshofkultur der Joseon-Zeit bis hin zur heutigen Straßenkultur und Mode, von Literatur bis hin zum Film. Auf diese Weise hat die Zeitschrift nicht nur dazu beigetragen, Menschen in aller Welt die Universalität und Originalität der koreanischen Kultur näher zu bringen, sondern auch ganz im Sinne von Philosophie und Auftrag der Korea Foundation Brücken zu schlagen: „Connecting People, Bridging the World“. Mit Blick auf das von Koreana bisher Geleistete gilt mein tief empfundener Dank dem Redaktionsbeirat, den Verfassern von Beiträgen, den Übersetzern und Lektoren, aber auch allen indirekt Beteiligten im Bereich Produktion und Vertrieb. Auch allen LeserInnen von Koreana in der ganzen Welt sei für ihr anhaltendes Interesse und ihre großzügige Unterstützung gedankt. Lee Sihyung Präsident, The Korea Foundation

Von der Redaktion

Die Schichten der Geschichte abziehen In historischen Aufzeichnungen ist zu lesen, dass, als Baekje im Jahr 660 von den vereinten Streitkräften von Silla und Tang-China geschlagen wurde, die Baekje-Hauptstadt Sabi sieben Tage lang gebrannt haben und fast alle Gebäude den Flammen zum Opfern gefallen sein sollen. Das erklärt vielleicht, warum die meisten Besucher der historischen Stätten von Baekje sagen, dass dort viel mehr zu „fühlen“ als zu „sehen“ ist. Es war ein schon lange gehegter Wunsch der Herausgeber von Koreana, Baekje den Lesern unserer Zeitschrift einmal vorzustellen, zumal Baekje bedeutsam ist als eins der Drei Königreiche, die während eines Großteils des ersten Millenniums bei der Formung von Korea als Nation eine entscheidende Rolle spielte. Die SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe stellt die Erfüllung dieses Wunsches dar. Ich muss gestehen, dass es keine kleine Herausforderung war, auf beschränktem Raum die verschiedenen Aspekte der Geschichte und Kultur eines antiken Königreiches, das unter der militärischen Macht seiner Nachbarn zugrunde ging, aber nichtsdestoweniger im Geiste vieler Koreaner unauslöschlich geblieben ist, ans Licht zu bringen. Es ist sehr erfreulich, dass die Spuren der kulturellen Errungenschaften Baekjes aufgrund der einst engen Beziehungen zwischen Baekje und Japan bis heute vergleichsweise intakt geblieben sind, aber es war ein schwieriges Unterfangen, zu bestimmen, bis zu welcher Tiefe der Austausch zwischen beiden Ländern behandelt werden sollte. Der von dem amerikanischen Wissenschaftler und Autor Jared Diamond vorgebrachte Gedanke von der „Weltgeschichte als Zwiebel“ trifft in diesem Falle eindeutig zu. Es wäre übermäßig ehrgeizig, zu viele der dicken, rätselhaften Schichten mit einem Ruck abziehen zu wollen. Ich hoffe, dass die Beiträge das Interesse und die Neugier unserer Leser wecken. Und ich hoffe auch, dass sie Freude an dieser Ausgabe zum 30. Jubiläum von Koreana haben. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

VERLEGER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT COPY EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTOR DESIGNER

Lee Sihyung Kim Gwang-keun Ahn In-kyoung Bae Bien-u, Charles La Shure, Choi Young-in, Han Kyung-koo, Kim Hwa-young, Kim Young-na, Koh Mi-seok, Song Hye-jin, Song Young-man, Werner Sasse Anneliese Stern-Ko Kim Sam Lim Sun-kun, Park Do-geun, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong

LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZER

Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Park Ji-hyoung

Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US $9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 06750, Korea GEDRUCKT SOMMER 2017 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2017 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.

http://www.koreana.or.kr


Koreanische Kultur und Kunst Sommer 2017

SPEZIAL

Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Königreichs

SPEZIAL 1

Baekje im Mondschein

04

20

Kim Tae-shik

Lee Chang-guy

SPEZIAL 2

SPEZIAL 3

Baekje ans Tageslicht gebracht

12

Zusammenpuzzeln der Überbleibsel eines alten Königreichs Choi Yeon

SPEZIAL 4

SPEZIAL 5

Das Baekje-Volk in Japan

30

Ha Jong-moon

26

Goldbronzenes Räuchergefäß: Verkörperung der idealen Welt der Menschen von Baekje Kim Jeong-wan

FOKUS

Hangeul: Erschaffung und Zukunft als Design-Thema

36

Wolf Schröder eSport-Kommentator im Land des Profi eSports

Chung Jae-suk

INTERVIEW

Kim Moon-jung: Charismatische Musikdirektorin, eingestimmt auf Musicals

VERLIEBT IN KOREA

42

EIN GANZ NORMALER TAG

Yi Chun-suk: flink und gewandt mit der Schere

Die „Denkenden Hände“ von Onggi-Meister Lee Hyun-bae

Entdeckung nordkoreanischer Dissidentenliteratur Kim Hak-soon

Jeder ist ein Haruo

70

60

Mehr als die Hälfte von Haruo Lee Jang-wook

Kim Seo-ryung

46

UNTERHALTUNG

„Wir kümmern uns um Ihren Kühlschrank“

64

Kim Yeon-ock

Kang Shin-jae

GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR Choi Jae-bong

Kim Hyun-sook

Won Jong-won

HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

56

52

LIFESTYLE

MädchenoberschulenKlassentreffen: Freundschaften über Jahrzehnte Kim Yoo-kyung

66 COVER Fünfstöckige Steinpagode auf der Tempelstätte Jeongnim-sa Yoo Youn-bin 2001. Tusche und Farbe auf Maulbeerbaumpapier, 30cm x 30cm.


SPEZIAL 1 Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Kรถnigreichs

BAEKJE IM MONDSCHEIN 4 KOREANA Sommer 2017

Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom


Wenn die Dunkelheit über die auf hügeligem Terrain am Fluss Geum-gang gelegene Bergfestung Gong-seong hereinbricht, gehen entlang der Festungsmauern die Lichter an. Beim Bau der Festung mit ihren 2.660m langen Mauern im Jahr 475 machte man sich die natürlichen Bodengegebenheiten im höchstmöglichen Maße zunutze, um Baekjes neue Hauptstadt Ungjin, das heutige Gongju, Provinz Chungcheongnam-do, zu schützen.

Das 18 v.Chr. gegründete Königreich Baekje, das fast 700 Jahre lang über den südwestlichen Teil der koreanischen Halbinsel herrschte, brachte eine einzigartige Kultur hervor. Baekje, neben Silla und Goguryeo eins der alten Drei Königreiche, wurde 660 von den verbündeten Truppen des Silla-Reichs (57 v.Chr.–668 n.Chr.) und Tang-Chinas (618–907) besiegt. Acht Jahre später fiel auch das Königreich Goguryeo (37 v.Chr.–668 n.Chr.), und Silla schuf nach seinem Sieg über das Tang-Reich die erste vereinigte koreanische Nation. Die Geschichte des Baekje-Reichs, das unter den Drei Königreichen den aktivsten Austausch mit den Nachbarländern China und Japan unterhielt und somit eine wichtige Achse in der ostasiatischen Region bildete, wurde nach seinem Fall größtenteils verzerrt und vergessen. Aber durch die jüngsten Entdeckungen vieler historischer Stätten und Relikte kommt die wahre Gestalt von Baekje nun allmählich zum Vorschein. Begeben wir uns auf der Suche nach diesen Spuren auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 5


D

as UNESCO-Welterbekomitee nahm am 8. Juli 2015 auf seiner 39. Sitzung in Bonn in Anerkennung von Baekjes Beitrag zur Entwicklung der Zivilisation in Ostasien die historischen Stätten des Baekje-Reiches unter der Bezeichnung „Historische Stätten Baekjes“ in die Welterbeliste auf. Dazu gehören insgesamt acht Stätten in den drei ehemaligen Baekje-Hauptstädten Buyeo, Gongju und Iksan: die Festung Gongsan-seong und die Königstumuli in Songsan-ri, Gongju; die Palaststätte in Gwanbuk-ri, die Bergfestung Busosan-seong, das Tumulifeld in Neungsan-ri und die Tempelstätte Jeongnim-sa sowie die Festung Na-seong in Buyeo; die Palaststätte von Wanggung-ri und die Tempelstätte Mireuk-sa in Iksan. Darunter haben die beiden Bergfestungen und zwei Pagoden aus den beiden Tempelstätten Sonne, Wind, Schnee und Regen trotzend über 1.300 Jahre das Leben der Koreaner mitverfolgt.

Geschichte gewinnt an Gestalt Die anderen Baekje-Kulturstätten lagen bis vor nicht allzu langer Zeit in der Erde vergraben. Im Sommer 1971 entpuppte sich dann eins der alten Gräber in Songsan-ri zur allgemeinen Überraschung als das Grab von König Muryeong (reg. 501-523) und im Dezember 1993 wurde das Neungsan-ri Tumulifeld in Buyeo als Königsgrabstätte bestätigt, nachdem in einer nahe gelegenen Grabtempelanlage u.a. das große, goldbronzene Räuchergefäß von Baekje ausgegraben worden war. Im Falle der Festung Na-seong in Buyeo, die als Erdfestung nicht leicht zu bemerken war, werden von Beginn der Ausgrabungsarbeiten 1975 bis heute in der näheren Umgebung immer wieder kleinere und größere Relikte geborgen. Die Grundrisse der Ost-Pagode des Tempels Mireuk-sa kamen 1974 zum Vorschein und erst 1989 konnte die Größenordnung des separaten Palastes in Wanggung-ri erfasst werden. Ähnlich verhält es sich auch mit den diesmal nicht in die Welterbeliste aufgenommenen großen Erdfestungen aus der Periode der ersten 500 Jahre von Baekje, in der das Königreich am Fluss Hangang den Grundstein für einen antiken Staat legte und die Agrarund Eisenkultur entwickelte: Pungnap-toseong, die vermutlich

1

6 KOREANA Sommer 2017

erste königliche Festung von Baekje im Norden der Hauptstadt Wiryeseong, wurde zwar schon 1925 bei einer Überschwemmung entdeckt, aber die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler erhielt sie erst, als 1997 bei den Erdarbeiten für eine Wohnhochhausanlage zahlreiche Artefakte aus der Baekje-Zeit gefunden wurden. Auch die Südfestung Mongchon-toseong, von der man annimmt, dass sie den südlichen Teil der alten Hauptstadt ausmachte, wurde erst in den 1980er Jahren ausgegraben. Diese historischen Stätten und Relikte, die nach so langer Zeit ihr Schweigen brachen und aus der Erde auftauchten, belegen, dass das alte Baekje-Reich, das über das Gebiet südwestlich des durch die Mitte der koreanischen Halbinsel fließenden Han-Flusses herrschte und auf Grundlage der Großen Drei Lehren (Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus) außerordentliche architektonische Techniken und eine einzigartige gestalterische Ästhetik kultivierte, über einen Zeitraum von fast 700 Jahren existierte und sich mit anderen Ländern in Ostasien wie China und Japan austauschte. Den Wert und die Bedeutung dieser bewundernswerten physischen Beweise, die größtenteils per Zufall gefunden wurden, zu diskutieren, überlasse ich den Wissenschaftlern. Stattdessen möchte ich der Frage nachzugehen versuchen, wie Baekje die Gedankenwelt der Koreaner beeinflusst hat. Das ist ein ehrgeiziger Versuch, bei dem ich mich zugegebenermaßen nur auf mein Interesse als Amateur stützen kann. Mein Annährungsansatz besteht darin, dass Dinge, die – wieder den Strahlen der Sonne ausgesetzt – zur Rekonstruktion der Vergangenheit animieren, stets mit Verschwommenem, Vagem oder Unsichtbarem verbunden sind. Sie tragen und zeigen die Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Sie widersetzen sich dem Altern, Verändern und Vergessen. Das macht sie zu Herren über die Vergangenheit.

Heraufbeschworen, die Wunden des Kriegs zu heilen Am 18. April 1955 wurde in Buyeo zum ersten Mal das Große Baekje Gedenkfestival, der Vorläufer des heutigen Baekje-Kulturfestivals, abgehalten. Buyeo war die letzte Hauptstadt von Baekje, in der sechs Könige insgesamt 123 Jahre lang regierten, darunter auch König Uija (reg. 641-660), der letzte Monarch. Die fünftägige Veranstaltung wurde mit einer Zeremonie zu Ehren der Könige des Baekje-Reichs eröffnet und schloss mit einem buddhistischen Ritual zur Tröstung der Seelen der 3.000 Hofdamen, die sich der Legende nach aus Trauer darüber, dass König und Soldaten den geeinten Truppen von Silla und Tang-China erlegen waren, vom Felsen Nakhwa-am in den Fluss Baengma-gang gestürzt haben sollen. Um sich dieses Schauspiel anzuschauen, kamen rund 20.000 Besucher aus dem ganzen Land nach Buyeo, sodass Unterkünfte und Speiselokale in der Innenstadt bis auf den letzten Platz gefüllt waren. Bedenkt man die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Transportmöglichkeiten der Zeit, war das eine beeindruckende Menschenmenge. Höhepunkt des Festivals war die Zeremonie zur Verehrung der drei treuen Untertanen, bei der die Ahnentafeln der Hofbeam-


1 Die Mauern der Bergfestung Gongsan-seong steigen und fallen im Gleichklang mit der Form des Bodens. Heute führen Spazierwege über die Festungswälle, von denen aus der Spaziergänger, die kühle, vom Fluss heraufwehende Brise genießend, einen fantastischen Blick auf die Stadt Gongju hat. 2 Die fünfstöckige, 8,8m hohe Steinpagode der Tempelstätte Jeongnim-sa in Buyeo (Nationalschatz Nr. 9) wurde Mitte des 7. Jhs gebaut. Die Pagode ist eine der beiden auf altem Baekje-Territorium noch erhaltenen Steinpagoden aus der Zeit der Drei Königreiche. Das Baekje-Volk entwickelte einen neuen, der Form hölzener Pagoden nachempfundenen Steinpagoden-Baustil, der zum Prototyp des distinktiven, im Silla-Reich perfektionierten Baustils wurde.

2

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 7


Es gibt Menschen, die trotz des Anbruchs der Nacht noch nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Diejenigen, die verschollen gingen, ließen ihr kurzes Leben zurück und haben keinen Ort, an den sie zurückkehren könnten, weil niemand ihren Namen ruft. Das Mondlicht umarmt und streichelt zärtlich über die beschädigten, ausgelöschten und verzerrten Spuren ihrer Leben, verstreut in den Bergen und Flüssen ihrer einstigen Heimat: Baekje. ten Seongchung (?-656) und Heungsu sowie von General Gyebaek (?-660) eingeschreint wurden. Für die rituelle Prozession wurden Hunderte von Schülern und Einwohnern mobilisiert, was zusammen mit den Besuchermassen einen spektakulären Anblick bot. Dass der Baengma-Fluss und der Felsen Nakhwa-am (Felsen der fallenden Blumen), von dem sich die Hofdamen in den Fluss gestürzt haben sollen, als Sehenswürdigkeit mindestens so bekannt wie die Loreley ist, mag zwar die Attraktivität dieser Veranstaltung erklären, nicht aber, warum die Bewohner der Gegend dieser Zeremonie mit Ehrfurcht beiwohnten und freiwillig Geld spendeten. Und da die historischen Stätten aus der Baekje-Zeit zu dem Zeitpunkt noch nicht entdeckt worden waren, war auch der Stolz der Bewohner auf ihre Geschichte und Kultur noch nicht besonders ausgeprägt. Dann bleibt vielleicht als einzige Erklärung, dass das Festival eine Gelegenheit zur Solidarisierung und Aussöhnung bot. Der Koreakrieg (1950-1953) forderte über 3 Mio. Menschenleben. Darunter waren auch politische Gefangene, die in Massen hinge-

1

8 KOREANA Sommer 2017

1 Eine Fähre auf dem Baengma-Fluss auf der Vorbeifahrt an dem 40m hohen Nakhwa-am dem „Felsen der fallenden Blumen“. Der Legende nach sollen sich hier 3.000 Hofdamen in den Tod gestürzt haben, als Baekje im Jahr 660 fiel. Der kleine Tempel Gosan-sa, der im 11. Jh. zum Trösten der Seelen der Verstorbenen auf dem mittleren Klippenhang gebaut wurde, steht heute noch. 2 Die Tumuli-Grabstätte in Neungsan-ri beherbergt sieben Baekje-Königsgräber aus der Zeit, als Sabi (das heutige Buyeo) die Hauptstadt von Baekje war. Die Hügelgräber befinden sich in der Mitte des Abhangs auf der südlich gelegenen Bergseite von Neungsan-ri, 121m über dem Meeresspiegel.

richtet wurden, sowie nord- und südkoreanische Kollaborateure, die Vergeltungsmaßnahmen zum Opfer fielen. Nach dem Waffenstillstand von 1953 sahen sich die regional und verwandtschaftlich verflochtenen lokalen Gemeinschaften mit der Aufgabe konfrontiert, die Wunden der Teilung der Nation und der internen Spaltung zu schließen und zu heilen. In Buyeo war das nicht anders: Die Würdenträger von Buyeo steckten ihre Köpfe zusammen und kam auf die Idee des Storytelling. Ihr Vorschlag war ein Event zum Gedenken an die Loyalität der drei treuen Diener, die sich für ihr bedrohtes Land geopfert hatten, und der 3.000 edlen Hofdamen. Die Riten zur Einschreinung der Ahnentafeln der drei Diener, die deren Seelen Frieden schenken sollten, fungierten als Riten zum Trost der Seelen der Einwohner von Buyeo, deren Familien und Nachbarn durch den Krieg auseinandergerissen und gespalten worden waren. Zehn Jahre später, 1965, wurde die Veranstaltung mit großzügiger Unterstützung der Regierung zu einem regionalen Kulturfestival entwickelt und gewann entsprechend an Umfang und Bedeutung. Das Theaterstück Mondscheinnacht auf dem Baengma-Fluss (1993) von Dramenautor und Regisseur Oh Tae-suk (geb. 1940), löste große Diskussionen aus, da es die Struktur des in der Ortschaft Eunsan-myeon in Buyeo tradierten schamanistischen Rituals Eunsan Byeolsinje (Eunsan-Ritual zu Ehren der Schutzgottheiten des Dorfes) adaptierte. Das Eunsan Byeolsinje basiert auf folgender Volkserzählung: Vor langer Zeit wütete einmal eine Seuche in Eunsan. Eines Nachts erschien einem alten Mann im Traum ein General auf einem weißen Pferd, der berichtete, dass die Leichen der Baekje-Soldaten überall verstreut lägen und sich niemand um sie kümmere. Er versprach, das Dorf von der Seuche zu befreien, wenn die Dorfbewohner sich der Leichen annähmen und sie bestatteten. Die Dörfler taten, wie ihnen im Traum des alten Mannes geheißen, und führten ein schamanistisches Gut-Ritual zum Trost der Seelen der Toten durch. Die Seuche verschwand und Frieden kehrte im Dorf ein. Als das Bühnenstück im Sommer 2014 im Namsan Arts Center in Seoul erneut vorgeführt wurde, hatte Autor und Regisseur Oh Tae-suk das Stück umfassend überarbeitet, was die Kritiker folgendermaßen würdigten: „Die Konflikte und die Entwicklung der Geschichte sind im Vergleich zur Urfassung schlichter und klarer geworden, indem der Fokus stärker auf die Versöhnung zwischen den Baekje-Soldaten und König Uija sowie zwischen Uija und Sundan gelegt wurde.“ (Sundan: die Tochter der alten Schamanin, die


2

das Gut-Ritual des Dorfes durchführte, und die gleichzeitig die Reinkarnation der Spionin des Silla-Reichs ist, die Baekje-König Uija erstach.) Auch die vage In-Bezug-Setzung von Koreakrieg und Fall des Baekje-Reichs verschwand. Die zweideutige Äußerung „Seien es nun Baekje-Soldaten oder Opfer eines Massakers der Kommunisten“ aus der Szene, in der 17 Leichen am Dorfeingang an der Mauer der Baekje-Festungsruine gefunden werden, wurde ebenfalls gestrichen. Die durch den Wegfall der Allegorie der historischen Ereignisse entstandene Lücke füllte der Autor mit den für ihn charakteristischen Wortspielen und Humor. Was den Veteran-Dramatiker, der damals in seinen 70ern war, wohl zu dieser Entscheidung bewogen haben mag?

Zugrunde gehen und den Geist hinterlassen Hyun Jin-geon (1900-1943) war ein brillanter Schriftsteller, der in den frühen Tagen der modernen koreanischen Literatur durch gründliche Erforschung gesellschaftlicher und historischer Fragen zum Vorbild für realistisches Schreiben wurde. Hyun besaß zudem ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein, was auch durch seine Inhaftierung während der japanischen Kolonialherrschaft, als er als Journalist arbeitete, belegt wird. Grund für die Verhaftung war seine Beteiligung an der Herausretuschierung der japanischen Flagge aus dem Foto der Siegerehrung des Marathonlaufs der Olympischen Sommerspiele in Berlin 1936, bei denen der Koreaner Son Kee-chung, der gezwungenermaßen für Japan antreten musste, die Goldmedaille gewann. Dieser Vorfall stellte Hyuns Leben auf den Kopf. Er musste bei der Zeitung kündigen, sich um des schieren Überlebens willen mit allen möglichen Arbeiten wie Geflügelzucht durchschlagen und sein Haus verkaufen. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Tuberkulose hinraffte. Es ist kein Zufall, dass die Protagonisten in seinem 1939 erschie-

nen Roman Die Pagode ohne Schatten (Muyeongtap) der Baekje-Steinmetz Asadal, der die Pagode Muyeongtap in Gyeongju fertigte, und seine Frau Asanyeo sind. Hyun schrieb danach noch zwei weitere Romane mit Baekje als historischem Hintergrund: General Heukchi Sangji (1940) und Prinzessin Seonhwa (1941). Bevor General Heukchi Sangji in Fortsetzungen in einer Zeitung erschien, sagte Hyun über historische Romane: „Die Vergangenheit ist realistischer als die Gegenwart, weil die Vergangenheit eine Ehrlichkeit besitzt, die in der Gegenwart nicht zu haben und auch nicht zu erlangen ist. Die Vergangenheit vermag ein lebendiges, pulsierendes Realitätsgefühl zu vermitteln, das den gegenwärtig realen Fakten nicht entnommen werden kann.“ Doch die Fortsetzungen des in der Tageszeitung Donga Ilbo erschienenen General Heukchi Sangji, das von einem General erzählt, der sich den Invasoren nicht ergibt und erfolgreich einen Gegenschlag Baekjes anführt, wurden auf Druck der Japaner eingestellt. Die Fortsetzungen seines in der Monatszeitschrift Chunchu veröffentlichten Romans Prinzessin Seonhwa, der auf dem Lied von Seodongyo beruht, das von dem Jüngling erzählt, der später als König Mu (reg. 600-641) den Baekje-Thron besteigen sollte, wurde ebenfalls mittendrin eingestellt. Die Pagode ohne Schatten handelt von einem Baekje-Steinmetz, der in die Silla-Hauptstadt Gyeongju verschleppt wurde, um dort an der Steinpagode des Tempels Bulguk-sa zu arbeiten. Hyun schuf seinen Protagonisten dabei auf Grundlage von historischen Aufzeichnungen, laut denen eine Vielzahl von Tischlern und Steinmetzen aus Baekje für den Bau von Tempeln und Pagoden im Silla-Reich eingesetzt wurde. Allerdings war Hyun der erste, der einem dieser Handwerker einen Namen gab: Asadal. Bedenkt man den symbolischen Gehalt dieses Namens für die Koreaner, dürfte Hyun sehr stolz auf diese Namensgebung gewesen sein. Laut den Memorabilia der Drei Königreiche (Samguk-yusa) war „Asadal“ KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 9


nämlich der Name, den Dangun, der mythische Gründervater des ersten koreanischen Reiches (Gojoseon, 2333-108 v.Chr.) seiner Reichshauptstadt gab. „Asadal“, was so viel wie „Land des morgendlichen Sonnenlichts“ bedeutet, steht für das koreanische Volk. Erzählt wird in Die Pagode ohne Schatten über den Konflikt zwischen Asadal, dem Steinmetz aus dem gefallenen Baekje-Reich, Juman, der Tochter einer adeligen Familie aus dem Silla-Reich, die sich in Asadal verliebt, und Asanyeo, Asadals Frau, die, müde des Wartens auf die Heimkehr ihres Mannes, von Buyeo nach Gyeongju aufbricht, um ihren Mann zu sehen. Die Gedichte des während der japanischen Kolonialherrschaft in Buyeo geborenen Dichters Shin Dong-yup (19301969) wurzeln quasi in der Essenz dieser Örtlichkeit. Zeilen wie „Das alte Mütterchen / mit der laufenden Nase, / das Nudeln verkaufte / im Sonnenlicht vor dem Bahrenhaus“ oder „Vom Aprikosenbaum-Dorf / Schlummer, der keine Zeit kennt“ sind mehr als nur lyrische Erinnerungen an seinen Heimatort. Seine historische Vorstellungskraft

treibt Shin von Baekje in die weiter zurückliegende Zeit der antiken Drei Han-Stammesstaaten, um ihn dann auf die Schauplätze der modernen Geschichte wie den der Donghak-Bauernbewegung (1894), der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März (1919), des Koreakrieges (1950-1953) und der Erhebung vom 19. April (1960) zu befördern. Asadal und Asanyeo erscheinen in seinen Gedichten oft als lyrisches Objekt oder lyrisches Ich. Shin übernimmt Elemente und Hintergründe dieser fiktiven Figuren aus Hyuns Die Pagode ohne Schatten und formt daraus unter Krieg und Armut leidende Nachbarn oder symbolhafte Verkörperungen einer geteilten Nation. Der Höhepunkt von Shins humanistischer Annäherung an die Geschichte findet sich in seinem Epos Der Fluss Geum-gang (1967). Er wollte Einsicht in die Geschichte gewinnen, indem er mit Wut und mit Mitleid mit den „unschuldigen, einfachen Bürgern, die 5.000 Jahre verfolgt wurden“ den Geschehnissen vergangener Zeiten eine Struktur verlieh. Seinem Erfolg, geschichtliche Geschehnisse in die Gegenwart zu versetzen, steht meiner Meinung nach sein Misserfolg, die Idealität der Geschichte herauszubilden gegenüber. Die folgenden Zeilen aus Der Fluss Geum-gang könnten allerdings auch herangezogen werden, um diese Bewertung von mir zu widerlegen:

Baekje, Seit alters her ein Ort, An dem sie sich sammeln Und verfaulen, An dem sie zugrunde gehen und dafür Dünger hinterlassen. Geum-gang, Seit alters her ein Ort, An dem sie sich sammeln Und verfaulen, An dem sie zugrunde gehen und dafür Geist hinterlassen [Aus: Kapitel 23 von Der Fluss Geum-gang von Shin Dong-yup] Am ehemaligen Platz der Festung Na-seong, die sich von der Festung Busosan-seong in Buyeo bis zum Fuß des Flusses Geum-

Die fünfstöckige Steinpagode in Wanggung-ri, Iksan, Provinz Jeollabuk-do, stammt aus der frühen Goryeo-Zeit. Sie weist sowohl formale Merkmale der Steinpagoden von Baekje, als auch Merkmale des später während des Vereinigten Silla-Reiches entwickelten Pagodenstils auf. Die als Nationalschatz Nr. 289 registrierte Pagode ist 8,5m hoch.

10 KOREANA Sommer 2017


gang hinzieht, steht ein Gedenkstein zu Ehren von Shin, eines Dichters, der mit seiner eigenen Armut und seinem Mitleid „am kranken Vaterland litt“.

Die Geschichte der Verlierer neu schreiben Kontroversen um Fake News gab es auch schon in der Vergangenheit. Während die Geschichten der Sieger immer aufgebauscht in alle Welt hinausgeposaunt werden, gehen die Geschichten der Verlierer wie die Seufzer alter Klageweiber unter. Das gilt auch für die Geschichte von Baekje: Angesichts der Raffiniertheit und des Heldenmuts der Sieger müssen Inkompetenz und Verderbtheit der Verlierer nur noch auffälliger erscheinen, wobei sich diese simple Gegenüberstellung mit der Zeit stärker als die Fakten verfestigt. Und die Vergangenheit wird – je nach Wahrnehmung und Emotionen des Sich-Erinnernden – immer stärker verinnerlicht und fragmentiert. Aus keinem anderen Grund wurde aus dem Felsen „Tasaam“ (dt.: „Felsen, von dem sich Menschen in den Tod stürzten“), dem Schauplatz eines tragischen Kriegsgeschehens, der Felsen „Nakhwa-am, wo sich 3.000 Hofdamen aus Loyalität zum Vaterland ins Wasser stürzten. Und der Pavillon „Sajaru“ an der höchsten Stelle der Festung Busosan-seong wird bis heute oft fälschlicherweise „Sabiru“ genannt, auch wenn man sich bewusst ist, dass diese Bezeichnung durch die transkriptorische Verwechslung zweier ähnlich klingender Silben zustande kam. Oft scheint ein auf objektiven Fakten beruhendes Narrativ weder unbedingt erforderlich noch wichtig zu sein. Jeongeupsa (Lied aus Jeongeup), das einzig noch erhaltene Lied aus der Baekje-Zeit, beginnt mit „Lieber Mond, steig bitte nur hoch“. Es wurde bis in die Goryeo- und Joseon-Zeit als Text der indigenen Volksmusik verwendet. Laut der Geschichte von Goryeo (Goryeosa, 1449-1451) soll das Lied von einer Frau, die auf die Heimkehr ihres Mannes wartete, gesungen worden sein. Sie stieg auf den Mangbuseok-Felsen (Felsen, in den sich eine vergebens auf ihren Mann wartende Frau verwandelte) und bat den Mond, ihrem Mann, einem Fliegenden Händler, der zum Verkauf seiner Waren zum Markt gegangen und nach mehreren Tagen immer noch nicht zurück war, auf dem Heimweg

zu leuchten. Zur Erinnerung an dieses Lied veranstaltet das Städtische Gugak-Orchester von Jongeup, Provinz Jeollabuk-do, jeden Monat zur Vollmondzeit vielfältige Gukak-Musik-Darbietungen. Wenn ich es mir recht überlege, wird in den populären, auf Baekje bezogenen Liedern von gestern und heute ausnahmslos die Mondnacht besungen. Und Erwähnung finden stets der Fluss „Baengma-gang“, „Wasservögel“, „Stille“, „Barken“ und „Glockenklänge“. Der Journalist und Schriftsteller Lee Byeong-ju (1921-1992) schrieb im Vorwort zu seinem Roman Berge und Flüsse (1979): „Wenn es im Sonnenschein verblasst, wird es Geschichte; wenn es vom Mondschein gefärbt wird, wird es zur Legende!“ In diesem Sinne kann man sagen, dass Baekje im Mondschein liegt. Wenn die Abenddämmerung die Grenze zur Nacht überschreitet, leuchtet bei der Festung Gonsan-seong ein Licht nach dem anderen auf. Die Festung, die vor dem Hintergrund des blauschwarzen Himmels allmählich silhouettenhaft ihre Schultern entblößt, ruft Menschen zu, die weit entfernt auf der anderen Seite des Flusses stehen, Menschen, die trotz des Anbruchs der Nacht noch nicht zurückgekehrt sind. Dort gibt es das kurze Leben der Abwesenden, die nirgendwohin zurückkehren können, weil niemand ihre Namen ruft. Das Mondlicht umarmt und streichelt zärtlich über die beschädigten, ausgelöschten und verzerrten Spuren ihrer Leben, verstreut in den Bergen und Flüssen ihrer einstigen Heimat: Baekje.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 11


SPEZIAL 2 Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Königreichs

ZUSAMMENPUZZELN DER ÜBERBLEIBSEL EINES ALTEN KÖNIGREICHS

Choi Yeon Geologe und Leiter der Seoul-Schule, Institut für Geisteswissenschaftliche Bildung Fotos Ahn Hong-beom

Das Baekje-Reich verlegte seine erste Hauptstadt Wiryeseong, später Hanseong genannt, zweimal nach Süden. Während der Hanseong-Periode (18 v.Chr. - 475 n.Chr.), also vor der Hauptstadtverlegung 475 nach Ungjin (das heutige Gongju), baute das Volk von Baekje unter Ausnutzung der Hügel entlang des Hangang-Einzugsgebiets Festungsanlagen zum Schutz des Königssitzes. In der Umgebung legte es Dorfsiedlungen an und betrieb Landwirtschaft. Diese historischen Stätten liegen heute zwischen den hochmodernen Gebäuden und WohnhochhausKomplexen in den südöstlichen Seouler Stadtbezirken Gangdong-gu und Songpa-gu.

12 KOREANA Sommer 2017


Grab Nr. 3 des in Seokchon-dong im Südosten Seouls gelegenen Baekje-Grabkomplexes dürfte die letzte Ruhestätte von König Geunchogo sein, der Territorium und Macht von Baekje erheblich erweiterte. Vom Stil her ähnelt das Grab den Grabstätten von Goguryeo, was auf die engen Beziehungen zwischen der herrschenden Klasse der beiden alten Königreiche hinweist.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13


V

on der südkoreanischen Gesamtbevölkerung von über 50 Mio. leben über 20 Mio. Menschen in der Metropolregion Seoul. Seoul ist eine Stadt mit reicher Geschichte und Wiege unterschiedlicher Kulturen, die sich im Laufe der rund 2000 Jahre von der Baekje-Zeit bis ins 21. Jh. herausgebildet haben. Doch gleichzeitig ist Seoul auch eine Stadt, die diese Tiefe und Breite ihres Erbes nicht vollständig zum Ausdruck zu bringen vermag. Bei den Angriffen der Kitan und der Mongolen in der Goryeo-Zeit (918-1392) sowie der Imjinwaeran-Invasion der Japaner (1592-1598) und der Byeongjahoran-Invasion (1636-1637) des chinesischen Qing-Reiches in der Joseon-Zeit fiel ein beträchtlicher Teil des Kulturerbes den Flammen zum Opfer. Im 20. Jh. verwüsteten japanische Kolonialherrschaft und Koreakrieg das Land, und ein Großteil des Kulturerbes, das diese Zeiten überdauert hatte, ging im Sturmwind von Industrialisierung und Entwicklung verloren. Daher kann man sagen, dass die Überreste von Seouls historischem und kulturellem Erbe nur noch als Punkte dargestellt werden können. Erst wenn diese Punkten zu Linien verbunden, aus diesen Linien Flächen gebildet und diese Flächen als dreidimensionale Strukturen rekonstruiert sind, kann der historische und kulturelle Wert der Stadt Seoul in seiner ganzen Fülle genossen werden.

1

14 KOREANA Sommer 2017

Staatsgründung im Einzugsgebiet des Han-gang In Ostasien wird seit alters her das Leben aller Kreaturen im Rahmen der organischen Beziehung zwischen Himmel, Erde und Mensch erfasst. Das Land als Grundlage des Zusammenlebens der Menschen besteht grob gesehen aus Bergen und Flüssen, die sich in ihrer ewig spiegelbildlichen Kontrarität zu beiderseitigem Vorteil ergänzen. Der Wasserweg, der am Schneidepunkt zweier Gebirgskämme entspringt, fließt die von Bergen umgebenen Täler und Schluchten entlang, in denen sich die Menschen schon seit alters her in der Nähe des Wassers niedergelassen haben. Zu Zeiten der Drei Reiche lagen Baekje, Silla und Goguryeo in ständigem Kampf um die Vorherrschaft im Hangang-Einzugsgebiet im Herzen der koreanischen Halbinsel. Doch vor Ausbruch dieser Territorialkämpfe war es das Königreich Baekje, das diese Region besetzte. Zur Gründung von Baekje gibt es unterschiedliche Theorien, die zusammengefasst darauf hinauslaufen, dass das Reich von den beiden Brüdern Biryu und Onjo (?-28) gegründet wurde, die den Stammesstaat Buyeo (2. Jh. v.Chr.-494 n.Chr.) in der Mandschurei mit einer geringen Zahl von Gefolgsleuten verließen und südwärts zogen. Beide waren Söhne von Goguryeo-Gründer Jumong (reg. 37 v.Chr.-19 v.Chr.). Onjo ließ sich am Fluss Han-gang nieder, während sein älterer Bruder Biryu sich in Michuhol, dem heutigen Incheon, ansiedelte. Onjo benannte sein Reich zunächst nach den zehn Vasallen, die ihm beigestanden hatten, „Sipje“ (dt.: zehn Hinübergekommene). Als sein Bruder Biryu starb, nahm Onjo dessen Gefolgsleute auf und nannte sein Reich „Baekje“ (dt.: hundert Hinübergekommene). Das Baekje-Volk breitete sich weiter nach Süden aus, wo es rund 40 km Land besiedelte, das Mokji, der führende Stamm unter der aus 54 Stämmen bestehenden Mahan-Stammeskonföderation in der heutigen Region der Provinzen Gyeonggi-do, Chungcheong-do und Jeolla-do, ihm abtrat. Das Baekje-Volk stärkte seine regionalen Bündnisbeziehungen und damit seine Macht, löste Mokji als Führer des Mahan-Stammestaates ab und konsolidierte so die Grundlagen des Baekje-Reiches. Zunächst war das Herrschaftsgebiet in fünf Verwaltungsregionen gegliedert. Der König regierte nur über das Gebiet des Herrschersitzes. Die anderen Regionen unterstanden der indirekten Regierung durch lokale Oberverwalter. Doch schon bald etablierte sich das Herrschaftssystem eines antiken Königreiches und es wurden Festungen gebaut, um das Verteidigungssystem zu


2 1 Die Holzpalisaden entlang des Nordrandes der Erdfestung Mongchon-Erdfestung wurden erneuert. 2 Der Wassergraben, der die Mongchon-Erdfestung umgab, wurde in einen Teich verwandelt.

Es wird vermutet, dass sich der Königspalast innerhalb der Festungsmauern befand. Nach der Geschichte der Drei Königreiche (Samguksagi) hatte der Palast viele Gebäude, die „bescheiden, aber nicht schäbig, prächtig, aber nicht extravagant“ waren. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15


stärken und die wachsende Bevölkerung aufzunehmen. So wurden zum Beispiel die Erdfestungen Pungnap-toseong und Mongchon-toseong errichtet. Topografisch gesehen ist Pungnap-toseong eine auf flachem Land gebaute Festung, deren Bewohner innerhalb der Festungsmauern lebten, und Mongchon-toseong eine Fliehburg in einem hügeligen Gebiet in der Nähe. Die Pungnap-Festung lag nördlich des Königspalastes, weshalb sie auch „Nord-Festung“ genannt wurde, und die Mongchon-Festung auf der südlichen Seite, entsprechend die Bezeichnung „Süd-Festung“. Wie Goguryeo mit seinen beiden Festungen Gungnae-seong und Hwandosan-seong im Gebiet der heutigen Mandschurei, so hatte auch das Baekje-Reich ein duales Festungssystem.

Geschichte aus Festungsruinen erschlossen Pungnap-toseong ist eine auf dem flachen Land entlang des Flusses Han-gang errichtete Erdfestung. Die Festungsmauern haben einen Kreisumfang von 3.470 m, eine Höhe von 6 bis 13,3 m und eine Breite von 30 bis 70 m. Sie waren zur effektiveren Abwehr feindlicher Angriffe von einem breiten Wassergraben umgeben. Die Festung erstreckt sich in einem länglichen Oval von Süden nach Norden. Der OstWall ist ca. 1.500 m lang, der Süd-Wall ca. 200 m und der Nord-Wall ca. 300 m. Die Westmauer fiel zwar der großen Flut von 1925 zum Opfer, wurde aber mittlerweile wiederhergestellt. An den vier Stellen, an denen der Außenwall unterbrochen ist, dürften sich die Festungstore befunden haben. Es wird vermutet, dass sich der Königspalast innerhalb der Festungsmauern befand. Nach der Geschichte der Drei Königreiche (Samguksagi) hatte der Palast viele Gebäude, die „bescheiden, aber nicht schäbig, prächtig, aber nicht extravagant“ waren. Die Ausgrabungen förderten ein dreireihiges Grubenwerk aus Wassergräben um die Dorfsiedlung und die Festungsmauer zutage. Es wurden auch verschiedene, noch intakte Alltagsgegenstände entdeckt. Dass bei der Ausgrabung außerdem Straßen- und Grubenhausbefunde zum Vorschein kamen, lässt

1

16 KOREANA Sommer 2017

1 Das Querprofil einer Replik der Mauer der Erdfestung Pungnap-toseong ist in der Eingangshalle des Seoul Baekje Museum ausgestellt. Es zeigt, wie die einzelnen Erdschichten beim Bau der Befestigungsanlage angehäuft wurden. 2 Das im Seoul Olympic Park gelegene Seoul Baekje Museum beherbergt verschiedene Exponate, die die prähistorische Zeit vor der Besiedlung des Einzugsgebiets des Han-Flusses durch die Gründer von Baekje beleuchten. Weitere Ausstellungsabschnitte sind den Nachbarreichen Goguryeo und Silla gewidmet, die später über das Gebiet herrschten.


Baekje-Geschichtstour in Seoul U-Bahn-Station Gwangnaru

Cheonho-Brücke Pungnap-Erdfestung

Han-Fluss Seoul Olympic Park / Nordtor Mongchon-Erdfestung Seoul Olympic Park / Tor des Weltfriedens

Gedenkstein von Samjeon-do

MongchonGeschichtsmuseum Seoul Baekje Museum

Seokchon-See

Baekje-Gräber

vermuten, dass innerhalb der Festungsmauern viele Regierungsgebäude lagen. Die Monchon-Festung, die sich etwa 700 m südöstlich von der Pungnap-Festung befindet, weist mit ihrem auf den auslaufenden Erhebungen der umgebenden hohen Berge erbauten Innen- und Außenwall eine einzigartige Struktur auf. Die Mauern wurden durch Aufeinanderschichten von Lehm errichtet und im Bedarfsfall legte man auch Steilhänge an. Auf der nördlichen Seite wurden Holzpalisaden angebracht, verstärkt durch einen zusätzlich schützenden Wassergraben, der inzwischen in einen Teich verwandelt wurde. Der Festungswall ist insgesamt 2.285 m lang, die Höhe liegt bei um die 30 m. Der nordöstliche Teil des Außenwalls wurde in einer geraden Linie mit einer Länge von etwa 270 m gebaut. Die Höhe beträgt, von stellenweisen kleineren Abweichungen abgesehen, rund 30 m. Da der nördliche Abhang und die höchste Stelle des Außenwalls Spuren von Palisaden aufweisen und die östliche Außenseite des Innenwalls zwecks Anlage eines Wassergrabens steil geböscht wurde, wird vermutet, dass die Mongchon-Festung als Verteidigungsstützpunkt zur Abwehr von Angriffen aus dem Norden diente. Die Entdeckung von Vorratsgruben und militärischen Anlagen wie die Erhebung aus gestampftem Lehm, wo vermut-

2

BAEKJE ZU FUSS ERKUNDEN Der Seokchon-See im Seouler Stadtbezirk Jamsil, war ursprünglich ein Wasserlauf des Han-Flusses. Er entstand in den 1970er Jahren, als der Fluss zum Schutz vor Überschwemmungen begradigt wurde. Auf dem Hügel am Westteil des Sees, der in einen östlichen und westlichen Teil eingeteilt ist, steht der sog. Gedenkstein von Samjeondo (Fähranlegestelle, an der König Injo sich 1637, Ende der zweiten Manchu-Invasion, Quing-China ergab). Läuft man von hier halb um den Westteil des Seokchon-Sees und dann in südliche Richtung die Straßen der dicht besiedelten Wohngebiete entlang, stößt man auf die alte Baekje-Grabstätte in Bangi-dong. Nach Besichtigung der verschiedenen Grabarten aus der Hanseong-Zeit von Baekje (18 v.Chr.-475 n.Chr.) einschließlich eines Grabs aus angehäuften Steinen, kann man sich auf den Weg zum Olympic Park machen. Der Olympic Park, angelegt auf dem Gebiet der Mongchon-Erdfestung, beherbergt die Haupt-Sporthallen für die Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul. Nachdem man hier das Seoul Baekje Museum und die davor aufgestellten Skulpturen internationaler Künstler von Weltruf besichtigt hat, kann man entlang des leicht hügeligen alten Festungswalls wandern – eine Trekkingroute mitten in der Stadt. Oder man schaut im Mongchon-Geschichtsmuseum vorbei, in dem jugendliche Besucher die Baekje-Geschichte hautnah erleben können. Wenn man nach dem Verlassen des Parks durch Nordtor 1 am Gangdong-gu Stadtbezirksamt vorbeigeht und dann die Hauptstraße überquert, erreicht man die Youngpa Girls‘ High School. Läuft man die Schulmauer entlang etwas weiter in das Wohngebiet hinein, kommt die in sanften Linien aufragende Pungnap-Erdfestung in den Blick. Man muss einen ganzen Tag einplanen, um in dieser Reihenfolge die Kulturstätten des Baekje-Reiches aus der Hanseong-Ära zu Fuß zu besichtigen. Es könnte etwas anstrengend sein, doch eine Entdeckungsreise zu Fuß ist die beste Methode, um diese Gegend, wo sich Moderne und Antike kreuzen, richtig zu genießen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 17


lich ein Wachtturm stand, untermauert die Annahme, dass diese Festung kein Königssitz war, sondern die letzte Bastion, in der die Menschen in Krisensituationen Zuflucht finden konnten. Jüngst wurde bei einer Ausgrabung in der Erdfestung Mongchon-toseong eine 18,6 m breite, zweispurige Straße entdeckt, die von der Baekje- bis zur Goguryeo-Zeit genutzt wurde. Es ist die breiteste unter den bisher bestätigten Straßen aus der Baekje-Zeit und die älteste bislang entdeckte zweispurige Straße in Korea. Da sie aus dem Festungsinneren durch das Nordtor nach außen führt, vermutet man, dass es sich um die Hauptverbindungsstraße zwischen der Mongchon-Festung und der Pungnap-Festung handelt. Man nimmt an, dass diese Straße, nachdem Baekje seine Hauptstadt nach Süden verlagert und die Gegend Teil des Goguryeo-Reiches geworden war, drei Mal repariert und ausgebaut wurde. Die Straßenbefestigung besteht aus einer Mischung aus Steinen, verwittertem Gestein und Lehm, was sie so hart macht, dass nicht einmal Eindrucksspuren von Karrenrädern zu finden sind. Zu den wichtigsten hier entdeckten Relikten gehört auch das Fragment eines Baekje-Tongefäßes mit einem bis zur Öffnung geradlinig verlaufendem kurzen Hals, auf dem das chinesische Zeichen „官” für „Hofamt“ eingeprägt ist. Unter den Funden aus der Baekje-Zeit ist es das erste Tongefäß-Stück mit solch einer Inschrift, was erneut belegt, dass die Mongchon-Festung nicht nur als Wehranlage, sondern gleichzeitig auch als Hauptstadtfestung diente.

Verschiedene Grabformen In den Gegenden der Seouler Viertel Seokchon-dong, Garak-dong und Bangi-dong südlich der beiden Festungen befinden sich Gräber der Herrscherschicht von Baekje. Im dritten Band der Illustrationen historischer Stätten Joseons , der 1916 während der japanischen Kolonialherrschaft herausgegeben wurde, steht, dass es in diesen Gegenden 23 Erdgräber sowie 66 Steinhaufengräber gebe. Erhalten sind heute neben 7 großen Steinhaufengräbern noch rund 30 Grubengräber mit Holzplattenabdeckung und Kruggräber. Die Tatsache, dass hier die mit Goguryeo assoziierten Steinhaufengräber zu finden sind, zeigt, dass die Gründerväter des Baekje-Reichs enge Beziehungen zu ihrem nördlichen Nachbarn unterhielten. In diesem Gebiet wurden auch kleinere Grubengräber aus verschiedenen Zeitperioden gefunden, die einfachen Bürgern oder Hofbeamten gehören. In der Gegend von Seokchon-dong wurden vom 3.-5. Jh. Gräber für Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten angelegt. Grab Nr. 3, das größte im Grabfeld dieser Gegend, ist ein stufenförmig aufgeschichtetes, rechteckiges Steingrab von 4,5 m Höhe, dessen längste Seite 45,5 m misst und die kürzeste 43,7 m. Von diesem vermutlich zwischen Mitte des 3. und dem 4. Jahrhundert erbauten Grab sind nur noch drei Stufen erhalten. Man nimmt an, dass hier König Geunchogo (reg. 346-375) ruht, der Baekjes Territorium und Macht entscheidend ausbaute. Nachdem die Hauptstadt im Jahr 475 ins heutige Gongju verlegt worden war, wurde die herrschende Schicht nicht mehr in Steingräbern, sondern in Steinkammergräbern bestattet. Das 1971 unerwartet entdeckte Grab von König Muryeong (reg. 501-523) ist das erste Steinkammergrab mit einem Zugangskorridor (Dromos). Man nimmt an, dass diese Grabform sich ab da in allen drei Reichen zur vorherrschenden Königsgrabform entwickelte. Auf der Suche nach den restlichen Puzzleteilen Mit Beginn der umfassenden Entwicklung des Seouler Bezirks Jamsil in den 1970er Jahren erlebte dieses als „Zeitkapsel von Baekje“ bekannte Gebiet inmitten des Konflikts zwischen Stadtentwicklung und Kulturerbeschutz rasante Veränderungen. In den 1980ern wurde es zum Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 1988 bestimmt, sodass dort das Olympiastadion und andere Wettkampfanlagen errichtet wurden. So wurden die Olympischen Sommerspiele, das globale Fest für alle Weltbürger des 20. Jhs, auf dem Boden der einstigen Hauptstadt Baekje ausgetragen, der von den geschichtlichen und kulturellen Spuren der Zeit von vor 2.000 Jahren geprägt ist. Die Stadt, die vor über fünf Jahrhunderten mit Weisheit und Arbeitskraft der Menschen von Baekje errichtet wurde, ist verschwunden. An ihrer Stelle stehen heute moderne Wohnhochhaus-Komplexe, die zu den teuersten in Seoul gehören. Dass die Projekte zur Stadtentwicklung und Stadtsanierung wie 18 KOREANA Sommer 2017

Am einstigen Standort der Mongchon-Erdfestung, die in den 1980er Jahren sechs Ausgrabungen und Untersuchungen erlebte, befindet sich heute ein öffentlicher Park.


Wohnungs- und Straßenbau und der Bau der olympischen Wettkampfstätten positive Resultate im Hinblick auf Entdeckung und Ausgrabung historischer Stätten zeitigten, ist nicht zu leugnen. Die Bemühungen, um aus den Punkten, die für die verschwundene Königsstadt und deren Bürger stehen, Linien und aus diesen wiederum einen dreidimensionalen Körper wiederherzustellen, werden auch heute noch fortgesetzt. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 19


SPEZIAL 3 Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Königreichs

BAEKJE ANS TAGESLICHT GEBRACHT © Gongju National Museum

Die Kultur des Königreichs Baekje (18 v.Chr.–660 n.Chr.), die aufgrund mangelnder Forschungsmaterialien fast unbekannt geblieben war, begann sich mit der Entdeckung eines Königsgrabes zu enthüllen. Das Grab von König Muryeong, das während Drainagearbeiten auf dem Songsan-ri Tumulifeld in Gongju, Provinz Chungcheongnam-do, im Sommer 1971 zufällig gefunden wurde, ist das einzige Königsgrab aus der Zeit der Drei Königreiche (57 v.Chr.–668 n.Chr.), bei dem die Identität des Bestatteten bekannt ist. 20 KOREANA Sommer 2017

Kim Tae-shik Fachjournalist für Kulturerbe, Forscher am Gukto Institute of Cultural Heritage


A

uch 1971 setzte auf der in der ostasiatischen Monsunregion gelegenen koreanischen Halbinsel wie in jedem Sommer die Regenzeit ein. Die Regenzeit ist oft eine Katastrophe für Kulturerbestätten, aber in dem Jahr entpuppte sie sich in Gongju als unerwarteter Segen. Zusammen mit Silla (57 v.Chr.–935 n.Chr.) und Goguryeo (37 v.Chr.–668 n.Chr.) war das Königreich Baekje, das nach seiner Gründung 18 v.Chr. fast 700 Jahre überdauerte, eines der drei blühenden Reiche der Zeit. In Gongju, der zweiten Hauptstadt des Baekje-Reichs, die in der heutigen Provinz Chungcheonnam-do liegt, gibt es in Songsan-ri eine Ansammlung von Königsgräbern aus jener Zeit. Die alten Hügelgräber, die am südlichen Fuß niedriger Berge im Nordwesten der vom Fluss Geumgang umflossenen Stadt liegen, vermitteln mit ihren sanften Konturen eine heimelige Atmosphäre. Dass hier das Grab von König Muryeong (reg. 501-523), des 25. Regenten von Baekje, und seiner Gemahlin entdeckt wurde, war wundersamerweise dem Regen zu verdanken.

Die Hauptkammer des Grabs von König Muryeong aus der Perspektive des Zugangskorridors. Das Grab wurde 1971 in einer Baekje-Königsgrabstätte in Songsan-ri, Stadt Gongju, gefunden. Unter dem Grabgewölbe, das durch Aufeinanderschichten unterschiedlich großer und unterschiedlich gemusterter Ziegel gebaut wurde, liegt eine rechteckige Kammer, die die Holzsärge des Königs und der Königin von Baekje beherbergte. Die Särge fielen unter dem Gewicht der Zeit in sich zusammen.

Drainagearbeiten vor der Regenzeit Im Sinjeung Dongguk Yeoji Seungnam (Überarbeiteter und ergänzter Überblick über die Geographie Koreas) (1530), findet sich unter „Gongju“ folgender Eintrag zur Songsan-ri Grabstätte: „Die Dorfschule befindet sich 3 Li (ca. 1,2 km) westlich der Stadt und westlich davon gibt es alte Königsgräber. Es sollen Königsgräber aus der Baekje-Zeit sein, aber wer dort liegt, ist nicht bekannt.“ Das zeigt, dass die Gegend bereits in der Joseon-Zeit (1392-1910) als Baekje-Königsgrabstätte Aufmerksamkeit auf sich zog. Bei Ausgrabungen während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) fand man zwar heraus, dass die Grabstätte von 457 bis 538 geschaffen wurde, als Ungjin (heute Gongju) Hauptstadt von Baekje war, wer dort begraben lag, blieb jedoch unklar. Bis zum Monsun-Beginn 1971 hatte man sechs Hügelgräber, bei denen es sich allen Anschein nach um Königsgräber handelte, entdeckt und das Gebiet war als staatlich geschützte historische Stätte registriert. Jeden Sommer hatten die Gräber zu leiden, wenn das Regenwasser von den dahinter gelegenen Bergen herunterfloss und in die Grabstätten sickerte. Das Amt für Kulturgüterverwaltung (heute: Amt für Kulturerbeverwaltung) beschloss als Gegenmaßnahme, ca. 3 m hinter den Hügelgräbern Nr. 5 und 6 parallel zu den Grabstätten einen Entwässerungsgraben anzulegen. Die Bauarbeiten begannen am 29. Juni, als die Regenfront nordwärts in Richtung Südküste der koreanischen Halbinsel zu ziehen begann, und sollten vor Monsunbeginn beendet sein. Eine Woche später, am 5. Juli gegen 14:00 Uhr, stieß einer der Arbeiter beim Ausheben des Grabens mit der Schaufel auf einen Flussstein. Kim Yeong-il, damals Bauführer des zuständigen Bauunternehmens Samnam Construction, erinnert sich: „Ein solcher Stein im Boden? Das fand ich seltsam, Flusssteine wurden ja für Gräber verwendet. Als ich tiefer grub, kam tatsächlich eine solide Ziegelkonstruktion zum Vorschein. Die ausgehobene Erde enthielt zudem Kalk. Schließlich traf meine Spitzhacke etwas Hartes: traditionelle Ziegelsteine.“ Dieser Moment kündigte die unerwartete Entdeckung eines prächtigen Königsgrabes an und setzte einen Meilenstein in der Geschichte der koreanischen Archäologie. Die Spitzhacke hatte die südliche Decke des Korridors getroffen, der zur vollständig aus traditionellen Ziegeln erbauten Hauptgrabkammer führte. Zu dem Zeitpunkt wusste zwar noch niemand, wer in diesem Grab bestattet war, aber Ziegelmauerwerk und Struktur, die mit Grab Nr. 6 direkt davor übereinstimmten, ließen darauf schließen, dass es sich um ein neues, noch unbekanntes Königsgrab handelte. Die ganze Nacht Starkregen Der Bauleiter informierte sofort Kim Yeong-bae, Direktor der Gongju-Niederlassung des Koreanischen Nationalmuseums (heute: Gongju National Museum). Eigentlich hätte das Museum sofort dem Amt für Kulturgüterverwaltung Bericht erstatten und um Ausgrabungserlaubnis ersuchen müssen, aber in der allgemeinen Aufregung über das neu entdeckte Baekje-Königsgrab wurde das vorgeschriebene Procedere ignoriert und die Museumsleute machten sich zusammen mit einigen Archäologen aus der Region sofort an die Ausgrabung. Sie bestätigten, dass es sich tatsächlich um ein Baekje-Königsgrab aus traditionellen Ziegelsteinen handelte. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 21


1

Die Entdeckung des Grabs von König Muryeong hat nicht zuletzt die Geschichte von Baekje aus dem Dunkel des Vergessens gerettet. Die Baekje-Zeit war bis dahin aufgrund des Mangels an schriftlichen Aufzeichnungen „Terra incognita“ in der koreanischen Frühgeschichte gewesen, aber die Relikte aus dem Grab von König Muryeong gaben unter verschiedenen Blickwinkeln Aufschluss über die Geschichte von Baekje.

22 KOREANA Sommer 2017

2


Am Tag darauf (6. Juli) informierte die Stadtverwaltung Gongju das Amt für Kulturgüterverwaltung über die Entdeckung. Das Amt schickte Sachbearbeiter zwecks Erfassung der Lage vor Ort, ordnete die Einstellung der Drainagearbeiten sowie aller Ausgrabungsaktivitäten an und organisierte ein offizielles Ausgrabungsteam. Am 7. Juli kamen schließlich unter anderem Kim Won-ryong, der damalige Direktor des Nationalmuseums, Jo Yu-jeon, der Zuständige für Ausgrabungsarbeiten im Forschungsinstitut für Kulturgüter unter dem Dach der Behörde für Kulturgüterverwaltung, und der Kurator Ji Geon-gil (s. Box-Artikel) vor Ort an. Die offiziellen Ausgrabungsarbeiten begannen noch am gleichen Tag um 16.00 Uhr. Doch bereits nach zwei Stunden passierte etwas völlig Unerwartetes: Aus heiterem Himmel ergoss sich ein Wolkenbruch, die Ausgrabungsstätte wurde überflutet und Regenwasser drohte in die Grabkammer zu gelangen. Die ganze Nacht goss es in Strömen. Das Forschungsteam musste abziehen, nur die Bauarbeiter blieben zurück und mühten sich in der Nacht damit ab, einen Abflussgraben anzulegen. In der Zwischenzeit beriet sich das Ausgrabungsteam in einem Motel in der Innenstadt über Gegenmaßnahmen und beschloss, seine Arbeit am folgenden Tag fortzusetzen.

Aufgeregte Geschäftigkeit an der Ausgrabungsstätte Glücklicherweise hatte sich der Himmel am nächsten Tag völlig aufgeklärt, als sei nie

1 Im Grab von König Muryeong fanden sich die Schmuckornamente der Königskrone. Das aus einem Reingoldblatt geschnittene Design erinnert an züngelndes Feuer. Länge: 30,7cm. Breite: 14cm. Nationalschatz Nr. 154. Gongju National Museum. 2 Die Schmuckornamente der Krone der Königin wurden im Kopfteil ihres Sarges gefunden. Länge: 22,2cm. Breite: 13,4cm. Nationalschatz Nr. 155. National Museum of Korea. 3 Das Ausgrabungsteam bei der Durchführung eines einfachen Gedenkritus vor der Beseitigung der Ziegelwand, die den Eingang zum Grab von König Muryeong blockierte; 8. Juli 1971.

DIE IMMER NOCH BESCHÄMENDE, FEHLGELEITETE AUSGRABUNG Ji Gon-gil, der ehemalige Direktor des Koreanischen Nationalmuseums, bezeichnet die Zeit in den 1970er Jahren, als er in der alten Silla-Hauptstadt Gyeongju arbeitete, als goldene Zeit seiner archäologischen Karriere. Vor allem die von 1973 bis 1976 unternommenen Ausgrabungen des Cheonmachong-Grabs und des 3 Hwangnamdaechong-Grabs aus der Silla-Zeit sind wertvolle Erinnerungen, die er gerne heraufbeschwört. Während diese Ausgrabungen glorreiche Arbeiten für ihn waren, ist die Ausgrabung des Grabes von König Muryeong eine Quelle der „unauslöschlichen Peinlichkeit“. Ji, der zurzeit als Vorstandsvorsitzender der Stiftung für das Koreanische Kulturerbe im Ausland dient, schloss die Fakultät für Archäologie und Anthropologie der Seoul National University ab und begann im November 1968 im Amt für Kulturgüterverwaltung, dem heutigen Amt für Kulturerbeverwaltung, seine Beamtenund Kurator-Laufbahn. Am 7. Juli 1971 wurde er urplötzlich zusammen mit einigen Kollegen nach Gongju beordert. Dass in der Grabstätte Songsan-ri ein neues, höchstwahrscheinlich weiteres Baekje-Königsgrab entdeckt worden war und dass er für die Untersuchung zuständig sein sollte, erfuhr er erst vor Ort. „Niemand von uns wusste, was los war. Damals hatte man einfach den Anweisungen zu folgen. Als wir ankamen, wurden wir überrascht von einem gänzlich aus Ziegeln erbauten Grab, von dem nur der Eingang leicht zu sehen war“, sagte Ji. Auch wenn er als junger Forscher damals noch nicht in der Position war, etwas entscheiden zu können, bleibt es für ihn eine schmerzhafte Erinnerung, dass er als einer der Hauptzuständigen an einem Ausgrabungsprojekt beteiligt war, das als absurde, überhastete Ausgrabungsarbeit in die Geschichte der koreanischen Archäologie eingehen sollte. „Es mag wie eine Ausrede klingen, aber ich kann mich nur damit trösten, dass das damals leider das Niveau der koreanischen Archäologie war. Es mag ein gewisser Trost sein, dass der Fehler von damals eine so bittere Lehre war, dass alle späteren Ausgrabungsarbeiten sorgfältiger und mit höchstmöglicher Akkuratesse ausgeführt wurden.“ Für Ji gibt es aber noch mehr Bedauernswertes: Zu seinen Aufgaben gehörte nämlich auch die Fotodokumentation. Fotos sind primäre Belege für den Originalzustand einer Ausgrabungsstätte und der ursprünglichen Position der Relikte. Doch Ji produzierte fast keine verwertbaren Bildmaterialien. Der Großteil der wenigen Fotos, die von der Ausgrabungsstätte erhalten sind, stammen von Journalisten. Wie konnte es dazu kommen? „Im Grab habe ich natürlich fleißig fotografiert. Doch als ich den Film entwickelte, merkte ich, dass mit den Bildern etwas nicht stimmte. Ich hatte eine brandneue Kamera, mit der ich noch kaum vertraut war, zur Ausgrabungsstätte mitgenommen. Einige Aufnahmen waren nur zur Hälfte zu sehen, nur wenige taugliche konnten gerettet werden. Ich habe da einen gravierenden Fehler gemacht, der mein schlechtes Gewissen in Bezug auf diese Ausgrabung nur noch weiter verschlechtert.“

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23


1

1 Goldbronzene Schuhe, die im Fußbereich des königlichen Sargs gefunden wurden. Länge: 35cm. Gongju National Museum. 2 Eine der beiden Steinplatten, die in der Mitte des Zugangskorridors gefunden wurden, enthält die eingravierte Erklärung, dass das Land, auf dem die Grabstätte errichtet wurde, von den Göttern des Himmels und der Erde erworben worden sei. Es folgen Angaben zu Grabinhaber, Sterbedatum und Bestattungsdatum. Breite: 41,5cm. Länge: 35cm. Dicke: 5cm. Nationalschatz Nr. 163. Gongju National Museum. 3 Ein im Zugangskorridor gefundenes Wächtertier aus Stein. Länge: 47cm. Höhe: 30cm. Breite: 22cm. Nationalschatz Nr. 162. Gongju National Museum. 4 Besucher des Gongju Nationalmuseums bei der Besichtigung der Exponate, darunter die Holzsärge des Königspaares und das Wächtertier, die fast originalgetreu restauriert werden konnten.

24 KOREANA Sommer 2017

etwas gewesen. Am 8. Juli um 5 Uhr morgens gelang es dem Forschungsteam, die Vorderseite des gewölbten Korridors, der zur Grabkammer führte, komplett freizulegen. Zweifellos handelte es sich um ein weiteres Königsgrab aus der Baekje-Zeit. Um 16.00 Uhr wurde vor der Graböffnung für die Grabinhaber eine schlichte Gedenkzeremonie abgehalten. Danach begann man damit, die Ziegel, die den Eingang des Korridors versperrten, einen nach dem anderen zu entfernen. In dem Moment, als der dunkle Durchgang nach fast 1.500 Jahren zum ersten Mal wieder geöffnet wurde, entströmte dem Grabinneren ein weißer Schwaden kühler Zugluft wie von einer Auto-Klimaanlage im Hochsommer. Nachdem ein Durchgang groß genug für einen Menschen geschaffen worden war, betraten Forschungsteamleiter Kim Won-ryong und Museumsdirektor Kim Yeong-bae gemeinsam mit einer Glühlampe in der Hand das Grab. Der Durchgang war ein düsterer Tunnel, dessen Decke etwas zu niedrig für einen Menschen von Durchschnittsgröße war. Die von der Decke herunterhängenden Robinien-Wurzeln schufen eine Geisterhaus-Atmosphäre. Etwa auf halber Strecke stand ein bedrohlich wirkendes Steintier, das wie ein Eber mit einem Horn auf der Stirn aussah. Es schien das Grab zu schützen und böse Kräfte von außen abzuwehren. Am Ende des Durchgangs lag eine rechteckige Grabkammer mit gewölbter Decke. Sie war nicht besonders groß und der Boden schien mit etwas bedeckt zu sein, was im Dunkeln wie schmuddelige Holzbretter aussah. Der Holzsarg, der dem Zahn der Zeit nicht hatte widerstehen können, war in sich zusammengefallen. Durch die Spalten waren goldene Relikte zu sehen. Die beiden Archäologen, die sofort erkannten, dass das Grab nie von Räuberhand berührt worden war, vermochten ihren Augen kaum zu trauen: „Ein unbeschädigtes Baekje-Grab, dazu noch ein Königsgrab, haben wir entdeckt!“.

Wer ist der Grabinhaber? Ihre Euphorie wurde auf dem Rückweg durch den Tunnel durch einen weiteren Fund aufs Höchste gesteigert: Vor dem furchterregenden Steintier, das sie vorhin gesehen hatten, lagen noch zwei flache Steinplatten! Als sie das Lampenlicht darauf richteten, waren eingravierte Zeichen in klassischem Chinesisch mit folgender Bedeutung zu erkennen: „König Sama von Baekje, der große General von Yeongdong, der Frieden im Osten brachte“. Sama war zweifellos der Ehrentitel, den der Kaiser der Liang-Dynastie (502-557), einer der südlichen Dynastien Chinas, König Muryeong verliehen hatte. Kim Won-ryong erinnert sich an diesen Moment: „Mir drehte sich der Kopf.“. Kims extreme Euphorie, die Identität des Grabinhabers herausgefunden zu haben, benebelte seine Vernunft und Urteilskraft, was dazu führte, dass die Ausgrabungsarbeiten in einem in der Geschichte der Archäologie bis dahin nie vorgekommenem Maße überhastet und unkoordiniert durchgeführt wurden. Ein erfahrener Archäologe hätte zunächst einmal tief durchgeatmet, alle Ausgrabungsaktivitäten gestoppt und sich um die Erstellung eines langfristigen und detaillierten Arbeitsplans gekümmert. Doch Kim Won-ryong entschied sich bedauerlicherweise für eine sofortige Ausgrabung. Was sein Urteilsvermögen weiter eintrübte, war die aufgewühlte Stimmung, verursacht durch die Journalisten, die aus dem ganzen Land herbeigeströmt waren und vor dem Grab campierten, um über diese historische Ausgrabung zu berichten. So kam es, dass die Ausgrabungsarbeiten direkt nach der Identifizierung des Grabinhabers begannen und das Grab bereits am darauf folgenden Tag, dem 9. Juli, um acht Uhr morgens leergeräumt war. So kam es auch dazu, dass kaum dokumentiert wurde, welches Relikt an 2


welcher Stelle in welchem Zustand entdeckt wurde.

Baekjes Geschichte der Vergessenheit entrissen Die Ausgrabung der Grabstätte von König Muryeong erfolgte dermaßen übereilt und unsystematisch, dass Grabräuber am Werk hätten gewesen sein können. Seitdem ist sie in der koreanischen Archäologiewelt wiederholt Gegenstand der Kritik und selbstkritischen Haderns gewesen. Das Resultat der Ausgrabung war nichtsdestoweniger unvergleichlich: Von den 115 Herrschern aus der Zeit der Drei Königreiche und der daran anschließenden Zeit des Vereinten Silla-Reichs – also unter den 31 Königen von Baekje, den 28 Königen von Goguryeo und den 56 Königen von Silla, das die drei Reiche vereinte – konnte bislang nur die Grabstätte von König Muryeong identifiziert werden. Die Entdeckung des Grabs von König Muryeong hat außerdem nicht zuletzt die Geschichte von Baekje aus dem Dunkel des Vergessens gerettet. Die Baekje-Zeit war bis dahin aufgrund des Mangels an schriftlichen Aufzeichnungen „Terra incognita“ in der koreanischen Frühgeschichte gewesen, aber die Relikte aus dem Grab von König Muryeong gaben unter verschiedenen Blickwinkeln Aufschluss über die Geschichte von Baekje. Einer der beiden Gedenksteine, auf dem zu lesen ist, dass der König und seine Gemahlin in Erde bestattet wurden, die sie von den Göttern erstanden hatten, bot Einblick in die ehrfürchtige Bestattungskultur des Baekje-Volkes. Die Grabstätte von König Muryeong brachte 2.906 Relikte von 108 Arten hervor, darunter auch eindeutig aus China importierte Gegenstände. Die Spezies-Analyse ergab zudem, dass die Holzsärge des Königs und seiner Gemahlin aus dem Holz der nur in Japan beheimateten Schirmtanne gefertigt waren. Das belegt, dass Baekje über Seehandel einen regen kulturellen und materiellen Austausch mit seinen beiden Nachbarländern unterhielt und dass der Baekje-Hof enge Beziehungen zu Japan pflegte.

3

4

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 25


SPEZIAL 4 Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Königreichs

GOLDBRONZENES RÄUCHERGEFÄSS VERKÖRPERUNG DER IDEALEN WELT DER MENSCHEN VON BAEKJE Größe und Schönheit des Goldbronzenen Räuchergefäßes aus der Baekje-Zeit faszinieren den Betrachter. Im Buyeo Nationalmuseum bleiben die Besucher davor stehen und versinken in Gedanken. Die verschiedenen von Meisterhand gefertigten ikonographischen Motive beflügeln die Fantasie und entführen den Betrachter auf eine Reise in die ideelle Welt des Baekje-Volkes vor 1.400 Jahren. Kim Jeong-wan Archäologe, ehemaliger Generaldirektor des Daegu National Museum

E

in Drache mit einer Vorderpfote in der Luft stützt mit seinem Maul eine aufbrechende Lotusblüte. Über der Blüte erhebt sich ein imaginäres taoistisches Paradies mit zahlreichen zerklüfteten Berggipfeln, gekrönt von einer Figur des phönixartigen Wundervogels Bonghwang mit weit ausgebreiteten Schwingen. Der drachenförmige Fuß, die lotusförmige Schale und der Bonghwang-geschmückte Deckel mit seinen elaboriert ausgestalteten, übereinander liegenden Bergketten sind von meisterhafter Schönheit. Ist der Deckel geschlossen, laufen an der Verschlussstelle von Schale und Deckel zwei Leisten mit Geißblatt-Dekor parallel.

Räuchergefäß für die Seele des verstorbenen Königs Als Sabi (die heutige Stadt Buyeo in der Provinz Chungcheongnam-do) die Hauptstadt von Baekje war (538-660), errichtete es zum Schutz der Stadt eine äußere Festungsmauer entlang der umliegenden Hügel und Berge. In Neungsan-ri, direkt vor der Stelle, an der das östliche Stadttor der Festungsmauer gestanden haben wird, befindet sich eine Ansammlung von Gräbern, in denen die Mitglieder der Königsfamilie von Baekje ruhen dürften. Der schmale Streifen Land zwischen 26 KOREANA Sommer 2017

der Stadtmauer und den Königsgrabstätten, der unten von einem Sumpfgebiet und oben von Reisfeld-Terrassen begrenzt wird, wurde 1993 im Zuge von Voruntersuchungen und Ausgrabungen zur Instandsetzung des Baekje-Kulturgebiets aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Bei den Freilegungsarbeiten kamen die Überreste einer buddhistischen Tempelanlage im typischen Baekje-Stil zum Vorschein, also Mitteltor, Holzpagode, Haupthalle und Hörsaal in einer Reihe von Süden nach Norden ausgerichtet und jeweils von Korridoren umgeben. Das Goldbronzene Räuchergefäß von Baekje, die Quintessenz des kunsthandwerklichen Könnens des alten Reiches, wurde in der im hinteren Tempelbereich gelegenen Schmiedewerkstatt entdeckt. Die Schmiede schien heruntergebrannt zu sein, der vordere Bereich war mit Ziegeln des eingestürzten Daches bedeckt. In der Mitte von zwei der drei Werkstatträume wurden ovale Erdhaufen gefunden, die wohl durch die hohe Temperatur der Esse angekohlt und hart geworden waren. Das Räuchergefäß wurde im mittleren Raum auf dem Boden einer Lache entdeckt, an deren Stelle sich einst ein hölzernes Wasserbecken befunden haben dürfte. Das Räuchergefäß, dessen Deckel sich etwas versetzt vom Körper befand, war bedeckt von verschiedenen Tongefäßen, Dach-

ziegelscherben, kleinen, goldbronzenen Gegenständen und anderen Objekten. Es scheint, dass das Räuchergefäß in aller Eile in dem Wasserbehälter versteckt und zur Tarnung mit allerlei Gegenständen bedeckt wurde. Danach brannte wohl das ganze Gebäude nieder. Erstaunlicherweise blieb der Weihrauchbrenner völlig unbeschädigt und wies auch nach fast 1.400 Jahren keinerlei Korrosionsspuren auf. Er lag rund vier Meter unter der jetzigen Erdoberfläche im Wasser, völlig abgeblockt von Sauerstoff und kaum beeinflusst von äußerlichen Temperaturveränderungen. Mit dem Fortschreiten der Ausgrabungsarbeiten kam die Geschichte hinter dem Tempel ans Licht, als am Standort einer Holzpagode die Hauptsäule mitsamt Steinsockel sowie ein steinernes Sari-Reliquiar (Nationalschatz Nr. 288) gefunden wurden. An den beiden Seiten des oben bogenförmig gewölbten Reliquiars finden sich 20 Zeichen in klassischem Chinesisch mit folgender Bedeutung: „Der Sari-Schrein ist eine im 13. Regierungsjahr von König Chang (posthumer Titel: König Wideok; reg. 554-598) dargebrachte Opfergabe seiner Schwester, der Prinzessin.“ König Chang war der 27. König des Baekje-Reichs und Sohn des mächtigen Königs Seong (reg. 523-554). Als Baekje 554 die Silla-Festung Gwansan-seong angriff,


2

1 Das Goldbronzene Weihrauchgefäß von Baekje, ein exquisites Artefakt in Form eines Drachen, der eine Lotusblüte auf seinem Maul stützt, wurde 1993 in einer Tempelstätte in der Nähe der königlichen Tumuli in Neungsan-ri in Buyeo ausgegraben. Höhe: 61,8cm. Gewicht: 11,8kg. Nationalschatz Nr. 287. Buyeo National Museum. 2 Der Wundervogel Bonghwang, eine Art Phönix, sitzt mit ausgebreiteten Flügeln auf der Spitze des Deckels. Auf beiden Seiten der Vogelbrust befinden sich Rauchabzugslöcher.

begab sich König Seong aufs Schlachtfeld, um seinen Sohn zu retten, fiel auf dem Weg jedoch einem Angriff aus dem Hinterhalt zum Opfer. Die Lage des Tempels auf dem schmalen Sumpfstreifen neben den königlichen Gräbern vor den Mauern der Festung Na-seong und die Inschrift auf dem Steinreliquiar beweisen zusammen mit den historischen Fakten, dass es sich bei dem Tempel nicht um ein Kloster für buddhistische Übungen, sondern um einen Grabtempel für das Seelenheil des im Kriege gefallenen Königs handelte, und dass das ausgegrabene Räuchergefäß dort als Ritualgegenstand verwendet wurde

1

© Buyeo National Museum

Stil und Dekor Das Räuchergefäß wurde aus Bronze, einer Legierung aus Kupfer und Zinn, gegossen und anschließend mit Gold amalgamiert. Die verschlungene Form mit ihren Tausend elaborierten Krümmungen muss durch das Wachsausschmelzverfahren geschafKOREANISCHE KULTUR UND KUNST 27


Die Lage des Tempels auf dem schmalen Sumpfstreifen neben den königlichen Gräbern vor den Mauern der Festung Na-seong und die Inschrift auf dem Steinreliquiar beweisen zusammen mit den historischen Fakten, dass es sich bei dem Tempel nicht um einen Kloster für buddhistische Übungen, sondern um einen Grabtempel für das Seelenheil des im Kriege gefallenen Königs handelte, und dass das ausgegrabene Räuchergefäß dort als Ritualgegenstand verwendet wurde.

fen worden sein. Dabei wird das gewünschte Objekt zunächst aus Wachs modelliert und mit einer Einbettmasse aus Sand ummantelt. Durch Zuführung von Hitze wird die Einbettmasse erhärtet und gleichzeitig das Wachs herausgeschmolzen. In die so entstandenen Hohlräume wird Flüssigmetall gegossen. Nachdem das Metall erstarrt ist, wird die Form zerschlagen, um den Rohguss zu entnehmen. Eine Analyse der Metallkomponenten des Räuchergefäßes ergab, dass der Guss aus 81,3% Kupfer und 14,3% Zinn besteht und im Zinn kleinere Unreinheiten wie Blei, Silber, Nickel, Kobalt und Arsen enthalten sind. Der Innenraum des Räuchergefäßes ist so strukturiert, dass der Rauch durch die Kugel unter dem Bonghwang-Wundervogel aufsteigt, sich seinen Weg durch den Durchgang zwischen den beiden Füßen des Vogels sucht, um dann durch die kleinen Löcher an den beiden Seiten der Vogelbrust herauszutreten. Unter dem Kinn des Wundervogels befindet sich ein Chintama28 KOREANA Sommer 2017

ni, ein Wunschjuwel, dem im Buddhismus magische Kräfte nachgesagt werden. Er verstärkt die Struktur des Räuchergefäßes bei Beibehaltung der optischen Schönheit. Rauch entweicht auch durch zehn weitere Löcher, die in gleichmäßigen Abständen im Deckel mit seinen zerklüfteten Bergmassiven eingelassen sind. Anders als die beiden Löcher in der Brust des Vogels weisen diese zehn Löcher vergleichsweise raue Ränder auf. Man vermutet, dass die Löcher ursprünglich kleiner und glatter waren, aber später per Hand vergrößert wurden, um den Rauch freier und dichter entströmen zu lassen. Auf dem Deckel des Räuchergefäßes finden sich zwischen den kleinen und großen Gipfeln der einander überlappenden Bergmassive Reliefs mit Darstellungen von Tieren, Pflanzen und Menschen. Schaut man genau hin, entdeckt man, dass eine Figur aufrecht auf einem Felsen sitzend meditiert, eine andere durch den Wald streift, eine hoch zu Pferde einen Pfeil nach hin-

ten abschießt, eine sich die Haare an einem Wasserfall wäscht, eine mit einem Gehstock läuft, während eine andere ihr, sich zum Abschied verbeugend, nachblickt, eine auf einem Felsen am See sitzend angelt, und wieder andere auf Elefanten, Pferden usw. reiten. Einige der 39 Tiere wie Bär, Tiger, Vogel, Hirsch, Schlange, Wildschwein u.a. sind reale Tiere, bei anderen handelt es sich um Fabelwesen. Zwischen den Berggipfeln finden sich auch Felsen, Bäume, Bäche, Wasserfälle und Seen. Der Hauptteil des Räuchergefäßes ist mit einer dreifachen Schicht von Lotusblättern geschmückt, zwischen denen Fischfresser wie z.B. Wasservögel zu finden sind. Da hauptsächlich Tiere, die im oder am Wasser leben abgebildet sind, dürfte es sich um eine Darstellung des taoistischen Unterwasserparadieses handeln. Der halbkugelförmige Hauptkörper und das drachenförmige Fußstück sind durch ein säulenartiges Halsstück im Maul des Drachen miteinander verbunden, das wie-


Fünf Musikanten, die fünf verschiedene Instrumente spielen, sitzen zwischen den sich überlappenden Berggipfeln im oberen Teil des Deckels.

derum mit dem durch die Mitte des Hauptkörpers führenden Rohr verbunden ist. Röntgenaufnahmen haben ergeben, dass der Hauptkörper, das Rohr und der Drache mit dem rohrförmigen Halsstück im Mund getrennt gegossen und anschließend aneinandergefügt wurden. Auch der Deckel, der darauf thronende Wundervogel und das Juwel unter seinem Kinn wurden einzeln gegossen und dann zusammengefügt. Der Standfuß ist besonders raffiniert: Ein Drache, ein Bein in die Luft gereckt, presst seine anderen drei Beine, die das Räuchergefäß stützen, auf den Boden. Den Boden berühren jedoch nur die drei Fußknöchelteile, die wiederum ein gleichseitiges Dreieck bilden, was dem Räuchergefäß hohe strukturelle Stabilität verleiht. Der Raum zwischen Beinen und Körper des Drachen ist mit einem Design aus Wellen, Wolken und Lotusblüten gefüllt, was die Stabilität weiter verstärkt und den dynamischen Eindruck eines sich aus einem lotusgeschmückten Meer gen Himmel aufschwingenden Drachen vermittelt. Die symbolischen Bezüge der einzelnen Teile sind bis heute Gegenstand der Analyse und Interpretation. Viele Forscher gehen davon aus, dass das Sortiment der Tiere eine mythische Welt repräsentiert, wie sie sich die Menschen in Ostasien in der Antike vorstellten. Man vermutet zudem einen Zusammenhang mit den Kreaturen

der chinesischen Mythographie und den Beschreibungen im Klassiker der Berge und Meere (Shanhai jing) , einem chinesischen Buch über Mythologie und Geographie aus dem 4. Jh. v.Chr. Eine weitere vorherrschende Ansicht ist, dass der mit einem Phönix vergleichbare mythische Wundervogel Bonghwang und die fünf Wildgänse-artigen Vögel, die jeweils auf einem anderen Berggipfel sitzend die Gegend einrahmen, die antike, in ganz Ostasien verbreitete chinesische Kosmologie, repräsentiert durch den Himmelsherrscher und die Fünf Urkaiser, widerspiegeln.

Vorstellungswelt Der Aufbau des Baekje-Räuchergefäßes verkörpert buddhistisches und taoistisches Gedankengut. Da dieses zeremonielle Räuchergefäß auf einem Tempelgelände aus der Sabi-Zeit, der Blütezeit des Buddhismus in Korea, entdeckt wurde, steht die Beziehung zum Buddhismus außer Frage. Aber auch der Zusammenhang mit der taoistischen Theorie von Yin und Yang sowie den Fünf Elementen ist augenscheinlich: Dafür sprechen die Anordnung von Bongwang-Wundervogel (Symbol für Yang) als Spitze und Drache (Symbol für Yin) als Fuß, sowie die fünf Vögel, die fünf Musiker und die fünfschichtigen Bergmassive mit jeweils fünf Hauptgipfeln. Auch der Deckel mit der Darstellung des Berges

Bo (Boshan: Universeller Berg; China), der paradiesischen Heimstätte der Unsterblichen, die sich der chinesischen Legende zufolge mitten aus dem Meer erheben soll, spricht für den Einfluss des Taoismus. Das heißt zugleich, dass in der königlichen Familie und unter den Adligen, die das Räuchergefäß fertigen ließen und nutzten, nicht nur der Buddhismus, sondern auch der Taoismus weit verbreitet war. Einige der Hauptelemente des Räuchergefäßes wie z.B. der drachenförmige Fuß, der mit Bergreliefs dekorierte Deckel und der Bongwang-Wundervogel auf der Spitze stehen offensichtlich in der Tradition des chinesischen Duftrauchbrenners Boshanlu aus der Han-Dynastie (206-220). Doch die Bronze-Weihrauchbrenner, die sich ebenfalls unter den Relikten von Lelang (108 v.Chr.-313 n.Chr.), einer Han-Kommandantur im nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel, fanden, erschienen erstmals zu Beginn der Westlichen-Han-Zeit (206 v.Chr.-9 n.Chr.), um in der anschließenden Sui-Zeit (581-617) und Tang-Zeit (618907) an Beliebtheit zu verlieren. Sowohl der zeitliche Abstand zum Zeitpunkt der Fertigung als auch die Größe und die exquisitere Konstruktion des Baekje-Räuchergefäßes machen einen direkten Zusammenhang mit der chinesischen Duftrauchbrenner-Tradition unwahrscheinlich. Das bedeutet aber nicht, dass die ikonografischen Darstellungen auf dem Räuchergefäß nur in der Baekje-Tradition stünden, da sich einige der Motive z.B. im bereits erwähnten chinesischen Klassiker der Berge und Meere finden. Auch die Wandmalereien der Yungang-Grotten, der auf das 5. Jahrhundert datierten chinesischen Kulturerbestätte der Nördlichen Wei-Dynastie (386-534), weisen ähnliche Motive auf. Daraus ist zu schließen, dass die ikonografischen Elemente des Baekje-Weihrauchgefäßes im Ostasien der Zeit weit bekannt waren. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 29


SPEZIAL 5 Baekje: Auf der Suche nach Spuren des verlorenen Königreichs

DAS BAEKJE-VOLK IN JAPAN Das Königreich Baekje übernahm die fortgeschrittene chinesische Kultur und Technologien und brachte auf dieser Basis eine eigenständige, originäre Kultur zur Blüte, die es dann im Zuge der „Kulturdiplomatie“ an die Nachbarländer weitergab. Insbesondere mit Japan unterhielt es freundschaftliche Beziehungen, indem es als Gegenleistung für militärischen Beistand Errungenschaften der kontinentalen Zivilisation und Technologie weitergab. Auf dem Japanischen Archipel finden sich bis heute vielerorts noch zahlreiche Spuren dieser engen Beziehungen. Ha Jong-moon Professor für Japanstudien, Hanshin University Fotos Ahn Hong-beom

1

1 Der Kudara Kannon (Anfang bis Mitte 7.Jh.), auch bekannt als Avalokiteshvara Boddhisattva von Baekje, eingeschreint im Schatzhaus des Tempels Horyu-ji in Nara, gehört zu den bekanntesten Kulturschätzen Japans. Die graziöse, aus vergoldetem Kampferholz gefertigte Statue ist 209cm groß. Baekjes kunsthandwerkliche Meisterschaft ist deutlich zu sehen in der einzigartigen Mandorla, dem Durchbruchdekor der Krone, der glatten Linienführung von Schulter und Taille und den zarten Gesichtszügen. 2 Kudarao-jinja (Baekjekönig-Schrein) in Hirakata, Präfektur Osaka. Im 8. Jh. bauten die Nachfahren des letzten Baekje-Königs, die sich in Süd-Osaka niedergelassen hatten, Kudara-ji (Baekje-Tempel), einen großen Tempel, in dem die Ahnentafeln der Baekje-Könige eingeschreint waren. Der Tempel brannte nieder. 2002 wurde der Clan-Schrein neu errichtet. © SHOGAKUKAN


2

A

m 4. Oktober 663 sollte die letzte Schlacht, die das Schicksal des sieben Jahrhunderte alten Baekje-Königreichs besiegeln würde, am Unterlauf des Flusses Geum-gang geschlagen werden. Die Baekje-Hauptstadt Sabi (das heutige Buyeo) war bereits in Feindeshand und König Uija ergab sich im Jahr 660, jedoch kam es weiterhin in vielen Regionen zu verzweifelten letzten Scharmützeln. Die Kräfte, die das Baekje-Reich wiederherstellen wollten, forderten von ihrem Bündnispartner Japan (damals „Wa“ genannt) Truppenverstärkung an. Daraufhin schickte Japan in zwei Kontingenten insgesamt über 40.000 Soldaten nach Baekje. Zwei Tage lang lieferten sich die Baekje-Wa-Truppen und die vereinten Streitkräfte von Silla und Tang-China heftige Kämpfe zu Wasser und zu Lande, die als der größte Regionalkonflikt im antiken Ostasien bezeichnet werden können. Am Ende errang die Silla-Tang-Allianz den Sieg. Unter den Drei Königreichen war Baekje zwar das kulturell entwickelteste und außendiplomatisch geschickteste, nichtsdestoweniger konnte es seinem tragischen Ende nicht entgehen. In gewisser Hinsicht waren die von Japan entsandten Hilfstruppen das letzte deutliche Zeugnis für Baekjes starken internationalen Charakter. Die engen Beziehungen zu Japan setzten sich auch nach dem

Zusammenbruch des Baekje-Reichs fort. 815 wurden die Neubearbeiteten Aufzeichnungen zu erblichen Standestiteln und Sippen (Shinsen Shōjiroku), eine im Auftrag des Tenno verfasste Kompilation der Genealogien des Adels, fertiggestellt. Demzufolge soll ein Drittel aller Adligen Einwanderer gewesen sein, größtenteils mit Baekje-Vorfahren. Das alte Japan entwickelte seine Kultur und legte die Grundlagen als Reich nicht zuletzt durch den Austausch mit Baekje. Selbst noch im frühen 9. Jh. stellten die Nachfahren der einstigen Baekje-Immigranten einen beachtlichen Teil der herrschenden Schicht Japans.

Drei Massenauswanderungen Es gab drei große Baekje-Auswandererströme nach Japan. Der erste erfolgte ab Mitte des 4. Jhs im Zuge der anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Königreichen Baekje und Goguryeo. Zur Stärkung seiner Wehrkraft war Baekje aktiv um engere Beziehungen zu seinem Nachbarn bemüht und entsandte zwei Gelehrte nach Japan. Der erste war Ajikgi („Achiki“ auf Japanisch), der zwei Pferde mitnahm und zunächst Reitkunst unterrichtete. Als bekannt wurde, dass er sehr vertraut mit den konfuzianischen Klassikern war, wurde er Lehrer des japanischen Kronprinzen. Auf Empfehlung von Ajikgi folgte der HochKOREANISCHE KULTUR UND KUNST 31


gelehrte Wangin („Wani“ auf Japanisch), der in Japan mit dem Tausend-Zeichen-Klassiker sowie den Analekten des Konfuzius die Standardwerke zur chinesischen Schrift und konfuzianischen Lehre einführte. Wangins Nachkommen dienten über Generationen hinweg am japanischen Hof, wo sie für Dokumentationen, Rechnungssowie Finanzwesen zuständig waren. Nachdem Wiryeseong, die erste, später als Hanseong bekannte Hauptstadt von Baekje, 475 an das erstarkte Goguryeo-Reich fiel, verlegte Baekje seine Hauptstadt weiter nach Süden nach Ungjin (das heutige Gongju), was von einer zweiten Massenauswanderung begleitet wurde. Die Bedrohung durch Goguryeo ließ Baekje nach festeren Bündnisbeziehungen mit Japan streben. Als Gegenleistung für militärische Unterstützung entsandte es eine große Zahl von Fachkundigen mit fortgeschrittenem Wissen auf kulturellen und technischen Gebieten nach Japan. Der Austausch mit Japan florierte v.a. unter der Herrschaft von König Muryeong (reg. 501523) und König Seong (reg. 523-554). Zu dieser Zeit, als der Buddhismus in Japan eingeführt wurde, schickte Baekje mit neuesten Techniken und Kenntnissen ausgerüstete Meister ihres Faches, darunter auch buddhistische Architekten und Künstler. Ihrem Wirken ist es zum großen Teil zu verdanken, dass über die Konföderation mächtiger lokaler Clanfamilien hinaus die Grundlagen für eine zentralisierte Regierung gelegt werden konnten und die buddhisti-

sche Kultur in der Asuka-Zeit (538-710) aufblühte. Die Mutter von Tenno Kammu (reg. 781-806), der Ende des 8. Jhs die Hauptstadt von Nara nach Heian-kyo (das heutige Kyoto) verlegte und damit die Heian-Zeit einläutete, war eine Nachfahrin von Baekje-König Muryeong. Es erregte weltweite Aufmerksamkeit, als der japanische Kaiser Akihito 2001 diesen Tatbestand öffentlich erwähnte. Nach dem Fall von Baekje überquerten Mitglieder der königlichen Familie und der herrschenden Klasse en masse das Meer nach Japan, um sich dort niederzulassen. Laut einer auf 663 datierten Aufzeichnung aus der japanischen Chronik Nihonshoki sollen sie, als sie an Bord des Schiffes nach Japan gingen, wehgeklagt haben: „Dem Namen nach existiert Baekje ab heute nicht mehr. Werden wir jemals wieder die Grabstätten unserer Vorfahren besuchen können?“ Nach historischen Aufzeichnungen sollen es über 3.000 Menschen gewesen sein, darunter auch rund 60 hochrangige Beamte. Im späten 7. Jh., als Japan den Übergang zu einer zentralisierten Herrschaftsstruktur grundlegend auf den Weg brachte, spielten die Einwanderer aus Baekje, die zentrale Regierungsposten in Technik- und Kultur-bezogenen Bereichen innehatten, eine wichtige, von der Geschichte gewürdigte Rolle.

Baekje-Buddhismus und Asuka-Kultur Der Buddhismus wurde durch ins Chinesische übersetzte bud-

1

32 KOREANA Sommer 2017


dhistische Schriften in den Drei Königreichen auf der koreanischen Halbinsel viel früher als in Japan eingeführt. In allen drei Reichen diente der Buddhismus als Impuls für politische Einheit, Konsolidierung der königlichen Autorität und kulturellen Fortschritt. Dasselbe gilt für Japan. Aus historischen Aufzeichnungen der chinesischen Sui-Dynastie (581–618) geht hervor, dass Schreiben und Schrift an sich in Japan durch buddhistischen Schriften aus Baekje bekannt gemacht wurden. König Seong sandte Mitte des 6. Jhs erstmals Buddhastatuen und Sutren nach Japan und unterstützte danach die Verbreitung des Buddhismus bis zu seiner Etablierung großzügig durch die Entsendung von Humanressourcen. Für die Errichtung des Asuka-dera, des ältesten, japanischen Tempels, wurden nicht nur Mönche, sondern auch Architekten und Maler nach Japan geschickt. Es heißt, dass bei der Fertigstellung des Tempels rund einhundert in Baekje-Roben gekleidete Hofleute von Rang und Namen gejubelt haben sollen. Der frühe Buddhismus in Japan entwickelte sich mit der Asuka-Kultur im Mittelpunkt auf Basis der engen Beziehungen zu Baekje. Baekje hatte in seinen diplomatischen Beziehungen zu Japan die chinesischen Schriftzeichen und den Buddhismus rege genutzt. Es fungierte auch als „Kulturkanal“ zwischen China und Japan. Ein Beispiel dafür ist die Garang Binyeo, eine U-förmige Schmuck-Haarnadel aus Metall. Dieser Haarnadel-Typ, der in

2

1 Die mutmaßliche letzte Ruhestätte von Wangin (in Japan als „Wani“ bekannt) in Hirakata, Präfektur Osaka. Wangin, ein herausragender Gelehrter, der vermutlich Mitte des 4. Jhs aus Baekje einwanderte, soll die chinesische Schrift in Japan eingeführt haben. Es heißt, dass seine Nachfahren am japanischen Hof in verschiedenen zivilen Verwaltungsbereichen gedient haben. 2 Die Kudara Brücke (Baekje-Brücke) in Higashisumiyoshi-ku, Süd-Osaka, belegt die bis in 7. Jh. zurückgehenden Verbindungen zwischen dieser japanischen Region und dem alten Baekje-Königreich. Der Familienname „Kudara (Baekje)“ ist in dieser Region, in der es bis heute eine große koreanischstämmige Gemeinde gibt, häufig als Bestandteil von Namen für Bahnhöfe, Brücken, Schulen usw. zu finden.

China in Gräbern, die aus dem 3. Jh. und danach stammen, entdeckt wurde, dürfte über Baekje nach Japan gekommen sein. Denn solche Haarnadeln wurden oft in der japanischen Region Kansai (Umgebung von Kyoto, Osaka, Kobe) gefunden, und zwar als Beigaben in Gräbern im Baekje-Stil. Die Einwanderer aus Baekje haben damit gewissermaßen auch die neuesten ostasiatischen Modetrends in Japan vorgestellt.

Lächeln der buddhistischen Zwillingsstatuen Wie schon gesagt, verschwand das Baekje-Königreich auf der koreanischen Halbinsel, als die Versuche zu seiner Wiederherstellung scheiterten. Aber das Erbe dieses kulturstarken Reiches wurde in Japan wiederbelebt. Der Tempel Todai-ji im japanischen Nara, bei dem sich Spuren des Einflusses von Baekje ausmachen lassen, ist eine Schatzkammer der buddhistischen Kultur, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Es ist bekannt, dass die berühmte Statue des Großen Buddha, einer der im Tempel Todai-ji untergebrachten Nationalschätze, vom Enkelsohn eines Baekje-Einwanderers gefertigt wurde, der nach dem Zusammenbruch des Reiches nach Japan flüchtete. Die Nachkommen der königlichen Familie von Baekje erschlossen eine Goldmine und spendeten das Gold für diese Statue. So lebte das Wesen der von Baekje gepflegten buddhistischen Kultur in Japan weiter. Unter den Baekje-Einwanderern gab es zwei mächtige Clans. Der eine war der Aya-Clan, der sich in Kinai, der Hauptstadtregion in der Nähe der Präfekturen Osaka und Nara niederließ. Die meisten von ihnen waren Handwerker wie Schmiede oder beschäftigten sich mit der Herstellung von Pferdegeschirr, Seidenzeug oder Tonwaren. Der zweite namhafte Clan war der Hata-Clan, der eine der größten Einwanderergruppen aus Baekje stellte. Sie ließen sich nördlich von Kinai in der Kyoto-Präfektur und den umliegenden Gebieten nieder und beschäftigten sich mit Seidenzucht, Tuchweberei und Wasserkontrolle. Die Nachkommen des Hata-Urclans teilten sich in verschiedene Unterclane. Tsutomu Hata, der 1994 der 80. Premierminister von Japan wurde, ist ein Nachfahre des HataClans. Koryu-ji, der 603 im nördlichen Kyoto errichtete buddhistische Tempel, gehörte ursprünglich dem Hata-Clan. Er beherbergt sechs als Nationalschätze registrierte Buddhastatuen. Die herausragendste davon ist der der Holz-Bodhisattva in nachdenklicher Haltung. Der Anblick dieses in tiefer Kontemplation über das Leiden des Menschen versunkenen Bodhisattva hat seit jeher unzählige Betrachter gefesselt. Der Philosoph Karl Jaspers lobte ihn als „ein authentisches Abbild des höchsten Ausdrucks der menschlichen Natur“. Eine fast identische Zwillingsstatue, der Goldbronzene Bodhisattva in nachdenklicher Haltung (Koreanischer Nationalschatz Nr. 83), ist im Koreanischen Nationalmuseum zu sehen. Die beiden Statuen, insbesondere ihr Lächeln, ist verblüffend ähnlich, und in beiden Fällen ist der Bildhauermeister unbekannt, weshalb die Kontroverse, ob die Meister aus Baekje oder Silla stammen, weiter KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 33


anhält. Doch egal, welcher Ort der Ursprungsort ist: Das tiefgründige Lächeln der beiden Bodhisattvas vermittelt eine Botschaft der Rettung aller Menschen über Baekje, Silla oder Japan hinaus.

Auf den Spuren von Baekje Die Spuren, die Baekje in Japan hinterlassen hat, finden sich überall in der Kansai-Region. Unsere Reise auf der Suche nach Überresten von Baekje beginnt in dem Moment, in dem wir den Internationalen Flughafen Kansai, das Tor zum Westen Japans, verlassen. Die erste Station ist Osaka, die zweitgrößte Stadt Japans. Prinz Seongwang, der Sohn von König Uija, Baekjes letztem Herrscher, verbrachte nach dem Zusammenbruch des Königreichs den Rest seines Lebens in Japan. Er erhielt vom Kaiser den Familiennamen „Kudara no Konikishi (König von Baekje)“. Zusammen mit anderen Nachkommen der königlichen Familie ließ er sich im Kreis Baekje im Süden Osakas nieder, wo bereits Baekje-Einwanderer lebten. Dieses Stadtgebiet entspricht heute dem Bezirk Ikuno, wo nach wie vor ein Großteil der Japan-Koreaner lebt. Deshalb findet man hier auch viele Bahnhöfe, Brücken und Grundschulen mit „Baekje“ als Namensbestandteil. Erst in der Generation des Urenkels Keifuku verlegte der Kudara-Clan (Baekje-Clan) seinen Hauptwohnsitz nach Hirakata in der nördlichen Osaka-Präfektur. Es war auch Keifuku, oder „Gyeongbok“ auf Koreanisch, der das Gold für die Statue des Großen Buddha im Tempel Todai-ji in Nara spendete. Er errichtete auch Kudara-ji, einen großen Tempel für den Baekje-Clan, der aber durch ein Feuer zerstört wurde. Auf dem ehemaligen Tempelgelände befindet sich heute ein Park. Bis heute erhalten ist der in der Nähe des Tempelgeländes gelegene Kudarao-jinja (Baekjekönig-Schrein), der etwa um die gleiche Zeit wie der Tempel erbaut und später neu errichtet wurde. Die nächste Station lautet Nara. In Asuka, einem Dorf etwas weiter südlich, liegt der Tempel Asuka-dera, dort finden sich jedoch kaum noch Spuren von Baekje, denn mit der Verlegung der Hauptstadt musste auch der Tempel nach Nara umziehen, wo er in „Gango-ji“ umbenannt wurde. In der Nara-Zeit (710-794) gehörte er zusam-

1

34 KOREANA Sommer 2017

men mit Todai-ji und Kofuku-ji zu den sieben großen Tempeln von Nara, verlor aber ab Ende des Mittelalters an Bedeutung. Die Dachziegel der Haupthalle, ein Nationalschatz, verdienen einen genaueren Blick, da einige von Baekje-Handwerkern gebrannte Ziegel aus der Asuka-Zeit noch erhalten sind. Nach der Besichtigung des Todai-ji Tempels in der Nähe von Gango-ji folgt der Tempel Horyu-ji. Auf dem weitläufigen Tempelgelände befinden sich unzählige Nationalschätze, doch wer den lebendigen Atem von Baekje spüren möchte, darf sich den Kudara Kannon (Baekje-Avalokiteshvara) nicht entgehen lassen. Mit über zwei Metern Höhe ist diese Holzskulptur ein Meisterwerk, das die Ästhetik des menschlichen Körpers zum Ausdruck bringt und schon seit langem eine Quelle künstlerischer Inspiration ist. 1997 wurde die Statue im Rahmen des französisch-japanischen Austausches von Nationalschätzen im Louvre ausgestellt. Es geht weiter mit dem Zug nach Kyoto, also Richtung Norden. Oft wird gesagt, dass man nicht behaupten könne, Kyoto gesehen zu haben, ohne den Tempel Kiyomizu-dera gesehen zu haben, der ebenfalls mit Baekje in Verbindung steht. Die Haupthalle, ein Nationalschatz, ist ein Umbau des Hauses von Sakanoue no Tamuramaro, einem General, der zur Zeit der Herrschaft von Tenno Kammu die Region Tohoku eroberte und als sagenhafter Held verehrt wurde. Der Sakanoue-Clan stammt, wie gesagt, vom Aya-Clan ab. Zu der Zeit, als des Kaisers Verwandte mütterlicherseits Nachkommen der Baekje-Königsfamilie waren, besetzten die Mitglieder des Baekjekönig-Clans Schlüsselpositionen im Militär und spielten eine wichtige Rolle bei der Einläutung der Heian-Zeit (794–1185) und der Erschließung einer neuen Zukunft für Japan. Als Letztes spazieren wir in der Kyotoer Innenstadt gegen den Uhrzeigersinn herum und schauen im Tempel Koryu-ji vorbei. Hier erwarten uns verschiedene antike Buddhastatuen, darunter auch der Holz-Bodhisattva in nachdenklicher Haltung. Wir bewundern diesen Inbegriff buddhistischer Kultur und sinnieren einen Moment über das Leid der Einwanderer, die ihr Land verloren hatten.

Wünsche für die Zukunft Mit dem Ende der Allianz zwischen Baekje und Japan lösten sich auch die engen Bande zwischen der koreanischen Halbinsel und dem Japanischen Archipel, was seitdem dunkle Schatten über die Beziehungen zwischen Korea und Japan wirft. Als Japan Ende des 16. Jhs ins Königreich Joseon einfiel, waren enorme Verluste an Menschenleben und Sachwerten zu beklagen. 1910 annektierte Japan das damalige Kaiserreich Korea. Die tiefen Wunden, die die 36-jährige Kolonialherrschaft geschlagen hat, sind nie vollständig verheilt und brennen immer noch. In welche Richtung werden sich die Beziehungen zwischen Korea und Japan wohl entwickeln? Vielleicht würde sich leichter eine Lösung finden, wenn die beiden Nationen sich die offenen und freundschaftlichen Beziehungen sowie die kosmopolitische Sichtweise ihrer Vorfahren von vor 1.500 Jahren in Erinnerung rufen würden.


1 Die Haupthalle (rechts) und der Zen-Raum des Gango-ji in Nara. Viele der Dachziegel der Gebäude, die durch ihre Brauntöne auffallen, wurden während der Asuka-Zeit von Baekje-Kunsthandwerkern hergestellt. Der ursprünglich 593 im alten Hauptstadtgebiet Asuka errichtete Tempel ist auch bekannt als Asuka-dera oder Hoko-ji (erster buddhistischer Tempel in Japan). Bei der Hauptstadtverlegung nach Nara im Jahr 718 zog auch der Tempel mit um und erhielt den neuen Namen Gango-ji. 2 Die fünfstöckige Pagode im Tempel Horyu-ji in Nara ist eine der ältesten erhaltenen Holzbauten der Welt. Sie entstand im frühen 8. Jh. nachdem der erste, 607 fertiggestellte Tempel Horyu-ji 670 niederbrannte. Die Pagode spiegelt den Baekje-Stil des 7. Jhs wider. Sie ist 32,5m hoch.

2

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 35


FOKUS

HANGEUL ERSCHAFFUNG UND ZUKUNFT ALS DESIGN-THEMAE Vom 28. Februar bis zum 28. Mai 2017 fand im National Hangeul Museum die Sonderausstellung Hangeul Design: Prototypen und Zukunft des koreanischen Alphabets statt. Sie beleuchtete den aktuellen Status von Hangeul als sich rasant wandelndes Schriftsystem und seine Zukunft als Alphabet eines wiedervereinigten Korea.

Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo Fotos Ahn Hong-beom

36 KOREANA Sommer 2017


Eine Installation aus transparenten Acryl-Bahnen im schwach erleuchteten Eingang zur Sonderausstellung Hangeul Design: Prototypen und Zukunft des koreanischen Alphabets im National Hangeul Museum zeigt alle 33 Seiten des Hunminjeongeum Haerye, einem Kommentar, der die Prinzipien des neuen, 1446 veröffentlichten Schriftsystems erläutert.

1

443 schuf König Sejong der Große (1397-1450; reg. 1418–1450), der vierte Regent des Joseon-Reiches (1392-1910) das neue Schriftsystem Hunminjeongeum (Die richtigen Laute zur Unterweisung des Volkes), wie Hangeul ursprünglich hieß. Es war das Resultat der immensen Anstrengungen eines weisen Herrschers, der sich darum bemühte, soziale Ungerechtigkeit und Probleme bei der Staatsverwaltung zu lösen. Diese resultierten aus der Verwendung der chinesischen Schriftzeichen und der Beamtenschrift Idu, eines von den Koreanern entwickelten Systems zur Verschriftung der koreanischen Sprache mit Hilfe der chinesischen Zeichen, das aber für den Normalbürger kaum erlernbar war. 1446, KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 37


nach drei Jahren umfangreicher Forschungen und Experimente, veröffentlichte König Sejong das Hunminjeongeum Haerye, ein Werk, das die phonologischen Merkmale der Zeichen erklärte und ihre Anwendung durch Beispiele illustrierte. Im Vorwort schrieb der König: „Trotz ihres Wunsches zu kommunizieren, sind viele unserer armen Bürger nicht in der Lage, das, was sie sagen wollen, in Worte zu fassen. Aus tiefem Mitleid haben wir daher 28 neue Buchstaben geschaffen. Mein einziger Wunsch ist, dass alle Bürger diese Buchstaben leicht lernen und sie im Alltagsleben bequem lesen und schreiben können.“ Beim Betreten der schwach beleuchteten Ausstellungshalle hatte der Besucher das Gefühl, die Stimme des großen Königs zu hören.

Schaffung eines neuen Schriftsystems Seit seiner Eröffnung am Hangeul-Tag am 9. Oktober 2014 widmet sich das Hangeul Nationalmuseum der Bekanntmachung von Geschichte und Wert des Alphabets durch diverse Sonderausstellungen und andere Events, wobei der Fokus v.a. auf Originalität und Nützlichkeit dieses besonderen Schriftsystems liegt. Anlässlich des 620. Jahrestages der Geburt von König Sejong war im Eingang zur Ausstellungshalle eine Installation mit den 33 Seiten des Hunminjeongeum Haerye ausgestellt, die dem Besucher den Eindruck vermittelte, mit einer Zeitmaschine ins Reich des großen Herrschers zu reisen. Dem Exponat schien die überwältigende Freude zu entströmen, die der König empfunden haben musste, als er seinem Volk die Schaffung eines eigenen Alphabets verkündete, aus dem sein Wille zur Eigenständigkeit der Nation, seine Liebe zum Volk und sein Pragmatismus sprachen. Die Gelehrten, die König Sejong bei der Entwicklung des neuen Schriftzeichensystems unterstützten, dürften ebenfalls tief bewegt gewesen sein, denn in einem anderen Vorwort zum Hunminjeongeum, das von dem Gelehrten Jeong In-ji (1396-1478) verfasst wurde, kommt der freudige Stolz folgendermaßen zum Ausdruck: „Ein kluger Mensch kann es sich aneignen, bevor der Morgen zu Ende gegangen ist, und selbst jemand, der schwer von Begriff ist, vermag es in nur zehn Tagen zu lernen.“

2

1

38 KOREANA Sommer 2017

© National Hangeul Museum


Experten aus aller Welt haben den besonderen Wert von Hangeul als „jüngstes und wissenschaftlichstes Alphabet der Welt“ bestätigt. Robert Ramsey, Professor für Ostasiatische Linguistik an der University of Maryland, USA, sagte: „Hangeul ist Koreas Geschenk an die Welt. Es steht im höchsten Maße für die koreanische Kultur und seine Bedeutung geht weit über die Grenzen eines Landes hinaus.“ Der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur (2008) Jean-Marie Gustave Le Clézio meinte: „Hangeul ist ein äußerst wissenschaftliches und einfaches Schriftsystem für die Verständigung, das innerhalb eines Tages erlernt werden kann.“ Der britische Schriftsteller und Geschichtsautor John Man schrieb in seinem Buch Alpha Beta: How 26 Letters Shaped the Western World : „Hangeul ist das Alphabet, von dem alle Sprachen nur träumen können.“ Außerdem ist es das einzige Schriftsystem, für das noch Aufzeichnungen über seine Entwicklung erhalten sind.

Einziges Alphabet mit Aufzeichnungen über seine Entwicklung „Hunminjeongeum“ bedeutet wortwörtlich „Korrekte Laute zur Unterweisung des Volkes“. Mit einfachen und nur wenigen Zeichen können alle Klänge der Natur ausgedrückt werden. Das Schriftsystem bestand ursprünglich aus 28 Buchstaben: 17 Konsonanten und 11 Vokalen, zusammengesetzt aus den Grundformen Punkt, Strich und Kreis. Im ersten Teil der Ausstellung mit dem Titel Leicht zu lernen und bequem zu verwenden: Schriftzeichen der Fürsorge und Verständigung wurde die Struktur des Schriftsystems vorgestellt. Betrachten wir zunächst einmal die Konsonanten. Die 17 Konsonanten wurden von den fünf Grundzeichen abgeleitet, die der Form des jeweiligen Artikulationsorgans gleichen. Dem Grundzeichen hinzugefügt wurde – je nach Klangintensität – ein weiterer Strich. So wird z.B. durch einen zusätzlichen Strich aus dem ㄴ (ni-eun [n]) das klangintensivere ㄷ (di-geut [d]), und daraus das noch stärker klingende, gespanntere ㅌ (ti-eut [t]). Auf diese Weise spiegeln sich die Charakteristika der jeweiligen Laute in jedem Zeichen logisch wider. Auf Basis der drei Grundzeichen „•“, „ㅡ“ und „ㅣ“, die für die Dreiheit von Himmel, Erde und Mensch stehen, wurden die 11 Vokale entwickelt. So können mit 17 Konsonanten und 11 Vokalen – also insgesamt 28 Zeichen – über 10.000 Silbenblöcke, sprich, eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Kombinationen, geschaffen werden. Hangeul ist ein einzigartiges Schriftsystem, das aus Zeichen für die Position der einzelnen Laute am Anfang, in der Mitte und am Ende einer Silbe besteht. Um noch einmal aus dem Vorwort des Gelehrten Jeong In-ji zu zitieren: „Mit diesen 28 Zeichen sind die Variationsmöglichkeiten unendlich.“

1 톱 (Top ; Säge) von Chae Byung-rok veranschaulicht die Bedeutung des Wortes durch Zersägen in seine drei Bestandteile: den Anlaut ㅌ[t], den Inlaut ㅗ [o] und den Auslaut ㅂ [p]. 2 장 석장 (Jangseokjang ; Schränke mit Metallornamenten ) von Ha Jee-hoon ist ein Holzmöbelstück, das in Anlehnung an die traditionellen, metallverzierten Holzmöbel der Joseon-Zeit mit metallenen Hangeul-Konsonanten und Vokalen dekoriert ist. 3 버 들 (Beodeul ; Weide) von Yu Myung-sang versucht experimentell zu ergründen, bis zu welchem Grade Schriftzeichen in bildliche Darstellungen eingeschmolzen werden können.

3

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 39


Diese Designer-Teams hauchten den Prototypen des Hunminjeongeum neues Leben ein, indem sie daraus in einem faszinierenden Versuch, die Grenzen von Hangeul als Stoff der künstlerischen Inspiration auszutesten, zwei- und dreidimensionale Strukturen schufen.

1

1 감 (Ppersimone/Gefühl/Gewebe) von Jang Soo-young ist ein Versuch, die ursprüngliche Schreibweise der Hangeul-Zeichen durch Verwendung des inzwischen verschwundenen Punktes als diakritisches Zeichen der tonalen Markierung neben drei ansonsten identischen, in Holz geschnitzten Zeichen wiederzubeleben. 2 Ein Besucher betrachtet verschiedene Hangeul-Wort-Bild-Kombinationen.

40 KOREANA Summer 2017

Neu geboren als Design-Thema Der zweite Teil der Ausstellung glich einer Schaubühne des unendlichen Wandels. Unter dem Titel Unendlich veränderbar: Erweiterungsmöglichkeiten von Hangeul durch Design neu interpretiert wurden 30 Werke von 23 Designer-Teams ausgestellt. Diese Teams hauchten den Prototypen des Hunminjeongeum neues Leben ein, indem sie daraus in einem faszinierenden Versuch, die Grenzen von Hangeul als Stoff der künstlerischen Inspiration auszutesten, zweiund dreidimensionale Strukturen schufen. Dieser Versuch ist ein kleiner, aber bedeutender Beginn, der erklärt, warum der Buchund Schriftbilddesigner Chung Byung-kyu fordert: „Lasst uns zum Hunminjeongeum zurückkehren!“ Chung erklärt: „Die Erforschung des neuen Potentials von Hangeul ist unsere stärkste Waffe, den westlichen Einfluss, der sich schon lange in unserem Unterbewusstsein als Fundament des Denkens eingenistet hat, zu brechen.“ 파리를 사랑하세요? (Lieben Sie Pari?) von Park Yeoun-joo schafft vertraute und zugleich seltsame linguistische Ableitungen durch Erforschung der sieben verschiedenen Bedeutungen von 파리 (Pari), darunter „Fliege“ und „Paris“. Das Auseinanderfallen und Zusammenprallen der Satzelemente, das durch Veränderung der Wortstellung und des Zeilenarrangements entsteht, ist originell. Yu Myung-sang versucht in seinem Werk 버들 (Weide) anhand ver-


schiedener Weidenblätter-Darstellungen experimentell zu ergründen, bis zu welchem Grade Schriftzeichen in bildliche Darstellungen eingeschmolzen werden können. Seine Arbeit ist darum bemüht, die Grenzen von Zeichen, die sich nicht leicht in bildzentrierte Designs einfügen lassen, zu überwinden. In dem Werk 감 (Persimone/Gefühl/Gewebe) von Jang Soo-young wird die ursprüngliche Schreibweise der koreanischen Schriftzeichen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wiederbelebt, indem der inzwischen verschwundene Punkt als diakritisches Zeichen der tonalen Markierung verwendet wird. Durch einen Schallanalysator wurden graphische Darstellungen der drei tonal unterschiedlichen Konnotationen des Wortes „감“ erstellt, die dann in Relief in drei Holztafeln mit ihren jeweils drei unterschiedlichen tonalen Markierungen geschnitzt wurde. Die Werkreihen 장석장 (Schränke mit Metallornamenten) von Ha Jee-hoon und 거단곡목가구 훈민정음 Hunminjeongeum: mit Kerbenschnitttechnik gefertigte Holzmöbelstücke von Hwang Hyung-shin, die die künstlerische Plastizität von Hangeul auf Gebrauchsmöbelstücke projizierten, erregten große Aufmerksamkeit bei den Besuchern. Ha dekorierte die Oberfläche von Holzmöbeln mit Konsonanten und Vokalen von Hangeul, was an die schlichten, traditionellen Holzmöbel der Joseon-Zeit mit ihren aus Metall gefertigten Ornamenten und dekorativen Verschlüssen erin-

2

nerte. Hwang fertigte Hocker, Bänke und Stühle in Formen, die er den Strichen und Punkten von Hangeul entlehnt hatte. Jeweils unterschiedlich kombiniert können die Einzelstücke zu verschiedenen Buchstaben zusammengesetzt werden. Diese Ausstellung war bereits im Oktober 2016 im Korean Cultural Center in Tokio zu sehen und wurde dann in Korea unter demselben Titel noch einmal gezeigt. Die Kuratoren des National Hangeul Museum hatten die Ausstellung ab März 2016 sieben Monate lang zusammen mit 23 Jungdesigner-Teams vorbereitet. Wenn Projekte solcher Größenordnung auf kontinuierlicher Basis durchgeführt werden, kann das nur die Notwendigkeit des National Hangeul Museum unterstreichen. Außerdem könnten solche Projekte über Kunst und Kultur hinaus Einfluss auf die gesamte Gesellschaft haben.

Eine weitere bemerkenswerte Ausstellung Hangeul ist zwar heute der große Stolz Koreas, in den vergangenen Jahrhunderten musste es jedoch viele Härten erleben. Aber der beschwerliche Kampf des koreanischen Volkes, seine Sprache und sein Schriftsystem gegen die Politik der ethnischen und kulturellen Assimilierung der japanischen Kolonialherren zu schützen, gilt als wesentlicher Teil der Unabhängigkeitsbewegung. 1940 gab Chun Hyung-Pil (1906-1962), ein führender Sammler von koreanischen Kulturschätzen, ein Vermögen dafür aus, heimlich das Original des Hunminjeongeum Haerye zu erstehen. Er schützte das wertvolle Dokument unter Einsatz aller Mittel bis zur Befreiung Koreas. Er sagte damals: „An die Zukunft des Hunminjeongeum zu denken, verfestigte meine Überzeugung, dass unsere Nation die Unabhängigkeit wiederlangen würde.“ Das Original des Hunminjeongeum Haerye ist vom 13. April bis 12. Oktober 2017 im Dongdaemun Design Plaza (DDP) in Seoul unter dem Ausstellungstitel Hunminjeongeum und Nanjung Ilgi: Erneuter Blick zu sehen. Es ist eine seltene Gelegenheit, die Originale dieser beiden Klassiker, die als Nationalschätze in die UNESCO-Welterbeliste eingetragen sind, zu bewundern. (Nanjung Ilgi ist das Kriegstagebuch von Admiral Yi Sun-shin, der die japanischen Invasoren während der Hideyoshi Inavsion (1592-1598) zurückschlug.) So wie Chun Hyung-Pil das Licht der nationalen Befreiung im Hunminjeongeum sah, so ließe sich auch gut behaupten, dass Hangeul in den letzten 70 Jahren der territorialen Teilung die nationale Identität der Koreaner geschützt hat. 1965 wurde der 15. Mai zum Lehrertag deklariert, um an den Geburtstag von König Sejong des Großen zu erinnern. Und 1926, während der japanischen Kolonialherrschaft, wurde der 9. Oktober zum Gedenken an die Proklamation der koreanischen Schrift Hunminjeongeum zum Nationalfeiertag erklärt. So wie Korea dank der Kraft von Hangeul die schweren Zeiten des vergangenen Jahrhunderts überwand, so ist es heute wieder an der Zeit, sich an die Schaffung des koreanischen Schriftsystems zu erinnern, um die Kraft zu sammeln, die es braucht, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 41


INTERVIEW

KIM MOON-JUNG

CHARISMATISCHE MUSIKDIREKTORIN, EINGESTIMMT AUF MUSICALS Wenn die Lichter kurz vor Beginn der Aufführung ausgehen, erscheint sie als erste im Scheinwerferlicht und begrüßt das Publikum. Sie hebt ihren Kopf aus dem Orchestergraben, wendet sich um und schenkt den Zuschauern ein Lächeln. Während der gesamten Aufführung ist nur ihr Hinterkopf zu sehen, doch ihr Dirigentenstab hält die Anwesenden fest in seinem Bann. Die Rede ist von Musikdirektorin Kim Moon-jung, einer der derzeit wohl gefragtesten Personen in der koreanischen Musicalszene. Won Jong-won Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soonchunhyang University, Musical-Kritiker Fotos Son Cho-won

Musikdirektorin Kim Moon-jung sagt: „Mein Durchhaltevermögen nährt sich aus den aufregenden Momenten, in denen ich spüre, dass ich mit einem der Darsteller auf derselben Wellenlänge liege.“

42 KOREANA Sommer 2017


D

ie koreanische Musical-Industrie hat in den letzten Jahren ein wahrhaft explosives Wachstum verzeichnet. Seit der Uraufführung von Das Phantom der Oper im Jahr 2001 ist der Ticketverkauf jährlich um 17-18% gestiegen. Die Vorstellung von Bühnenkünstlern als Hungerleidern trifft zumindest im Musicalbereich heutzutage nicht mehr zu. Etwa 160 Aufführungen von Musicals für Erwachsene finden jährlich allein in Seoul und der umgebenden Provinz Gyeonggi-do statt. Schon die Anzahl der im Inland produzierten Musicalstücke platziert den koreanische Musicalmarkt unter die fünf größten der Welt. Kim Moon-jung, eine der führenden Personen bei diesem Boom, hat als Musikdirektorin zahlreichen Aufführungen zum Erfolg verholfen. Neben dem original koreanischen Musical The Last Empress sind internationale Hitmusicals wie Mamma Mia!, Elisabeth, Der Mann von La Mancha, Mozart!, Evita, Les Misérables, Jesus Christ Superstar und Rebecca zu nennen.

Von Kindesbeinen an Liebe zu Musik und Theater Won Jong-won  Sie haben sicher alle Hände voll zu tun. Oder sind Sie vielleicht etwas weniger beschäftigt, weil dieses Jahr hauptsächlich Wiederaufführungen geplant sind? Kim Mun-jung  Beides stimmt. Es sind zwar eine ganze Reihe von Musicals geplant und hinzu kommen Fernsehauftritte und Universitätsvorlesungen, aber ich habe etwas mehr Muße als normal. Das große Interesse an unseren Aufführungen gibt mir trotz des vollen Terminkalenders neue Energie. Denn eine Aufführung ohne Publikum ist sinn- und zwecklos. Won  Ihr Beruf ist ja nicht gerade der gängigste. Wie kam es, dass Sie Musikdirektorin wurden? Kim  Wenn ich so zurückdenke, dann scheint mir, dass das familiäre Umfeld eine große Rolle gespielt hat. In meiner Kindheit kannte kaum jemand Musicals. Damals habe ich viel mit meinen Cousins gespielt. Zum Geburtstag meiner Großmutter entwarfen wir zusammen Musiktheaterstücke und führten sie vor den Erwachsenen auf. Schon damals war ich für die musikalische Begleitung zuständig. Musik und Theaterstücke haben mich immer stark angezogen. Heute arbeitet einer meiner Cousins als Musikdirektor in der Werbe- und TV-Serienbranche, ein anderer ist Musical-Kritiker. Das zeigt, wie wichtig das häusliche Umfeld für die Bildung der Kinder ist. Won  Wann haben Sie zum ersten Mal ein Musical gesehen? Kim  Im zweiten Mittelschuljahr. Damals war Guys and Dolls ein großer Kassenschlager. Meine Klasse hat die Aufführung im Rahmen eines Schulausflugs besucht. Ich erinnere mich noch genau daran, wie viel Spaß ich hatte, da es ein Komödien-Musical war. Won  Das muss wohl Mitte, Ende der 1980er Jahre gewesen sein, als private Theatertruppen Adaptionen ausländischer Musicals auf die Bühne brachten. Kim  Ja, richtig. Und anders als heute wurde die Musik auch nicht live aufgeführt.

Won  Später studierten Sie dann Gebrauchsmusik. Kim  Genau. Nach dem Studienabschluss arbeitete ich als Keyboardspielerin in einer Begleitband und 1992 bekam ich zufällig die Gelegenheit, beim Musical A Chorus Line am Klavier mitzuwirken. Ehrlich gesagt, verdiente ich nicht gerade viel damit, aber verglichen mit den stereotypen Arbeiten, die ich davor für Werbemusik u.ä gemacht hatte, war die Freiheit, die die Bühne bietet, faszinierend. Hinzu kam, dass die Lieder länger waren als die Massenmusik-Songs mit ihren vier, fünf Minuten, es gab also hinreichend Gelegenheit, eine breite Gefühlspalette wie Freude, Wut, Trauer und Glück zum Ausdruck zu bringen. Danach nahm ich jede Gelegenheit, mit Musicals zu arbeiten, wahr. 1997 startete ich als Mitglied des Produktionsteams von The Last Empress ernsthaft meine Musical-Karriere. Ausgewählt wurde ich von Musikdirektorin und Musical-Allroundtalent Kolleen Park. Die Arbeit mit ihr machte mir sehr viel Spaß. Später ernannte mich Yun Ho-jin, Bühnenregisseur und CEO der Musical-Produktionsfirma ACOM, in Anerkennung meiner Leistung zur Musikdirektorin des Stücks. Seine Anerkennung und die Verbindung zu ihm bedeuten mir heute noch viel.

Erinnerungen an die erste Aufführung in L.A. Mit The Last Empress schlug die Geburtsstunde der koreanischen Musical-Industrie. Das Musical handelt vom tragischen Tod (1895) der Gattin von König Gojong im späten 19. Jh., als das Königreich Joseon (1392-1910) im Zuge der imperialistischen Bestrebungen Japans seinem Ende entgegenging. Diese Inszenierung hat mit ihrem Ausdruck von originär koreanischer Gemütshaltung und Ästhetik in lyrischen Liedern, Bühnenbild und traditionellen Kostümen bei jeder Aufführung zahlreiche Zuschauer angelockt. Kim Moon-jung erntete als Musikdirektorin des Stücks nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland wie z.B. in den USA und Großbritannien großen Applaus. Won  Was war das beeindruckendste Erlebnis für Sie als Musikdirektorin? Kim  Die erste Aufführung von The Last Empress in L.A. werde ich nie vergessen. Nur, weil ich mit dem Werk vertrauter war als andere, wurde mir die wichtige Rolle der Leitung des Riesenorchesters anvertraut. In den USA gibt es Musiker-Gewerkschaften, weshalb für jede Bühnenaufführung vor Ort Musiker fürs Orchester angeheuert werden müssen. Ich bekomme heute noch Herzrasen, wenn ich daran zurückdenke. Es mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber ich beschloss, kein Wort Englisch zu sprechen. Ich dachte, dass ich mich als Musikdirektorin nicht behaupten können würde, wenn ich in gebrochenem Englisch Anweisungen gäbe. Also setzte ich einen Dolmetscher ein, um das Charisma, das ein Musikdirektor ausstrahlen sollte, nicht zu zerstören. Das zeigt auch, wie nervös ich war. Während einige Spieler kooperativ waren, hielten mit anderen die Spannungen bis zum Ende an. Aber als bei der letzten Aufführung der Vorhang fiel und mir alle Musiker eine stehende Ovation darbrachten, war das für mich ein Moment großer Freude KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 43


„Ich möchte, dass noch mehr Menschen unsere original koreanischen Musicals zu sehen bekommen. Mein ehrgeiziger Traum ist, Musicals zu einer eigenen Sparte der Koreawelle Hallyu zu entwickeln. Wir können das auch schaffen, wenn wir nur weiter hart daran arbeiten.“

und Befriedigung. Won  Bestimmt gibt es aber auch Werke, an denen schmerzhafte Erinnerungen haften. Kim  Organ in My Heart ist ein original koreanisches Musical, für das ich zum ersten Mal auch die Komposition übernommen habe. Ich kann mit Stolz sagen, dass es ein gelungenes Stück war, es wurde ja auch mehrfach ausgezeichnet, aber es war kein Kassenschlager. Jo Jung-suk, der damals die Hauptrolle spielte, ist heute ein großer Star, war damals aber noch kein Publikumsmagnet. Ich würde das Stück gerne noch einmal aufführen, weiß aber nicht, ob das je möglich sein wird. Doch ich gebe den Traum nicht auf. Won  2008 brachte es Ihnen den Preis für die beste Komposition bei den Korea Musical Awards ein. Danach scheinen Sie sich insgesamt mehr auf Ihre Arbeit als Musikdirektorin konzentriert zu haben. Kim  Das Komponieren habe ich aber nie ganz aufgegeben. Derzeit spiele ich mit dem Gedanken, ein Musical mit der koreanischen Trottmusik Ppongjjak (in den frühen 1990er Jahren beliebtes Genre der koreanischen Popmusik) zu machen. Won  Was bedeutet der Kassenerfolg für Sie? Kim  Musicals haben Popkultur-Charakter. War ein Musical ein Reinfall, ist es kaum noch einmal auf die Bühne zu bringen, was zum Teil auch mit den hohen Produktionskosten zusammenhängt.

ich später einmal gern zusammenarbeiten würde. Won  Wer war der Kandidat, dessen Ausscheiden Sie am meisten bedauert haben? Kim  Ohne Zweifel der Mittelschüler Yi Jun-Hwan. Er war äußerst begabt, doch da das Ziel der Sendung letzten Endes die Gründung eines Popera-Quartetts war, blieb uns nichts anderes übrig, als ihn ausscheiden zu lassen. Eine wirklich harte Entscheidung, denn er war ein guter Tänzer und ein künstlerisches Talent. Er hat uns allen

Szene aus den Proben für das Musical Les Misérables . Auf dem rechts unten spricht Musikdirektorin Kim Moon-jung (ganz rechts) mit Orchestermitgliedern.

Jurorin einer koreanischen TV-Castingshow Won  Phantom Singer des TV-Kabelsenders JTBC war ein Riesenerfolg. Das Format entspricht dem von TV-Castingshows, wie sie derzeit in vielen Ländern beliebt sind. In Phantom Singer wurden viele Talente entdeckt. Aber auch das Charisma, das Sie als Jurorin ausstrahlten, war sehr beeindruckend. Kim  Der TV-Produzent Kim Hyung-jung, der viele Musical-Preisverleihungen auf die Bühne gebracht hat, schlug mir vor, in der Jury mitzumachen. Ich sagte mit Vergnügen zu, da mit der steigenden Beliebtheit von Musicals auch die Zahl der Aufführungen und der auf Musicals spezialisierten Darsteller gestiegen ist. Es hat mich sehr gefreut, dass die Show vielen gefallen hat. Durch die Sendung hat sich mein Leben nicht besonders verändert, doch die Leute erkennen mich heute schon mal auf der Straße und ich grüße dann lächelnd zurück. Ich war zwar Jurorin, wollte aber als Musikdirektorin den Teilnehmern helfen, sich weiterzuentwickeln. Als ich sah, wie einige tatsächlich während der Show besser wurden, hat mich das zu Tränen gerührt. Es gab auch viele, mit denen © Shim Kyu-tai

44 KOREANA Sommer 2017


Leid getan. Doch ich habe große Hoffnungen, was seine Zukunft als Künstler betrifft. Won  Werden Sie auch bei der nächsten Staffel dabei sein? Kim  Das Angebot habe ich schon. Und ich denke, dass ich es annehmen werde. Ich habe ja von Anfang an bei der Show mitgemacht und empfinde es persönlich als lohnenswert, Musical-Talente für das Publikum zu entdecken.

Große Zukunftsvisionen für das koreanische Musical Won  Woran arbeiten Sie derzeit? Kim  Ich bekomme viele Angebote, aber ich interessiere mich mehr für original koreanische Musicals als für ausländische. Zurzeit arbeite ich an einer Musical-Version von Sanduhr, der beliebten TV-Serie aus den 1990ern, und überarbeite Gwanghwamun Sonata mit den Liedern des verstorbenen Komponisten Yi Yeong-hun. Auch Neuaufführungen verschiedener Hitmusicals wie Seopyeonje,

Rebecca, Rudolf und Mata Hari sind geplant. Won  Sicherlich wollen Sie sich auch auf der internationalen Bühne als Musikdirektorin einen Namen machen, oder? Kim  Natürlich will ich auch koreanischen Musicals auf internationalen Bühnen aufgeführt sehen. Das dürften wohl alle, die mit der koreanischen Musical-Industrie zu tun haben. Ich möchte dem internationalen Publikum zeigen, wie weit sich die koreanischen Musicals entwickelt haben und wie beliebt sie sind. Natürlich haben wir auch jetzt schon viele ausländische Zuschauer hier in Korea, einige reisen sogar extra an, um unsere Musicals zu sehen. Doch ich möchte, dass noch mehr Menschen unsere original koreanischen Musicals zu sehen bekommen. Mein ehrgeiziger Traum ist, Musicals zu einer eigenen Sparte der Koreawelle Hallyu zu entwickeln. Wir können das auch schaffen, wenn wir nur weiter hart daran arbeiten. Während Musicals im Westen von den um 1900 gängigen kommerziellen, am Massengeschmack orientierten Theatergenres wie Vaudeville, Minstrel Show und Burlesque beeinflusst wurden und sich zur Unterhaltung für die ganze Familie entwickelten, basieren die koreanischen Musicals auf traditionellen vorführenden Kunstformen wie dem Volkslied Sogyo, dem Maskentanz Talchum, dem schamanistischen Ritual Gut, dem epischen Sologesang Pansori oder dem mit der westlichen Operette vergleichbaren Musiktheater Akgeuk. Diese Andersartigkeit von Wesen und Merkmalen der koreanischen Musicals unterscheidet sie von Broadway- oder West-End-Produktionen und konstituiert ihre Anziehungskraft für das internationale Publikum. Deshalb ist es nur verständlich, warum gerade Kim, die zur musikalischen Weiterentwicklung ausländischer Musicals in Korea beigetragen hat, die original koreanischen Musicals besonders liebt. Am erfreulichsten ist aber die Tatsache, dass Kim dem koreanischen Musical eine helle Zukunft voraussagt. Ehrgeiz und Zukunftspläne der Künstlerin verdienen daher unseren Applaus und machen uns noch neugieriger auf ihre kommenden Produktionen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 45


HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

DIE „DENKENDEN HÄNDE“

VON ONGGI-MEISTER LEE HYUN-BAE Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Ahn Hong-beom

Im traditionellen Kunsthandwerk lernten in der Vergangenheit die Künstler als Lehrlinge von den Meistern und sprachen über ihre Kunstfertigkeit nur durch deren Ergebnisse. Lee Hyunbae, Meister der Herstellung von Onggi (Onggi: traditionelle koreanische Töpferwaren, v.a. Vorratskrüge), gehört zur neuen Generation. Lee lernte die Onggi-Herstellung durch Worte und Schriften. Er sinniert tief über jeden Schritt des Herstellungsprozesses und sucht nach Wegen und Möglichkeiten, die traditionelle Kultur für den modernen Alltag nutzbar zu machen. 1

46 KOREANA Sommer 2017


L

ee Hyun-bae zuzuhören war wie das Lesen eines geschriebenen Textes: Wenn er einen Moment innehielt, um zu überlegen, wie er fortfahren sollte, stiegen in meinem Kopf ständig Gedankenschnipsel auf, formierten sich und zerstreuten sich wieder. So erging es mir z.B., als er über seine Zeit fünf Monate nach Arbeitsbeginn in einem Onggi-Laden erzählte. Lee erinnerte sich, dass er beim Anblick eines zerbrochenen Onggi-Krugs „eine Art vulkanartig ausbrechende Energie“ spürte. Damals hatte er noch keinen einzigen Onggi gefertigt, sondern versuchte, bei seiner Arbeit als kaufmännische Kraft ein Auge für die Tonwaren zu entwickeln. Lee nennt es einen „Moment der Offenbarung“ und fügt hinzu: „Ich fragte mich später, wo diese Energie damals herkam: Der Querschnitt der Onggi-Scherbe erinnerte von der Form her an ein Spermium. Die Scherbe stammte von der Öffnung des Onggi-Krugs, sodass der Teil des rund gerollten Randes, ’Jeon’ genannt, wie der Kopf eines Spermiums aussah und der Rest wie der Schwanzfaden. So wie der Spermiumkopf sämtliche Geninformationen enthält, so befinden sich alle Information eines Onggi gleichsam im Jeon-Rand.“ Es war eine Geschichte über Onggi-Keramikwaren und Lebensenergie, eine Geschichte so formvollendet wie Lees Onggi-Fertigungstechniken und in mir stiegen hier und da Fragezeichen auf. Aber das war nur ein kleiner Teil des großen Narrativs, das schon mal in unerwartete Richtungen schwenkte. So z.B., als es um die Töpferscheibe ging: „Ich setze mich so, dass ich die Töpferscheibe vor mir habe und die Sonne auf meiner rechten Seite. Den Oberkörper leicht nach rechts geneigt, trete ich das Pedal mit dem linken Fuß, sodass sich die Scheibe gegen den Uhrzeigersinn dreht, und blicke dabei auf die rechte Seite des Onggi-Kruges, also die Außenseite.“ Die sorgfältigen, in diverse Richtungen gehenden Ausführungen des Onggi-Meisters zeugen von einer im Laufe der Zeit gewachsenen Reife. Kein Wort war gedankenlos geäußert. Es wirkte, als habe er seine Vorstellung von Onggi-Töpferei fein säuberlich in einzelne Stränge geteilt und jeden davon mit einer eigenen Bedeutung versehen. Die 26 Jahre, die er als Onggi-Töpfer verbracht hatte, schienen im Lichte der Töpferei betrachtet eine eigene Struktur zu erhalten. Dabei hatte er das Ganze nicht nur in seinem Kopf gespeichert, sondern verstanden, es in klare Worte umzusetzen. Das zeigte die Breite und Tiefe seines Denkens. Andererseits haftete der Art und Weise, wie er sich bemühte, das Narrativ aufzubauen, etwas Verzweifeltes an: Der verzweifelte Kampf, die Onggi-Töpferei aus dem tiefen Dunkel der Tradition zu befreien, an die Oberfläche der Gegenwart zu heben 1 Onggi-Meister Lee Hyun-bae beim Formen und dabei seine Rolle und eines großen Kruges in seiner Werkstatt in Identität als zeitgenösJinan, Provinz Jeollabuk-do. sischer Töpfer zu finden. 2 Lee Hyun-bae und seine Frau arrangieren gemeinsam die gut getrockneten Gerade das jedoch schien Onggi-Krüge und Deckel zum Feuern im ihm Antriebskraft zu verBrennofen.

leihen, denn er machte einen so robusten Eindruck wie ein Stück Onggi, ein Tonerde-Konstrukt, das eine Hitze von über 1.000℃ unbeschadet übersteht.

Endstation des Herumirrens: ein Onggi-Laden „Als Kind hatte ich den Spitznamen ’Golbae’ (Dummkopf). Im Leben müsse man seinen Kopf benutzen“ – sagte Lee mit einem breiten Lachen, das sein Gesicht in Falten legte. Es war ein Lachen, das sich um die Erinnerungen an seine etwas peinliche Vergangenheit legte: „Ich hoffte immer, mich beim Augenaufschlagen morgens irgendwo anders zu befinden, aber jeden Morgen fand ich mich an derselben alten Stelle wieder. Ich kochte innerlich, schrie Zeter und Mordio, um dann im nächsten Moment eine unsägliche innere Leere zu spüren. Nach solchen Solo-Wutanfällen rannte ich zum Uferdamm, wo das Fließen des Wassers zu hören war. Es war das erste Geräusch, das ich hörte, wenn ich wieder zur Besinnung kam.“ Deshalb nannte er sein Erstgeborenes „Mul“ (Wasser) und ließ sich im Quellbereich des Flusses Seomjin-gang nieder. Die Unentschlossenheit hatte ihn herumirren lassen: Im späten Teenageralter zog er nach Seoul, um dann irgendwann in seine Heimatregion zurückzukehren und als Altwarenhändler mit der Handkarre durch die Gegend zu ziehen. Eine Weile verdiente er als Hotel-Chocolatier recht gut, aber es dauerte nicht lange, bis er, fasziniert von einer Skulptur in der Hotellobby, beschloss, Bildhauerei zu lernen und noch einmal einen neuen Anfang zu machen. Der große Wendepunkt kam, als er auf einer Reise nach Beolgyo-eup, Provinz Jeollanam-do, in der Onggi-Werkstatt „Jinggwang Onggi“ vorbeischaute. „Als man mich fragte, was mich denn zu ihnen gebracht hätte, rutschte mir unversehens heraus, dass ich die Onggi-Handwerkskunst lernen wolle. Ich war von meiner Antwort selbst überrascht. Zu der Zeit las ich jeden Abend alte Ausgaben von Der Tiefverwurzelte Baum, eines in den späten 1970er Jahren populären Magazins zur Volkskultur. Ich weiß noch, dass ich beim Lesen eines Artikels über Onggi-Keramik dachte, dass das Handwerk nichts für mich sei. Onggi-Meister kämen mit ihrem Verdienst kaum über die Runden, stand da, und wenn ich etwas von Kindesbeinen an hasste,

2

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 47


„Ein in modernen Gasöfen gebranntes Gefäß lässt sich nicht mit einem vergleichen, das fast eine Woche langsam und sanft in einem Holzofen gebrannt wurde. Die Fermentierungseigenschaften sind entsprechend unterschiedlich.“

dann war es, vom Hunger gequält zu werden.“ Es war zu der Zeit, als Onggi-Tonwaren aus verschiedenen Gründen an Vertrauen und Beliebtheit verloren. Zu nennen ist z.B. die zunehmende Verbreitung von Plastikprodukten und die Entdeckung von Blei in der chemischen Glasur, durch die man die traditionelle Lauge ersetzt hatte. Auch Jinggwang Onggi blieb davon nicht unbeeinflusst. Bedenkt man all das, dann sind die zwei Jahre und sieben Monate, die Lee Hyun-bae ab 1990 bei Jinggwang Onggi verbrachte, nicht so leicht mit Worten zu erklären. Entgegen dem normalen Werdegang namhafter Künstler gab es keine Lehrlingszeit, in der der Lehrling unter den gestrengen Augen des allmächtigen Meisters lernte, indem er ihm über die Schulter schaute und 48 KOREANA Sommer 2017

die Techniken dann nachahmte. Seine Hauptaufgabe war das Produktmanagement und nur selten hatte er die Gelegenheit, Onggi-Meister Park Na-seop bei der Arbeit zuzusehen. In Lees Erzählungen über diese Zeit tauchen zwei Namen besonders oft auf: Einmal Han Chang-gi, der ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Der Tiefverwurzelte Baum, und Han Sang-hun, der Bruder des Verlegers und Eigentümer von Jinggwang Onggi. Die Beziehung zu den beiden habe ihm dabei geholfen, seinen Ästhetiksinn zu entwickeln: „Im Laden wurde der Verleger ’Großer Meister’ und der Besitzer ’Kleiner Meister’ genannt. Aber Onggi-Meister Park Na-seop wurde als ’Großer Herr’ bezeichnet. Später fragte ich mich, warum ich von den ’Meistern der Worte’ gelernt hatte und nicht vom ’Meis-


er alle Schwierigkeiten und ist seit 1994 in der Lage, problemlos Onggi herzustellen. In Jinan, Provinz Jeollabuk-do, eröffnete er den Sonnae Onggi Shop, wo er unter seinem eigenen Namen produziert und verkauft. Ich fragte ihn, ob die wenigen, chaotischen Lehrjahre ausgereicht hätten und warum er nicht versucht hätte, noch weiter zu lernen. Lee verstummte kurz, wie nach Worten suchend, und antwortete dann: „Wissen Sie, die Techniken der Onggi-Herstellung sind... eigentlich einfach.“

© Lee Sol

ter der Tat’. Aber andererseits mag es vielleicht am einfachsten sein, die Onggi-Herstellung durch Worte zu erlernen.“ Lee sah sich dann plötzlich gezwungen, auf Grundlage seines zusammengewürfelten, unsystematisch erworbenen Wissens die Onggi-Versorgung des Geschäfts sicherzustellen. Manchmal zerschmolz ihm ein Gefäß im Brennofen, ein anderes Mal brach vor seinen Augen der ganze Ofen zusammen. Doch der Drang, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, war größer als die Verzweiflung. Schließlich meisterte Lee beim Schüren des Feuers und Nachlegen von Holz zur Aufrechterhaltung der notwendigen Temperatur im Brennofen. Es dauert etwa sieben Tage, bis die Glasur an der Oberfläche der erhitzten Keramik im letzten Schritt der Feuerung geschmolzen ist.

Erde, Feuer, Wind und Sonne Das Töpfern kann einfach sein, wenn man es so sehen will. Schließlich geht es nur um Formen, Glasieren und Brennen. Aber um ein perfektes Stück herzustellen, muss der Onggi-Meister Erde, Feuer und Luft vollkommen verstehen. „Der Ton ist entweder tot oder lebendig, das kann man an seiner Farbe erkennen. Tote Tonerde schmeckt anders und hat einen distinktiven Eigengeruch. Sie hat keine Kraft und zieht beim Formen auf der Töpferscheibe immer wieder nach unten. Ein Onggi aus toter Tonerde fühlt sich selbst bei gleicher Tonmenge schwerer an als einer aus lebendigem Ton und bricht beim Brennen unter der Hitze leichter zusammen“, erklärt Lee. Welche Tonerde ist dann für die Onggi-Herstellung am geeignetesten? Laut Lee findet sie sich fast überall, allein schon in einem Umkreis von zwei bis drei Kilometern seiner Werkstatt. Er fügt hinzu, dass die Erde vom Feld zu weich und die aus den Bergen zu hart und bröckelig sei, die beste komme aus der Schnittstelle von Feldern und Bergen. Hier ergibt sich dann die Frage, in welcher Region es die beste Tonerde gibt. „Es gibt schon Tonerde, die sich leichter verarbeiten lässt. Die älteren Onggi-Meister schwören jedoch auf eine Mischung von Erden aus drei verschiedenen Regionen, egal welchen. Die Onggi-Herstellung kann man mit der Traditionellen Koreanischen Medizin vergleichen: Ihre Wirksamkeit beruht nicht auf der Kraft eines einzelnen Bestandteils, sondern auf der Harmonie aller Zutaten“ – so der Onggi-Meister. Darauf stellt sich die Frage, welche Texturbeschaffenheit die Tonerde haben sollte und wie sich Texturunterschiede im Endprodukt niederschlagen. Auf diesen Beschuss mit Detailfragen hielt Lee sich etwas zurück und bemerkte nur: „Von Onggi heißt es, dass sie ’atmende Gefäße’ seien, weshalb ich quasi übernatürliche Qualitäten von ihnen erwartete. Aber bei näherer Beschäftigung damit entdeckte ich nichts dergleichen. In Wahrheit atmet nicht das Gefäß an sich, sondern der Inhalt. Die grundlegende Funktion eines Onggi besteht darin, die Fermentierung zu befördern. Dafür muss das Gefäß wasserdicht, aber luftdurchlässig sein, d.h. die Tonerde darf nicht zu fest sein. Sie muss sowohl aus feinen, als auch aus groben Partikeln bestehen, die etwas locker aneinander haften, um die Luft zirkulieren zu lassen.“ Nachdem der Meister seine eigenen Qualitäten und die der Onggi so relativiert hatte, fügte er hinzu, dass gerade diese optimale TexKOREANISCHE KULTUR UND KUNST 49


1 © Seoul Museum of Art

tur die Onggi-Keramik von Porzellanwaren unterscheide. Während die Glasur bei Porzellan dazu diene, Festigkeit und Farbe zu verleihen und als eine Art Oberfächenschutzfilm fungiere, verbinde sich die Laugenglasur mit den Tonpartikeln und schaffe quasi atmungsaktive Hautporen. Dadurch werden optimale Voraussetzungen dafür geschaffen, dass fermentierende Nahrungsmittel frisch bleiben und sowohl die feucht-heißen Sommer als auch die trocken-kalten Winter überstehen. Das bot Lee Anlass, über das Feuer zu sprechen. Onggi-Keramik kann die klimatischen Unterschiede durch Expansion im Sommer und Kontraktion im Winter absorbieren und damit die Bruchgefahr verhindern. Diese Flexibilität werde ihr durch das Feuer verliehen, das allerdings bestimmte Eigenschaften besitzen müsse: „Beim Onggi-Brennen muss man die Hitze wie beim Köcheln von Gerichten langsam ziehen lassen. Das Feuer muss wie bei der traditionellen koreanischen Instrumentalmusik Sanjo oder wie beim Jazz langsam intensiver werden. Keramik-Brennen und Fermentieren weisen ähnliche Verlaufsmuster auf, beide Prozesse sind lebendige Aktivitäten. Ein in modernen Gasöfen gebranntes Gefäß lässt sich nicht mit einem vergleichen, das fast eine Woche langsam und 50 KOREANA Sommer 2017

sanft in einem Holzofen gebrannt wurde. Die Fermentierungseigenschaften sind entsprechend unterschiedlich.“ Auf diese elaborierten Erläuterungen über Tonerde und Feuer folgen Erklärungen über Sonne und Wind: Bevor die geformten Tongefäße gefeuert werden, müssen sie eine Zeitlang im Wind trocknen. Vor der Bildung des Morgentaus werden sie bis zum Sonnenaufgang nach draußen in den Schatten gestellt und dann der Sonne ausgesetzt. Nur so können die Onggi unter gleichbleibenden Bedingungen gleichmäßig trocknen. Lee erklärt, dass ein dem Sonnenschein ausgesetztes Onggi anders sei als eins, das ohne Trocknen sofort in den Ofen geschoben werde. Dabei könne er selbst nicht genau sagen, worin dieser Unterschied bestehe.

Ein Onggi-Experiment für die ganze Familie „Von Gefäßen zur Aufbewahrung der Nabelschnur über Eintopf-Onggi, Krüge zum Sammeln menschlicher Exkremente zu Düngezwecken bis hin zu Bestattungsbehältern: Onggi begleiten das Leben der Koreaner von der Geburt bis in den Tod“, sagt der Onggi-Meister, für den das gesamte Menschenleben in der Onggi-Kultur beschlossen ist. Die Liste der traditionellen Onggi-Ge-


gehen. Dieser Ansatz macht Sinn, wenn man Onggi nicht unter dem Aspekt von Produktion und Angebot auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sondern unter dem Aspekt eines für die Bedürfnisse des Einzelnen oder der Familie hergestellten lebensnotwendigen Gegenstandes betrachtet. Mit Blick darauf planen wir verschiedene Projekte wie z.B. die Herstellung von Gefäßen im Goryeo-Stil zur Aufbewahrung von Gewürzpasten und Soßen.“ Alle Familienmitglieder unterstützen Lees Arbeit: Seine Frau, die Malerei studierte, liefert ästhetische Inspirationen; sein Sohn, der Keramikherstellung lernte, hilft ihm im Geschäft; seine älteste Tochter, die Bildhauerei studierte, liefert Ideen über Alltagsgegenstände oder Kochutensilien; seine zweitälteste Tochter, die sich mit Verlagsedition befasst, hilft dem Vater bei der Dokumentation der einzelnen Onggi-Herstellungsschritte. Sie stellen nicht nur gemeinsam Onggi her, sondern diskutieren basierend auf ihren unterschiedlichen Blickwinkeln und Erfahrungen über ein System der Onggi-Kultur und eine Methodologie zur Tradierung des Handwerks, oder gehen sogar noch einen Schritt weiter und befassen sich mit der Gesamtheit der Esskultur. Es ist ein Lernprozess, der gemeinsames Forschen über Speisen und Gerichte sowie gemeinsames Kochen und Essen mit einschließt. Dieses Familienprojekt im engen Sinne des Wortes läuft unter dem Namen Family Business. Der unaufhaltsame Onggi-Meister ist heute entgegen aller Erwartung auf dem Weg zu einem Plastikwaren- und Werkzeugladen. Er erzählt: „Bevor ich etwas Neues herstelle, schaue ich mich ab und zu in solchen Läden um. Dort sehe ich, wie sich die Trends bei Alltagsgegenständen verändern. Solche Billigartikel sind völlig anspruchslos und auf ihre Funktion reduziert. Addiert man jedoch die Zeit, erge1 Auf der im letzten Winter in der südlichen Zweigstelle des Seoul Museum of Art abgehaltenen Ausstellung Today’s ben sich Traditionen. Gelegentlich gehe Onggi: Hyun-Bae Lee waren eine Reihe von Totenurnen zu sehen, die im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts, das ich auch ins Museum und da ist es genau Lee seit 2008 zusammen mit dem Naju Nationalen Forschungsinstitut für Kulturerbe durchführt, entstanden sind. umgekehrt: Subtrahiert man hier die Zeit, Das Projekt zielt darauf ab, das Know-how für die Reproduktion der antiken, im Yeongsan-Flussgebiet ausgegrabenen Tonsärge wiederzubeleben. werden die Museumsexponate Moderni2 Die Vorratskrüge-Sets in verschiedenen Formen und Größen, die auf der Ausstellung präsentiert wurden, sprechen tät.“ für die Überzeugung des Künstlers, dass die Onggi-Töpferkunst mit dem Wandel von Lebensbedingungen und Zum Schluss erwähnt Lee die „denkenkulinarischen Gebräuchen Schritt halten sollte. den Hände“. Er meinte wohl seine eigenen Hände, in denen sich alle Erinnerungen, Überlegungen und Handlungen seiner langen Keramikmeister-Karriere eingegraben haben. Es ist ein Begriff, der von anderen Trägern des Titels „Immaterielles Kulturgut“, die ihre Ideen nicht verbalisieren und nur durch ihre Werke sprechen wollen, kaum thematisiert wird. Lee möchte nicht von seinen Werken leben, sondern von der Zeit, die er als Onggi-Meister verbracht hat. In dieser Zeit existieren der wahre Lee Hyun-bae und seine wahren Onggi.

brauchsgegenstände ist aber noch länger. Dazu gehören die Krüge zur Aufbewahrung verschiedener fermentierter Gewürzpasten, Soßen und Speisen (Jangdok), die Öllampe (Deungjan), das Kohlebecken (Hwadeok), die traditionellen Reisschnaps-Destillierkrüge (Sojutgeori) und vieles mehr. Deshalb spürte ich eine gewisse Wiedersehensfreude, als ich im letzten Winter im Seoul Museum of Art Lees Onggi-Werke in der Ausstellung Today’s Onggi: Hyun Bae Lee bewundern konnte. Zu sehen waren Geschirrsets und Kochutensilien, bei denen die moderne Esskultur anhand der Onggi-Kultur neu interpretiert wurde, darunter ein schlichtes Geschirrset für Nudelgerichte, ein Essservice im westlichen Stil, Espressotassen und Kaffeeröster und ein einfach zu handhabendes Dekokt-Set für traditionelle koreanische Heilkräutertrunks. Keramikmeister Lee ist überzeugt, dass Onggi-Produkte sowohl funktional als auch ästhetisch ansprechend sein können und versucht entsprechend, moderne Gebrauchsartikel mit Onggi-Eigenschaften zu entwickeln. Als Ergebnis seiner Bemühungen erhielt Lee 2008 für seinen vollmondförmigen Dal-Hangari und seinen Jeongol-Sot, einen Onggi-Topf für Hot-Pot-Gerichte, den UNESCO-Preis für hervorragende Handwerksprodukte. Doch Lees Eifer kennt keine Grenzen: „Bei unseren Familiendiskussionen über die Rolle von Onggi waren wir bislang der Meinung, dass der Zeitabschnitt des mittleren bis späten Joseon-Reiches ab dem 16. Jh. am bedeutendsten sei, denn da wurden zum ersten Mal Onggi mit Naturlaugen-Glasur hergestellt. Bei unseren jüngsten Familiengesprächen kam jedoch die Idee auf, ein paar Jahrhunderte weiter bis ins Goryeo-Reich (918-1392) zurückzu-

2

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 51


GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

Eine Collage der Bucheinband-Fotos der fremdsprachigen Ausgaben von Die Denunziation: Erzählungen aus Nordkorea, verfasst von einem nordkoreanischen Autor unter dem Pseudonym „Bandi“. Die Buchdeckel zeigen verschiedene Facetten der Realität in dem abgeschotteten totalitären Land.

ENTDECKUNG NORDKOREANISCHER DISSIDENTENLITERATUR Anders als die Aufzeichnungen von Flüchtlingen, in denen die grausame Lage in Nordkorea angeklagt wird, zieht derzeit der Erzählband eines noch in Nordkorea lebenden Dissidenten wegen seiner hervorragenden

literarischen Beschreibung der Alltagsrealität die Aufmerksamkeit auf sich. Der Erzählband Die Denunziation: Erzählungen aus Nordkorea, schaffte es über die Grenze des abgeschotteten Landes und wurde nach seiner Veröffentlichung in Seoul 2014 in viele Sprachen übersetzt. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, School of Media and Communication, Korea University

52 KOREANA Sommer 2017


I

n den Augen des Westens ist nordkoreanische Literatur nicht viel mehr als ein Instrument zur Verherrlichung und Idolisierung der drei Generationen überspannenden Diktatur der Kim-Dynastie. Tatsächlich basiert die nordkoreanische Literatur immer noch auf der Herrschaftsideologie des Großen Führers, der in seiner Neujahrsansprache die Richtung der nordkoreanischen Literatur und deren Inhalte vorgibt.

Lobpreis des Regimes und Kritik der Gesellschaft Dennoch wäre es falsch, anzunehmen, dass es in der nordkoreanischen Literatur nur um Lobpreisung des Regimes geht. Die Dichterin Choi Jin-i (58), die einst zur Poesie-Abteilung des Zentralkomitees der Chosun Schriftsteller-Vereinigung gehörte und 1988 aus Nordkorea flüchtete, erklärte, dass diese gängige Annahme so nicht der Realität entspreche: „Viele hier im Süden denken, dass nordkoreanische Schriftsteller nur das Regime verherrlichen, aber das stimmt nicht. In der autoritär regierten nordkoreanischen Gesellschaft scheint es an der Oberfläche zwar hauptsächlich Regime-glorifizierende Werke zu geben, aber es gibt auch viele Beispiele, die belegen, dass Autoren, die solche Werke produzieren, als extreme Kriecher gelten, denen die Grundbegriffe der Literatur fehlen.“ Choi sagte, dass selbst Mitglieder der Chosun Schriftsteller-Vereinigung im Beisammensein mit Kollegen, denen sie trauten, ihrer Unzufriedenheit mit dem Regime manchmal Luft gemacht hätten. Ein Dichter, der Staatsgründer Kim Il-sung und seinen Sohn Kim Jong-il in vielen Werken gepriesen hatte, wurde schwer getadelt: „Wie kannst gerade du, der privat immer so über die beiden Kims herzieht, dermaßen viele Lobgedichte schreiben?“ Er antwortete ausweichend: „Beim Schreiben habe ich an meinen Gott gedacht, nicht an die Kims. Na und?“ Es heißt, dass Kim Jong-il einmal eins der preisenden Gedichte der Schriftsteller-Vereinigung mit dem Kommentar „Da stehen einem ja die Haare zu Berge!“ abgelehnt haben soll. Als gesellschaftskritische Darstellungen unter Voraussetzung der Wahrung der intrinsischen Autonomie von Literatur und des sozialistischen Systems vorsichtig gebilligt wurden, interessierten sich die nordkoreanischen Schriftsteller immer mehr für verschiedene Probleme des realen Alltags wie Liebe, Berufswahl, Scheidung, Entwicklungsgefälle zwischen Stadt und Land oder Heterogenität der Generationen. Beispielsweise sind Hymne an die Jugend (1987) von Nam Daehyeon und Die Freunde (1988) von Baek Nam-Ryong derart fernab von jeglichen ideologischen Untertönen, dass sie Ende der 90er Jahre sogar in Südkorea veröffentlicht wurden. Hymne an die Jugend beschäftigt sich mit der sittlich-moralischen Grundhaltung der Liebe zwischen Mann und Frau, verkörpert durch das lobenswerte Leben junger Intellektueller, Wissenschaftler und Techniker. Die Freunde, ein Roman über Scheidung, der in Nordkorea auf der Bestsellerliste stand, rief nach seiner Übersetzung ins Französi-

sche (Des Amis, 2011) großes Interesse bei ausländischen Lesern hervor. Es ist das allererste nordkoreanische Werk, das in Europa veröffentlicht wurde. Der historische Roman Hwang Jin-i des nordkoreanischen Schriftstellers Hong Seok-jung sorgte 2002 bei seiner Veröffentlichung in Pjöngjang für eine Sensation. Übrigens ist Hong der Enkel des südkoreanischen Schriftstellers Hong Myong-hui (1888-1968), Verfasser der historischen Saga Im Kkeokjeong, die in beiden Koreas viel gepriesen und gelesen wird.

Das kontroverse Werk von Bandi, des Schriftstellers ohne Gesicht Dissidentenliteratur ist im Norden verboten. Jeder, der in einem literarischen Werk explizite Kritik am Regime übt, riskiert Einkerkerung in ein Arbeitslager für politische Häftlinge. Unter solchen Umständen hat das Buch eines in Nordkorea lebenden Schriftstellers „ohne Gesicht“ es geschafft, in Südkorea und vielen anderen Ländern die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Der Erzählband Die Denunziation stammt aus der Feder eines nordkoreanischen Schriftstellers, der den Künstlernamen Bandi (Glühwürmchen) verwendet. Als Bandi in Frankreich „Solschenizyn Nordkoreas“ tituliert wurde, wuchs seine Berühmtheit weiter. Hinter dem Pseudonym „Bandi“, das der Autor selbst wählte, steckt der Wille, wie ein „nur im Dunkeln leuchtendes Glühwürmchen“ die dunkle Realität in Nordkorea ans Licht zu bringen. Bandis Situation ähnelt sehr der des Literatur-Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn in der einstigen Sowjetunion. Wie der regimekritische Russe widersetzt sich auch Bandi dem politischen System seiner Heimat und musste die Manuskripte zur Publikation außer Landes schmuggeln. Die Literatur der mittlerweile zerfallenen Sowjetunion begann erst auf allgemeines Interesse in der Welt zu stoßen, als Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch und Der Archipel Gulag die Gräueltaten der Diktatur Stalins ans Licht brachten. Bei Bandi könnte man sagen, dass erst durch die Veröffentlichung von Die Denunziation das internationale Interesse an der nordkoreanischen Dissidenten-Literatur geweckt wurde. Die sieben Erzählungen des Bandes beschreiben realitätsnah das elende Leben, das Nordkoreaner mit ganz unterschiedlichem Hintergrund unter der Kim-Diktatur führen. Die Erzählungen unterscheiden sich zwar in Thema und Handlung, sie stehen jedoch allesamt unter dem Großthema „Anklage der Herrschaft Kim Il-sungs“. Die Erzählung Die Flucht erzählt in Briefform von einem Mann, der seine Frau verdächtigt, heimlich mit der Pille zu verhüten. Er schreibt Briefe an einen Freund, in dem er seiner Frustration mit dem nordkoreanischen Erb-Kastensystem Luft macht und ihm am Ende seine Entscheidung, fliehen zu wollen, mitteilt. In Die Stadt der Gespenster geht es um eine Familie, die unter der Anklage der „Blasphemie“ von der Hauptstadt Pjöngjang in die hinterste Provinz verbannt wird: Sie hatten die Gardinen ihrer Hochhauswohnung KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 53


zugezogen, weil der dreijährige Sohn immer einen Krampfanfall bekommen hatte, sobald er bei Militärparaden auf der Straße die Porträts von Kim Il-sung und Karl Marx erblickte. So nah und doch so fern erzählt die herzergreifende Geschichte eines Mannes, dem es verwehrt ist, seine im Sterben liegende Mutter zu besuchen. Er kann sich zwar heimlich in einen Zug schleichen, wird aber schon bald bei einer Sicherheitskontrolle erwischt, da ihm die vorgeschriebene Reisegenehmigung fehlt. Die letzte Erzählung ist Der rote Pilz. Darin ruft ein nordkoreanischer Journalist, der das Hauptquartier der Kommunistischen Arbeiterpartei als „giftigen roten Pilz“ beschreibt, zum Umsturz des Kim-Regimes auf: „Rupft diesen giftigen Pilz aus diesem Land, nein, aus der Welt, ein für allemal!“ Die thematische Reihenfolge der sieben Erzählungen in der koreanischen Originalversion spiegelt minutiös die vom Autor beabsichtigte Gradierung der Rebellion gegen das brutale Regime wider: vom zunächst passivem (Die Flucht) zu aktivem Widerstand, bei dem am Ende die Vernichtung des Hauptquartiers der Kommunistischen Partei als Wiege der Diktatur des Proletariats verlangt wird.

Nordkoreas Solschenizyn Die Umstände, unter denen das Manuskript 2013 nach Südkorea geschmuggelt wurde, erinnern an eine dramatische Spionagemission: Eine Verwandte des Autors, der die Flucht aus Nordkorea gelang, schaffte es bis nach Seoul. Einige Monate später erzählte sie Do Hee-yoon, dem Vorsitzenden der Bürgerkoalition für die Menschenrechte von nach Nordkorea Entführten und nordkoreanischen Flüchtlingen, von Bandis Manuskript. Über einen engen chinesischen Freund ließ Do dem Schriftsteller brieflich die Bitte um Übergabe des Manuskripts übermitteln. Nach dem Lesen des Briefs, holte Bandi das Manuskript aus seinem geheimen Aufbewahrungsort, versteckte es in Propagandamaterial wie Ausgewählte Werke von Kim Il-sung und Errungenschaften von Kim Jong-il und überreichte es seinem Helfer. Das Manuskriptpapier war von solch mangelhaftiger Qualität, dass es aus den 60er oder 70er Jahren zu stammen schien. Das vergilbte Papier verriet, dass der Autor beim Schreiben der Geschichten fest mit einem Bleistift gedrückt hatte. Den Titel Die Denunziation wählte der Autor selbst und schrieb ihn auf das Manuskript. Auch das Pseudonym „Bandi“ stammt von ihm. Laut Do Hee-yoon sei Bandi 1950 geboren, männlich, und Mitglied der Chosun Schriftsteller-Vereinigung. Es wird jedoch spekuliert, dass Do mit diesen Angaben Bandis wahre Identität schützen möchte. Nach vielen Aufs

und Abs gelang es dem NGO-Vorsitzenden, diese Erzählungen von Seltenheitswert im Mai 2014 zu veröffentlichen. In Südkorea interessierten sich zunächst nur wenige für Bandis Werk. Was für Furore sorgte, waren lediglich die Tatsachen, dass es sich bei dem Autor nicht um einen Flüchtling, sondern um eine noch in Nordkorea lebende Person handelte, und die dramatische Art und Weise, wie das Manuskript in den Süden geschmuggelt worden war. Einige vermuteten hinter Bandi sogar eine fiktive Person. Daher wurde der wahre Wert und die literarische Qualität des Werkes nicht richtig geschätzt. Im Gegensatz zur kühlen Reaktion in Südkorea wurde der Erzählband nach der Erstveröffentlichung der französischen Übersetzung im Jahr 2016 von Kritikern und Lesern mit Begeisterung aufgenommen. Als Pierre Rigoulot, Menschenrechtsaktivist und Direktor des Institut d'Histoire Social, in seinem Vorwort für die französische Ausgabe Bandi als „Solschenizyn Nordkoreas“ bezeichnete, folgten viele seinem Beispiel. Rigoulot betitelte sein Vorwort mit „Klein ist das Glühwürmchen, groß ist seine Hoffnung“. Tageszeitungen wie Le Figaro und Le Libération, Rundfunkanstalten wie France Inter, France Info und RFI und Zeitschriften wie Marianne berichteten über das Buch. Lim Yeong-hee (57), die es ins Französische übersetzte, lobte die Erzählungen wie folgt: „Ich habe schon viele koreanische Werke ins Französische übertragen, aber noch nie habe ich mich dermaßen intellektuell stimuliert gefühlt wie beim Übersetzen von Bandis Erzählungen.“ Sie fügte hinzu, dass das Handlungsschema der Erzählungen hervorragend sei. Die Denunziation wurde in insgesamt 19 Sprachen übersetzt und im Frühjahr 2017 in 21 Ländern wie den USA, Großbritannien, Italien, Kanada, Deutschland, Schweden und Portugal herausgegeben. Die Britin Deborah Smith, die 2016 für ihre englische Übersetzung von Han Kangs Die Vegetarierin mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde, hat den Erzählband aus Nordkorea ins Englische übertragen. Die englische Ausgabe mit dem Titel The Accusation gehörte zu den zehn Gewinnern des im Herbst 2016 vergebenen PEN Translation Prize. In New York riefen koreanischstämmige Amerikaner eine Kampagne zur Nominierung von Bandi als Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis ins Leben. Der britische Guardian kommentierte: „Der Erzählband des unter dem Pseudonym Bandi schreibenden Autors [...] ist ein äußerst seltenes Beispiel für Prosaliteratur aus dem hermetisch abgeschlossenen Diktaturstaat, [...] und ist auf dem Weg, zu einer internationalen literarischen Sensation zu werden.“ Das Online-Literaturmagazin The Millions setzte den Erzählband auf seine Liste der

Der britische Guardian kommentierte: „Der Erzählband des unter dem Pseudonym Bandi schreibenden Autors [...] ist ein äußerst seltenes Beispiel für Prosaliteratur aus dem hermetisch abgeschlossenen Diktaturstaat, [...] und ist auf dem Weg, zu einer internationalen literarischen Sensation zu werden.“ 54 KOREANA Sommer 2017


Verleger und Menschenrechtsaktivisten aus verschiedenen Ländern nahmen am 30. März 2017 an einem Lese-Event von Die Denunziation teil, das an der Brücke der Freiheit in der Nähe des Imjingak Pavillons südlich der DMZ in Paju, Provinz Gyeonggi-do, stattfand.

© Lee Seung-hwan (Dasan Books)

Most-Anticipated-Books 2017. Die amerikanische Fachzeitschrift Publishers Weekly schrieb, dass Bandi „einen seltenen Einblick in das Leben in der wahrhaftig unergründlichen Dunkelheit Nordkoreas gewährt“, während die US-Online-Buchhandlung Amazon ihn folgendermaßen präsentierte: „Die Denunziation ist eine lebendige Darstellung der Gesellschaft eines hermetisch abgeschlossenen Einparteienstaates und gleichzeitig ein hoffnungsvolles Zeugnis von Menschlichkeit und eines reichen Innenlebens, die selbst unter solch inhumanen Umständen fortbestehen.“ Hannah Westland vom britischen Verlag Serpent’s Tail, der die englische Version herausbrachte, sagte gegenüber dem Guardian, dass es sich bei Die Denunziation um „eine Sammlung perfekt geschriebener Erzählungen“ handele, „die, wie Alexander Solschenizyns Werke, im Angesicht der Macht mit Autorität und Direktheit die Wahrheit sagen“, deren „absurdistischer Satire-Ansatz an Ionescos Rhinozeros erinnert und deren bissige Scharfsinnigkeit an den großen sowjetischen Dissidenten Michail Bulgakow.“ Kim Jong-hoi, Professor für Koreanische Sprache und Literatur an der Kyung Hee University, bemerkt: „In Hinblick auf technische Finesse bestehen zwar große Unterschiede zwischen Bandi und den zeitgenössischen südkoreanischen Schriftstellern, doch wenn man bedenkt, dass das offizielle Ziel der nordkoreanischen Literatur in der Glorifizierung der Kim-Dynastie besteht, darf das schriftstellerische Können nicht allein an der Finesse gemessen werden. Das Gewicht sollte vielmehr auf den Geist des Widerstandes, der aus der direkten Anklage des Regimes spricht, gelegt werden.“ Inmitten der begeisterten Aufnahme des Werks im Ausland wurde die südkoreanische Version von Die Denunziation drei Jahre nach der Ersterscheinung von einem anderen Verlag neu herausgegeben. Diese in neuem Einband erschienene Ausgabe ist zwecks Betonung des literarischen Werts dem Originalskript weitestgehend treu geblieben. Der Verlag Dasan Books erklärt dazu: „Die Neuausgabe wird den Lesern ein völlig anderes Gefühl vermitteln als die ältere Version. Wir glauben an ihr Marktpotential.“

Nordkoreanische Literatur in den Augen der Südkoreaner Es ist anzumerken, dass in vielen Fällen die Werke nordkoreanischer Flüchtlinge mehr Aufmerksamkeit im Ausland als in Südkorea finden. 2012 gewann der nordkoreanische Flüchtling und Dichter Jang Jin-sung mit seiner Gedichtsammlung I Am Selling My Daughter for 100 Won, die das elende Leben der Nordkoreaner wahrheitsgetreu beschreibt, den Rex Warner Literary Prize. 2014 veröffentlichte er die Essaysammlung Dear Leader, die es auf den zehnten Platz der britischen Bestsellerliste schaffte. Kim Yu-Gyong, die früher als Mitglied der nordkoreanischen Chosun Schriftsteller-Vereinigung schrieb und 2000 in den Süden flüchtete, veröffentlichte 2016 den Roman Ingan Modokso (Camp for Defiling Human Beings) , dessen Publikationsrechte von dem französischen Verlag Éditions Philippe Picquier erworben wurden. Dass die Werke der nordkoreanischen Flüchtlinge im Ausland geschätzt werden, scheint an dem lebendigen Realismus zu liegen, der sich aus den persönlichen Erfahrungen der Autoren ergibt. Das relativ geringe Interesse der südkoreanischen Leserschaft an nordkoreanischer Literatur dürfte darin begründet sein, dass sie weniger neugierig in Bezug auf Leben und Gesellschaft in Nordkorea sind. Da Südkorea nur einen Katzensprung von Nordkorea auf der anderen Seite der DMZ entfernt liegt, erfahren die Südkoreaner alltäglich Neues über die tragische Realität im Norden, weshalb nordkoreanische Literatur mit ähnlichen Inhalten kaum ihr Interesse zu wecken vermag. Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen, dass Amerikaner oder Europäer die atomare Bedrohung durch Nordkoreas Atomprogramm oder den möglichen Ausbruch eines zweiten Koreakrieges ernster nehmen als die Südkoreaner, die an diese „chronische Gefahr“ gewöhnt und entsprechend abgestumpft sind. Daher neigen auch viele Südkoreaner dazu, nordkoreanische Literatur hauptsächlich unter ideologischem Gesichtspunkt zu betrachten, anstatt den Wert der literarischen Darstellung authentischer Lebenserfahrungen zu würdigen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 55


VERLIEBT IN KOREA

Kim Hyun-sook CEO, K-MovieLove Fotos Ahn Hong-beom

Wolf Schröder überträgt und kommentiert als professioneller eSport-Caster Online-Spiele, die von Fans in aller Welt verfolgt werden. Er verfiel der Welt der Online-Spiele, als er in seiner Jugend in Atlanta (USA) koreanische Gamer kennenlernte, mit denen er Spielstrategien für StarCraft austauschte. In seiner Studentenzeit streamte und moderierte der Amateur eine eigene Sendung, die ihm schließlich einen Job bei einem koreanischen KabelTV-Sender einbrachte.

A

m 3. April, als ein Spiel der StarCraft II-Liga SSL Series 2017 ausgetragen wurde, besuchte ich das Studio des eSport-Stadions Nexon Arena im Seouler Nobelviertel Gangnam. An dem Tag fand eine der Partien der Liga statt, bei der zwanzig koreanische Spieler neun Wochen lang gegeneinander antreten. Obwohl ich eine ganze Stunde vor Spielbeginn eintraf, waren schon zahlreiche Plätze besetzt. Die meisten Zuschauer waren junge Leute, darunter auch auffallend viele Ausländer. Obwohl das koreanische Internetportal Naver, die koreanischen eSport-Sender SPOTV GAMES und eSportsTV und auch YouTube die Spiele live übertragen bzw. über VoD zeigen, wollten viele das große Match live vor Ort mitverfolgen.

Heißes eSport-Fieber Der Begriff „eSport“ umfasst Online-Wettkampfspiele, die auf Basis bildgebender elektronischer Systeme wie Computer, Video-Netzwerken oder Videospielkonsolen durchgeführt werden. eSport-Enthusiasten spielen nicht nur selbst, sondern verfolgen auch die gestreamten Profi-Spiele und beteiligen sich an allen damit zusammen56 KOREANA Sommer 2017

hängenden Aktivitäten der eSport Community. In Korea ist im Vergleich mit anderen Ländern v. a. die Zuschauerkultur besonders stark entwickelt. Wenn Spiele auf den speziell eingerichteten Bühnen auf dem Platz vor dem Seouler Rathaus oder am HaeundaeStrand in Busan stattfinden, wird der Veranstaltungsort überschwemmt von Jubelrufen oder enttäuschten Seufzern Tausender Zuschauer. Doch es gibt noch eine weitere Besonderheit, die für Korea als Ursprungsland des eSports steht: Bringt Blizzard Entertainment, einer der bekanntesten amerikanischen Computerspiele-Entwickler, ein neues Spiel auf den Markt, wird es oft zuerst in Korea angekündigt. Tatsächlich präsentierte Mike Morhaime, CEO von Blizzard Entertainment, bereits am 26. März 2017 im COEX in Gangnam StarCraft: Remastered , das erst im Sommer erscheinen soll. Morhaime weiß ganz genau, dass Korea eins der Länder ist, das über Erfolg oder Misserfolg des neuen Produkts entscheidet. Es war zwar Blizzard Entertainment, das 1998 StarCraft schuf, aber es waren allein die koreanischen User, die aus dem Computerspiel eSport entwickelten. Wie ist dieses eSport-Fieber in

Korea zu erklären? Niemand dürfte eine bessere Erklärung dafür haben als Wolf Schröder (geb. 1990), den ich vor dem Spiel in der Garderobe im Studio der Nexon Arena traf: „Man konnte StarCraft hier in preiswerten Internetcafés kostenlos spielen. Der koreanische Kabelsender OnGameNet (heute: OGN) rief 2000 offiziell das Turnier OnGameNet Starleague (OSL) ins Leben, das bis 2012 ausgerichtet wurde. In der Zeit wuchs die Beliebtheit des Spiels, entsprechend stiegen die Einschaltquoten und große Sponsoren wie KT Telecom und SK Telecom begannen einzusteigen. Auf die Telekommunikationsanbieter folgten Firmen wie Woongjin Holdings, Samsung Electronics und HITE Brewery mit eigenen Teams. Nachdem OnGameNet sein StarCraft-Turnier im Fernsehen ausgestrahlt hatte, entstand mit MBC Game ein neuer TV-Kanal. Etwas Unglaubliches war also geschehen: Spiele von Profi-Gamern, die von Großunternehmen gesponsert werden, wurden von auf Online-Games spezialisierten Kabelsendern übertragen. In keinem anderen Land der Welt genießt eSports größere Beliebtheit als in Korea. Entsprechend groß


ist auch der Stolz der koreanischen Spieler. Diese Stimmung hält immer noch an.“ Schröder kennt die Geschichte der koreanischen Online-Spiele so gut in- und auswendig, als ob er schon zu Beginn der Spielindustrie-Ära in Korea gelebt hätte. Koreas eSport-Spitzenposition begründete er außerdem noch damit, dass die koreanischen Spieler im Vergleich zu ihren Kollegen in Europa oder den USA sich strenger an die Anweisungen ihrer Trainer halten, unermüdlich trainieren und die stark ausgeprägte Teamarbeit durch Gruppentraining beim Zusammenwohnen weiter gestärkt wird.

Ein Atlanta-Junge im Banne von Computerspielen StarCraft war einst der Inbegriff von hochgradig süchtig machenden Computerspielen und für koreanische Eltern, die wollten, dass sich ihre Kinder auf die Schule konzentrieren, ein entsprechender Albtraum. Die Magie dieses Spiels lenkte ebenfalls das Schicksal eines Jungen im US-Bundesstaat Atlanta. Wolf Schröder, der mit 10 Jahren zum ersten Mal auf StarCraft traf und Spaß daran fand, erfuhr, dass es in seiner Schule koreanische Schüler gab, die ihm ein Stück voraus waren: Sie spielten nicht nur im Mehrspielermodus auf Battle. net, sondern erstellten sogar eigene Karten mit dem Editor. Außerdem waren sie nicht nur gut im Spielen, sondern auch in Mathematik. Wolf freundete sich mit ihnen an und geriet tief in den Bann der StarCraft -Welt. Wenn er zum Spielen zu den Freunden ging, konnte er am Abend von den Müttern zubereitete koreanische Hausmannskost probieren. Damals lernte er koreanische Gerichte und knabbereien kennen. Als er mit seinem Studium an der Georgia State University begann, rief Schröder das nach ihm benannte Turnier „Open

Wolf Schröder, freiberuflicher eSport-Kommentator, ist für seinen einzigartigen Präsentierstil bekannt: Spannende Spielmomente würzt er mit persönlichen Geschichten über die Spieler.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 57


Schröders Stärke ist seine Fähigkeit zum angemessenen Storytelling. Er kommentiert das Spiel nicht einfach flach, sondern haucht ihm Leben ein, indem er in spannenden Momenten immer mal wieder persönliche Geschichten über die Spieler einflicht.

Wolf Cup“ ins Leben und startete als Amateur-Caster einen Einmann-Livestream. Seine Ausrüstung bestand nur aus einem Computer und einem Mikrofon. Er sendete live aus seiner Wohnung. Für sein erstes Turnier meldeten sich 128 Spieler an. Dem Gewinner überreichte er ein Preisgeld von 50 US-Dollar, das er aus seiner eigenen Tasche zahlte. Er arbeitete auch unentgeltlich als Kommentator oder Analyst bei von anderen organisierten Turnieren. Er nahm an 14 Turnieren mit ca. 130 Spielern teil und kommentierte insgesamt mehr als 100 Spiele. Schröder ist zweifellos ein StarCraft-Caster der ersten Generation. In seinem zweiten Studienjahr bekam er schließlich ein unglaubliches Job-Angebot von einem koreanischen Sender: „Der Internetsender GOMTV bat mich nach Korea. Man suchte einen Kommentator für die StarCraft II-Liga und da ich damals schon mit meiner eigenen Sendung Erfahrung im Live-Kommentieren hatte, schien ich genau der Richtige zu sein. Bis dahin hatte ich nur alleine online gecastet und nur ein einziges Mal offline in einem Studio. Endlich bekam ich die Gelegenheit, als professioneller Kommentator aufzutreten – und das in Korea!“

Wolfs einzigartiger Kommentarstil 20011 unterbrach Wolf sein Studium und flog nach Korea, wo er bei GOMTV einen Jahresvertrag als Caster unterschrieb. Als der Vertrag abgelaufen war, war er sich sicher, auch auf eigenen Füßen stehen zu können. Seitdem arbeitet er als Freelancer. Heute kommentiert er fünf bis sechs Spiele pro Woche bei Sendern wie GOMTV, AfreecaTV und SPOTV und spezialisiert sich dabei auf StarCraft II, Heroes of the Storm und Overwatch . Für ein weltweites Publi58 KOREANA Sommer 2017

1 Wolf Schröder posiert mit einer mit der koreanischen Nationalflagge geschmückten Kappe auf dem Kopf für die Kamera. 2 Schröder, zweiter von rechts, beim Kommentieren eines eSport-Wettkampfes in der Kabine für ausländische Kommentatoren im Nexon Arena Studio, wo gerade eine Spiel der StarCraft II-Liga SSL Series 2017 ausgetragen wird. 1

kum castet er live über YouTube und unternimmt nicht wenige Arbeitsreisen ins Ausland. Unter den Fans seiner auf Englisch gesprochenen Kommentare gibt es auch viele Koreaner. Schröders Stärke ist seine Fähigkeit zum angemessenen Storytelling. Er kommentiert das Spiel nicht einfach flach, sondern haucht ihm Leben ein, indem er in spannenden Momenten immer mal wieder persönliche Geschichten über die Spieler einflicht. Er findet es nämlich bedauerlich, dass die koreanischen Gamer von Spielern und Fans in anderen Ländern oft als Maschinen oder Roboter angesehen werden. Dieses Image habe sich verfestigt, weil ihre Gaming-Skills so herausragend seien. Spieler, die das wissen, bitten ihn manchmal: „Wolf, bitte erzähl etwas Gutes über mich.“ Doch er ist um Abstand bemüht, weil er fürchtet, beim Kommentieren die Objektivität verlieren zu können, wenn er sich privat mit ihnen anfreundet. Informationen über die Spieler sammelt er daher über die Medien oder Bekannte der Gamer. Als Schröders Bekanntheit stieg, engagierte der Veranstalter des 2016 StarCraft II KeSPA Cup fünf Kommentatoren, drei Koreaner und einen weiteren Ausländer, was sich als erfolgreiches Format erwies. Schröder brach aus seiner Rolle als ausländischer Caster aus, indem er während


der Sendung in fließendem Koreanisch spontane Interviews mit den Spielern führte, wodurch er so große Aufmerksamkeit auf sich zog, dass er den koreanischen Namen „Kim Ul-bu“ (Familienname „Kim“ plus einkoreanisierte Aussprache seines Vornamen „Wolf“) erhielt. Seitdem tauscht er sich auf Koreanisch mit seinen Fans über Twitter, Instagram und Facebook aus. In Seoul leben etwa zehn international bekannte Caster wie Wolf Schröder. Während er gesunde Distanz gegenüber den Spielern hält, pflegt er mit den Castern engen Kontakt. Was eSport angeht, ist man der Weltbeste, wenn man in Korea der Beste ist. Das gilt auch für die Kommentatoren. Von den rund zehn ausländischen Kommentatoren in Seoul nannte Schröder Christo-

pher „MonteCristo“ Mykles, Duncan „Thorin“ Shields und Christopher „PapaSmithy“ Smith als seine Vorbilder. Alle drei sind Analysten und Kommentatoren von League of Legends. Er sagte über ihre Stärken: „Während ich mich recht gut aufs Storytelling verstehe, finde ich ihren Analysestil, ihre temporeiche Moderation und Informationsvermittlung wirklich beeindruckend.“

Liebe zum koreanischen Essen Wolf Schröder nennt sich selbst scherzhaft „Daehan-Miguk saram“ („Koreanischer Amerikaner“). Er postet in sozialen Netzwerken Fotos, die ihn beim Genuss koreanischer Speisen zeigen. Sein Posting, dass er auf Geschäftsreisen in die USA koreanisches Essen mitnehme, löste Begeiste-

rungsstürme bei den Fans aus. Ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie er zwei Gabeln als Stäbchen benutzt, weil, wie er witzelt, „Stäbchen viel angenehmer seien“, löste eine, enthusiastische Kommentarlawine aus. Letzten Winter postete Schröder Fotos, die ihn auf dem Gwanghwamun Plaza in der Seouler Innenstadt bei den KerzenlichtDemonstrationen zur Amtsenthebung der damaligen koreanischen Präsidentin Park Geun-hye zeigen. An dem Tag, als Park ihres Amtes enthoben wurde, schrieb er: „Herzlichen Glückwunsch, Korea! Heute konnte ein gutes Ergebnis erreicht werden, weil viele Menschen auf den Straßen für die Zukunft des Landes der bitteren Kälte getrotzt haben.“ Weiter hieß es, dass alle etwas Leckeres essen und den Rest des Tages genießen sollten. Die Koreaner reagierten darauf mit „Daehan-Miguk saram, unser Kim Wolf, enttäuscht uns nicht!“ und Tausenden von Likes. Nach seiner Rückkehr aus den USA scherzt er, dass es „sein Zuhause in Korea das beste“ sei. „Koreanisches Essen schmeckt mir am besten. Der Geschmack ist sehr stark, es wird immer heiß serviert und ist meist scharf. Als ich hier ankam, meinten viele Koreaner, dass das Essen in Amerika fade sei, jetzt geht mir das genauso. Und dazu noch die vernünftigen Preise!“ Er erinnert sich immer noch an den Geschmack des über Holzkohle gegrillten Schweinefleischs, das er an seinem allerersten Tag in Korea in einem Restaurant im Seouler Stadtviertel Mapo-gu aß. Seine Kollegen von GOMTV hatten ihn dazu eingeladen. Seitdem seine Vorliebe für koreanisches Essen allgemein bekannt wurde, kamen immer wieder Angebote für Auftritte in Kulinarik-Sendungen oder Interview-Anfragen. Doch der 28-jährige weiß Schwerpunkte zu setzen: Er hat nicht nur keine Zeit dafür, sondern ist sich auch bewusst, dass er ein eSport-Caster ist, nicht mehr und nicht weniger.

2

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 59


EIN GANZ NORMALER TAG

Yi Chun-suk flink und gewandt mit der Schere Glücklich muss sich derjenige schätzen, der mit einem Friseurmeister befreundet ist: Es gibt kein größeres Glück, als einen guten Friseur gefunden zu haben, zu dem man jederzeit gehen kann. Yi Chun-suk ist eine Friseuse mit einem besonderen Talent, Kunden zu Freunden zu machen. Ihr Geheimnis ist alles andere als außergewöhnlich. Kim Seo-ryung Leiterin, Old & Deep Story Lab Fotos Ha Ji-kwon

U

m 10 Uhr morgens geht Yi Chun-suk zu ihrem Arbeitsplatz, einem Friseurladen in Imun-dong, einem Stadtviertel im östlichen Teil Seouls. Auf dem Ladenschild steht Yi Ji-eun Friseursalon, ein Name, den sie selbst gewählt hat. In der Mitte des knapp 100m2 großen Ladens befindet sich eine Wand, an der Spiegel hängen, auf der linken und rechten Seite der Wand stehen jeweils vier Stühle. Bis alle acht Stühle mit Kunden besetzt sind, dauert es jeden Tag unterschiedlich lange. Gestern gab es schon seit vormittags einen ununterbrochenen Kundenstrom, sodass die Mittagspause verschoben werden musste, heute lässt die Kundschaft bis nachmittags auf sich warten, dafür kommen alle mehr oder weniger gleichzeitig.

Ein Treffpunkt der Stammkunden In einer Ecke des Friseurladens steht ein langer Tisch: der Entspannungsbereich für die Kunden. Dort sitzen und warten sie, bis sie an die Reihe kommen, warten mit Färbemittel in den mit Klarsichtfolie umwickelten Haaren, bis die Kolorierung ausgewaschen werden kann, oder mit bunten, großen und kleinen Lockenwicklern, die an den Haaren baumeln. Sie sitzen um den Tisch, blättern Zeitschriften durch, schauen auf ihr Handy, oder machen ein Nickerchen. Auf dem Tisch gibt es Instantkaffee, Obst und Naschzeug wie Kekse und Schokolade. Im Winter steht neben dem Tisch ein 60 KOREANA Sommer 2017

Karton Süßkartoffeln, die man in einem Mini-Ofen auf dem Tisch rösten kann. Die 62-jährige Inhaberin Yi Chun-suk begann ihre Friseurkarriere mit 26 und hat seitdem nichts anderes gemacht. Viele Jahre lang arbeitete sie im nahe gelegenen Stadtviertel Seokgwan-dong, bis dieses alte Viertel im Zuge der Stadtsanierung abgerissen wurde. Trotz des Umzugs blieben ihr die meisten Stammkunden, die ihr schon seit Jahrzehnten ihre Haare anvertrauen, treu. Denn Yis Friseursalon ist für sie nicht nur ein Ort, wo sie sich die Haare waschen, schneiden und legen lassen oder eine Kopfmassage genießen können, sondern vielmehr eine Gaststube, wo sie sich in einer freien Minute einen Snack teilen, sich beim Plaudern auf den neuesten Stand der Dinge bringen und so den alltäglichen Stress abbauen. „Ich schätze, dass mehr Kunden von weiter her als hier aus dem Stadtviertel Imun-dong kommen. Sie kommen aus der Umgebung wie dem Nachbarviertel Uijeongbu bis hin zu entfernteren Städten wie Cheonan oder Daejeon, ja sogar aus Gwangju. Sie kommen nicht nur, um sich die Haare machen zu lassen. Sie kommen, um einander mal wieder zu sehen und sich über dies und das zu unterhalten...“, erklärt Yi mit strahlendem Lächeln. Früher wurde eine Person, die sich um die Haare kümmert, in Korea „Miyongsa“ (Schönheitspflegerin) genannt, aber heute hat sich der englische Begriff „Hair Designer“ durchgesetzt. Doch Yi gefällt der alte Name besser als die neumodische Bezeichnung des 21. Jhs., denn Miyongsa ist „jemand der die Technik beherrscht, das gesamte Erscheinungsbild des Kunden zu verschönern“. Ähnlich verhält es sich mit ihrem eigentlichen Vornamen Chun-suk, der heute in ihren Ohren wärmer und vertrauter klingt, den sie aber in jungen Jahren zu altmodisch für das Ladenschild fand, weshalb sie den moderneren Namen Ji-eun wählte. Ihr robuster Körperbau, heller Teint und agile Bewegungen lassen Yis Alter auf den ersten Blick nur schwer erraten. „Da ich all die Jahre vollauf damit beschäftigt war, schöne Haarstile für meine Kunden zu kreieren, hatte ich wohl


Über Jahrzehnte hinweg hat Friseursalon-Besitzerin Lee Chun-suk stets den größten Wert darauf gelegt, beim Stylen des Haares jede einzelne Strähne gesund zu erhalten. Sie ist überzeugt davon, dass ein guter erster Eindruck von gesundem, gepflegtem Haar abhängt.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 61


nicht einmal die Zeit, zu altern“, spaßt sie. „Wenn ich die Kunden frisiere, überkommt mich ein Gefühl der Ruhe und des inneren Friedens. Wenn ich dann fertig bin, verspüre ich eine gewisse Freude, das Gefühl, etwas erfolgreich geleistet zu haben“, erklärt sie.

Wichtiger als die Frisur sind die Haare selbst Das erste, worauf sie bei einer Person achtet, ist der Zustand ihrer Haare. „Worauf ich unbedingt Acht gebe, ist, dass die Haare nicht zu sehr strapaziert werden. Ich weigere mich, bei einem Kunden mehr als drei Mal im Jahr eine Dauerwelle zu machen. Es sind ja meine Kunden und wenn ihre Haare überstrapaziert werden und kaputtgehen, bin letztendlich ich es, die der Schaden trifft. Eine Frisur mag noch so stilvoll sein und die Kleidung noch so schön, wenn die Haare kaputt sind, wirkt die ganze Person ungepflegt.“ Über Haarpflege kann Yi stundenlang reden. „Auch Haare werden alt und nutzen sich ab. Betrachtet man sie unter dem Mikroskop, lassen sich in der Innenschicht zahlreiche Löcher entdecken. Um das Haar gesund zu halten, müssen diese Löcher mit hochwertigen Proteinen gefüllt und das Haar leicht säuerlich gehalten werden. Gesundes Haar braucht nur einen guten Schnitt, um stilvoll auszusehen. Auch das Trocknen ist wichtig. Am besten beugt man den Kopf nach vorn und trocknet die Haare sanft, aber gründlich mit dem Handtuch ab.“ Als Yi noch jung und unternehmunglustig war, betrieb sie zusätzlich noch einen Friseursalon in einem Hochzeitspalast im noblen Seouler Stadtviertel Gahoe-dong. Sie verdiente so viel, dass sie mehrere tausend Euro in den Opferstock ihrer Kirchengemeinde stecken konnte und in die VIP-Liste eines Kaufhauses aufgenommen wurde. „Egal, wie viel man verdient, irgendwann verliert Geld an Bedeutung und man spürt eine innere Leere. Ich begriff, dass das, was letztendIich bleibt, die Momente der Zufriedenheit sind, die ich empfinde, wenn ich für einen Kunden eine gelungene Frisur kreieren konnte. Die meisten Kunden nicken ein,

wenn ich ihnen die Haare mache. Wenn ich ihnen dann die Haare schneide oder den Kopf massiere, fühle auch mich behaglich entspannt“, erklärt Yi.

Frisieren ist meine Berufung Yi Chun-suk wuchs in einem Dorf an der Ostküste in der Nähe der Stadt Gangneung auf. Bereits während ihrer Oberschulzeit frisierte sie gerne anderen die Haare. In der Schule verbrachte sie viel Zeit damit, ihren Freundinnen die Haare zu kämmen. „Chun-suk hat mir immer den Pferdeschwanz neu gebunden. Er sah dann irgendwie schicker aus, als wenn ich es selber machte“, erinnert sich eine Kundin und ehemalige Klassenkameradin aus der Oberschulzeit. Abgesehen von ihr gebe es noch ein paar andere Schulfreundinnen, die „ihre Fingerfertigkeit nicht vergessen können und nie einem anderen ihre Haare anvertrauen würden“. Yi erklärt, wie alles begann: „Als ich nach dem Oberschulabschluss als Buchhalterin arbeitete, brachte mir eine Verwandte von ihrer Japanreise einen elektrischen Lockenstab mit. Wenn ich morgens damit meine Haare frisierte und zur Arbeit ging, waren immer alle begeistert von meiner Frisur. Später kamen die Kolleginnen aus anderen Abteilungen zu mir in die Buchhaltung, damit ich ihnen die Haare machte. Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, mein Geld damit zu verdienen, und besuchte nach Feierabend Friseur-Kurse in einem Privatinstitut. Zu der Zeit wurde die Liste mit den Namen derer, die die Zertifizierungsprüfung bestanden hatten, ans Schwarze Brett am Seouler Rathaus aufgehängt. Die Konkurrenz war so hoch, dass von den 200 Prüflingen nur elf durchkamen“, erinnert sich Yi. Seit der Eröffnung ihres ersten Friseursalons 1981 ist die Zeit wie im Fluge vergangen. Als eine Kundin, die während ihrer Schwangerschaft zu ihr gekommen war, nach der Geburt mit dem Baby auf dem Rücken erschien und das Kleine zu weinen begann, störte Yi das nicht weiter, da ihre eigenen beiden Kinder quasi im Friseursalon aufgewachsen waren. Ihre Tochter, die mittlerweile studiert, hilft ihr manchmal bei der Arbeit aus. Das Lernen hat kein Ende „Die Friseurgehilfinnen eingeschlossen, gibt es insgesamt sieben Mitarbeiterinnen. Drei davon arbeiten schon seit über 20 Jahren mit mir zusammen. Sie haben ihre eigenen Stammkunden. Ich zahle ihnen keinen Lohn, sondern stelle nur Friseurbedarf wie Arbeitsutensilien und Haarprodukte sowie die Räumlichkeiten bereit. Sie sind quasi selbstständig und zahlen mir nur einen bestimmten Festbetrag. Da sie erfahren und kompetent sind, verdienen sie wohl so bis zu 3,5 - 4 Mio. KW (ca. 2.900 - 3.300 Euro) im Monat. Ich selber verdiene bei weitem nicht so viel. Ich mache trotz meines Alters noch weiter, weil einige Stammkunden nur meinetwegen hierher kommen.“ Als Yi sich gerade selbstständig machte, war die sog. „Yoon Shi-nae-Frisur“ – benannt nach der in den 1980ern berühmten koreanischen Sängerin, die ihre gewellten Haare toupiert trug – groß im Trend. Ob bei einer Dauerwelle oder

„Yi braucht die Haare eines Kunden nur anzufassen und schon weiß sie, ob die Person dickköpfig oder offen für einen neuen Stil ist. „Friseure kümmern sich nicht nur um die Haare, sondern auch um das Gemüt der Kunden. Manche Kunden unterhalten sich gerne, andere sitzen mit geschlossenem Mund da. Doch für alle ist der Friseursalon quasi ein Ort des Heilens.“ 62 KOREANA Sommer 2017


beim Föhnen: Wichtig war nur, dem Haar Volumen zu verleihen und danach wurde die Kompetenz des Friseurs beurteilt. Es war eine Zeit, in der Dauerwelle nicht gleich Dauerwelle war, die Kundinnen wollten möglichst auffällige künstliche Locken, die zudem möglichst lange halten sollten. Menschen, die ihre Haare einfach glatt trugen, galten damals als stillos. Doch mit der Zeit hat sich der Geschmack gewandelt und heutzutage bevorzugt man einen möglichst natürlichen Look, dem nicht anzusehen ist, dass man gerade vom Friseur kommt. Auch Yis ästhetisches Empfinden hat sich im Laufe der Zeit entsprechend verändert. Yi sagt: „Um mit berühmten Franchise-Friseursalons mithalten zu können, müssen kleine, selbstständige Friseurläden den Trends voraus sein. Man muss die Haare dem Wunsch des Kunden entsprechend schneiden, dabei seine Erwartungen aber noch übertreffen. Selbst fürs Dauerwellen werden jedes Jahr neue Techniken erfunden, die Schnitttechniken verändern sich noch viel öfter. Pausenlos muss man neue Techniken lernen und meistern, um dem Kunden bei jedem Besuch das Gefühl von

Lee unterhält sich mit einer neuen Kundin über den gewünschten Haarstil. Ihre Arbeit beginnt stets damit, den Wünschen und Vorstellungen der Kundin zu lauschen, um dann zu überlegen, welcher Stil am vorteilhaftesten wäre.

Frische und Neuheit zu vermitteln.“ So nahm Yi beispielsweise vor kurzem an einem Seminar teil, um sich über die neuesten Frisurtrends in Italien zu informieren. „Viele meiner Kunden sind nicht mehr ganz so jung, da ist es wichtig, dass die Haare nicht zu schwer wirken. Leicht und jung! Das ist das Motto des diesjährigen Trends. Je konservativer eine Kundin in Sachen Frisur ist, desto wichtiger ist es, beim Schneiden neue Techniken anzuwenden. Nur so sehen die Haare irgendwie hübscher aus, wenn sich die Kundin dann zu Hause selbst frisiert. So schenke ich trendscheuen Kunden eine subtile Veränderung. Ein Bob ist nicht gleich ein Bob. Je nach Schnittmethode wirkt diese Kurzhaarfrisur ganz anders“, fügt Yi hinzu. Während die eine Hälfte der Kundschaft ihr Haar völlig der Friseuse anvertraut, beschreibt die andere Hälfte ganz genau ihre Wünsche. Nach wie vor gibt es immer noch viele, die eine Frisur exakt wie dieser Prominente oder jenes Zeitschriftenmodels wollen. Wenn aber Kopf- oder Gesichtsform nicht zum gewünschten Frisurstil passt, braucht es ein spezielles Knowhow, den Kunden von einem anderen Frisurstil zu überzeugen. Yi braucht die Haare eines Kunden nur anzufassen, und schon weiß sie, ob die Person dickköpfig oder offen für einen neuen Stil ist. „Friseure kümmern sich nicht nur um die Haare, sondern auch um das Gemüt der Kunden. Manche Kunden unterhalten sich gerne, andere sitzen mit geschlossenem Mund da. Doch für alle ist der Friseursalon quasi ein Ort des Heilens. Aus diesem Grund habe ich einen großen Entspannungsbereich mit vielen Snacks eingerichtet. Eine Dauerwelle oder Färben dauert zwei bis drei Stunden. Ich möchte, dass meine Kunden während dieser Zeit das Gefühl haben, sich am gemütlichsten Ort der Welt zu befinden“, erzählt Yi. Auch morgen wird Yi Chun-suk den Tag damit beginnen, pünktlich um 10 Uhr ihren Friseursalon zu öffnen und Naschzeug für die Kunden auf den Tisch zu stellen. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63


UNTERHALTUNG

schen Kochsendungen zum Hit: Die Kühlschränke von TV-Stars werden ins Studio transportiert und dort vor den Augen der Zuschauer geöffnet. Mit den darin aufbewahrten Lebensmitteln liefern sich dann bekannte Küchenchefs ein 15-minütiges Kochduell.

L

aut einer 2012 vom koreanischen Umweltministerium veröffentlichten Statistik sollen im Kühlschrank eines koreanischen Durchschnittshaushalts im Schnitt 34 Arten von Lebensmitteln aufbewahrt werden. 12,5% des gelagerten Gemüses, 5,7% des Obstes und 4,1% der Tiefkühlprodukte werden letztendlich weggeworfen. Die Reality-Kochshow Kümmert euch um meinen Kühlschrank des Kabelsenders JTBC wurde dank ihres genialen Konzepts unter den zahlreichen koreani-

Die „Cheftainer“ kommen „Projekt zur Aufwertung von lästigen Kühlschrank-Hütern!“ „Koreas Spitzenköche zaubern Ihren Kühlschrank leer!“ Mit diesen lautstarken Ankündigungen der beiden männlichen Moderatoren startete am 17. November 2014 die erste Ausgabe von Kümmert euch um meinen Kühlschrank . Die Sendung, die im Oktober 2016 ihre 100. Folge feierte und sich immer noch großer Beliebtheit erfreut, beginnt auch heute noch mit diesen beiden Slogans, die ihren Charakter gut zum Ausdruck bringen. Einer der Chefköche, die regelmäßig in der Show auftreten, prophezeite bei einem Redaktionstreffen, dass man sich glücklich schätzen könne, wenn die Show bis Folge 6 überlebe. Denn: Welche TV-Promis würden es schon erlauben, dass ihr Kühlschrank ins Studio geschleppt und der Inhalt dort vor aller Augen präsentiert würde? Wie viele Spitzenköche, würden das Kochduell-Format gutheißen? Und wie viele Gerichte lassen sich innerhalb von 15 Minuten zaubern? Doch diese Zweifel verstummten, als dank Kümmert euch um

meinen Kühlschrank das Jahr 2015 als „Jahr der Kochshow-Unterhaltungsendungen“ in die TV-Geschichte einging und als Flagship-Entertainment-Programm von JTBC mehrere Preise einheimste. Mit steigender Popularität standen entgegen aller früheren Befürchtungen die Starköche plötzlich Schlange und Stammköche wie Choi Hyun-seok, Mikhal Ashminov u. a. haben sich mittlerweile als sog. „Cheftainer“ (Chef + (Enter)tainer) etabliert, da sie das Publikum über ihre Kochkünste hinaus auch mit ihrer jeweils distinktiven Persönlichkeit überzeugen konnten. Eine Contents-Firma, die auf der Welle dieses Erfolgs reitend gegründet wurde, um sich mit Blick auf Asien auf Contents für kulinarische Unterhaltungsprogramme zu spezialisieren, rekrutierte zudem den Hauptproduzenten der Sendung. Go Fridge, ein gemeinsam mit dem chinesischen Internet-Unternehmen Tencent produziertes Remake der koreanischen Show, ging im April 2017 mit der dritten Staffel auf Sendung. Beachtenswert bei dieser Sendung ist, dass sich das Stammteam aus männlichen Chefköchen zusammensetzt, denen eine Restaurantküche untersteht. Damit unterscheidet sich diese Show von herkömmlichen Kochsendungen, in denen Kochexpertinnen freundlich Schritt für Schritt die Zubereitung eines Gerichts erklären. Park Ri-hye, Absolventin des Culinary Institute of America (CIA) und Ehefrau des Ex-MLB-Baseballprofis Park Chan-ho,

„WIR KÜMMERN UNS UM IHREN KÜHLSCHRANK“ Der Kühlschrank – das mit 24/7-Arbeit wohl geschäftigste Haushaltsgerät. Sein Inneres ist eine äußerst private Sphäre, die Einblick gewährt in Geschmack, individuelle Vorlieben, Lebensgewohnheiten, die Beziehung zu Freunden und sogar in den aktuellen Partnerschaftsstatus – single oder nicht. Dass die Mutter den Kühlschrank ihrer verheirateten Tochter öffnet, gilt in Korea als Tabu. Nichtsdestoweniger gibt es eine koreanische TV-Sendung, bei der der Inhalt der Kühlschränke von Prominenten dem Publikum zur Schau gestellt und dann mit den darin entdeckten Lebensmitteln ein Kochduell ausgefochten wird. 64 KOREANA Sommer 2017

Kim Yeon-ock Freiberufliche Autorin


war bislang die einzige Köchin in der Show. Koreas Kochshow-Trend führen also die Männer an.

Was die Promis wohl so essen…? Die Kühlschränke werden am Tag vor der Aufnahme aus den Küchen der beiden Gäste abtransportiert. Der Kühlschrankinhalt wird in eine Eisbox gepackt und dann zusammen mit dem Kühlschrank in einem Umzugswagen ins Studio gebracht. Dort wird er dann anhand von vorab gemachten Fotos wieder originalgetreu aufgefüllt. In der ersten Hälfte der Sendung bringen die Moderatoren die Zuschauer zum Lachen, indem sie während ihrer „Inspektion“ des Kühlschrankes, für die sie Hygiene-Handschuhe überziehen, jedes einzelne Lebensmittel genau in Augenschein nehmen und dem Gast in unterhaltsamem Plauderton Fragen dazu stellen. Sunny, ein Mitglied der berühmten Girlgroup Girls‘ Generation , hatte ihn ihrem Kühlschrank z.B. eine angebrochene Flasche Reiswein und eine Plastiktüte voller Rinderknochensuppe. Im Kühlschrank der TV-Persönlichkeit und Fashionista Kim Na-young fand sich ein Honigtopf mit toten Ameisen. Und dass in den Kühlschränken der Promis dermaßen viele in Plastikbeutel eingepackte Nahrungsergänzungsmittel wie Aal- und Zwiebelextrakt stehen! Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum schon mehrere Jahre überschritten ist, gehören zu den ganz normalen Funden. Auf die Knochen heruntergeknabberte Jokbal-Schweinshaxen, übel riechende pfannengebratene Fischfiletstücke, vergammeltes Fleisch und breiig gewordene Erdbeeren: All das zeigt den Zuschauern, dass auch die Mitglieder der beliebtesten Idol-Gruppen bei näherer Betrachtung genauso wie der Durchschnittsmensch oft nicht einmal die Zeit haben, zwischendurch etwas zu essen. Aber zeigen die Stars ihre Kühlschränke wirklich in ihrem dermaßen chaotischen, ursprünglichen Zustand der Öffentlichkeit? Die Produzenten erklären dazu: „Sie wissen, dass gerade der ungeschminkte Originalzustand ihres Kühl-

schrankes den Unterhaltungswert der Sendung ausmacht, weshalb die Kühlschränke in den meisten Fällen tatsächlich in authentischem Zustand ins Studio gebracht werden.“

Atemloser 15-Minuten-Wettkampf Der jeweilige Kühlschrankbesitzer bestellt ein Gericht nach seinem Wunsch. Eine Sängerin orderte einmal ein Gericht, das weder zu süß, noch zu salzig oder scharf sein sollte, aber gut, um vor einem Konzert Stamina aufzubauen. Ein Schauspieler, der mit Tränen in den Augen über seine Mutter sprach, wollte lernen, wie er zu ihrem Geburtstag ein stärkendes Gericht selbst zubereiten könne. Manchmal werden die Köche auch darum gebeten, sich um viel Platz beanspruchende Kühlschrank-Hüter wie Mais oder halbgetrockneten Tintenfisch zu „kümmern“, die sie einmal geschenkt bekommen haben, die aber nicht leicht zuzubereiten und zu schade zum Wegwerfen sind. Ab diesem Moment wird die Show zum sportlichen Kochwettbewerb. Die Köche hacken und schnippeln im Wettrennen mit den Zeigern der auf 15 Minuten eingestellten Uhr. Kim Sung-ju, einer der Moderatoren, bringt sein Talent als Sport-Kommentator mit seinen wie aus der Pistole geschossenen Kommentaren voll zur Entfaltung. Kann man wirklich in nur 15 Minuten ein volles Pasta-Gericht vom Kneten des Teigs bis zum Servieren zaubern? Oder gar im Steintopf gedämpften Reis mit all den Heilkräutern zubereiten und zum Dazureichen Seetang-Suppe kochen und eine Marinade für frischen Ginseng zubereiten? Das ist die am häufigsten von den Zuschauern gestellte Frage. Sie verfolgen zwar alles mit der tickenden Uhr am Bildschirmrand mit, können es aber dennoch kaum glauben. Die Antwort lautet aber: Ja. Der Zeitdruck ist so enorm, dass hin und wieder zu erkennen ist, wie die Hände der Köche zittern. Zum Schluss kostet der Kühlschrankbesitzer sorgfältig die hervorgezauberten Gerichte und bestimmt per Knopfdruck

den Gewinner. Der Gewinner erhält für sein preisgekröntes Gericht kein Geld, sondern nur eine kleine, sternförmige Anstecknadel. Ein Koch, der als Küchenchef in einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant gearbeitet hatte, meinte aber, dass er sich über den Stern-Button „noch mehr freue als über die Michelin-Auszeichnung“. Die Gerichte, die nach der Sendung in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgen, stammen in vielen Fällen aber nicht von Profi-Chefköchen, sondern von dem Cartoonisten Kim Poong, dem einzigen Amateur-Koch in der Show. Trotz seiner etwas unbeholfenen Art zaubert Kim Poong, der sich als „Meisterkoch für Alleinlebende“ einen festen Platz in der Sendung gesichert hat, Gerichte, die genau den Geschmack der Gäste treffen. In der Folge mit Sung-kyu, einem Mitglied der Boygroup Infinite, bereitete Kim Poong ein supersimples, nur aus pürierten Tomaten und geschlagenen Eiern bestehendes Katergericht zu. Es wurde in den sozialen Netzwerken als „das am leichtesten nachzumachende Gericht“ gepriesen. Tatsächlich bestand das ursprüngliche Konzept der Produzenten auch darin, einfache Rezepte vorzustellen, die jeder ohne großen Aufwand in 15 Minuten selbst zubereiten kann. Doch trotz der allgemeinen Begeisterung für die Show gibt es nicht viele, die die vorgestellten Rezepte tatsächlich einmal ausprobiert hätten. Es dürfte etwas schwierig sein, die in heißen Spitzenkoch-Duellen kreierten Gerichte in der Küche eines gewöhnlichen Haushalts nachzukochen. Leider lassen sich auch keine genauen Angaben zur Menge der jeweiligen Zutaten machen. Doch die Zuschauer picken sich aus den einzelnen Sendungen das für sie Nützliche heraus. Obwohl die Familiengröße in Korea ständig abnimmt und die Zahl der Einpersonenhaushalte steigt, bevorzugen die Koreaner weiterhin große Kühlschränke. Auch allein lebende Prominente besitzen ausnahmslos große Kühlschränke, die entsprechend viel zu erzählen haben, sodass Kümmert euch um meinen Kühlschrank ein langlebiger Dauerbrenner werden könnte. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 65


LIFESTYLE

MÄDCHENOBERSCHULENKLASSENTREFFEN FREUNDSCHAFTEN ÜBER JAHRZEHNTE Über 130 Jahre sind vergangen, seit Korea das westliche Bildungssystem übernahm, wodurch auch Frauen Zugang zur allgemeinen Schulbildung erhielten. Als Frauen nur in wenigen gesellschaftlichen Bereichen vertreten waren, waren Klassentreffen für Hausfrauen eine der seltenen Gelegenheiten, in Kontakt mit der Welt jenseits von Familie und Schwiegereltern zu kommen. Heutzutage sieht das Leben einer koreanischen Hausfrau zwar ganz anders aus, doch die Erinnerungen und die alten Schulfreundinnen aus der strahlenden Jugendzeit prägen selbst im reifen Alter noch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Kim Yoo-kyung Journalistin Fotos Choi Jung-sun

D

ie Oberschuhljahre sind für viele die unvergesslichste Zeit ihres Schullebens. Besonders für Frauen, die zu Zeiten der strengen Geschlechtertrennung zur Schule gingen, ist die Verbindung zu Freundinnen aus der Schulzeit etwas ganz Besonderes und hält auch nach dem Abschluss lange an, aufgefrischt durch regelmäßige Klassentreffen. Lieder wie Die juwelenbestickten Flügel der Träume oder Refrains wie „der Tag des Abschieds ist gekommen, viel Glück, liebe Freundinnen, macht es gut“ bringen die Träume und Gefühle nach dem Schulabschluss zum Ausdruck.

Adressbuch: fünf Jahre bis zur Fertigstellung Song Hei-young, eine Absolventin der Ewha Mädchenoberschule, der ältesten Mädchenschule in Korea, erinnert sich folgendermaßen an die Zeit der ersten Klassentreffen: „In den 1960er Jahren, gleich nach dem Oberschulabschluss, tat sich für jede von uns eine neue Welt auf, sodass die Kontakte nicht 66 KOREANA Sommer 2017

so eng blieben. Erst 20 Jahre später, als unser Leben in einigermaßen stabilen Bahnen lief, spürten wir das Bedürfnis, alte Freundinnen einmal wieder zu treffen. Zunächst trafen sich zehn Freundinnen einmal im Monat. Fünf Jahre hat es bis zur Fertigstellung des Adressbuches mit den Kontaktdaten von etwa 400 Absolventinnen gedauert. Wir brachten auch einen Newsletter heraus und organisierten Events zum 30-, 40- und 50-jährigen Abschlussjubiläum. Wir haben zudem kleine Hobbygruppen für Sport, Chorgesang, Malerei und andere Freizeitaktivitäten gebildet.“ Generell ähneln sich die meisten Jahrgangstreffen und Aktivitäten unabhängig von der jeweils besuchten Oberschule. Meistens versammeln sich die Freundinnen, die in der gleichen Region wohnen, regelmäßig in Kleingruppen und zu besonderen Anlässen werden offiziellere Events für den ganzen Abschlussjahrgang einer Schule veranstaltet. Egal wie viele sich treffen: Man plaudert beim gemeinsamen Essen, hört Vorträge, treibt gemeinsam Sport, tanzt und


singt, verreist zusammen oder engagiert sich für seine alte Oberschule. Für besondere Anlässe, für die meist der Ballsaal eines Hotels gemietet wird, werden Tanz und Gesang vor der Aufführung einstudiert. Egal welche Oberschule: Alle sind sich einig, dass bei solchen Jahrgangstreffen auch nach Jahrzehnten sofort wieder die alte Verbundenheit und das alte Gemeinschaftsgefühl aufkommen.

Freundschaft enthalten in Heimat-Delikatessen In Tongyeong, einer Hafenstadt in der Provinz Gyeongsangnam-do, folgen die Absolventinnen der Tongyeong Mädchenoberschule bei ihren Klassentreffen einer besonderen Tradition: Jedes Jahr am 9. April, dem Gründungstag der Schule, bereiten sie gemeinsam Azaleen-Pfannküchlein und Beifuß-Reiskuchen nach Tongyeonger Art zu. Yi Jeong-yeon, eine ehemalige Absolventin sagte: „Um diese Zeit wird der Tongyeonger Markt zum Blumenmarkt. Die noch hier lebenden Freundinnen besuchen gemeinsam mit den anderen, die schon vor der Veranstaltung gekommen sind, den Markt, um Azaleenblüten und Klebreis für den Teig zu kaufen. Sie machen auch gedämpfte, halbmondförmige Beifuß-Reiskuchen aus einer Mischung von Reismehl und frischem Beifuß. Wir sind dem Klassentreffen-Komitee sehr dankbar dafür, dass es jedes Jahr solche Köstlichkeiten vorbereitet.“ Leute aus den Bergdörfern in der Nähe pflücken die Azaleenblü-

ten, entfernen die giftigen Staubblätter, und bringen die Blüten körbeweise zum Verkauf auf den Markt. Für die Pfannkuchen werden so viele Blumenblätter in den Klebreisteig geknetet, dass kaum noch Teig zu sehen ist. Die Pfannkuchen, die kurz vor dem Verzehr gebraten werden, erinnern an rosafarbene, blühende Blumen. Jede Familie in Tongyeong isst im Frühling diese Köstlichkeit der Saison. Bae Do-su, Präsidentin der Absolventinnenvereinigung der Tongyeong Mädchenoberschule, erklärte: „Die Vorbereitung dieser Delikatesse erfordert viel Arbeit und die Ausgaben für die Versorgung von mehreren hundert Menschen sind auch nicht niedrig, aber wir machen es gern, weil viele von weit her anreisen mit der Erwartung, diese Köstlichkeiten der Heimat mal wieder genießen zu können. Wir wollen damit auch die alten Erinnerungen an die Schulzeit zurückrufen. Wir verschenken den Blumenblätterteig auch.“ In der Region Gaeseong (auch: Kaesong), heute in Nordkorea, wurde am Neujahrsmorgen nach Mondkalender Joraengi-Tteokguk zubereitet, eine Reiskuchensuppe mit erdnussförmigen ReisHübsch anzusehende Azaleen-Pfannküchlein, eine zu Frühlingsbeginn aus Klebreisteig und Azaleenblüten hergestellte, in Öl gebratene Delikatesse, sind eine Köstlichkeit, die zum Aushängeschild der jährlichen Ehemaligen-Treffen der Tongyeong Mädchenoberschule in Tongyeong, Provinz Gyeongsangnam-do, geworden ist, wo die Azaleenblüte früher als anderswo in Korea beginnt.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 67


kuchenstücken, die durch Eindrücken mit einem Bambusstäbchen geformt werden. Die Suppe wurde nach den Ahnenverehrungsriten zum Frühstück serviert. Die Gaeseonger, die für ihre üppige Küche bekannt sind, haben die alten Traditionen nach der Flucht in den Süden bewahrt. Die Absolventinnen der Gaeseonger Holston Mädchenoberschule versammelten sich immer einen Tag vor Lunar-Neujahr, um Joraengi-Reiskuchen zum Verschenken an Freunde und Verwandte zu kneten. Die meisten sind zwar bereits verstorben, aber die Tradition wurde an die jüngere Generation weitergegeben, darunter auch an die Schwiegertöchter. Einige Absolventinnen, die in Seoul leben, versuchen die Traditionen auf andere Weise zu erhalten. Lee He-suk, die in einem Haus mit großem Hof wohnt, bereitet zusammen mit rund zehn Freundinnen aus der Schulzeit aus fermentierten Meju-Sojabohnenblöcken Sojasoße zu, ein stets bedeutsames jährliches Event. Zwei Monate nach dem Einlegen können dann alle einen Topf selbstgemachter Sojasoße mit nach Hause nehmen. Cheon Yi-hyang, Präsidentin des Ehemaligen-Netzwerks der Poongmoon Mädchenoberschule, und die seit über 40 Jahren befreundeten Ehemaligen bereiten mit Rücksicht auf diejenigen, die schlecht ausgehen können, in deren Haus gemeinsam die koreanischen Mandu-Maultaschen zu, um den Jahreswechsel zu feiern. Jede bringt eine der Mandu-Zutaten mit, sie tauschen gegenseitig Geschenke aus und verbringen den Tag mit Plaudern und Scherzen wie in alten Zeiten, als sie noch Teenagerinnen waren. Um zu vermeiden, die Wohnung mit nutzlosen Dingen vollzustopfen, schenken sie einander Praktisches wie Reiskuchen, hübsches Geschirr oder feine Seifen.

Klassentreffen im Chatraum Lee Sun und ihre Schulfreundinnen treffen sich seit 30 Jahren einmal im Monat an der Sindorim U-Bahnstation im Südwesten von Seoul. Der Treffpunkt wurde gewählt, um es den aus anderen Regionen Anreisenden möglichst bequem zu machen. Zum Mittagessen gehen sie in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum. Sie plaudern, diskutieren über anstehende Dinge, gehen ins Kino und verbringen so den Tag zusammen. Es gibt immer eine, die gut in Haushaltsdingen ist. Von kleinen Tipps für den Alltag bis hin zu smarten Investitionsratschlägen werden alle möglichen Infos ausgetauscht. Eine schöne Seite solcher Treffen ist, dass sie die geistige Haltung kultivieren, sich fürs Gemeinwohl zu engagieren. Die Mitglieder übernehmen abwechselnd verschiedene Aufgaben wie Vorbereitung einer Reise bzw. eines Treffens, Erstellung von Materialien, Erledigung von Postsachen und Anrufen oder Buchhaltung. Auch Frauen ohne Berufserfahrung können dadurch ihren Horizont erweitern und ein Gefühl für die Trends der Zeit entwickeln. Mit zunehmendem Alter der Ehemaligen sammelt man nur noch einen Betrag für die Deckung von gelegentlichen Ausgaben ein. In der Regel reicht ein Monatsbeitrag von 30.000 KW (rd. 25 Euro), um die Kosten für gemeinsames Mittagessen oder Unterstützung von Familienveranstaltungen der Mitglieder abzudecken. Die Ehemaligen-Treffen wurden v.a. durch das Smartphone revolutioniert; der Trend geht hin zur Kontaktpflege im Chatraum. Gedruckte, per Post verschickte Alumni-Newsletter sind Schnee von gestern. Vor zehn Jahren noch waren Ehemaligen-Inter-

Auf den Gruppenfotos zum 30. Abschlussjubiläum sitzen oder stehen die Frauen gerade und in formaler Haltung. Bei den Fotos zum 40. Jubiläum wirken alle lockerer, einige sitzen halb zurückgelehnt, alle lächeln entspannt. Die Veranstaltungen zum 50. Jubiläum markieren meist den Höhepunkt der Treffen.

Einstige Jugendfreundinnen, die jetzt in mittlerem Alter sind, bei einem Besuch in Gyeongju, der einstigen Hautstadt des alten Silla-Reiches. In Gyeongju, in Oberschultagen beeindruckendes Exkursionsziel, spielen sie in Erinnerung an die alten Zeiten eine Runde Plumpsack. Auf den Gesichtern der in ihre Schuluniformen gekleideten Ehemaligen steht die Freude über die Wiederbelebung der Erinnerungen an die Schulzeit geschrieben.

68 KOREANA Sommer 2017


netseiten in, aber mit dem Aufkommen von Instant Messaging Apps ist der Austausch in Gruppen-Chaträumen die beliebteste Kommunikationsart. Egal ob man in Korea oder im Ausland lebt: Rund um die Uhr wird per Smartphone geplaudert, neue Nachrichten werden in Sekundenschnelle übertragen, sodass andauernd das Smartphone klingelt. Der Nachteil ist, dass plötzlich alle einen mit Nachfragen zu privaten Angelegenheiten bestürmen, sodass man regelrecht von Nachrichten überschwemmt wird. Und manchmal landen Nachrichten sogar im falschen Chatraum, wenn man gleichzeitig in mehreren Räumen unterwegs ist. Dann wird man schon mal mit unangenehmen Privatangelegenheiten, die man gar nicht wissen möchte, konfrontiert, weshalb man ein gewisses Fingerspitzengefühl für solche Situationen braucht. Man braucht auch Know-how im Umgang mit den Sozialen Medien: Wie verschickt man eine Nachricht, schaltet den Alarm aus, löscht Inhalte usw. Am Anfang waren die Alumni-Chaträume neuartig und praktisch, doch jetzt braucht man auch hier gewisse soziale Skills, denn immer mehr Mitglieder verlassen den Chatraum, weil sie nicht wie in einem großen Saal dauernd Smalltalk machen möchten und sich nach mehr Ruhe im Alltag sehnen.

Sonnenuntergang einer herzlichen Tradition Auch die Ehemaligen-Treffen bleiben nicht frei von den Spuren der Zeit. Auf den Gruppenfotos zum 30. Abschlussjubiläum sitzen oder stehen die Frauen gerade und in formaler Haltung. Bei den Fotos zum 40. Jubiläum wirken alle lockerer, einige sitzen halb zurückge-

lehnt, alle lächeln entspannt. Die Veranstaltungen zum 50. Jubiläum markieren meist den Höhepunkt der Treffen. Eine große Party wird veranstaltet, zu der viele Absolventinnen aus dem In- und Ausland kommen, alle fein herausgeputzt für den besonderen Anlass. Die Spendengelder z.B. für Schulstipendien fließen freizügiger und viele entfalten bis dahin unbekannte Talente bei den verschiedenen Aktivitäten zu solchen Anlässen. Die 50-jährige Freundschaft wird auch auf andere Weise gefeiert. Einige Ehemaligen-Gruppen haben Sammelbände mit ihren Erinnerungen an die Schulzeit und Informationen über die damalige Zeit herausgegeben. Die Absolventinnen der Ehwa Mädchenoberschule des Jahrgangs 1965 haben z.B. über 300 Fotos von ehemaligen Schülerinnen von 1946 bis 2015 gesammelt und als Bildband mit dem Titel Fashion History of Modern Korean Women 1946-2015 veröffentlicht. Der Band spürt der ästhetischen Empfindsamkeit der koreanischen Frauen in der Zeit der schnellen industriellen und gesellschaftlichen Wandels nach, und zwar nicht anhand der schicken Kleider von Profi-Models, sondern anhand der Kleidung von berufstätigen Frauen und Hausfrauen. Erinnerungen an die damals berühmten koreanischen Designer runden das Ganze ab. Hin und wieder gibt es zwar auch Treffen zum 60. Oberschulabschluss-Jubiläum, doch mit zunehmendem Alter werden die Treffen seltener. Mit 80 Jahren verleidet einem Arthritis das Ausgehen und immer mehr werden pflegebedürftig, sodass man sich kaum mehr trifft. Und so verblassen auch die Ehemaligen-Treffen der Mädchenoberschulen zu fernen Erinnerungen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 69


REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

REZENSION

JEDER IST

EIN

HARUO

Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh

„Haupthintergrund von Mehr als die Hälfte von

Haruo ist die Indienreise, aber in der Erzählung geht es, denke ich, auch um Heimat. Haruo scheint ein Mensch zu sein, der sich überall zu Hause fühlt.“

L

ee Jang-wook schreibt sowohl Gedichte als auch Erzählungen. Nicht wenige koreanische Schriftsteller beginnen mit dem Schreiben von Gedichten und wenden sich dann Erzählungen zu, aber nur sehr wenige sind nach dem Genre-Umstieg weiterhin in gleichem Maße in beiden Gattungen produktiv. Lee wurde 2014 mit dem Kim Yu-jeong Literaturpreis, einem der renommiertesten Literaturpreise in Korea, ausgezeichnet. 2016 folgte der Daesan Literaturpreis für Gedichte, was seine bedeutenden Leistungen sowohl auf epischem als auch auf poetischem Gebiet bezeugt. Seine 2013 veröffentlichte Erzählung Mehr als die Hälfte von Haruo zieht allein schon durch ihre rätselhafte Überschrift die Aufmerksamkeit auf sich. Darin wird ein Japaner namens Takahashi Haruo durch die Augen eines als ICH auftretenden Koreaners betrachtet, wobei sich der Titel auf Haruos ethnischen Hintergrund bezieht. ICH sagt „Du bist anders als die Japaner, die ich kenne“, da Haruo gerne reist und völlig natürlich und vorbehaltlos mit wildfremden Menschen umgehen kann, worauf Haruo erwidert: „Über die Hälfte von Haruo ist ein irgendwie anderer Haruo.“ Dies bezieht sich wohl nicht nur auf den ethnischen Kontext. Wenn Haruo halb zum Spaß erwidert „Auch du bist anders als die Koreaner, die ich kenne“, so enthält seine Äußerung eine sanfte Ablehnung und Kritik gegenüber der Haltung, einen Menschen aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit in eine bestimmte Schublade zu stecken. Haruo, für den Reisen über eine einfache Lieblingsbeschäftigung hinaus eine berufliche Tätigkeit ist, hat kosmopoli-

70 KOREANA Sommer 2017


tische Züge. Man könnte zwar sagen, dass seine Abstammung ihn zum Weltbürger prädestiniert hat, aber um sein derzeitiges kosmopolitisches Niveau zu erreichen, bedurfte es einer Art Abenteuer auf Leben und Tod. In der Schule gemobbt und bei der Universitätsaufnahmeprüfung durchgefallen, bricht Haruo zu einer „Selbstmordreise“ in die koreanische Hafenstadt Busan auf, wo er eine Erfahrung macht, die sein Leben grundlegend verändert. Bei einer zufälligen Augenblicksbegegnung mit einer Frau – eine im Grunde banale Begebenheit – sei sein Todeswunsch urplötzlich verschwunden, was er wie folgt erklärt: „War es nicht sozusagen ein Moment, in dem meine Existenz um fünf Zentimeter in eine andere Welt verschoben erschien?“ Genauer gesagt diente dieses kleine Erlebnis lediglich als Vorwand, den längst vorbereiteten Übergang zu einem anderen Ich auszulösen. Jedenfalls wird Haruo durch diese Begebenheit zu einem „anderen“ Menschen von einer „anderen“ Welt. Der Kosmopolit „Mehr als die Hälfte von Haruo“ ist geboren. ICH lernt Haruo auf einer Indienreise, zu der er mit seiner Freundin aufgebrochen ist, kennen und freundet sich mit ihm an. Danach hält er sich über die Reiseberichte, die Haruo auf seiner Internet-Homepage postet, über die Neuigkeiten aus dessen Leben auf dem Laufenden. Mit der Zeit werden diese Homepage-Besuche aber immer seltener und irgendwann hört ICH ganz damit auf. Erst über seine Freundin, von der er sich in der Zwischenzeit getrennt hat, erfährt er wieder etwas über Haruo. Die Ex-Freundin, eine Stewardess, habe Haruo auf dem Flughafen Detroit in den

USA gesehen. Damals sei Haruo vom Sicherheitspersonal des Flughafens in den Untersuchungsraum geschleppt worden, da er gegen das auf US-Flughäfen gängig gewordene Ganzkörper-Scanning von asiatischen Ausländern protestiert habe. Die Ex-Freundin ist sich zwar nicht ganz sicher, ob es Haruo war oder nicht, aber zur Fortführung unserer Argumentation bedarf es der Voraussetzung, dass der Mann wirklich Haruo war. Vorausgesetzt, dass dem so ist, könnte man meinen, dass der Vorfall auf dem Detroiter Flughafen das Scheitern des „Lebens á la Haruo“ bedeutet. Die verstärkten Sicherheitskontrollen von Reisenden infolge der Terrorschläge vom 11. September 2001 beschreibt die Realität, in der ein Leben nach Art von Haruo unmöglich geworden ist. Es ist eine Welt, in der die Unterschiede und Andersartigkeiten, die von Haruo angestrebt und symbolisiert werden, kaum mehr bestehen bleiben können. Das Schließen von Haruos Homepage nach dem Detroiter Vorfall steht wohl für eine Gesamtsituation, in der ein „Leben á la Haruo“ unmöglich geworden ist und damit auch die Existenz eines Wesens namens Haruo an sich nicht mehr möglich ist. Wäre die Erzählung hier zu Ende, wäre es ein tragischer Abschluss voller Skepsis. Der Autor scheint aber sagen zu wollen, dass Haruo zwar verschwunden ist, aber dass das nicht das Ende des „Lebens á la Haruo“ bedeutet. Als die Firma, bei der ICH angestellt ist, einen ausländischen Mitarbeiter sucht, bekommt die Stelle ein Japaner namens Hara Kyosuke, der Haruo ähnelt. Im letzten Teil der Erzählung kündigt ICH bei seiner Firma, wo er nie Probleme hatte, und besorgt sich ein Flugticket nach Indien. ICH schien Haruo vergessen zu haben, aber in Wirklichkeit hatte er ihn gesucht, ja, ICH denkt sogar, dass in dieser Welt Haruos existieren müssen. Dadurch propagiert die Erzählung die Ansteckungskraft des Lebens á la Haruo und sichert so wohl auch den Fortbestand einer solchen Lebensweise. Folgende Passage aus einem Interview mit Autor Lee Jang-wook in Ausgabe 6 der Rezensionszeitschrift Axt verhilft zu einem besseren Verständnis der Erzählung: „Haupthintergrund von Mehr als die Hälfte von Haruo ist die Indienreise, aber in der Erzählung geht es, denke ich, auch um Heimat. Die Figuren sind ohne Heimat wie Haruo oder sehr heimatverbunden wie der Vater des Protagonisten. Ich habe später in einem Buch Folgendes gelesen: Wem die Heimat lieblich erscheint, der ist noch ein unreifer Grünschnabel. Derjenige, für den jede Erde Heimat sein kann, der hat schon sehr viel Kraft in sich gesammelt. Aber derjenige, für den die ganze Welt Fremde ist, ist wahrlich ein vollkommener Mensch. Haruo scheint zur zweiten Kategorie zu gehören, da er sich überall zu Hause fühlt. Aber ein wirklich vollkommener Mensch sei einer, der alle Orte als Fremde empfindet. Auch wenn es sehr qualvoll sein muss, wirklich so zu leben.“ KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 71


Informationen zu Subskription/Kauf

Subskription

Subskriptionspreise inklusive Luftpost­ zustellung

Füllen Sie das Subskriptionsformular auf unserer Webseite (www.koreana.or.kr > Subskription) aus und klicken Sie auf „Senden“. Sie erhalten dann per E-Mail eine Rechnung mit Hinweisen zu den Zahlungsformalitäten.

Postanschrift

Jahresabonnement (inkl. Luftpostgebühren)

Frühere Ausgaben* (je Ausgabe)

Korea

1 Jahr

25.000 Won

6.000 Won

2 Jahre

50.000 Won

3 Jahre

75.000 Won

1 Jahr

US$ 45

2 Jahre

US$ 81

3 Jahre

US$ 108

1 Jahr

US$ 50

2 Jahre

US$ 90

3 Jahre

US$ 120

1 Jahr

US$ 55

2 Jahre

US$ 99

3 Jahre

US$ 132

1 Jahr

US$ 60

2 Jahre

US$ 108

3 Jahre

US$ 144

Ostasien

1

Südostasien 2

Europa und Nordamerika 3

Afrika und Südamerika 4

US$ 9

* Für frühere Ausgaben gelten zusätzliche Gebühren für Luftpostzustellung 1 Ostasien (Japan, China, Hongkong, Macau, Taiwan) 2 Südostasien (Kambodscha, Laos, Myanmar, Thailand, Vietnam, Philippinen, Malaysia, Ost-Timor, Indonesien, Brunei, Singapur) und Mongolei 3 Europa (einschl. Russland und GUS), Naher Osten, Nordamerika, Ozeanien, Südasien (Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Maldiven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka) 4 Afrika, Süd- und Mittelamerika (einschl. Westindische Inseln), Südpazifische Inseln

Registrieren Sie sich in unserer Verteilerliste

Möchten Sie als Erste/Erster erfahren, wann die neue Web-Ausgabe von Koreana erscheint? Um automatisch per E-Mail informiert zu werden, brauchen Sie uns nur Ihren Namen und Ihre E-Mail-Adresse zukommen zu lassen: koreana@kf.or.kr

LeserRückmeldungen

Ihre Meinungen und Vorschläge helfen uns, Koreana inhaltlich und optisch noch ansprechender zu gestalten. Schreiben Sie uns unter koreana@kf.or.kr.

* Neben dem Web-Magazin-Format stehen die Inhalte von Koreana auch als E-Book für mobile Geräte zur Verfügung (Apple i-books, Google Books und Amazon).



NO STAMP REQUIRED

PRIORITY PRIORITAIRE / LUFTPOST

IBRS / CCRI N° : 10015-41325 Einsendeschluss : 30. September 2017

FRANKIEREN NICHT ERFORDERLICH

REPLY PAID / RÜCKANTWORT BEZAHLT KOREA (SEOUL)

The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 06750, Korea

Bitte Name und Adresse vollständig angeben.

BITTE HIER FREIMACHEN

The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 06750, Korea


Leser-Feedback

Bitte lassen Sie uns Ihre Meinung wissen, damit wir Koreana noch ansprechender gestalten können.

1. Sind Sie der Meinung, dass Koreana nützliche und aufschlussreiche Informationen über Koreas Kultur und Kunst sowie die moderne Gesellschaft des Landes bietet? □Trifft stark zu □Trifft zu □Weiß nicht □Trifft nicht zu □Trifft gar nicht zu 2. Welchen Teil/Beitrag von Koreana finden Sie am interessantesten? [Bitte wählen Sie bis zu drei Beiträge.] □Spezial □Fokus □Interview □Kunstkritik □Hüter des traditionellen Erbes □Geschichten aus zwei Koreas □Verliebt in Korea □Ein ganz normaler Tag □Unterwegs □Den eigenen Weg gehen □Neuerscheinung □Entertainment □Rund um Zutaten □Lifestyle □Reisen in die koreanische Literatur 3. Wie würden Sie Qualität und Stil von Koreana (Design, Layout, Fotos, Lesbarkeit) insgesamt bewerten? □Sehr gut □Gut □Durchschnittlich □Schlecht □Sehr schlecht 4. Haben Sie bestimmte Vorschläge, Meinungen oder Ideen in Bezug auf Koreana ? Bitte lassen Sie sie uns wissen! 5. Informationen zur Person [optional] Name: Alter: □20er □30er Beruf:

E-mail: □40er Land:

□50er

□über 60 Sommer 2017 (Deutsch)

BESTELLSCHEIN NAME: BERUF: Hiermit abonniere ich Koreana für

1 Jahr

Scheck beiliegend

2 Jahre

ORGANISATION: 3 Jahre

Rechnung erwünscht

ANSCHRIFT:

Tel: Fax: E-Mail:



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.