Koreana - Summer 2013 (German)

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So mmer 2013

Koreanische Kultur und Kunst

vo l. 26 n o Jahrgang 8,. 2Nr. 2

Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

Ssum o m m er 2012 2013

Spezial

Weg zur Ichfindung Alltag in einem Tempel

Jahrgang 8, Nr. 2

ISSN 1975-0617


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Koreanische Kultur und Kunst Sommer 2013

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Ausschnitt aus den New Generation Buddha Portraits (2008) von Moon Bong-sun, die die Wand hinter dem Bildnis des ShakyamuniBuddha in der Haupthalle des Tempels Myohangsa (Kreis Chilgok-gun, Provinz Gyeongsangbukdo) schmücken. Diese modernen BuddhaInterpretationen Interpretaionen unterscheiden sich stark von den traditionellen ehrwürdigernsten Buddha-Bildnissen.

Von der Redaktion

Die Bambusklapper Jukbi steht für die Seon-Meditation im koreanischen Buddhismus. Das gespaltene Ende der Klapper, die in der rechten Hand gehalten wird, wird auf die Handfläche der linken Hand geschlagen, um ein scharfes, krachendes Geräusch zu erzeugen, das Beginn und Ende einer Meditationssitzung ankündigt. © Ha Ji-kwon

Hoffnung auf Frieden und Mitgefühl

Seit seiner Entstehung vor zweieinhalb Jahrtausenden in Indien hat der Buddhismus die Kultur und Psyche der Menschen in Nordostasien nachhaltig geprägt. Dieser tiefgreifende Einfluss ist auf die Mahayana-Schule („Großes Fahrzeug“) zurückzuführen. Bei dieser sog. Nördlichen Schule des Buddhismus handelt es sich im Prinzip um eine ökumenische Bewegung, die darauf abzielt, die Massen auf den Weg der Selbstreflexion zu führen, und nicht etwa wie die TheravadaSchule („Kleines Fahrzeug“) hauptsächlich auf die philosophische Erkenntnis einzelner Mönche fokussiert. Der Buddhismus kam während der Zeit der Drei Königreiche über China nach Korea. Die frühen Patriarchen der chinesischen Tang-Dynastie (618-907) spielten durch ihre Interpretation der Avatamsaka (Blumengirlanden)-Sutra und die Begründung der Methode der Zen-Meditation (auf Koreanisch: Seon) eine wegweisende Rolle bei der Verbreitung des Buddhismus in der Region. Dieses Gedankengut, an dem sich die koreanischen Mönche bis heute bei ihren Übungen ausrichten, bildet die Säulen des korea-

nischen Buddhismus. Heutzutage wendet sich der koreanische Buddhismus mit Templestay-Angeboten, die den Alltag in alterwührdigen Tempeln hautnah erfahren lassen, an die allgemeine Öffentlichkeit. Während der 2002 Fußballweltmeisterschaft Korea-Japan zogen Templestay-Programme für ausländische Besucher große Aufmerksamkeit auf sich.Mittlerweile haben sich Tempelaufenthalte als beliebte touristische Attraktion etabliert. Und auch der koreanische Buddhismus hat eine „Rennaissance“ erfahren. Während der chinesische Buddhismus unter der kommunistischen Herrschaft stark an Kraft verloren hat und der japanische Buddhismus zum großen Teil säkularisiert wurde, zieht der koreanische Buddhismus nach wie vor junge Asketen an, die bereit sind, den harten Weg der Wahrheitssuche zu beschreiten. Sie stehen für die Hoffnung des koreanischen Buddhismus, die Werte des Friedens und Mitgefühls und der Selbstfindung in die Welt hinauszutragen. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe


Spezial Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

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Spezial 1

Der Tempel: ein Raum für die Suche nach dem inneren Ich Spezial 2

Lichter und Klänge, die den Tempel aus dem Schlaf wecken Spezial 3

Tempelleben-Erfahrung für jedermann: Was man durch Leeren des Geistes gewinnen kann

Ein Blick in die Küche des Tempels Unmun-sa

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Yoo Cheol-sang

Spezial 4

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Bae Bien-u 7

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Moon Tae-jun

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Kim Young-ock

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FOKUS

Koreanische Manhwa – Vorreiter in einer sich rasant verändernden Comic-Landschaft

Park In-ha

INTERVIEW

Pantomimen-Pionier Yu Jin-gyu und das Internationale Pantomimenfestival Chuncheon

Kim Jung-hyo

KUNSTHANDWERKER

Grasweber-Meisterin Han Soon-ja: Blumenmalereien auf Riedgras-Matten

KUNSTKRITIK

Park Hyun-sook

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Musical Wäsche : sanfte Anklage der sozialen Realität

Park Bo-mi

verliebt in korea

Der unersättliche kulturelle Entdeckungsdrang des britischen Journalisten Tim Alper

Charles La Shure

unterwegs

Cheongsan-do – Wo das Leben langsam fließt

Kang Je-yoon

den eigenen weg gehen

Son Sung-mok: eine lebenslange Sammelleidenschaft für Grammophone

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Kim Hak-soon

neuerscheinung Charles La Shure Rätselraten eines britischen Korrespondenten über Korea

Korea: Das unmögliche Land

Einführung in buddhistische Praktiken für englischsprachige Leser

6 Wege zum Herzen: Die wesentlichen Übungen des koreanischen Buddhismus Korea in den Augen der Gattin eines frühen amerikanischen Gesandten

Briefe aus Joseon 60

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K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Sonderbeitrag

Verdienstvolle Deutsche im Königreich Joseon

Alexander Kneider

GOURMETFREUDEN

Yukgaejang : Heiß, scharf, aber unglaublich erfrischend

Ye Jong-suk

reisen in die koreanische literatur

Wessen Alptraum ist es? Uh Soo-woong Das tanzende Zimmer des Iwan Menschikow

Lee Jang-wook

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Spezial 1 Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

Der Tempel Ein Raum für die Suche nach dem inneren Ich

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rühmorgens um drei erwacht der Tempel zu den rhythmischen Klängen des hölzernen Moktak-Gongs, den ein Mönch schlägt, aus dem Schlaf. Das Ritual zur Reinigung des Tempels vor der Morgenandacht heißt Doryangseok. Es beginnt damit, dass der Mönch, der für die Dharma-Hallen und die Rituale zuständig ist, in der großen Haupthalle die Kerzen und Räucherstäbchen anzündet, Buddha reines Wasser opfert und mit dem Rezitieren der Sutren beginnt. Den Gong schlagend und Sutren rezitierend macht er eine Runde durch das Tempelgelände. Der klare Klang des Moktak-Holzgongs soll alle Lebewesen im Universum aus ihrem tiefen Schlaf erwecken, wobei der Gong anfangs nur leicht, dann aber immer kräftiger geschlagen wird, damit alles Leben sanft erwacht und nicht aus dem Schlaf aufgeschreckt wird. Die Mönche und Gläubigen im Tempel erheben sich und bereiten sich auf die Morgenandacht vor. Im Tempel gibt es drei Gebets-

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stunden: am frühen Morgen, um elf Uhr vormittags und am Abend. Das Gebetsritual beginnt mit dem Schlagen der vier PercussionInstrumente (Samul): der buddhistischen Trommel Beopgo, dem wolkenförmigen Metallgong Unpan, dem hölzernen, fischförmigen Gong Mogeo und der großen buddhistischen Glocke Beom­jeong. Dieses Ritual umfasst Lobpreisungen der großen Mönche, die Erleuchtung erreicht haben, und das Rezitieren von Sutren, um die Lehren Buddhas tief zu verinnerlichen.

Der Pfad des Asketen Ein Mönch ist ein Asket, der der Welt abgeschworen hat. Es ist ein Mensch, der Weisheit anstrebt, indem er meditiert, die buddhistischen Schriften studiert und nach den rechten Geboten lebt. Er hat Weisheit erlangt und geleitet die in der profanen Welt lebenden Menschen auf den richtigen Weg. Damit gibt er seine Weisheit an Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Der indische Dichter und Mystiker Kabir (1440-1518) sang einst: „Suche nicht nach jenem Blumengarten, o Freund, strebe nicht dort hinzugelangen! In deinem Körper ist der Blumengarten“. Damit rät er dem Leser, zu sich selbst zurückzufinden und sich selbst zu vertrauen, da unser Herz einer voll aufgeblühten Blume gleicht. Auch bei der Erleuchtung im Buddhismus geht es um nichts anderes. Selbst heutzutage gehen Menschen in buddhistische Tempel, um den Blumengarten in ihrem Inneren zu finden. Manche verbringen dort nur einen einzigen Tag, andere ihr ganzes Leben. Moon Tae-jun Dichter, Produzent beim Buddhist Broadcasting System (BBS) | Fotos: Park Bo-ha, Ahn Hong-beom, Ha Ji-kwon, Na Sang-ho

die Allgemeinheit zurück. Der Asket, der die säkulare Welt verlassen hat, rasiert sein Haupt und sein Gesicht um zu zeigen, dass er sich von allen zerstörerischen Leidenschaften und trügerisch-illusorischen Vorstellungen befreit hat. Er beginnt sein neues Leben mit nur drei Kleidersets und Essschalen (Baru). Anfangs erhält er Anweisungen von einem Lehrer, der bereits Weisheit erlangt hat. Rund sechs bis zwölf Monate lang führt er körperliche Arbeiten wie Reiskochen, Brennholzsammeln und Feldarbeiten aus und eignet sich so die grundlegende geistige Haltung und Wesensart, der ein Asket bedarf, an. Es gibt zahlreiche Gebote und Regeln, an die sich ein Asket zu halten hat: nicht töten, nicht stehlen, nicht der Wolllust nachgeben, nicht lügen und keinen Alkohol trinken. Außerdem: nicht außerhalb der festgelegten Essenszeiten essen, keine Kosmetika und Schmuckstücke verwenden, nicht in einem bequemen Bett schlaK o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Sutren-Unterweisung für Studentinnen im ersten und zweiten Studienjahr im Tempel Unmun-sa. Die Vorlesung wird im Cheongpungyo (Dormitorium des klaren Windes) gehalten, wo die Nonnen lernen und schlafen. Durch die Tür ganz links sind in den Regalen säuberlich angeordnete Reihen von Baru-Essschalen zu sehen.

fen, nichts Wertvolles wie Gold oder Silber besitzen. Darüber hinaus darf man von niemandem neue Sachen annehmen, nur das essen, was man als Almosen erhalten hat und nicht mehr verlangen, auch wenn die Menge unzureichend ist. Es gibt Hunderte solcher Gebote, die erfrischend-kühlem Wasser gleichen, das Herz und Körper des Menschen reinigt. Der Asket studiert im Gangwon, einem traditionellen buddhistischen Bildungsseminar, die buddhistischen Schriften und Rituale. Normalerweise befinden sich solche Ausbildungsstätten in großen Tempeln mit langer Geschichte und Tradition.

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Im Tempel, in dem die Asketen-Gemeinschaft zusammenlebt, werden jedem konkrete Aufgaben zugeteilt wie z.B. die Glocke schlagen, Tee vorbereiten, Reis kochen, Beilagen zubereiten, Brennholz sammeln, die Sutren lehren, die Mitglieder zum Nachdenken über Fehler und Fehlverhalten anleiten und Rituale ausführen.

Meditationsübungen In den buddhistischen Schriften steht, dass der Asket wie der Mond auf dem Weg zur Vollheit sein soll. So wie der Mond, der immer runder und voller wird, muss der Askese Praktizierende das Licht der Weisheit kultivieren. Die primäre Übung dafür ist die Meditation: eine Übung, um den Geist zu beruhigen und zu läutern, und so zu erkennen, dass das eigene Wesen das Wesen Buddhas ist. Während der Meditation herrscht Sprechverbot. Nicht wenige meditieren Tage und Nächte hindurch, ohne sich auch nur einmal hinzulegen. Die repräsentativste Meditationsübung im koreanischen Buddhismus, die dazu dient, den Geist von zerstörerischen Leidenschaften und trügerisch-illusorischen Vorstellungen zu befreien, ist das Meditieren über die Hwadu. Bei dieser „Ganhwa Seon“ genannten Übung meditiert der Asket über von Buddha oder großen Mönchen gestellte, auf den ersten Blick scheinbar irrationale Sätze und „Hwadu-Rätselfragen“, mit denen die Essenz der Dinge erfasst werden soll. Beispiele für Hwadu sind etwa „Was ist das, das geht, kommt und spricht?“, oder „Ein Hund hat nicht die Natur, die es braucht, um ein Buddha werden zu können“. Auf solche Fragen sucht man beim Ganhwa Seon im tiefsten Inneren von Herz und

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Geist ernsthaft nach Antworten, wobei relative Unterscheidungen und Werturteile wie Richtig und Falsch, das Ich und die Anderen, Existenz oder Nicht-Existenz, Groß und Klein, Dieses und Jenes, Gehen und Kommen außer Acht gelassen werden, um zur Essenz der Dinge zu gelangen. Dieses ernsthafte Zweifeln und Infragestellen ist eine Suche nach dem Fundamentalen. Ob man sich gerade bewegt oder nicht, ob man sitzt oder liegt, ob man spricht oder schweigt – man zieht das in dem gegebenen Hwadu Genannte intensiv in Zweifel, so dass das alltägliche Leben selbst zu einer Meditationsübung wird. Auch buddhistische Laien bemühen sich, sich durch Ganhwa SeonÜbungen von allen Unterscheidungen und Manipulationen, von trügerischen Illusionen und Kontroversen um Richtig und Falsch zu befreien und so zu einer aufrichtigen und reinen Geisteshaltung zurückzufinden und zu erkennen, dass die Essenz des Selbst die Buddha-Natur ist. Allein im Jogye-Orden, dem größten buddhistischen Orden in Korea, gehen jährlich mehr als zweitausend Asketen zwei Mal im Jahr für drei Monate in Klausur. Während dieser Zeit dürfen sie den Tempel nicht verlassen und haben sich gänzlich auf die Meditation zu konzentrieren. Die Tradition, sich in einen Tempel zurückzuziehen, stammt ursprünglich aus Indien. Die indischen Asketen, die der Welt abgeschworen hatten, blieben nicht an einem Ort, sondern praktizierten an verschiedenen Orten. Die Monsunzeit verbrachten sie normalerweise aber in einem Tempel, da zu dieser Zeit kleine Lebewesen aus der Erde kriechen und sie daher fürchteten, Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


1. Mönch-Studenten beim morgendlichen Sutren-Studium im Tempel Haein-sa. 2. Mönche bei der Meditationsübung, die den Geist klären und die ursprüngliche K o r e aBuddha-Natur n a ı S o mme r im 2 01 3 wecken soll. Ich

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In den buddhistischen Schriften steht, dass der Asket wie der Mond auf dem Weg zur Vollheit sein soll. So wie der Mond, der immer runder und voller wird, muss der Askese Praktizierende das Licht der Weisheit kultivieren. Die primäre Übung dafür ist die Meditation: Eine Übung, um den Geist zu beruhigen und zu läutern, und so zu erkennen, dass das eigene Wesen das Wesen Buddhas ist. bei ihren Wanderungen auf die Tiere zu treten und ihnen Schaden zuzufügen. So entstand die Tradition, sich temporär in einen Tempel zurückzuziehen. Im Zuge der Verbreitung des Buddhismus in China und Korea wurde es dann üblich, auch die kalten Wintermonate im Tempel zu verbringen. Die nach dem Lunarkalender berechnete Klausurzeit beginnt am 15. Tag des vierten Mondmonats und endet am 15. Tag des siebten Mondmonats. Die entsprechende Zeit im Winter beginnt am 15. Tag des zehnten Mondmonats und endet am 15. Tag des ersten Mondmonats des darauf folgenden Jahres. Ist die Klausur zu Ende, reisen die Asketen herum, um das während der Zeit des Rückzugs Gelernte weiterzuvermitteln. Die Früchte der disziplinierten Lebensweise und des harten Kampfes mit sich selbst geben sie an einfache Leute weiter und verbreiten auf diese Weise Buddhas Lehre. In den buddhistischen Schriften wird diese Art des Teilens von Erfahrungen und Einsichten mit dem Bau von Brücken oder Schiffen verglichen, die es den Menschen ermöglichen, einen Fluss zu überqueren. Heutzutage bleiben nicht wenige Asketen auch

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nach der Klausur weiter im Tempel und viele arbeiten als Freiwillige in Sozialeinrichtungen. Zu den häufigsten Übungen der Asketen zählt auch Yeombul: Buddha vergegenwärtigen. Das kann erreicht werden, indem man über Buddhas Namen, seine Gestalt und seinen Geist reflektiert. Der Asket vegegenwärtigt sich die Taten und die Güte Buddhas sowie das Positive, dass er den einfachen Menschen bringt. Auf diese Weise dringt Buddha in seinen Geist ein, der von Verehrung und Respekt für ihn erfüllt wird und nach Buddhatum strebt. Neben Buddhas wie Amithaba können auch Bodhisattvas (Erleuchtete) wie Avalokiteshvara (Bodhisattva des Mitgefühls) oder Ksitigarbha, der die Seelen in die Unterwelt begleitet, vergegenwärtigt werden. Eine weitere Übung ist das Gangyeong, das Lesen der Sutren, die die Lehren Buddhas enthalten. Ziel ist, Buddhas Worte richtig zu erfassen lernen und durch seine Lehren das Innere zu reinigen. Sutren-Lesen heißt daher gleichzeitig, über sich selbst zu lernen. Eine weitere erwähnenswerte Übung ist Juryeok, das Rezitieren von Worten oder Versen, die Kerninhalte der Sutren darstellen. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


1. Mönche, die auf dem Gelände des Tempels Songgwang-sa in der charakteristischen „GänsemarschProzession“ hintereinander gehen. 2. Ein Mönch, der mit geschultertem Rucksack den Tempel Magok-sa durch das Haupttor verlässt. 2

Durch das Aufsagen dieser Mantras wird das Karma der Vergangenheit beseitigt und das Innere gereinigt. Der Sinn dieser Übungen liegt nicht nur darin, sich von der unreinen Natur des Menschen, die sich in Gier, Dummheit und Ärger äußert, zu befreien und wie Buddha zu werden, sondern auch darin, in einer friedlichen Welt ohne Leid wiedergeboren zu werden.

Mäßigung beim Essen Im koreanischen Buddhismus wird besonders auf die Regeln in Bezug auf das Essen geachtet. Für diejenigen, die sich Übungen unterziehen, gelten auch bestimmte Prinzipien für die Nahrungsaufnahme. Oberste Regel ist, nur die Menge zu sich zu nehmen, die der Körper wirklich braucht. Dabei geht es nicht darum, sich satt zu essen, sondern immer etwas weniger zu essen. Daher essen manche Asketen nur einmal am Tag, andere essen nach der Mittagszeit nicht mehr. Die meisten Asketen essen morgens Reisbrei, mittags Reis mit Suppe und Beilagen und abends nur ganz wenig. Wenn das Essen aufgetischt ist, werden zuerst die Fünf Verse der Einsicht rezitiert: Von wo kommt dieses Essen? Wessen harter Arbeit verdanke ich dieses Essen? Ich schäme mich, dass meine Tugendhaftigkeit zu unzulänglich ist, um dieses Essens wert zu sein. Aber ich nehme dieses Essen als ein Heilmittel an, auf dass ich mich von allen Leidenschaften befreien und meinen Körper zu erhalten vermöge, um Erleuchtung zu erlangen. Durch dieses „Ogwange“ genannte Gebet dankt der Asket für alles, was dieses Essen erst möglich gemacht hat, und bekräftigt seine K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Entschlossenheit, sich noch hingebungsvoller seinen Übungen zu widmen. Es gehört zu den langen Traditionen des koreanischen Buddhismus, immer ein- und dasselbe Geschirr zu verwenden, nur wenige Beilagen zu essen und nichts übrig zu lassen.

Der Weg der Laienbrüder- und schwestern Buddhistische Laien, die nicht der Welt abschwören, legen das Gelübde ab, Buddha, seine Lehren und die Klostergemeinschaft zu ehren und sich zu ihr zu bekennen. Sie werden im Tempel in die Grundlagen, die ein buddhistischer Gläubiger kennen muss, eingewiesen und zu Jüngern Buddhas, wobei sie auch einen neuen, buddhistischen Namen erhalten. Sie müssen sich auch an bestimmte Regeln für das Alltagsleben halten. Darüber hinaus nehmen sie ein paar Mal im Monat an Versammlungen, in denen Buddhas Lehren gepredigt werden, teil. Durch Templestay-Programme mit einer Übernachtung oder kurze, etwa dreimonatige Klausuren im Tempel können sie den Alltag der Mönche miterleben. Diese Gläubigen gehen im Alltag den oben beschriebenen Übungen nach, d.h. sie meditieren anhand der Hwadu, praktizieren die Yeombul-Vergegenwärtigung von Buddha, lesen und rezitieren die Sutren auswendig, und singen die Mantras. Aber die häufigste Übung ist Jeol, der Große Kotau, mit dem man sich vor Buddha niederwirft. Indem man sich dabei selbst klein macht, bringt man dem Gegenüber Respekt entgegen. Es gibt verschiedene Arten von Verbeugungen: die halbe Verbeugung, bei der beide Handflächen vor der Brust aneinandergelegt werden und man den Oberkörper

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1. Ein MÜnch beim Schlagen der Trommel, um den Beginn der Abendandacht im Tempel Buseok-sa anzukßndigen. 2. Der Sonnenuntergang weicht der Dunkelheit Korean i s ch e Ku l tuzu r u n d Ku n s t den Klängen der Abendandacht in einem Bergtempel.


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nach vorn neigt. Dann den Großen Kotau, eine Verbeugung, bei der beide Knie, Ellbogen und Stirn den Boden berühren, um tiefsten Respekt zu bezeugen. Die Übung der Verbeugung hat den Zweck, ein und dieselbe Bewegung immer und immer wieder zu wiederholen und sich dadurch von sich selbst zu lösen. Verbeugen ist also eine Übung für den Geist durch die Bewegung des Körpers. Je nach Anzahl der Verbeugungen unterscheidet man Übungen mit 108 Verbeugungen, 1.080 Verbeugungen und 3.000 Verbeugungen. Gläubige Buddhisten lassen auch kleine, gefangene Tiere wie Fische wieder in ihre natürliche Umgebung frei. Dadurch praktizieren sie ihre Liebe zu allen lebenden Wesen. Sie führen zudem Rituale zum Geleit der Seele in eine bessere Welt durch. Durch das Ritual werden alle schlechten Taten, aller Groll und Verbitterung sowie alle schlechten zwischenmenschlichen Beziehungen, unter denen der Verstorbene litt, ausgelöscht, wodurch seine Seele sich lösen und an einem besseren Ort wiedergeboren werden kann. Hinter diesen Ritualen verbirgt sich die Weltanschauung, nach der der Tod nicht das Ende des Lebens ist, sondern nur ein Übergang zu einem neuen Leben. Die fehlende Unterscheidung zwischen Leben und Tod ist Ausdruck der buddhistische Sichtweise von Zeit und Leben.

Wie der Mond, der sich erst zeigt, wenn die Wolken aufbrechen Die buddhistischen Lehren dienen dazu, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen und der Welt zum Wohle zu gereichen. Der Geist K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

kann Ruhe finden, wenn man sich von allen trügerisch-illusorischen Vorstellungen und Begierden befreit. Hat man eine schlechte Tat begangen, soll man sofort beichten, Reue zeigen und versprechen, die Schlechtigkeit nicht zu wiederholen. Im Buddhismus gilt, - wie der Mond, der sich erst zeigt, wenn die Wolken aufbrechen - dass ein reiner Geist durch wahre Reue wiedererlangt werden kann. Im Buddhismus ist der Geist seinem Wesen nach nicht etwas, was sich bilden oder verschwinden kann, d.h. seine ursprüngliche Gestalt ist wie die Leere. Also meint man mit Ruhe des Geistes einen ruhigen, friedlichen Zustand, in dem nicht nach Sinnesfreuden gestrebt wird. Dies gehört zur Selbstdisziplin und zur Beherrschung seines Körpers, seiner Worte und Absichten. Die Ruhe, die durch solche Kontrolle des eigenen Ich erreicht wird, führt zu großer Weisheit. Es gilt auch, dass man sich durch richtige Ansichten, richtige Denkart, richtige Worte, richtiges Verhalten, richtige Lebensführung, richtige Bemühungen, richtige Gemütsart und richtige Konzentration von allem Leiden befreien kann. Den Lehren zufolge kann der Asket auf diese Weise Vervollkommnung erreichen in Bezug auf Almosenspenden, Befolgung der Gebote, geduldiges Ertragen, Anstrengungen, Ruhe und Weisheit. Der menschliche Körper altert, vergeht, ist ein Sack von Krankheiten und muss schließlich sterben. Die weltlichen Begierden zerfressen den menschlichen Geist. Das allerletzte Ziel der buddhistischen Übungen liegt also darin, solche Leiden abzustreifen und das freudvolle Gefühl der inneren Ruhe zu erreichen.

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Spezial 2 Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

Lichter und Kl채nge, die den Tempel aus dem Schlaf wecken Bae Bien-u Fotograf

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Ein im Wind schwankender Bambushain im Tempel Songgwang-sa.

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Mönche, die während des Morgengebets im Tempel Songgwang-sa zur Klärung des Geistes den Großen Kotau üben, bei der Knie, Ellbogen und Stirn den Boden berühren.

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m frühen Morgen, noch vor dem ersten Blinzeln der Dämmerung, durchbrechen die Klänge des hölzernen Gongs die Stille im Hof des Tempels Songgwang-sa, der von alten Kiefern mit ausladenden Ästen eingerahmt ist. Die Stimme eines

Mönches, der Sutren rezitiert, breitet sich ruhig, sanft und feierlich-getragen aus, gefolgt von den Klängen der vier PercussionInstrumente Beopgo-Trommel, Beomjong-Glocke, Mogeo-Fischgong und Unpan-Wolkengong. In hundert Stimmen auseinanderbrechend und wieder zu einer einzigen verschmelzend erfüllt der geheimnisvolle, das Licht beschwörende Bittgesang der Mönche den zwischen Himmel und Erde liegenden Tempel. Wenn die Sonne langsam aufgeht, erwidern die Vögel den Gruß

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des Lichts. Eine Brise schüttelt langsam die Äste der Bäume, der Wald beginnt zu rauschen. Berühren dann die ersten Strahlen der Sonne die alten Dächer des Tempels und erwachen die Kiefern aus ihrem Schlummer, rollen Wellen von Wind und Licht durch den Bambushain. Es ist eine Zeit, in der alle Kreaturen auf ihre eigene Weise mit den Geräuschen des Lebens reagieren. Das Morgenlicht ermuntert nicht nur die Bäume im Vor- und Hinterhof des Tempels und die jungen Vögel mit der ihnen eigenen Stimme zu singen, sondern auch die winzigsten aller lebenden Wesen. Ob wohl die Vögel für die stummen Bäume und Gräser ihre Hälse strecken und lauthals zwitschern? So schmilzt die Stille der Nacht in den Strahlen des Lichts. Unter dem blauem K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Der Tempel Songgwang-sa in den grünen Kiefernwäldern am Fuße des Gebirges Jogye-san in Suncheon, Provinz Jeollanam-do.

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Himmel werden Äste und Blätter zu grünen Wogen, die wie Gezeiten kommen und gehen. Immer wieder treffen sich die Blätterwellen im Wind und verabschieden sich mit warmem Geflüstere. Wenn sich der Tag seinem Ende neigt und die Sonne ihre Reise über den Himmel im Westen beendet, wird der Tempelhof in die prächtigen Flammen des Sonnenuntergangs getaucht. Und wieder erfüllen die an die Seele rührenden Klänge der vier Instrumente mit den voller werdenden Gesängen des Abendgebets den Tempel, während das Tiefblau der Nacht von den fernen Bergen herabsteigt und sich um den Tempel legt. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Spezial 3 Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

Tempelleben-Erfahrung für jedermann Was man durch Leeren des Geistes gewinnen kann Um drei Uhr morgens aufgestanden. Mich zum Klang von Trommel und Glocke innerlich für die Morgenandacht gesammelt und daran teilgenommen.108 Verbeugungen gemacht. Gemeinsames Barugongyang-Tempelmahl: kein Reiskörnchen, kein Chillipulverfitzelchen übrig gelassen. Meditiert und barfuß in den Bergen gewandert. Diese zwei Tage im buddhistischen Tempel waren ein besonderes Erlebnis.

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Yoo Cheol-sang Reiseschriftsteller | Fotos: Ha Ji-kwon, Ahn Hong-beom

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Familien, die am TemplestayProgramm des Tempels Donghwa-sa teilnehmen, bei der Pause auf der Holzveranda der Einsiedelei Budo-am.

er Templestay begann damit, persönliche Gegenstände wie Handys, Brieftaschen und Zigarettenschachteln in einen großen Korb zu verbannen. Eine Minute Zeit für letzte Telefonate war aber noch erlaubt. Die Teilnehmer nutzten diese Frist, um sich kurz von Familienmitgliedern oder Geliebten zu verabschieden oder noch Unerledigtes zu regeln. Dann zogen wir das buddhistische Mönchsgewand an und saßen etwas unbeholfen da, als der Mönch, der das Programm leitete, kam und uns die Grundregeln des Tempellebens erklärte. Die wichtigsten schienen Chasu und Anhaeng zu sein. „Legen Sie die Handflächen oberhalb des Unterbauchs aufeinander. Das nennt man „Chasu“. Wenn Sie sich im Tempelgelände bewegen, behalten Sie diese Haltung bei. Wenn wir gehen, bewegen wir uns wie eine Prozession Gänse in einer Reihe. Das wird „Anhaeng“ genannt. Zudem müssen Sie eine Haltung der innerlichen und äußerlichen Vorsicht kultivieren, als ob Sie über dünnes Eis laufen würden.“ Über dünnes Eis laufen? Wenn ich es recht bedachte, war schon mein ganzes bisheriges Leben wie ein Lauf über dünnes Eis gewesen: Hatte ich bislang nicht immer angestrengt ignoriert oder verdrängt, dass nur ein Schritt rechts und links des breiten, ebenen Pfades, auf dem ich mich zu bewegen vorgab, der Abgrund klaffte?

Ochetuji: Verbeugung mit dem ganzen Körper (Grßoer Kotau) Da die Teilnehmer aus jedem Winkel des Landes ko mmen, beginnt das Templestay-Programm in allen Tempeln erst am Nachmittag. Daher war das Programm für den ersten Tag auch noch relativ locker gehalten. Während der Teestunde mit den Mönchen gewöhnte man sich langsam an das seltsame Mönchsgewand. Ein Spaziergang auf den duftgeschwängerten Wegen zwischen den Jahrhunderte alten Kiefern des Gebirges Taehwa-san machte vor dem Abendmahl angemessenen Appetit Nach dem als Büffet angebotenen Abendessen lernten wir Ochetuji als Vorbereitung auf die Morgenandacht: Ochetuji ist eine tiefe Verbeugung, bei der zuerst beide Knie auf den Boden gebracht und dann beide Arme zusammengebracht werden, wobei man sich so tief wie möglich verbeugt, so dass schließlich die Stirn den Boden berührt. Das war zwar oft im Fernsehen zu sehen, aber die meisten Teilnehmer führten die Verbeugung zum ersten Mal aus. Es stellte sich als irrig heraus, dass eine Ganzkörperverbeugung nur mit kreuzartig ausgestreckten Armen, wie es im tibetischen Buddhismus üblich ist, vollzogen wird. In gewisser Hinsicht unterscheidet sich die in der katholischen Kirche bei der Priesterweihe übliche Prostration, bei der sich der Kandidat vor dem Kreuz niederwirft, kaum von der Ochetuji-Verbeugung des koreanischen Buddhismus. Die Wortspielerei des Mönchs, dass man den Tempel im Koreanischen „Jeol“ nenne, weil dort so viele „Jeol“ (Verbeugung; Die Wörter sind Homophone.) zu machen seien, war alles andere als ein Scherz: Auf dem Boden lagen viele Matten, an denen nur die Stellen, an denen Knie und Ellbogen aufgelegen hatten, deutlich abgenutzt waren. Es wurde erklärt, dass die Verbeugung eine Handlung sei, durch die man seine unendliche Demut zum Ausdruck bringe. Sie sei ein Teil des Prozesses, das wahre Selbst zu finden, das hinter Stolz, Prahlerei, Unsicherheit und Angst versteckt ist. Selbst das Schlafen ist im Tempel eine Art Übung: Meditation im Liegen. Man spürt, ruhig mit den Händen auf dem Unterbauch liegend, das Ein- und Ausströmen des Atems. Dabei blickt man in sich selbst und erkennt, welche Gedanken ein- und ausströmen. Der Mönch riet uns, die unzähligen Ängste der profanen Welt, die in der Stille des Bergtempels über uns hereinbrachen, nicht mühsam zu vertreiben, sondern sie einfach zu betrachten. Von dem Moment an, in dem man sich zum Schlafen hinlegt, bis zur Morgenandacht am nächsten Tag ist es untersagt, zu sprechen. Blickwechsel oder Kommunikation durch Gesten sind ebenfalls verboten. Dies dient dazu, richtig in sich selbst hineinschauen zu können. Ein leichtes Schnarchen war irgendwo im Raum zu hören. Morgenandacht Drei Uhr drei am frühen Morgen: Ich erwachte vom Klang des hölzernen Fischgongs, der die Dunkelheit des Morgens vertreiben soll. Alle standen auf, legten Matten und Decken zusammen und versammelten sich vor dem Glockenpavillon. Es gab keine Geräusche oder Blicke. Ein Mönch schlug den wolkenförmigen Metallgong Unpan und stellte sich dann vor dieTempeltrommel Beopgo. Er schlug die riesige Trommel, die größer als er selbst war, um alle Kreaturen, die noch in der Morgendämmerung schliefen, zu wecken. Der

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Trommelklang durchschnitt die Morgenluft, wurde von den Gipfeln des Gebirges Taehwa-san, die den Tempel umgeben, reflektiert und hallte als Echo wider. Da schien der Mond aber noch hell über den Tannen jenseits der Paradiesbrücke. Zu den Klängen von 33 Glockenschlägen bewegten wir uns im Gänsemarsch zur Haupthalle. Nach der kurzen Andacht verbeugten wir uns 108 Mal zum Klappern der Bambusklapper Jukbi. Obwohl der Mönch uns geraten hatte, auch während der Verbeugungen in uns hineinzublicken, konnte ich mir keine besonderen Gedanken machen, da mein Atem immer schwerer ging und Knie und Kreuz sich schmerzhaft bemerkbar machten. Nach den Verbeugungen, die schneller vorbei waren, als ich erwartet hatte, knieten wir auf dem Boden. Aber die unbequeme Haltung machte es mir erwartungsgemäß schwer, mich zu sammeln und zu konzentrieren. Nach dem Morgengebet machten wir mit zitternden Beinen einen Spaziergang zur Quelle neben dem Tempel. Das Schweigegebot galt immer noch. Als ich den Bach über die Trittsteine hüpfend überquerte und den von dichtem Schilfrohr gesäumten Weg entlang ging, hörte ich, wie alles Leben in Himmel und Erde langsam erwachte. Mein Körper und Geist schienen auf die kleinste Stimulierung zu reagieren, wie es in dem Maße in der Stadt unvorstellbar gewesen wäre.

Tempelbesichtigung Von einem Moment auf den anderen wurde es hell. Vogelgesang erfüllte den Bergtempel. Ein seltsames „Rattatatat“ war überall zu hören. Waren das etwa Bohrgeräusche von einer Baustelle irgendwo da draußen? Bald fand ich heraus, wer diese Geräusche machte. Es war ein Specht, ein Vogel, den ich nur aus den Zeichentrickfilmen meiner Kindheit kannte. Mit aufgerissenen Augen suchte ich nach ihm, erwischte ihn aber leider nicht beim Klopfen des Baumstamms, sondern sah nur noch, wie er davonflog. Nach dem Morgenmahl war es endlich wieder erlaubt, zu sprechen. Wir besichtigten dann unter Leitung eines Mönchs den tausend Jahre alten Tempel Magok-sa. Man könnte fast sagen, dass sich der Magok-sa nicht in den Ber-

Szenen aus dem Templestay-Programm: Die Teilnehmer lernen Rituale wie Ganzkörperverbeugung (1), Umrundung der Pagode (2), Barugongyang-Mönchsmahl (3), bei denen sie auf ihr inneres Ich treffen.

gen, sondern inmitten eines Tales befindet, so malerisch passt er sich in die Landschaft ein. Auf beiden Seiten der S-förmigen Windungen des Flusses Taehwa-cheon schmiegen sich die Tempelgebäude an die Berge. Auf der einen Seite des Flusses liegen einfachere Räumlichkeiten für asketische Übungen, auf der anderen Seite imposantere Räumlichkeiten für Selbstfindung und Meditation. Das ist eine Besonderheit des Magok-sa, die ihn von anderen Tempelanlagen unterscheidet. Auch wenn der Tempel nicht weit entfernt von der Kartenkasse am Eingang liegt, muss man doch noch ein ganzes Stück das sich windende Bergtal hochlaufen, bevor man dann endlich das Haupttor, das Tor der Erleuchtung, erreicht und dahinter schließlich das Tor der Vier Himmelskönige. Wir gingen an dem kleinen Stupaplatz vorbei, besichtigten die Halle Youngsan, gingen dann durch das Tor der Vier Himmelskönige weiter und stiegen über die Paradiesbrücke das Tal hoch. Schon waren wir in der Halle des Großen Lichts, in der der Buddha Vairocana sitzt. Geht man ein Stück weiter, findet sich die Halle des Großen Helden. die dem Shakyamuni-Buddha gewidmet ist, zu dessen Ehren dreimal am Tag Andachten stattfinden. Die Räumlichkeiten für die Templestay-Teilnehmer liegen gleich neben der Schatzhalle des Großen Lichts. Mit seinen vielen als „Nationalschatz“ registrierten Kulturerben und anderen kulturellen Schätzen gleicht der Magok-sa mit seinen Tempelhallen und Pagoden, eingebettet in das reiche Grün von Kiefern und Kirschbäumen, einem Zauberland in den Bergen.

Barugongyang Das gemeinsame Mittagessen ist Barugongyang, eine MönchsMahlzeit mit vier Schalen. In einem Tempel ist sogar das Essen eine asketische Übung. Zum Klang der Bambusklapper drückt man beide Handflächen aneinander. Dann ordnet man die vier Schüsseln (Baru) der Größe nach vor sich an. Zuerst wird in die

Lage Tempel Magok-sa, Unam-ri, Sagok-myeon, Gongju-si, Chungcheongnam-do. Homepage: www.magoksa.or.kr Von Seoul die Gyeongbu-Autobahn nehmen und an der Cheonan-Kreuzung auf die Autobahn Cheonan-Nonsan fahren. Am Jeongan-Autobahnkreuz auf die Landstraße 604 abfahren. Nach ca. 15 Minuten Fahrt finden Sie auf der linken Seite die Ausschilderung zum Tempel Magok-sa. Ausstattung Die meisten Tempel, die Templestay-Programme anbieten, verfügen über Unterbringungsmöglichkeiten für die Teilnehmer. Die Ausstattung unterscheidet sich von Tempel zu Tempel, aber der Magok-sa bietet hervoragende Einrichtungen: Eine große Kantine, die Tempelessen im Büffet-Stil anbietet, moderne Duschräume und Wasserklosetts. Zum Übernachten stehen große, nach Geschlecht getrennte Gemeinschaftsräume zur Verfügung. Die Räume werden gut beheizt (Bodenheizung) und das Bettzeug ist sauber. Aber im Vergleich zu Tempeln wie dem Geumsan-sa oder dem Naeso-sa, die kleinere Räume für nur etwa fünf Teilnehmer anbieten, könnten die großen Schlafsäle des Magok-sa etwas unbequem sein. (Die englischsprachige Informationswebseite fürTemplestay-Programme in Korea, betrieben vom Cultural Corps of Korean Buddhism of Jogye Order of Korean Buddhism, ist einzusehen unter: http://eng.templestay.com/)

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Seoul

Gebirge Museong-san Temple Magok-sa

Cheonan JC Jeongan IC Gongju

Gebirge Chilgap-san

Expressbus Intercity Bus

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„Wenn Sie an einem Templestay teilnehmen, dann kommen Sie ohne die Erwartung, etwas für sich gewinnen zu wollen. Je mehr Erwartungen Sie aufgeben, desto mehr werden Sie gewinnen.“ 1

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2 © Jogye Order of Korean Buddhism_Cultural Corps of Korean Buddhism

1. Die Waldmeditation ist Teil des Templestay-Programms im Tempel Tongdo-sa. 2. Tee-Zubereitung im Tempel Geumsan-sa. 3. Das Rezitieren von Sutren bei den Andachten gehört zu den wichtigsten Ritualen eines Templestay-Programms.

kleinste Baru Wasser für das spätere Abwaschen gegossen. Dann gibt man jeweils Suppe, Reis und Beilagen wie Kimchi in die übrigen Baru. Wichtig ist dabei, nur die Menge zu nehmen, die man tatsächlich essen kann. Vor dem Essen gibt es noch etwas zu tun: Ein Kimchistück von geeigneter Größe wird in der Suppe gewaschen und zur Seite gelegt. Nach dem Mahl, bei dem das Sprechen verboten ist und das Geklappere von Essstäbchen oder Schüsseln möglichst vermieden werden sollen, werden die Schüsseln mit diesem einen Stück Kimchi und Wasser gesäubert. Dieses Kimchistück wird schließlich gegessen und das Wasser getrunken. Das ist aber noch nicht alles: Mit dem Wasser, das anfangs in die kleinste Baru gegossen wurde, werden die Schüsseln nochmals gesäubert. Zwei Drittel dieses Wassers wird weggeschüttet, der Rest, in dem sich noch Reiskörner oder andere Essensreste befinden, wird getrunken.

Epilog Die Templestay-Programme unterscheiden sich je nach Charakter der Teilnehmergruppe etwas. Die eindrucksvollsten Programmpunkte waren für mich das „In-sich-hineinschauen“ am ersten und der Barfuß-Sparziergang am zweiten Tag. Beim Blick ins eigene

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Innere stellten sich die Teilnehmer kurz vor und erzählten über das schmerzhafteste Erlebnis in ihrem Leben oder ihre innigsten Wünsche. Diese Stunde, in der die Teilnehmer ihrer geheimsten Gedanken wildfremden Menschen gegenüber äußerten, brachte jeden dazu, in die dunkelsten Ecken seines Geistes zu sehen. Der BarfußSpaziergang war eine Art Meditation. Etwa zwei Stunden lang gingen wir barfuß die Bergpfade entlang und meditierten dabei. Es war aber keine nur ernsthafte Angelegenheit. Nach der Meditation auf den dafür vorgesehenen Wegstrecken sprachen wir über Dinge, über die wir uns noch nicht ausgetauscht hatten, und schnatterten wie Kinder auf einem Schulausflug. Es gab ebene Teilstrecken, aber auch holprige Steinwege, doch niemand beschwerte sich. Es war eine Zeit, in der wir unser Inneres und unseren Atem kontrollierten und eins mit der Natur werden konnten. Als ich am letzen Tag den Tempel verließ, erinnerte ich mich daran, was man mir bei der Anmeldung gesagt hatte: „Das Besondere am Buddhismus ist das Fehlen jeder Art von Beschränkungen. Das ist „ die Leere“. Wenn Sie an einem Templestay teilnehmen, dann kommen Sie ohne die Erwartung, etwas für sich gewinnen zu wollen. Je mehr Erwartungen Sie aufgeben, desto mehr werden Sie gewinnen.“ Ich weiß zwar nicht, wie viele Nächte ich in einem Tempel verbringen müsste, um all den Staub, der sich über 30 Jahre auf mir abgelagert hat, loszuwerden. Aber ich habe beschlossen, bald wiederzukommen.

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Templestay in Seoul jeden letzten Samstag des Monats statt. Das Hwagye-sa Der Tempel Hwagye-sa liegt zweitägige Programm besteht aus Meditatiozwar in der Stadt in der Nähe von der Suyunen, wobei über acht Stunden pro Tag Seon Kreuzung, verströmt aber eine stilvolle At(Zen)-Meditationen über Hwadu stattfinden. mosphäre. Die Eichen, Ulmen und Zelkoven, Dazu Seon-Gymnastik zum Rhythmus von die sich hinter dem Eingangstor Ilju-mun Jukbi-Bambusklappern, Schweigeübungen so(Einsäulen-Tor) finden, werfen kühle und wie 108 Verbeugungen. Am Ende des Templebreite Schatten. Alleine schon der Anblick des stays gibt es eine Teestunde, in der die TeilnehWassers, das die Hänge des Berges Samgak-san, mer den Mönchen Fragen stellen können. der den Tempel wie ein Wandschirm umgibt, herunterfließt, bringt den Geist zur Ruhe. Tel. +82-2-3672-5945 Anfahrt Von Ausgang Der im 10. Jhdt zur Zeit des Goryeo-Reiches 6 der U-Bahn-Station Hanseong University von dem Mönch Tanmun erbaute Tempel hat (Linie 4) den Maeul-Kurzstreckenbus 2 oder 3 Geschichte und Traditionen des Buddhismus zum Seonjam-Complex nehmen. Von dort 5 bis heute in seinen Schreinen oder der budMinuten Fußweg zum Tempel. Die Statue des Boddhisattva Avalokitesvara dhistischen Glocke Beomjong bewahrt. Beim im Tempel Kilsang-sa erinnert an die JungHomepage: www.kilsangsa.or.kr Templestay werden die Andachten nicht in der frau Maria. kleinen Haupthalle, sondern in der geräumigen Halle des Großen Lichts am Tempeleingang abgehalten. Die Medita- Bongeun-sa Der Bongeun-sa ist ein tausend Jahre alter Tempel, tion findet im vierten Stock des Internationalen Zen-Zentrums statt. der sich inmitten des modernen Hochhauswaldes von SamseongDa hierher hauptsächlich ausländische Asketen kommen, gibt es nur dong, Bezirk Gangnam-gu, in Seoul, befindet. Der Guksa Yeonhoe ein zweitägiges Programm mit Meditationen im Mittelpunkt. Das (Guksa: Nationaler Großer Lehrer, eine Art oberster Staatspriester) Besondere an den Programmen ist, dass man den Tagesablauf der As- ließ den Tempel während der Zeit des Vereinigten Silla-Reichs (618keten mit gemeinsamer Verrichtung der Tempelarbeiten, Meditation 935) im 8. Jhdt bauen. Im Joseon-Reich (1392-1905) wurden hier oder Spaziergängen miterleben kann. Besonders die Spaziegänge auf Staatsexamen für Mönche abgehalten. Geht man von der Haupthalle den sich durch das Tal windenden Bergpfaden, bei denen Hwadu- zur Aufbewahrungsstätte von Sutren-Holzdruckstöcken den LehMeditationsaufgaben gestellt werden, treffen auf gute Resonanz. mpfad entlang, sieht man in der Maitreya-Halle, wo sich die große Statue des Maitreya-Bodhisattva befindet, Gläubige beim Gebet. WeiTel. +82-2-902-2663 Anfahrt Von Ausgang 4 der U-Bahn-Station ter oben hinter der Aufbewahrungsstätte befindet sich das MeditatiSuyu(Linie 4) den Maeul-Kurzstreckenbus 2 zum Hwagye-sa neh- onszentrum, in dem die Templestay-Programme abgehalten werden. men. 5 Minuten Fußweg von der Haltestelle. Die Programme dauern zwei Tage und können jederzeit stattfinden, Homepage: www.hwagyesa.org wenn wenigstens zehn Anmeldungen vorliegen. Jeden Donnerstag ab 14 Uhr werden Templelife-Programme angeboten, bei denen man Kilsang-sa (Gilsang-sa) Im Wohnviertel Seongbuk-dong im drei Stunden lang den Tempel besichtigen und das Leben der MönHerzen Seouls befindet sich der allen offen stehende Tempel Kilsang- che miterleben kann. Programme wie Barugongyang, Meditation, sa. In diesem Tempel braucht man keine endlos ansteigende Treppe Gebetsrituale oder Herstellung von Abzügen der Druckstöcke werden hochzusteigen, den Blick dabei auf die Buddha-Statue in der Ferne ebenfalls angeboten. Für ausländische Teilnehmer nehmen buddhisgerichtet. Wenn man, vorbei an einigen alten Zelkoven, abbiegt, findet tische Gläubige, die sowohl über Fremdsprachenkenntnisse als auch man schon den großen Hof und die Paradieshalle Geungnak-jeon. über buddhistisches Grundwissen verfügen, als freiwillige Helfer teil, Hinter der Haupthalle gibt es einen kurzen Pfad, der zur Unterkunft um einen reibungslosen Ablauf des Programms zu gewährleisten. der Mönche und zum Portrait-Pavillon führt, wo sich das Portrait des Mönchs Beopjeong, des 2010 verstorbenen geistigen Führers des Tel. +82-2-545-1448 Anfahrt Von Ausgang 6 der Tempels befindet. Da sich die Gipfel des Gebirges Bugak-san, das die U-Bahn-Station Samseong (Linie 2) 100m Hwagye-sa Innenstadt von Seoul umgibt, rechts und links erstrecken, gehen die geradeaus in Richtung Asem-Tower Kilsang-sa Seouler hier gerne spazieren. Im Vergleich zu den anderen, tausend gehen. Das Eingangstor des Jahre alten Tempeln in Korea wurde dieser Tempel erst 1995 errichtet: Bongeun-sa befindet sich auf Ursprünglich befand sich hier ein Luxusrestaurant. Die Besitzerin, der gegenüberliegenden Seite des Bongeun-sa eine frühere Gisaeng (professionelle Unterhalterin), vermachte den Asem-Towers. Besitz in ihren späten Jahren für den Tempelbau. Templestay findet Homepage: www.bongeunsa.org K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Spezial 4 Alltagsleben in einem buddhistischen Tempel

Ein Blick in die Küche des Tempels Unmun-sa Im Tempel Unmun-sa hält man sich strikt an den Aphorismus „Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen“, der die Wichtigkeit der produktiven Arbeit im Alltag der Askese Praktizierenden betont. In diesem Tempel sind die Bhikkhuni-Novizinnen für alle Haushaltsarbeiten von der Vorbereitung der täglichen Mahlzeiten für etwa zweihundert Nonnen bis hin zu Feld- und Gartenarbeiten zuständig. Kim Young-ock Freie Schriftstellerin | Fotos: Ha Ji-kwon, Na Sang-ho

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n jedem Tempel gibt es ein Bauwerk im traditionellen Stil namens Ilju-mun, wörtlich übersetzt „Einsäulen-Tor“. Es ist das erste Tor, durch das man gehen muss, um die säkulare Welt zu verlassen und das Tempelgelände zu betreten. Das Tor heißt „Ilju-mun“, weil zwei Säulen in „einer“ Reihe stehen. Manche interpretieren den Namen daher folgendermaßen: Jeder, der durch dieses Tor gehen möchte, sollte alles Wissen der säkularen Welt abschütteln und sich „einzig und allein“ auf die Suche nach der Wahrheit konzentrieren. Der Tempel Unmun-sa (Wolkentor-Tempel) ist ein 1.500 Jahre alter Tempel, der in Cheongdo, in der Provinz Gyeongsangbuk-do im südlichen Teil Koreas liegt. Selbstverständlich führt auch zu diesem Tempel ein Ilju-mun, aber das tatsächliche Ilju-mun dieses großen Tempels für „Bhikkhuni“ (Sanskrit: buddhistische Nonne) ist der ausgedehnte Wald, dessen hochgewachsene Kiefern am Tempeleingang die Grenze zwischen den beiden Welten markieren. Dieser Kiefernwald ist so majestätisch, dass allein sein Anblick den Betrachter von allen weltlichen Begierden und Sorgen zu befreien vermag. Es gab tatsächlich eine Frau, die das Bild der in graue Gewänder gekleideten Bhikkuni, die aus dem Kieferwald kamen, dermaßen ergriff, dass sie beschloss, in die Tempelgemeinschaft einzutreten.

Bhikkuni-Orden und Tempel Ummun-sa Im Tempel Unmun-sa, der nicht nur ein Kloster, sondern auch eine höhere Bildungseinrichtung ist, in der die buddhistischen Schriften gelehrt und erforscht werden, leben etwa 200 Bhikkuni, von K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

denen 150 Studentinnen sind. Somit ist das Bhikkuni-Seminar des Unmun-sa nicht nur das größte der insgesamt fünf Bhikkuni-Seminare in Korea, sondern das größte aller buddhistischen Seminare überhaupt. Das Besondere an diesem Tempelseminar ist, dass die Studentinnen 24 Stunden lang Askese praktizieren müssen. Die Studentinnen verbringen vier Jahre lang im Tempel und absolvieren in dieser Zeit ein Pflichtprogramm, das sie auf die Bhikkuni-Weihe vorbereitet. Zum Stundenplan gehören das gemeinsame Lesen der buddhistischen Schriften und das Erlernen verschiedener Rituale, wodurch sie sich die grundlegenden Tugenden für den langen Weg eines Asketen aneignen. Jeder Tag folgt einem strengen, minutenbzw. sekundenweise geplanten Ablauf. Der Tag beginnt um drei Uhr morgens mit dem Doryangseok-Ritual zur Reinigung des Tempelgeländes vor der Morgandacht. Danach bleibt bis zum gemeinsamen Morgenmahl Zeit für Meditation oder Selbststudium. Um 14 Uhr stehen zwei Stunden Unterricht an. Nach der Abendandacht bis 21.00 Uhr, wenn das Tagewerk abgeschlossen ist, gibt es die traditionellen abendlichen Diskussionssitzungen und die Vorbereitung auf den Unterricht am nächsten Morgen. Eine Studentin kommentiert den harten Tagesfahrplan lachend: „Hier kann man in einer Minute 84.000 Dinge (buddhistischer Ausdruck für eine Vielzahl von Sachen) erledigen!“

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1, 2. Mönch-Studentinnen bei der gemeinschaftlichen Arbeit. 3. Weg durch den dichten Kiefernwald vor dem Tempel Unmun-sa.

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Die treue Aufrechterhaltung von Tempeln und der Geist der Askese sind Merkmale, die den koreanischen Buddhismus in der Geschichte des internationalen Buddhismus besonders kennzeichnen. Der Bhikkuni-Orden ist angesichts seiner Größe und seines strikten Geistes der Askese im klösterlichen Leben ein kostbares Erbe, das durchaus als wertvolles Kulturerbe der Menschheit bezeichnet zu werden verdient. In Anbetracht dessen kommt dem koreanischen Bhikkuni-Orden als Mitglied der internationalen Nonnenorden eine hohe Verantwortung zu. Das gilt ebenfalls für den Unmun-sa. Die Geschichte des Tempels Unmun-sa begann, als ein Mönch im Jahr 557 im alten Silla-Reich (57 v. Chr. -935 n. Chr.) in einer kleinen Hütte in Geumsu-dong im Gebirge Hogeo-san, dem „Hockender-Tiger-Gebirge“, nach langer Askese Erleuchtung erlangte und einen Tempel bauen ließ. Der Unmun-sa war ursprünglich ein reiner Mönchstempel, bevor 1958 das Nonnen-Seminar hinzukam. Zurzeit ist die Ehrwürdige Nonne Myeongseong die Älteste des Tempels. Sie wurde 1970 als Professorin an das Seminar berufen. Ab 1977 hatte sie 20 Jahre lang das Amt der Äbtissin und der Leiterin des Seminars inne. Sie trug wesentlich zur Entwicklung des Tempels bei, indem sie sich nicht nur für die Ausbildung unzähliger Studentinnen einsetzte, sondern auch den Tempel-Komplex erweitern und renovieren ließ.

re Wahl und gaben ihm seine Hacke wieder zurück. Meister Baizhang empfahl seinen Schülern, das ganze Jahr über in vier Perioden unterteilt Anbau zu betreiben, und zwar von u.a. Lattich, Mangold, Auberginen, Kürbissen, Gurken, Sonnenblumen, Rettichen, Stängelpflanzen und Spinat. Im Unmun-sa werden auch heutzutage noch viele von diesen Gemüsen angebaut. Der Tempel unterscheidet sich von den anderen Tempeln in Korea dadurch, dass hier der Geist und die Lehren von Meister Baizhang weiterhin treu bewahrt und gelebt werden.

Barugongyang Es gibt keine einzige Tätigkeit im Tempel, die nicht mit der Askeseübung verbunden ist. Neben den Gebetsritualen für Buddha ist das Tempelmahl Barugongyang eins der symbolhaftesten und bedeutungsvollsten Rituale. Alle Bhikkhuni des Tempels versammeln sich im vollen Ordenshabit in einer großen Halle und essen in Stille. Das Ritual verläuft zu den rhythmischen Klängen einer Jukbi-Bambusklapper. Zunächst wird das Essen in vier Schüsseln unterschiedlicher Größe gegeben, die nach der Mahlzeit einzeln mit Wasser ausgewaschen werden. Das Wasser wird dann getrunken. Auswaschen und Trinken werden mehrmals wiederholt, bis die Holzschüsseln sauber sind. Dann werden sie mit einem Tuch getrocknet und ineinander gestapelt. Die vier Baru-Schüs1 seln, die während der Mahlzeit Feldwirtschaft getrennt waren, werden nach Ein wichtiges Prinzip dieses 1. Der Tempel Unmun-sa, in dem rund 200 Nonnen leben, liegt in den dichten dem Essen wieder vereint. Die Tempels ist die SelbstversorWäldern des Gebirges Hogeo-san, des „Hockender-Tiger-Gebirges“. 2, 3. Die Küchenarbeit liegt in den Händen der Nonnen-Studentinnen. Sie Tugenden, die die jungen Askegung mit Nahrungsmitteln. Die trocknen Teeblätter (2) und kochen Reis in einem Kessel auf der Holzfeuerten bei dieser Übung lernen, Versorgung der rund 200 Perstelle unter dem Küchengott-Schrein (3). sind Gleichwertigkeit, Sparsamsonen starken Tempelgemeinkeit, Aufrichtigkeit, Selbstdisziplin und die sechs Harmonien: die schaft beginnt mit der Bestellung der Felder im Frühling, für die Harmonie des Körpers, der Sprache, des Geistes, der Moral, des die Studentinnen im zweiten Studienjahr zuständig sind. Im Herbst, Wissens und der Verteilung der lebenserhaltenden Nahrung. Zu wenn es wegen der Ernte viel zu tun gibt, dauert die GemeinBeginn des Tempelmahls werden die Fünf Verse der Einsicht rezischaftsarbeit Ullyeok oft länger als fünf Stunden am Tag. tiert, die mit der Frage „Von wo kommt dieses Essen?“ beginnen, Der chinesische Zen-Meister Baizhang Huaihai (720-814), der womit der Sinn des Gemeinschaftsmahls tief verinnerlicht werden Organisation und System der Zen-Klöster integrierte und dadurch soll. Die Wahrheit des Bergtempellebens macht nicht am Tempelden chinesischen Buddhismus vom indischen Buddhismus tor halt. Die sorgfältig zubereiteten Tempelgerichte und das Temabgrenzte, betonte nicht nur die Wichtigkeit der produktiven Arbeit pelmahl Barugongyang ziehen mit der darin verborgenen tiefen im Rahmen der Askese, sondern lebte auch strikt danach. Er hinspirituellen Bedeutung nicht nur die Aufmerksamkeit der Koreaterließ den berühmten Aphorismus „Ein Tag ohne Arbeit ist ein ner, sondern auch die von Menschen in aller Welt auf sich. Tag ohne Essen“. Hintergrund ist dabei folgende Begebenheit: Bai­ zhang Huaihai wollte auch im hohen Alter nicht damit aufhören, auf dem Feld zu arbeiten. Besorgt um seine Gesundheit nahmen ihm Die Küche eines Tages seine Schüler die Hacke weg, woraufhin er sich weiFür die Küchenarbeiten sind die Studentinnen im dritten Studiengerte, Essen zu sich zu nehmen. Da hatten die Schüler keine andejahr zuständig. Alle arbeiten zusammen und bereiten die Mahlzei-

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ten für die ganze Tempelgemeinschaft ohne jegliche Hilfe von außen vor. Für alle Küchenarbeiten und deren Verwaltung ist die Wonju, die Hauptverwalterin, zuständig. Ihr zur Hand geht als Zweite Verwalterin die Byeoljwa, die die Speisepläne aufstellt und auch die Beilagen zubereitet. Für das strikt vegetarische Tempelessen ist der Sojabohnenkäse Tofu zwar der wichtigste Eiweiß-Lieferant, er ist aber schwer per Hand herzustellen. Handgemachter Tofu wird meist von den Gläubigen gespendet, aber wenn es Engpässe gibt, wird er auch schon mal auf dem Markt gekauft. Sojabohnensprossen, die oft gegossen werden müssen, werden jedoch im Tempel selbst gezogen. Von vier Uhr morgens nach dem Morgengebet bis sechs Uhr morgens vor dem Morgenmahl herrscht in der Küche ein geschäftiges Treiben. Das Gebet zum Küchengott Jowang hat in Korea nicht nur in Tempeln, sondern auch in normalen Haushalten eine lange Tradition, da der Küchengott Unglück von der Familie fernhalten und die Gesundheit aller schützen soll. An diesem täglichen Ritual lässt sich ablesen, für wie wichtig die Küche als Raum, in dem die täglichen Mahlzeiten zubereitet werden, gehalten wurde und wird. Im Unmun-sa reinigen die Nonnen Mund und Hände und verbeugen sich vor dem Gott der Küche, bevor sie überhaupt die Küche betreten. Einmal im Monat, nämlich am letzen Tag des Monats nach Lunarkalender, findet frühmorgens in der Geumdang, der ältesten Halle des Tempels, ein Ritual statt, bei dem dem Küchengott zur Abwehr von Dämonen auf dem Altar über dem holzgefeuerten Herd Reiskuchen in einem Mantel aus zerkleinerten roten Bohnen geopfert werden. Während beim Morgenmahl, an dem alle Bhikkuni teilnehmen, dasBarugongyang zelebriert wird, wird zu Mittag und am Abend ein großer Tisch aufgestellt, an dem sechs oder sieben Nonnen sitzen und gemeinsam essen. Der vegetarische Speiseplan, den die Zweite Küchenverwalterin von den älteren Nonnen oder Vorgängerinnen bekam, ist nach folgenden Regeln ausgerichtet: die fünf scharfen Gemüse - darunter Knoblauch, Jungzwiebeln oder Schnittlauch -, die aufgrund ihres starken Geruchs und scharfen Geschmacks auf die Askeseübungen störend wirken können, vermeiden; Gemüse der Saison verzehren; nicht zu salzig essen und wenig Öl verwenden. Das Prinzip, sparsam mit Öl umzugehen, kommt aber an bestimmten Tagen etwas lockerer zur Anwendung, und zwar an den drei Tagen im Monat, an denen sich die Nonnen ihr Haupt rasieren. Das Rasieren der Haare, das Symbol der menschlichen Leidenschaften, braucht einer besonderen Ermutigung. An diesen Tagen besteht das Sondermenü aus fetthaltigeren Speisen: Klebreis mit roten Bohnen, Maronen, Jujuben und Pinienkernen; Wakame-Braunalgensuppe mit Kombu-Seetang und Pilzen; fritierte Judasohren in Soße; pfannengerührte Glasnudeln mit verschiedenen Gemüsen oder fritierte, mit Sirup-Glasur überzogene Süßkartoffeln. Der Speiseplan wird anhand des Angebots an selbst gezogenen oder gespendeten Gemüsen entschieden und ist nicht strikt an traditionellen Speisen ausgerichtet. Die Studentinnen im unteren Jahrgang, die noch kaum an das Klosterleben gewöhnt sind, können oft beim Frühstück kaum etwas hinunterbringen, auch wenn das Essen leicht verdaulich ist, da sich der Tagesablauf im Tempel von dem zu Hause K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Die Wahrheit des Bergtempellebens macht nicht am Tempeltor halt. Die sorgfältig zubereiteten Tempelgerichte und das Tempelmahl Barugongyang ziehen mit der darin verborgenen tiefen spirituellen Bedeutung nicht nur die Aufmerksamkeit der Koreaner, sonder auch die der Ausländer auf sich. gewöhnten radikal unterscheidet. Am Ullyeok-Tag, an dem alle Tradition und Modernisierung Nonnen im Tempel gemeinsam arbeiten, gibt es zwischendurch Die Plattform, auf der Vorratskrüge in einer geraden Linie nebeneileichte Imbisse wie Nudeln in Brühe, Reiskuchen oder Brote. Über nander stehen, ist einer der schönsten Anblicke, die sich in einem den grummelnden leeren Magen zu siegen, ist nicht einfach. Wenn Tempel bieten. Auf den großen und kleinen Krügen, die im Sonder Hunger nicht zu ertragen ist, werden flach gedrückte, in Streinenlicht glänzen, sind Etiketten mit Inhalt und Herstellungsdatum fen geschnittene Almosen-Reiskuchen in Chilipastensoße gekocht angebracht: Sojabohnenpaste, Chilipaste, Sojasoße, Persimonen(Tteokbokki, ein beliebter Snack). Auch vegetarische Pizzen, für die Essig, Salz usw. Einzigartig ist auch der große Eisenkessel, der man statt Mehlteig Reis verwendet, gehören manchmal zur Tembei der Sojasoßenherstellung für das Kochen von fermentierten pelkost: Auf eine dicke Schicht Reis kommen verschiedene GemüSojabohnenblöcken zum Einsatz kommt oder bei großen Temsereste als Belag. Dicke Pizzen, die nicht so dünn wie die westlipelveranstaltungen für Suppen oder Reis verwendet wird. Sowohl chen sind! der Geschmack der in diesem Kessel gekochten Speisen als auch Für das Leben in einer großen Gemeinschaft stellen zudem leicht die äußerliche Eleganz sind mit modernen Küchenutensilien, mit ansteckende Krankheiten wie denen sich alles schnell und Erkältungen eine große Gefahr leicht zubereiten lässt, nicht verdar. Geht die Grippe um, wird gleichbar. Suppe aus im Herbst geernteten Die Keller, die entlang des und getrockneten Neungi-Pilzen Baches neben dem Tempel (Sarcodon aspratus), Sojabohangelegt sind, sind ebenfalls nensprossen und Rettich verabbemerkenswert. In einem Keller reicht. Zimttee oder Ingwertee befinden sich Kühlschränke, in helfen ebenfalls. In manchen denen Chilipulver und ChinakohlTempeln werden Erkältungen Kimchi - von den Studentinnen mit traditionellen Hausrezepten jedes Jahr aus Tausenden von behandelt, wie z.B. einem Trunk Kohlköpfen zubereitet – aufbeaus der gelben Flüssigkeit, die wahrt werden. In einem Kel1 entsteht, wenn man Sojasprosler mit guter Ventilation lagern sen und Yeot (koreanisches trarote Chilis, die im letzen Herbst 1. Blöcke fermentierter Sojabohnen (Meju) trocknen in der Sonne. Sie werden für die Herstellung von Sojasoße und Sojabohnenpaste gebraucht, die das ganditionelles Toffee auf Getreidegeerntet und getrocknet wurden, ze Jahr über in der Tempelküche zum Einsatz kommen. basis) bei Raumtemperatur ein Bohnen, Sesamkörner, Perilla2. Die Einnahme der Mahlzeiten ist eine strenge Übung, bei der absolutes Schweigen geboten ist. paar Tage gären lässt. Im TemKörner, Kürbisse, Schizandra pel beschränken sich die Zutachinensis sowie in den Bergen ten für die Teezubereitungnicht unbedingt auf Pflanzenblätter: Die oder auf Feldern wachsende Arzneipflanzen und Duftkräuter wie Wurzeln von Echtem Salomonssiegel (Polygonatum odoratum var. die Chinesischen Pfefferschotenarten Sancho (Zanthoxylum schinipluriflorum), Rettiche, Topinambur (Helianthus tuberosus), Hirtenfolium) und Jepi (Zanthoxylum piperitum). In kühlen Räumen wertäschel und Jujuben, d.h. alle Wurzeln oder Früchte, die im Tempel den in Sojasoße, roter Chilipaste oder Essig eingelegte Gemüse wie oder in den Bergen wachsen, können getrocknet und mit heißem Rettiche, grüne Pfefferschoten, Deodeok (Codonopsis lanceolata), Wasser zu Tee aufgegossen werden. grüne Pflaumen, Lotuswurzeln, Pilze oder Perillasprossen aufbeEin altes Sprichwort besagt, dass „die Gnade der Almosen (d.h. der wahrt. Diese Vorräte, fein säuberlich zubereitet und gelagert, geben Schweiß des Bauern), die hinter einem einzigen Reiskorn steckt, Aufschluss über die Größe der Gemeinschaft, für die Tempelküche sieben Geun (etwa neun Pfund) wiegt“. In diesem Geiste werden und Küchenverwaltung zuständig sind. In einem anderen Raum alle Essensreste mit Falllaub, Unkraut, Sägemehl aus Renoviesind die Wand entlang in gerader Linie diverse Artikel wie Hacken, rungsarbeiten, Asche und menschlichen Exkrementen etwa ein lange Besen, Gemüsekörbe, Hocker oder Gummistiefel angeJahr lang fermentiert und später als Dünger verwendet. ordnet, die den Betrachter lächeln oder ernst werden lassen. Der

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Spruch „Schau unter deine Füße“, der auch interpretiert werden kann als „Achte auf dein Benehmen“, kommt nicht nur bei den weißen Gummischuhen, die fein säuberlich vor der Dharma Halle aufgereiht sind, zum Ausdruck, sondern auch in diesen Lagerstätten. Aber es ist schwer zu sagen, wie lange solch traditionelle Tempelszenen noch zu sehen sein werden. Der Orden hat das Studienfächer-Angebot zwar stark ausgebaut, aber die Zahl der geweihten Nonnen geht Jahr für Jahr zurück. Im Vergleich zu früher ist auch das Durchschnittsalter bei der Ordination mit Ende Dreißig heute höher. Die Nonnen sind daher nicht nur körperlich schwächer, sondern auch an harte körperliche Anstrengungen nicht gewöhnt, weshalb ihnen das Zubereiten der Mahlzeiten oder die Bestellung der Felder nur schwer fallen können. Entsprechend plant der Unmun-sa, eine moderne Küche zu bauen, die mit Gasherden, Reiskochern und Geschirrspülern ausgestattet ist. Es wird auch diskutiert, die Aufstellung der Speisepläne professionellen Ernährungsberatern zu überlassen. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Die Führung des Tempels liegt in der Hand der Ehrwürdigen Nonne Iljin, die sich über die kleinen und großen Angelegenheiten mit den älteren Nonnen oder anderen Verantwortlichen berät. Die Äbtissin lehrt als Professorin die Avatamsaka-Sutra im Klosterseminar. An dem Tag, an dem ich im Unmun-sa war und auf sie wartete, hatte Äbtissin Iljin in Seoul etwas zu erledigen. Sie kam am späten Nachmittag zurück und sagte, dass das Einkaufen auf dem Markt sie etwas aufgehalten hätte. Ich fragte sie überrascht: „Geht denn auch die Ehrwürdige Nonne selbst auf den Markt?“ Sie erwiderte lachend: „Unter den Ehrwürdigen Nonnen gibt es auch Rangstufen. Ich mag zwar die Äbtissin sein und damit für die Verwaltung zuständig, unterstehe aber der Tempel-Ältesten, der Ehrwürdigen Nonne, die die spirituelle Führung hat.“ Sie ist der Meinung, dass die Traditionen schon weiter gelebt werden sollten, aber innerhalb eines vertretbaren Rahmens. Worte einer demütigen, aber progressiv eingestellten Bhikkuni, die den Problemen nicht ausweichen, sondern sie realistisch lösen möchte.

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Koreanische Manhwa Vorreiter in einer sich rasant verändernden Comic-Landschaft

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Auf dem 40. Internationalen Comic-Festival von Angoulême, dem größten Comic-Festival in Europa und dem zweitgrößten in der Welt, hat Korea durch eine Sonderaustellung über spezifisch koreanische Web-basierte Comics, die sog. Webtoons, zukunftsweisende Richtungen für den weltweiten Comic-Markt aufgezeigt. Park In-ha Comic-Kritiker, Professor für Cartoons und Comics am Chungkang College of Cultural Industries

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nfang des Jahres (31. Jan.-3. Feb. 2013) präsentierte sich Korea auf dem Internationalen ComicFestival von Angoulême, einer Stadt im Südwesten Frankreichs, mit der Sonderausstellung Audelà Bande Dessinée, die auf einem 375m2 großen Areal auf dem Platz Saint-Martial stattfand. 2003 hatte Korea auf dem selben Festival als Ehrengast eine Sonderausstellung unter dem Titel Dynamik der koreanischen Manhwa eröffnet und zum ersten Mal die damals in Europa noch fast völlig unbekannten koreanischen Comics und ihren besonderen Reiz vorgestellt. Dieses Jahr wählte man für den Titel allerdings das universellere bande dessineé („gezeichneter Streifen“, i.e. Comic) statt den Fokus auf das spezifisch koreanische „Manhwa“ zu legen. Vor zehn Jahren befand sich die Entwicklung der digitalen Manhwa noch in den Kinderschuhen, so dass

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Korea bei seinem ersten Festival-Auftritt nur einen Vorgeschmack darauf geben konnte. Mittlerweile haben sich jedoch in der neuen Welt der digitalen Plattformen enorme, damals noch unvorstellbare Veränderungen vollzogen. Entsprechend wurde 2013 das Hauptaugenmerk auf die neuesten technologischen Errungenschaften des innovativen Markts der koreanischen Internet-Comics gelegt. Die Webtoon-Ausstellung stand denn auch unter dem Slogan „Spiel Digital“. Es handelt sich um Manhwa, bei denen Bewegungen oder Sound-Effekte durch die Anwendung von Flash-Animationen oder HTMLTagging maximiert wurden, und die neue Ausdrucksmöglichkeiten durch das optimale Abgestimmtsein auf das vertikale Scrollen von Internet-Inhalten zeigen. Verschiedene Werke von Profis aber auch von Amateuren konnten gewählt und auf großformatigen Monitoren oder Tablet-PCs abgespielt werden.

Eine Figur aus Bandit Lim , geschaffen von Lee Doo-ho (links) und eine Figur aus Gisaeng-Geschichten von Kim Dong-hwa (unten).Die beiden Künstler nahmen an der Ausstellung klassischer koreanischer Cartoonisten des 40. Internationalen Comic-Festivals in Angoulême teil.

„Spiel digital“ Das französische Publikum hatte an den vielen technischen Neuerungen, die die koreanischen Webtoons boten, seinen Spaß: So z.B., als sich der Geist aus dem Grusel-Comic Der Geist von Bongcheondong urplötzlich auf dem Bildschirm zum Betrachter umdrehte oder die Türglocke in dem Action-Thriller Ritterlichkeit schellte. In dem kurzen Animationsfilm Die Geschichte von Konstanze: ein seltsames Überleben wird das Publikum dazu verführt, in die Rolle eines der Charaktere zu schlüpfen, der dann gezeigt wird, wie er sich gleichzeitig den Video anschaut. Besonders Schulklassen waren begeistert von der Ausstellung. Eine 40-jährige französische Lehrerin, die mit ihrer Klasse gekommen war, kommentierte: „Es war eine völlig neue Erfahrung für mich, Comics durch Herunterscrollen an einem Computerbildschirm zu lesen. Es war fast so, als ob man sich einen Film ansehen würde, was den Kindern gut gefallen hat.“ Über die Webtoon-Ausstellung, die durch Technik ein neuartiges Leseerlebnis bot, berichtete auch das französische Nachrichtenmagazin l'Express :„ Webtoons wurden erstmals auf der Welt von Koreanern kreiert und erwecken Neugier über den Korea gewidmeten Ausstellungsraum hier.“ Tatsächlich steigt selbst in der comicstarken Nation Frankreich, die über einen soliden PrintComic-Markt verfügt, das Interesse an digitalen Comics mehr und mehr. Im Mai 2012 öffnete das erste französische Webtoon-Portal Delitoon.com seine Pforten. Didier Borg (45), Editor bei Casterman, dem größten französischen Comicverlag, und Administrator von Delitoon, sagt: „Auch in Europa gibt es viele junge Künstler, die ihre Comics beispielsweise durch einen eigenen Blog ins Netz stellen. Einige der talentiertesten von ihnen haben begonnen, ihre Serien auf Delitoon laufen zu lassen. Dabei hat das koreanische Webtoon-System Modell gestanden.“ Seit März sind dort auch die Werke von koreanischen Webtoon-Künstlern zu sehen. Umbrüche in der Welt der Comics Die koreanischen Manhwa haben in den letzten zehn Jahren einen innovativen Wandel durchlaufen: weg vom traditionellen Verlags- und Printformat und hin zu digitalen Plattformen. Für einige war er es eine sturmgleiche Veränderung, für andere eher ein Rieselregen-artiges Phänomen, das langsam und sanft die Kleider durchnässt. Wie einen heftigen Sturm erlebten es die Leute aus der Comicbuch- oder Comicmagazin-Branche, bei denen Fortsetzungscomics abgeschafft wurden, oder die Betreiber von Comic-Cafés, für die sich der Markt völlig auflöste.Die normalen Comic-Fans nahmen den Wandel hingegen nach und nach an. Sie wechselten allmählich auf die digitalen Plattformen über, also PC oder Smartphone, die ihrer Comic-Vorliebe bequem entgegenkamen. Dieser Wandel hatte dramatische Folgen: Korea stellte sich in die Reihen der Länder mit dem größten Comic-Konsum. Zu verdanken war dies den sog. „Webtoons“ (eine Zusammensetzung aus „Web“ und „Cartoon“), also den Internet-Manhwa, die mit einer digitalen Plattform als Grundlage einen kometenhaften Aufstieg erlebten. Laut einer 2012 von der Korea Communications Commission und der Korea Internet Security Agency gemachten Umfrage besaßen 82,1% aller koreanischen Haushalte Internetzugang, verglichen mit nur 19,8% im Jahr 2002. Im Juli 2012 nutzten 78,4 % der koreanischen Bürger über drei Jahre das Internet, K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Das Comic Journal der KOMACON (Korea Manhwa Contents Agency) ist eine mobile Applikation für Leser koreanischer Manhwa. Die im März 2013 gelaunchte App bietet eine Liste von 100 bekannten koreanischen Comics und Kurzzusammenfassungen, die sich auch auf Englisch einsehen lassen. in der Altersgruppe von 10-29 waren es sogar 99 %. Des Weiteren besaßen 63,7 % aller Koreaner über sechs Jahre ein Smartphone oder Smart-Tablet. Um an Informationen zu gelangen, nutzt die große Mehrheit der Koreaner im Alltag das Hochgeschwindigkeitsinternet. Auffällig ist dabei die Konzentration auf zwei Portale: 73,5% aller Netizens verwenden Naver und 20% Daum, was einen kombinierten Marktanteil von unglaublichen 93,5% ausmacht. Um diesen Schnitt zu halten, stellen die beiden Portalriesen verschiedene Inhalte kostenlos zur Verfügung, darunter auch die von den Koreanern im Alltag konsumierten Manhwa bzw. Webtoons. Seit 2000, als die ersten Webtoons erschienen, ist die Zahl stetig angewachsen und im Dezember 2012 beliefen sich die wöchentlichen Updates bei Naver auf 145 und bei Daum auf 108. Rechnet man nur die auf diesen beiden Portalen in Serie erscheinenden Webtoons zusammen, so werden pro Woche wenigstens 253 neue Folgen veröffentlicht. Das entspricht mengenmäßig 17 bis 20 Offline-Comicmagazinen, wenn man von 10 bis 15 Serien in einem Magazin ausgeht. Mit der Herausbildung eines den Manhwa-Konsum begünstigenden Umfeldes versuchen auch immer mehr Menschen, ihrer Kreativität in Webtoons Ausdruck zu verleihen. So gibt es z.B. Polizisten oder Lehrer, die ihre Erlebnisse im Beruf in Manhwa-Form gestalten und hochladen. PolStory (Police Story) erschien ab 2007 in Serie und thematisiert die persönlichen Erfahrungen des Polizisten Gyeong Hyeonju so erfolgreich, dass dem Webtoon sogar ein Platz in Pol in Love, dem offiziellen Blog der National Police Agency, eingeräumt wurde. Goshisaeng-Toon (Staatsexamens-Büffler-Toon) stützt sich auf die Erfahrungen, die die Autorin SERI bei den Vorbereitungen auf die Lehramtsprüfung machte. Nach der Zulassung zum Lehramt ging sie mit Saem-Toon in Serie, das den Lehreralltag beschreibt.

Koreanische Manhwa: Wegweiser für die Zukunft Auf der koreanischen Manhwa-Sonderausstellung beim Angoulême-Festival wurde auf der anderen Seite auch die Schaffenswelt der beiden angesehenen Manhwa-Autoren Lee Du-ho und Kim Donghwa, deren ins Französische übersetzte Werke bereits gute Resonanz gefunden hatten, beleuchtet (Ausstellung: Die Meister der koreanischen Manhwa). Es wurden auch Arbeiten von 13 weiteren koreanischen Künstlern vorgestellt, die Vertreter der seit 2000 zu beobachtenden neuen Stilrichtung des sog.

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1. Die Sonderausstellung koreanischer Comics Au-delà Bande Dessinée fand auf dem Platz Saint-Martial in der Innenstadt von Angoulême statt. 2. Besuchter betrachten die täglich wechselnden Arbeiten koreanischerComiczeichner, die Festival-Eindrücke in Angoulême festgehalten haben.

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Auteurism sind (Ausstellung: Neu sehen, neu sprechen). Diese Autoren weisen ein breites Schaffensspektrum auf: Sie sprechem aus ihrem Inneren oder aus ihren alten Erinnerungen heraus; sie porträtieren sich selbst; sie erforschen die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern; sie gehen auf die Geschichte ein oder sie ergründen verborgene Realität auf dokumentarische Weise. An den Reaktionen vor Ort war festzustellen, dass es für die Besucher eine gute Gelegenheit war, die koreanischen Manhwa-Autoren der lyrisch-literarischen Richtung neu zu entdecken. Einige der Werke konnten sogar an Ort und Stelle ins Ausland verkauft werden. „Manhwa“ wird im anglo-amerikanischen Sprachraum mit „comic“ und im französischen mit „bande dessineé“ übersetzt. Für die japanischen Comics hat sich in Europa die japanische Bezeichnung „Manga“ etabliert. Die koreanischen Manhwa waren im Ausland auf Grund der Stilähnlichkeiten ebenfalls „Manga“ genannt worden. Auf dem 30. Internationalen Comic-Festival von Angoulême 2003, auf dem Korea Hauptgastland war, wurde dann die Gelegenheit genutzt, im Zuge der vermehrten Copyright-Verkäufe ins Ausland die Bezeichnung „Manhwa“ als eigenständige Gattungsbezeichnung bekannt zu machen. Die Bemühungen trugen Früchte und in den letzten zehn Jahren konnte sich „Manhwa“ als Bezeichnung für koreanische Comics auf dem weltweiten Comicmarkt etablieren. Der französische Comicverlag Casterman z.B. verwendet die beiden Begriffe „bande dessinée coréenne“ (koreanische Comics) und „Manhwa“, um auf seine Hanguk (Korea) genannte Serie zu verweisen, zu denen u.a. Catsby und Romance Killer von Doha, Histoire couleur terre von Kim Dong-hwa und Timing und Apartement von Kang Full gehören. Die diesjährige koreanische Sonderausstellung verwendete im Titel bewusst die Bezeichnung „bande dessiné“ statt Manhwa. Mit dieser Wortwahl wollte man nicht nur das Heute der allgemeingültigen Comic-Form beleuchten, sondern anhand des koreanischen Manhwa auch das Morgen, da Korea international als Vorreiter gelten kann, wenn es um die Zukunft des auf das Digitale erweiterten Mediums Comic geht. Durch das Comic Journal schufen sich die koreanischen Manhawa ein weiteres Sprungbrett zum Digitalvertrieb und zur Ausweitung ihrer Leserschaft im In- und Ausland. Dieses Comic Journal der KOMACON (Korea Manhwa Contents Agency) ist eine mobile Applikation für Leser koreanischer Manhwa. Verschiedene Manhwa-Rezensionen von beliebten Werken bis hin zu Neuerscheinungen sind hier ebenso zu finden wie Informationen über Newcomer oder Interviews mit Comic-Autoren. Dazu gibt es eine Verlinkung, mit der sich leicht eine Verbindung zum sozialen Netzwerk-Service der WebtoonAutoren (SNS) herstellen lässt. Die im März 2013 gelaunchte App bietet eine Liste von 100 bekannten koreanischen Comics und Kurzzusammenfassungen, die sich auch auf Englisch einsehen lassen. Werden die koreanischen Manhwa auch weiterhin die Zukunft der Comics anführen? Das hängt wohl von der neuen Generation ab, die mit den digitalen Medien aufwächst. (Einigen der Skizzen und Feldberichte liegen Artikel von Lee Young-hee von der Tageszeitung Joong­ Ang Ilbo zugrunde.) K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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interview

Pantomimen-Pionier Yu Jin-gyu und das Internationale Pantomimenfestival Chuncheon

Yu Jin-gyus Pantomime Leere H채nde . Der wie ein Schamane mit Messern in beiden H채nden tanzende Mime bringt zum Ausdruck, dass der Mensch mit leeren H채nden auf die Welt kommt und mit leeren H채nden geht.

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Jedes Jahr im Mai legt sich eine aufgeregte Stimmung über die an einem See gelegene Stadt Chuncheon. Seit 25 Jahren schon organisiert Yu Jin-gyu hier das Internationale Pantomimenfes-

tival Chuncheon . Seine Bühnenauftritte hat Yu dahingehend entwickelt, dass das Publikum ein integraler Bestandteil der Vorstellung wird, ein Konzept, das auf das ganze Festival ausgeweitet wurde.

Kim Jung-hyo Theaterkritiker, Professor an der Keimyung University | Fotos: Ahn Hong-beom

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968 kam der deutsche Pantomime Rolf Scharre nach Korea. Seine starke Vorführung, bei der er zwei Stunden lang das Publikum ohne ein Wort zu sagen in den Bann zog, sollte bei einem Oberschüler im Publikum einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Dieser junge Mann, der sich an der Universität dann für Veterinärmedizin einschrieb, nahm 1971 an den Workshops der Theatertruppe Ejotto, der ersten Mimengruppe Koreas, teil, was ihn schließlich sein Studium aufgeben ließ, um den Weg eines professionellen Pantomimen einzuschlagen. Im Mai 1989 organisierte Yu das 1. Koreanische Pantomimenfestival im Seouler Space Theater, eine Veranstaltung, die nun schon auf eine 25-jährige Tradition zurückblicken kann und sich zu einem Festival von internationaler Größe entwickelt hat. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass Yu Jin-gyus Lebensgeschichte die Geschichte der koreanischen Pantomime ist.

Über die Pantomime hinaus Kim Jung-hyo: Ich erinnere mich, dass Das rote Zimmer von 2009 eine Art Signal für die Abkehr von der bis dahin von Ihnen verfolgten Mimenkunst war. Mit Das weiße Zimmer und Das schwarze Zimmer folgte über drei Jahre hinweg eine Serie zu dieser Thematik. Welche Absicht steckte dahinter? Yu Jin-gyu: Der Grund, warum ich zu dieser Zimmer-Serie gekommen bin, mag etwas sonderbar klingen. Es ist zwar nicht weiter bekannt, aber ich hatte schon lange darüber nachgedacht. Meine Überlegung war, das Konzept der Vorstellung, die bis dahin rein von den Körperbewegungen lebte, zu ändern. Zu dieser Zeit zwang mich ein Verkehrsunfall zu einem sechsmonatigen Krankenhausaufhalt. Nach einer Operation war mir jede Bewegung unmöglich. Da fing ich an zu grübeln, wie ich in diesem Zustand der Bewegungsunfähigkeit eine Vorstellung geben könnte. Ich hatte eine Idee: Wenn ich mich nicht bewegen kann, so kann ich doch das Publikum zur Bewegung bringen. Nach meiner Entlassung gab ich die erste Vostellung von Das rote Zimmer im Insa Art Center, einer Ausstellungshalle, und nicht in einem Theater. Die Besucher trafen im Minutentakt ein und gelangten, nachdem sie einige Räume durchschritten hatten, schließlich in den letzten, wo sie sich mir gegenüber setzten. Sie waren sowohl Akteure als auch Beobachter. Als Geste der Würdigung ihres Einsatzes bot ich ihnen Tee oder Wein an, den wir dann gemeinsam tranken. Kurz gesagt, Das rote Zimmer war eine Installationsvorstellung, die mittels des Zimmers das Konzept von der Bühne umgesetzt hat, dass die Bühne kein Ort ist, an dem die Künstler den Zuschauern etwas zeigen, sondern ein bestimmter Raum, in dem Künstler und Zuschauer während einer bestimmten Zeitspanne gemeinsam über etwas nachdenken und eine Lösung finden. Die Zimmer-Serie stellt eine Weiterführung dieses Konzeptes des Einbezugs des Publikums dar. Wenn ich es recht überlege, dann kam die Inspiration zur Weiterentwicklung meiner Pantomimen-Welt aus meiner körperlichen Beeinträchtigung. Das war genauso der Fall, als 1997 ein Gehirntumor bei mir festgestellt wurde. Während meiner Behandlung ging ich in mich und kam zu der Einsicht, dass es wohl meine Sturheit und meine eitlen Begierden waren, die sich zu einem Tumor verklumpt hatten. Das Stück Leere Hände, das ich 1998 auf die Bühne brachte, war ein Versuch, mich von meinem verbissenen Ehrgeiz zu befreien. Die Entscheidung für Chuncheon Kim: Sie sind in Seoul geboren und haben auch dort gearbeitet, bis es Sie plötzlich nach Chuncheon verschlagen hat. Was war der Grund dafür? Yu: Seit Anfang der 1970er Jahre war ich zehn Jahre ziemlich aktiv als Pantomime und stand oft auf der Bühne. Dann empfand ich eines Tages meine Arbeit als irgendwie sinnentleert. Ich wollte mit dem bedeuK o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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1. In seiner Funktion als Intendant des Internationalen Pantomimenfestivals Chuncheon diskutiert Yu vor Ort Pläne mit seinen Mitarbeitern, um die Einbeziehung und Teilnahme von Bürgern und Besuchern zu maximieren. 2. Auftakt des Festivals ist Ah!Surajang! , eine Straßen-Performance, deren besondere Attraktion Wasserbomben in der Stadtmitte von Chuncheon sind. 3. Eine Szene aus der Schlussvorstellung des Internationalen Pantomimenfestivals Chuncheon 2010.

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tungslosen Treiben aufhören und einfach nur noch ein normales Leben führen. Deswegen bin ich 1981 nach Chuncheon gegangen, um Rinder zu züchten. In meinen besten Zeiten brachte ich es auf 38 Tiere. Das war nur möglich, weil die Regierung damals die Viehzucht subventionierte. Doch das Landleben hatte ein Ende, als die Rinderpreise einbrachen. Dann betrieb ich ein Café in der Nähe der Kangwon Universität und der Hallym Universität. Ende 1987 suchte mich ein Journalist auf, der zu den Zeiten, als ich noch bei der Theatertruppe Ejotto aktiv war, ein enthusiastischer Kultur-Reporter gewesen war. Er meinte, ich, der ich doch die erste Patomimen-Generation überhaupt in Korea vertrete, soll unbedingt nach Seoul zurückkehren und weitermachen, da sonst die Pantomime in Korea aussterben werde. Er war also derjenige, dem mein Comeback im Jahre 1988 zu verdanken ist. Für diese Aufführung traten vier PantomimenKollegen und ich wieder gemeinsam auf die Bühne. Bei dieser Gelegenheit fassten wir dann auch den Entschluss, ein Pantomimenfestival ins Leben zu rufen, das einen Wandel in der Einstellung der koreanischen Künstlerkreise bewirken könnte, in der die Pantomime noch nicht als eigenständiges Genre der Aufführenden Künste anerkannt war. Das ist der Hintergrund, der schließlich zur Veranstaltung des 1. Koreanischen Pantomimenfestivals führte. Mit dem 2. Festival verlegten wir die Veranstaltung nach Chuncheon. Kim: Das Pantomimenfestival Chuncheon zählt mit dem London International Mime Festival und dem MIMOS Mime Festival in Frankreich zu den drei großen Pantomimenfestivals auf der Welt. Yu: Während sich das Londoner Festival auf konventionelle Theater konzentriert und Kommerzialität anstrebt, liegt bei dem in einer kleinen Stadt in Südfrankreich abgehaltenen MIMOS Mime Festival der Fokus auf dem künstlerischen Wert des Genres, wobei man sich um Diversität bei der Raumnutzung bemüht. Beim Internationalen Pantomimenfestival Chuncheon steht hingegen Nanjang, verrückte Ausgelassenheit, im Mittelpunkt. Das Festival ist quasi ein nächtelanger Karneval des ausgelassenen Treibens. Im Zentrum des Festivals steht nämlich nicht nur die Pantomime, sondern auch verschiedene andere Formen der Darbietung. Diese Besonderheit unterscheidet es von seinen europäischen Pendants. Die Intendanten der beiden Festivals haben auch Chuncheon schon besucht. Sie waren ohne große Erwartungen gekommen, aber in Anbetracht der Größe des Festivals zeigten sie sich sehr beeindruckt. Sie waren sowohl von der Länge, als auch von den Örtlichkeiten, der Anzahl der aufgeführten Stücke und der Vielfalt der Inhalte überrascht. Ich glaube, der internationale Ruf unseres Festivals hat sich auf ganz natürliche Weise dadurch ergeben, dass ausländische Pantomimen-Gruppen und Solokünstler teilgenommen haben und sich herumgesprochen hat, was in Chuncheon abgeht. Kim: Erzählen Sie doch etwas über die Entwicklung des Chuncheon-Festivals und die Hauptprogrammpunkte.

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Yu: Bis zur 5. Veranstaltung lief das Festival unter dem Namen Koreanisches Pantomimenfestival. Es war eine Zeit, in der sich kleine Theatertruppen darum bemühten, die Pantomime einer breiten Masse bekannt zu machen und als anerkanntes Genre der Aufführenden Künste zu etablieren. Danach änderten wir den Namen in Internationales Pantomimenfestival Chuncheon um und durch die Teilnahme ausländischer Künstler bekam das Ganze einen internationalen Charakter. Es war ja auch eine Zeit, in der sich die Festivals in Korea vermehrt mit dem Zusatz „international“ schmückten. Wir begannen, uns auf den FestivalCharakter zu konzentrieren. Wir kamen zu der Überzeugung: Ein Festival ist eine Art verrücktes Treiben (Nanjang). Entsprechend haben wir mit verschiedenen Programmen versucht, das Format des Pantomimenfestivals zu ändern: Beim Dokkebi Nanjang machen Kobolde die Nacht zum Tag, bei der Friday Night Madness sind nur Volljährige zugelassen und beim großen Ausnahmezustand Ah!Surajang platzen bei einer Straßen-Performance Wasserbomben auf der Hauptstraße der Innenstadt. Von da an lautete der Festival-Slogan: „Ein Festival muss verrückt sein, sonst ist es keins.“ Wir haben das Festival von einem reinen Pantomimenfestival erweitert auf ein Festival, bei dem auch verschiedene andere künstlerische Ausdrucksformen, die auch auf Einsatz des Körpers beruhen, präsentiert werden. In Zahlen ausgedrückt hatten sich in diesem Jahr über 900 Künstler aus dem In- und Ausland und über 100 Gruppen zur Teilnahme angemeldet. Hinzu kamen über 1.000 freiwillige Helfer. Auch dieses Jahr gab es am 19. Mai auf der Hauptstraße von Chuncheon wieder die Wasserspiele Ah!Surajang. Die belgische Tanzgruppe Les ballets C de la B eröffnete das Festival mit dem Stück The Old King. Bei seiner Uraufführung 2012 im Rahmen des Festival d’Avignon stieß es auf große Resonanz und feierte nun seine Premiere in Asien.

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„Beim Internationalen Pantomimenfestival Chuncheon steht Nanjang, verrückte Ausgelassenheit, im Mittelpunkt. Das Festival ist quasi ein nächtelanger Karneval des ausgelassenen Treibens.“

1. Yu bei einer Schatten-Performance, die er nackt hinter einem Blatt traditionellem koreanischen Hanji-Maulbeerbaumpapier gibt. Sein künstlerischer Ausdruck zielt stärker auf Spiritualität denn auf rein technische Ausdruckskraft ab. 2. Eine Szene aus dem Black Dragon Theater von Shevaka Productions, die im Rahmen der Friday Night Madness -Serie während des Internationalen Pantomimenfestivals Chun­ cheon 2012 aufgeführt wurde. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Kultur-Aushängeschild von Chuncheon Kim: Bei der Festlegung der Veranstaltungsorte gab es Streitigkeiten zwischen den Festival-Organisatoren und der zuständigen Behörde der Stadt Chuncheon, was Sie sogar dazu brachte, Ihren Rücktritt als Intendant anzukündigen. Yu: Im März kochten die Probleme in Bezug auf die Standorte etwas über, aber mein Rücktritt wurde abgelehnt und ich setzte die Arbeit bald wieder fort. Um etwas Neues zu probieren, wollten wir das Festival auf die Nami-Insel verlegen, aber die Stadt Chuncheon bremste uns aus. Die 2 © Chuncheon International Mime Festival Identität des Festivals stand auf dem Spiel: Soll das Festival den lokalen Wirtschaftsinteressen dienen oder der Kunst als solcher und einem echten Nanjang-Treiben? In der Hitze der Debatte wurde auch die Frage aufgeworfen, ob es nun das Festival von Chuncheon sei oder das Festival von Yu Jin-gyu. Um das Problem zu lösen, habe ich meinen Rücktritt als Intendant angeboten. Kim: Es kam wohl deshalb zu dem Vorfall, weil das Pantomimenfestival zu einem sehr starken Kultur-Aushängeschild von Chuncheon geworden ist. Yu: Das ist die nackte Realität nach 25 Jahren Pantomimenfestival Chuncheon. Als wir 1995 den Namen des Festivals änderten, hat uns die Stadt Chuncheon aktiv unterstützt. Die Stadt Chuncheon ist aber nicht der Ausrichter, sondern lediglich der Sponsor, der das Festival je nach Umfang der staatlichen Finanzierungshilfe in Form von Matching-Funds unterstützt. Für ein erfolgreiches Festival sind Veranstaltungsort und Finanzierungsbedingungen von großer Wichtigkeit und als wir mit diesen grundlegenden Problemen eine Zeit lang alleine gelassen wurden, erreichte uns das Angebot der Nami-Insel. Doch letztendlich fügte sich alles so, dass wir das Festival in Chuncheon beließen und auch den Festival-Charakter verstärken konnten. Kim: Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? Yu: Persönlich denke ich, dass ich die Grenzen eines konventionellen Pantomimen überwunden habe, doch das Umfeld sieht mich immer noch in dieser Rolle. Selbst als ich während meiner Vorbereitungen zu Das rote Zimmer die Pressemitteilung „Yu Jin-gyo macht in Zukunft keine Pantomime mehr“ herausgab, zitierten mich die Medien folgendermaßen: „Yu Jin-gyo macht Pantomime unter dem Titel ‚ Yu Jin-gyo macht in Zukunft keine Pantomime mehr‘“. Vielleicht kann ich tun, was ich will, und trotzdem wird man mich immer als einen Pantomimen im herkömmlichen Sinne ansehen. Doch ich denke, ich werde fortfahren, nach neuen Wegen zu suchen, mit dem Publikum zu kommunizieren. Und ich werde nicht müde, das Pantomimenfestival Chuncheon als ein ‚Festival‘ weiter zu entwickeln. Wir möchten den Festival-Geist der Koreaner, der sich auch durch die Red Devils, die Fußballfans der koreanischen Fußball-Nationalmannschaft gezeigt hat, pflegen und in Nanjang zur vollen Geltung bringen. Wichtiger als Truppen aus dem Ausland oder spektakuläre Shows einzuladen, ist die Weiterentwicklung der uns eigenen körperlichen Ausdruckskraft, unserer eigenen Pantomime. Die Gestaltung des Wasserspiel-Programms Ah!Surajang als ein Körperreinigungs-Nanjang, dessen Bezeichnung und Konzept eine Verbindung zum schamanististischem GutRitual aufweisen, stünde für eine solche Richtungssetzung.“ Offizielle Homepage des Pantomimenfestivals Chuncheon 2013: http://www.mimefestival.com/main.asp

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war ist Korea ein relativ kleines Land, aber auf Grund der je nach Region unterschiedlichen klimatischen und geographischen Gegebenheiten besitzt es eine abwechslungsreiche Pflanzenwelt und schuf eine auf dem Reisanbau basierende Agrarkultur. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich Handwerkstraditionen, die Gräser und Stroh als Grundmaterialien für verschiedene Gegenstände verwenden. Aus Pflanzen wie Riedgras, Rohrkolben und Silberhaargras sowie Reis-, Gersten-, Weizen- und Hirsestroh wurden Haushaltsartikel wie Matten, Deckelschachteln, Fensterblenden und Körbe produziert. Darunter gehören aus Riedgras (Cyperus exaltatus var. Iwasakii) gewebte Matten zu den repräsentativsten, für den Sommer unentbehrlichen Haushaltsgegenständen. Weil sich Riedgras kühl anfühlt, luftdurchlässig und hinreichend flexibel beschaffen ist, ist es für den Lebensstil der Koreaner, die traditionell auf dem Fußboden sitzen, ideal. Riedgras ist so flexibel wie Reisstroh und so kühl wie Bambus. Im Gegensatz zu Matten aus Reisstroh, die leicht ausfransen und aufrauen, sind Riedgrasmatten jedoch glatt und haltbar. Auch sind sie nicht so hart wie die Bambusmatten, die bei langem Sitzen unbequem werden. Hinsichtlich der Herstellung von Riedgras-Produkten lassen sich zwei Methoden unterscheiden: Fertigung ausschließlich per Handarbeit und Fertigung mithilfe von Geräten. Manuell können kleinere Produkte wie Deckelschachteln, Körbe und Sitzkissen gefertigt werden. Bei der Gerätefertigung, die bei teppichgroßen Matten zum Einsatz kommt, gibt es zwei Techniken: Bei der einen wird ein einfacher Webstuhl mit einer Querlatte, an dessen Ende Kettfäden aufgehängt sind, verwendet. An jedem Kettfaden ist ein Webgewicht befestigt, das zum Spannen der Fäden gebraucht wird. Das Riedgras wird Streifen für Streifen horizontal gelegt, wobei bei jedem Streifen die Kettfäden über der Querlatte gekreuzt werden,

so dass eine Matte entsteht. Bei der anderen Methode der Mattenfertigung kommt ein großer Webrahmen, um den die Kettfäden straff gewickelt sind, zum Einsatz. Jeder einzelne Riedgras-Streifen wird mittels einer Schussnadel in Querrichtung geschoben und dann mit dem Webkamm nach unten geschlagen. Je nach Webmethode unterscheiden sich die Endprodukte in der Textur: Bei der Webstuhl-Methode, „Jari“ genannt, sind die Kettfäden auf der Oberfläche zu sehen, wohingegen bei der Webrahmen-Methode „Dotjari“ die Kettfäden hinter den vertikal geflochten Binsen liegen und entsprechend unsichtbar sind. Ein berühmtes Jari-Produkt sind z.B. Hwamunseok, Matten mit Blumenmustern und anderen Motiven, die auf der zur Metropolstadt Incheon gehörenden Insel Ganghwa-do hergestellt werden. Der Name leitet sich von den in die Matte eingewebten Mustern aus bunt gefärbtem Riedgras ab, die so schön wie Blumen scheinen. Die Herstellung einer Matte verlangt über 600.000 von Hand ausgeführte Schritte, angefangen bei der Auswahl von qualitativ hochwertigem Riedgras über die Bearbeitung der Gräser bis hin zum Weben. Angesichts dieses mühsamen Verfahrens konzentrieren sich viele Handwerker entweder auf das Weben großer Matten oder auf die Herstellung kleinerer Haushaltsartikel. Han Soon-ja, Trägerin des Titels Immaterielles Kulturgut Nr. 16, Grasweberei der Stadt Seoul , stellt allerdings sowohl Matten als auch Haushaltsartikel her.

Riedgras-Weben ist mein Schicksal Han Soon-ja (67) ist auf der Insel Ganghwa-do geboren und aufgewachsen, einer Insel, die für Riedgras von überragender Qualität und auch für entsprechende Riedgras-Produkte berühmt ist. Ihr Ururgroßvater, der ebenfalls von der Insel stammte, war ein

Grasweber-Meisterin Han Soon-ja Blumenmalereien auf Riedgras-Matten Han Soon-ja, Webermeisterin von Riedgras-Matten und -Körben, schaute mit fünf oder sechs Jahren ihrer Mutter und Großmutter bei der Arbeit über die Schulter und spielte mit Riedgras. Im Alter von rund 20 Jahren ging sie dann ernsthaft den Weg als Weberin. Heutzutage werden ihre Werke in verschiedenen Ländern der Welt ausgestellt, einige davon befinden sich im Besitz des Britischen Museums und der Vatikanischen Museen. Park Hyun-sook Freie Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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Han Soon-ja beim Weben einer Matte.Jedes Mal, wenn sie einen Riedgras-Streifenin Position bringt, überkreuzt sie die mit einemWebgewicht beschwerten KettfädenÜber dem Querbalken.

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wohlhabender Großbauer auf Gangwha-do und äußerst talentiert in der Fertigung von Riedgras-Produkten. Seine handwerkliche Geschicklichkeit erbte Meisterin Hans Urgroßvater. In der dritten Generation wurde das bis dahin nur von Männern ausgeübte Familienhandwerk an die Frauen weitergegeben. Hans Großmutter erlernte das Handwerk von ihrem Vater und gab es an ihre Tochter, Hans Mutter, weiter. Grasweberin Han führt das Familienhandwerk nun schon in der fünften Generation fort. Sie hat selbst nur zwei Söhne, die aber beide in die Fußstapfen der Mutter traten, so dass die Familientradition wieder an die männlichen Nachkommen weitergegeben wurde. Meisterin Han schaute mit fünf oder sechs Jahren ihrer Mutter und Großmutter bei der Arbeit über die Schulter und spielte mit Riedgras. Wenn sie in der Grundschule als Ferienhausaufgabe selbst geflochtene Gegenstände aus Riedgras abgab, wurden diese von den Lehrern hochgelobt. Schon als kleines Mädchen gab es für sie nichts Schöneres, als Riedgras anzufassen. Sie liebte es, die Glattheit der Textur unter den Fingerspitzen zu spüren und den feinen Duft des Grases einzuatmen. Es war aber v.a. die Zufriedenheit, die sie empfand, wenn die im Kopf vorgestellten Motive beim Weben konkrete Gestalt annahmen, die sie sich mit Herz und Seele dem Handwerk verschreiben ließ. Hans Mutter gefiel dieser Enthusiasmus der Tochter jedoch nicht, denn das Weben verlangt stundenlanges Arbeiten am Webstuhl, weshalb der Webstuhl seit alters her als „Krankmacher“ bezeichnet wird. Hans Mutter machte sich entsprechend Sorgen, dass die Übernahme des Familienhandwerks der Gesundheit ihrer wertvollen ersten Tochter schaden würde. Aber im Alter von rund 20 Jahren begann Meisterin Han damit, sich entschlossen und ernsthaft dem Weben zu widmen. Weder ihre vier Schwestern noch ihr Bruder wollten das Familienhandwerk lernen, das Han mit einer solch starken und unerklärlichen Kraft fesselte. Als sie mit Mitte zwanzig heiratete und nach

Seoul zog, nahm sie ihren Webstuhl und andere Weberwerkzeuge wie Webgewichte mit. Von der Sorge ihrer Mutter, dass handwerklich geschickte Frauen ein hartes Leben führen, ließ sie sich nicht abschrecken. Es werden nun schon 50 Jahre, dass Han als Riedgras-Weberin arbeitet. Als sie noch jünger war und mehr Aufträge bekam oder auch an Ausstellungen teilnahm, verbrachte sie jede wache Minute am Webstuhl. „Auch zurzeit arbeite ich noch mindestens sechs Stunden pro Tag. Weil die Weber im Schneidersitz vor dem Webstuhl sitzen, leiden sie oft unter Gelenkentzündungen oder Rückenproblemen. Ich wurde hintereinander an den Hüftgelenken operiert, einmal mit 61, dann noch einmal mit 62 Jahren. Ich kann jetzt verstehen, warum sich meine Mutter Sorgen machte. Aber es ist schon merkwürdig: Obwohl diese Arbeit körperlich so anstrengend ist, habe ich die Arbeit an sich zu keinem Zeitpunkt widerwillig gemacht. Sogar heute noch ist es mein Wunsch, so lange es geht, Riedgras zu weben. Riedgras-Weben ist mein Schicksal.“

Riedgras aus eigenem Anbau Die von Han hergestellten Riedgras-Produkte sind von hoher Akkuratesse und Schönheit, wobei die einzelnen Streifen ebenmäßig miteinander verwoben sind. Komposition und Struktur der Muster und Motive, die sie auf ihre „Matten-Leinwand“ bringt, sind natürlich und schlicht. Sie hat sich seit jeher besonders darum bemüht, verschiedene, ansprechende Techniken zu entwickeln. Eine davon ist, ihren Riedgrasprodukten den ästhetischen Reiz von Holz zu verleihen. Ihre handwerkliche Fertigkeit und ihr Enthusiasmus wurden anerkannt, als sie beim Wettbewerb der traditionellen Handwerkskunst (Korea Annual Traditional Handicraft Art Exhibition) im Jahr 1987 den Präsidentenpreis gewann. 1992 wurde sie als erste Frau vom Arbeitsministerium und der Koreanischen Gesellschaft zur Entwicklung von Humanressourcen (Human Resources

Es ist für sie eine besonders große Freude, wenn sie Motive aus alten koreanischen Volkserzählungen einwebt, in denen das Kindlich-Naive und Gutmütige der Herzen der Koreaner zum Ausdruck kommt. Daher webt sie gerne neben mehr symbolhaltigeren traditionellen Motiven Märchen- und Volksmotive ein wie den Pfeife rauchenden Tiger und die Hasen, die ihm die Pfeife anzünden, oder die Kinder, die sich aufmachen, um den Mond vom Himmel zu holen. 1

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Development Service of Korea) als Meisterin im Bereich des Peddigrohr- und Bambushandwerks ernannt. 2003 wurde sie für ihre Verdienste zur Entwicklung der traditionellen Handwerksindustrie mit dem Zinnturm-Orden für Industrielle Verdienste ausgezeichnet. Ihre Werke werden in verschiedenen Ländern der Welt ausgestellt, einige davon befinden sich im Besitz des Britischen Museums und der Vatikanischen Museen. Auf die Frage, warum ihre Werke dermaßen geschätzt werden, antwortete sie: „Weil es Handwerksprodukte für den Hausgebrauch sind, müssen sie zugleich dekorativ und praktisch sein. Dafür muss das Rohmaterial von guter Qualität sein. Selbst ein ausgezeichneter Koch kann kein gutes Gericht zubereiten, wenn er keine frischen Zutaten hat. Bei traditionellen Matten aus Riedgras ist ein zurückhaltendes Grün, das dezent auf der Oberfläche schimmert, ausschlaggebend. Die Riedgras-Stängel werden zu Garben gebunden in der Sonne getrocknet und nehmen nach angemessenem Bleichen diverse subtile Grüntöne an. Da das eine recht komplizierte Arbeit ist, gerät man leicht in die Versuchung, zur einfachen und zeitsparenden maschinellen Methoden des Trocknens zu greifen. Manche Kunden halten die grüne Farbe für Schmutzflecke und bitten mich, sie zu beseitigen. Deshalb verwenden einige Weber chemische Bleichmittel. Ich baue das Riedgras selber an und bearbeite es eigenhändig, um Produkte von guter Qualität herzustellen.“ Riedgras ist eine einjährige Pflanze, die bis zu zwei Meter hoch wird. Die

1. Han baut für ihre kunsthandwerklichen Produkte das Riedgras selbst an und verzichtet auf Bequemlichkeiten wie maschinelles Trocknen und chemisches Bleichen. 2. Ein Set von drei handgeflochtenen Riedgras-Deckelschachteln. Mit gefärbten Riedgras-Streifen wurden verschiedene glücksbringende Symbole kreiert.

Stängel haben eine weiche, glänzende Oberfläche und sind kräftig. Die Riedgras-Setzlinge werden im Frühling gepflanzt, geerntet wird im August. Die Stängel werden in drei Teile gespalten, getrocknet, von Verunreinigungen befreit, in der Sonne gebleicht, erneut getrocknet und dann gefärbt. Drei oder vier Tage lang wiederholt Meisterin Han den Prozess des Trocknens, wobei die in Streifen gespaltenen Stängel in der Nacht dem Tau ausgesetzt und am Tag in der Sonne getrocknet werden. Das Trocknen in der Sonne verleiht den Matten einen Grünton, der so elegant ist wie der des Buncheongsagi, der graublauen Keramik mit weißer Glasur, die in traditionellen Brennöfen gebrannt wird. Doch nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch wegen der Haltbarkeit vermeidet Han den Einsatz von Bleichmitteln. Sie erklärt, dass die Bleichmittel die Faserstärke des Riedgrases schwächen. Das Riedgras baut Han in ihrer Heimat auf der Insel Ganghwa-do selbst an, wobei sie häufig zwischen Seoul und der Stadt Ganghwa pendelt. Verwendet man reichlich chemischen Dünger, werden die Stängel länger, sind dafür aber schwächer und hohl. Daher geht sie sparsam mit Dünger um und pflanzt das Riedgras auf Feldern, in denen gutes Wasser in reichlicher Menge vorhanden ist.

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Matte. Eins von Hans Werken, eine 210 cm breite und 300 cm lange Allein mit Geduld nicht zu schaffen Matte mit den zehn Symbolen der Langlebigkeit, nahm einen ganMeisterin Han ist voller Stolz auf die Hwanmunseok-Matten, für die zen Monat in Anspruch. ihre Heimatstadt Ganghwa berühmt ist. Als das Goryeo-Reich (9181392) 1232 die Hauptstadt provisorisch auf die Insel Ganghwa-do verlegte, um Widerstand gegen die Mongolen-Invasion zu leisten, Mehr als reine Geduld begannen die Leute, die aus Gaegyeong (heute Gaeseong in Nord„Das Weben einer Matte erfordert viel Zeit und Hingabe. Selbst korea) übergesiedelt waren, als Nebenverdienst mit der Herstelwenn zwei oder drei Leute zusammenarbeiten, brauchen sie zehn lung von Riedgras-Matten. In der Folgezeit wurde das Handwerk bis fünfzehn Tage. Und für einen rechteckigen Obstbehälter von dann auch an die Bewohner der Insel weitergegeben. Seitdem 15 cm Länge und 8 cm Breite brauche ich, wenn ich allein arbeite, haben sich die Hwamunseok-Matten als Spezialprodukt von Gangschon drei Tage. Bereits ein winziger Unterschied im Krafteinsatz hwa-do etabliert. führt beim Weben dazu, dass die Abstände zwischen den RiedgrasSchon in der Silla-Zeit (57 v.Chr.–668 n.Chr.) gab es eine eigeStreifen nicht gleichmäßig sind und entweder zu eng oder zu weit ne Behörde, die für die Herstellung von Hwanmunseok zuständig ausfallen. Dann muss man diesen Teil auflösen und neu beginnen. war. In der Goryeo-Zeit (918-1392) wurde die Schönheit der koreaFür dieses Handwerk ist eine feine und präzise Technik vonnöten. nischen Hwamunseok auch in den Nachbarländern weit bekannt, Als ich jung war, sagten die Älteren, dass man ohne viel Geduld und so dass die Matten ein so wichtiges Ausdauer keine Riedgrasmatte weben Geschenk im diplomatischen Austausch kann. Aber ich denke, dass es mehr als waren wie Ginseng. nur Geduld und Ausdauer braucht.“ Die glatten und haltbaren Matten mit Meisterin Han glaubt, dass Geduld ihrem leicht grünlich schimmerneine Eigenschaft ist, für ein bestimmden Elfenbeinton wurden traditionell tes Ziel die gegenwärtigen Schwierigbei besonderen Anlässen wie z.B. dem keiten ertragen zu können. Wenn man Besuch von besonderen Gästen oder jedoch nicht zugänglich ist für den subtibei Ahnenverehrungszeremonien als len Zauber, der jedem einzelnen Schritt Zeichen des Respekts auf dem Boden des Webens innewohnt, dann kann die ausgerollt. Sie waren auch Teil der AusGeduld leicht zu Ende gehen. Empfindet steuer: Die Braut brachte zwei Hwamuman nicht die Freude, beim Verweben seok-Matten mit in die Ehe, eine für ihre jedes einzelnen Riedgras-Streifens seine Schwiegereltern und eine für das junge spezielle Textur unter den FingerspitPaar selbst. Dank ihrer hohen Haltbarzen zu fühlen und die in der Vorstellung keit wurden sie nicht selten von Generaso schönen Muster einzuarbeiten, kann tion zu Generation weitergegeben. man allein mit Geduld und Ausdauer dieZur Herstellung von Hwamunseok wird ses Handwerk nicht lange fortführen. 2 ein Riedgras-Streifen nach dem anderen Es ist für sie eine besonders große Freu1. In Korea, wo das Sitzen auf dem Bodenzu den grundleauf die hölzernen Querlatte des Webde, wenn sie Motive aus alten koreagenden Alltagstraditionen zählt, wurden die gemusterten Riedgras-Matten als schöne und praktische Handwerks­ stuhls gelegt, an dem rund 140 Kettnischen Volkserzählungen einwebt, in arbeiten geschätzt. fäden aufgehängt sind. Die Kettfäden denen das Kindlich-Naive und Gutmütige 2. Als Han nach der Heirat umzog, nahm sie ihre in Ehren werden am Ende mit einem steinernen der Herzen der Koreaner zum Ausdruck gehaltenen Webgewichte mit. Ihre Werkstatt in Bukcheon hat sie nach den Webgewichten „Godeuraetdol” genannt, Webgewicht beschwert. Jeder einzelne kommt. Daher webt sie gerne neben die traditionell aus Stein bestanden, heutzutage aber norsteinbeschwerte Kettfaden wird über die mehr symbolhaltigeren traditionellen malerweise aus Metall gefertigt sind. Querlatte gelegt, bevor der nächste RiedMotiven Märchen- und Volksmotive ein gras-Streifen verwebt wird. Um bei diesem mehrere hundert Mal wie den Pfeife rauchenden Tiger und die Hasen, die ihm die Pfeiwiederholten Prozess farbige Blumenmuster oder andere Motive fe anzünden, oder die Kinder, die sich aufmachen, um den Mond zu weben, bedarf es eines sorgfältigen Entwurfs. Zu den typischen vom Himmel zu holen. Diese besondere Freude treibt Meisterin Motiven für Riedgras-Matten gehören chinesische Schriftzeichen, Han dazu an, in ihrer in Bukchon befindlichen Werkstatt namens die Reichtum und Wohlstand symbolisieren, glücksverheißende Godeuraetdol (Webgewicht) den ganzen Tag ihrer Arbeit nachzuTiere wie Kraniche, Mandarinenten und Tiger, sowie lebendig wirgehen und im Ausstellungs- und Bildungcenter für Seouls Immakende Blumen wie Pflaumenblüten und Pfingstrosen, oft zusamterielle Kulturgüter (Exhibition and Education Center of Seoul´s men mit Schmetterlingen. Selbst ein geschickter Handwerker Intangible Cultural Properties) vor dem Tor Donhwa-mun im Palast schafft an einem vollen Arbeitstag nicht mehr als 30 Zentimeter Changdeok-gung ihre Kunst vorzuführen. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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KUNSTKRITIK

Musical W채sche Sanfte Anklage der sozialen Realit채t 46

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Ppallae (Wäsche) ist ein original koreanisches Musical für kleine Bühnen, das ohne Starbesetzung oder raffiniertes Bühnenbild bereits seit rund acht Jahren aufgeführt wird. In diesem Stück geht es hauptsächlich um Nachbarn, die sich beim Aufhängen der Wäsche auf die gemeinsam genutzte Wäscheleine über ihre jeweiligen Lebensumstände unterhalten. Das Musical, das nach wie vor die Zuschauer anzieht, thematisiert vor allem die gesellschaftliche Benachteiligung sowie Freud und Leid von Behinderten und Arbeitsmigranten, über das die Protagonisten ihre Erfahrungen austauschen. Park Bo-mi Reporterin der Tageszeitung Hankyoreh

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m 14. März ist die 13. Spielzeit des Musicals Wäsche im Art One Theater im Seouler Stadtviertel Daehak-ro angelaufen. Als das symbolträchtige Hakchon Green Theater, der Haupttempel der Darstellenden Künste in Daehak-ro, wo das Musical seit 2008 auf die Bühne gebracht wird, seine Pforten schloss, musste ein neues Theater gefunden werden. Der Aufführungsort wechselte zwar, aber das Musical verlor nichts an Unterhaltsamkeit und rührte weiterhin an die Emotionen. Das Stück dreht sich um die Protagonistin Seo Na-yeong, die vor fünf Jahren aus einem ländlichen Ort in der Provinz Gangwon-do nach Seoul zog und in einer Buchhandlung arbeitet, und um ihre Nachbarn: Seos Vermieterin, eine alte Dame, die Altpapier sammelt, und Solongo, ein Arbeitsmigrant aus der Mongolei, der später Nayeongs Freund wird.

Seo Na-yeong, die Hauptfigur aus dem Musical Wäsche,ist eine junge Frau, die seit fünf Jahren in Seoul lebt.

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Eher sanfter Appell als scharfe Anklage In der koreanischen Musicalwelt ist Wäsche mit Linie 1 vergleichbar. Linie 1, das 1994, neun Jahre vor der Uraufführung von Wäsche, in Daehak-ro zum ersten Mal auf die Bühne gebracht wurde, lief zehn Jahre lang und zog in dieser Zeit große Aufmerksamkeit auf sich. In diesem Rockmusical, einer Adaption des gleichnamigen deutschen Originals von Volker Ludwig an die Verhältnisse in Korea, werden die Seouler aus der Perspektive von Seonnyeo (Bedeutung: „Fee“), einer jungen Frau aus dem Koreanischen Autonomen Bezirk Yanbian in China, beschrieben. Das Musical beleuchtet verschiedene Menschen wie einen arbeitslosen Familienvater, eine jugendliche Ausreißerin, einen Ring von Betrügern, der mit selbst zugefügten Körperverletzungen Geld erschwindelt, und einen selbst ernannten Straßenevangelisten. Durch die Darstellung von Menschengruppen, die die koreanische Gesellschaft lieber verbergen möchte, sorgte das Musical über die Bühnenwelt hinaus auch auf gesellschaftlicher Ebene für große Furore. Hinsichtlich der kritischen Gesellschaftsbetrachtung ähneln Wäsche und Linie 1 zwar einander, unterscheiden sich jedoch in ihrer Annäherung an das Sujet: Wäsche macht auf gesellschaftliche Probleme in eher ruhigem Ton aufmerksam, als sie scharf ins Rampenlicht zu rücken. In Bezug auf Wäsche werden denn auch häufig Beschreibungen wie „warm“, „liebevoll“ und „trostspendend“ gebraucht. Das Musical rührt mit dieser sanften Kraft bereits acht Jahre lang an die Gefühle des Publikums. Wäsche spielt in einem Armenviertel am Rande von Seoul. In diesem kleinen Viertel, zu dem man einen steilen Hügel hinaufsteigen muss, wohnen Leute ohne feste Arbeit, Arbeitsmigranten, kleinste Selbstständige und Alte, die Altpapier sammeln. Die Eröffnungsszene, in der die Protagonistin Na-yeong kurz nach dem Einzug in ihr kleines Zimmer mit ihrer Mutter auf dem Land telefoniert, vermittelt dem Publikum die zärtliche Liebe und Sorge der Tochter für ihre Mutter – Gefühle, die jeder nachempfinden kann, so dass sich das Publikum von vornherein öffnet und sich von dem Stück mitreißen lässt. Im Anschluss daran werden Missstände in der koreanischen Gesellschaft wie ungerechte Kündigung, Verzug der Lohnzahlung, Benachteiligung der Arbeitsmigranten sowie Vorurteile gegenüber Behinderten aufgedeckt. Obwohl solch ernsthafte gesellschaftliche Probleme behandelt werden, wird die Handlung dank der geistreichen Dialoge und des feinen Sinns für Humor nicht schwer und düster, sondern entwickelt sich vielmehr leicht-unbeschwert und feinfühlig, was ein herausstechender Vorteil des Musicals ist.

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Symbolgehalt der Wäsche Wäsche, der Titel des Musicals, ist das, was die Nachbarn, die abgesehen von ihrer Zugehörigkeit zur unteren Einkommensschicht keine Gemeinsamkeiten aufweisen, miteinander verbindet. Die Wäscheleine ist eine Vorrichtung, die deutlich die sozialen Schichten einfängt, denen das Musical eine helfende Hand ausstreckt. In Korea, das sich sehr schnell urbanisiert hat, gelten Wohnhochhäuser als eindeutigstes Symbol für die Mittelschicht. Es ist eine Art Messlatte für die gesellschaftliche Klassenzugehörigkeit, ob man in einem Wohnhochhaus-Komplex wohnt oder nicht und welche „Marke“ das Hochhaus trägt. Die Wäscheleine hingegen steht für das Wohnumfeld der einfachen Leute, die sich keine Hochhauswohnung leisten können. Paradoxerweise verleiht aber gerade dieser Umstand den gesellschaftich Minderprivilegierten das besondere Privileg, an einem sonnigen Sonntag auf dem Dach ihres Mietshauses ihre Wäsche aufzuhängen und dabei vor sich hin zu summen. Die wichtigen Motive „Wäsche“ und „Wäscheleine“ gehen auf die Studienzeit-Erfahrungen von Chu Min-ju zurück, die das Drehbuch verfasste und das Musical inszenierte. Wie die Hauptdarstellerin ist auch Chu in einer Provinzstadt geboren und aufgewachsen und zog dann nach Seoul. Wie sie in einem Interview sagte, gab es in dem Zimmer, das sie zu Millenniumsbeginn als Studentin gemietet hatte, keinen Platz zum Wäscheaufhängen, so dass sie die Wäscheleine und den Sonnenschein auf dem Dach der Mietwohnung eines Freundes, der in der Nähe wohnte, „geliehen“ habe. In dieser Weise dürfte sie das Hier und Heute angenommen und von einer hoffnungsvollen Zukunft geträumt haben. In der Darstellung der Nachbarn und der Szenen in der Buchhandlung, dem Arbeitsplatz von Na-yeong, sowie ihrer Vorliebe für Gedichte spiegeln sich Chus eigene Persönlichkeit und Erfahrungen wider. Und hierin liegt auch gerade die Kraft des Werks, bei den Zuschauern tiefe und starke Empathie hervorzurufen.

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1. Solongo (rechts), ein Arbeitsmigrant aus der Mongolei, freundet sich mit seinen Nachbarn an. 2. Solongo nimmt beim Wäsche-Aufhängen auf dem Dach schüchtern Na-yeongs Hand.

Na-yeong singt in ihrem Solosong: „Wenn ich die Wäsche wasche, entferne ich das Gestern wie Flecken, klopfe das Heute wie Staub ab und bügle die Falten des Morgen. So lebe ich heute im glatt gebügelten Morgen.“ Im koreanischen Originaltext kommt die Trost und Hoffnung spendende Botschaft, die anhand des Mediums „Wäsche“ übermittelt wird, in poetischer Schönheit gut zum Ausdruck. Komponist Min Chan-hong ist es gelungen, die Musik, die auch ohne Text Gefühlstiefe und Inhalt vermitteln könnte, mit Dialogen zu kombinieren, die an Gedichtverse erinnern. In der koreanischen Musicalbranche, die von Großbühnen mit Star-Besetzungen sowie kostenaufwändigen und luxuriösen Bühnenbildern dominiert ist, ist der Erfolg des Low-Budget-Musicals Wäsche mit acht Rollen (14 Darsteller durch Doppelbesetzung) und Produktionskosten in Höhe von 900 Millionen Won (rund 616.750 Euro) für die 13. Spielsaison eine große Sensation. Dieses Musical für Kleinbühnen, das im April 2005 im Nationaltheater in Seoul uraufgeführt wurde, feierte im Dezember 2012 die 2.000ste Aufführung. Nachdem die Aufführungen 2008 nach Daehak-ro verlegt wurden, wo das Stück seitdem auf Langzeitbasis läuft, finden auch Aufführungen in den Provinzen wie in Daegu oder Busan statt. Bislang haben 320.000 Zuschauer Wäsche gesehen, ein Erfolg, der in kleinen Theatern mit nur rund 100 Sitzplätzen ohne großangelegte Öffentlichkeitsarbeit erreicht wurde. Es wurde auch von Kritikern hoch gelobt. 2005 gewann das Musical beim Musical-Preis Koreas (Korea Musical Awards) jeweils den Preis für Lyrik und für Drehbuch und 2008 den Preis der Auslandspresse. Der literarische Wert der Songtexte ist dermaßen anerkannt, dass sie sogar in Mittelschulbüchern enthalten sind. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Begeisterung in Japan Wäsche stieß auch in Japan auf große Resonanz. Im Februar, Mai und August 2012 wurde das Musical in Osaka und Tokio vier Mal aufgeführt, wobei die Vorstellungen jedes Mal ausverkauft waren. Dieses Kleinbühnen-Musical, das ohne Starbesetzung und raffiniertes Bühnenbild nur auf die Aufrichtigkeit des Erzählinhalts setzt, kommuniziert über die nationalen Grenzen hinaus mit dem Publikum. Choe Se-yeon, der Leiter von Soobak, der Produktionsfirma von Wäsche, sagt: „Auch Japan sieht sich mit den Problemen Arbeitsplatzmangel und irreguläre Beschäftigung konfrontiert und die Situation der Arbeitsmigranten ist schon seit Langem ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem. Daher können sich die japanischen Zuschauer mit den Figuren identifizieren. “ Die Begeisterung des japanischen Publikums führte Won Jongwon, Musical-Kritiker und Professor an der Soon Chun Hyang University, darauf zurück, dass in diesem Werk der Wille des Individuums, nach einem besseren Leben zu streben, und die Kommunikation mit den Nachbarn oder der Gemeinschaft gut zum Ausdruck kommen. Er fügt hinzu, dass die Liedtexte, die die Zuschauer auf ihr eigenes Leben zurückblicken lassen und sie trösten, tief an die Gefühle rühren. Sogar in Japan, wo das soziale Sicherheitsnetz entwickelter ist als in Korea, können viele das im Musical Dargestellte nachempfinden, was beweist, dass unsichere Beschäftigungsverhältnisse und gesellschaftliche Übel im städtischen Leben in der „Risiko-Gesellschaft“ von heute bei jedem Empathie erzeugen. Wäsche wurde von dem japanischen Musical-Magazin Musical

als eines der zehn besten Musicals des Jahres 2012 ausgewählt. Nachdem das Werk auf der japanischen Bühne aufgeführt wurde, besuchen auch immer mehr japanische Touristen Daehak-ro, um es sich anzuschauen. Daher bietet der Produzent links und rechts der Leinwand japanischen Übersetzungen der Liedtexte auf VideoMonitoren an. In der Anfangs- und Endszene fragen die Figuren im Musical einander wiederholt: „Wie lange leben Sie schon in Seoul?“ Obwohl die Darsteller auf der Suche nach einer noch billigeren Bleibe häufig umziehen, ihr Sparkonto plündern, um über die Runden zu kommen, und wegen unbegründeten Entlassungen mehrmals von einem Job zum anderen wechseln müssen, so ist dieses Leben doch ihr Leben, das sie leben und weiterleben, und es ist auch das Leben derjenigen, die gerade auf den Zuschauerplätzen sitzen. Variiert man die Frage „Wie lange leben Sie schon in Seoul?“ durch „Wie lange leben Sie schon in Tokio?“ oder „Wie lange leben Sie schon in New York?“, können sich fast alle Mitglieder der Gesellschaft mit gleicher Eindringlichkeit angesprochen fühlen. Die Schmerzen, die diese Frage impliziert, werden in mutigen Antworten wie „Ich werde mich nie geschlagen geben (Na-yeong)“ und „Ich will ein langes, gesundes Leben führen (alte Dame)“zu Hoffnung sublimiert. Wäsche , das an die kranken Stellen der Gesellschaft eher mit Ermutigung als mit Empörung und eher mit warmem Herzen als mit kaltem Blick herangeht, ist wohl das beachtenswerteste koreanische Musical nach der Millenniumwende und eine Produktion von hoher dramaturgischer Perfektion.

„Wenn ich die Wäsche wasche, entferne ich das Gestern wie Flecken, klopfe das Heute wie Staub ab und bügle die Falten des Morgen. So lebe ich heute im glattgebügelten Morgen.“

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verliebt in korea

Der unersättliche kulturelle Entdeckungsdrang des britischen Journalisten Tim Alper Tim Alpers Liebe zu Korea begann zwar nicht gerade mit seinem Interesse am koreanischen Fußball, es brachte ihm aber einen Job als mittlerweile beliebter Online-Reporter und Kommentator für Fußball. Nach einigen Kurzbesuchen im Nachfeld der Fußball-WM 2002 zog der freiberuflich tätige britische Journalist vor sechs Jahren nach Seoul und hat seitdem seine Interessensgebiete auf Essen, Musik und – wie er es formuliert – „alles Neue“ ausgeweitet. Charles La Shure Professor an der Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies | Fotos: Ahn Hong-beom

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im Alper glaubt, dass die beste Methode, das Leben zu erleben, darin besteht, mitten hineinzuspringen. Seit seiner Ankunft in Korea vor sechs Jahren hat er sich mit einer breiten Palette von Themen für die verschiedensten Medien befasst: Für die Weekly Chosun schrieb er eine Kolumne über Englischunterricht und die Gefahren des „Konglish“, des „eingekoreanischten Englisch“, aber auch Berichte über Sport wie Fußball, Baseball, Golf, Sumo-Ringen und sogar über den Kampfsport K-1. Für das Lifestyle-Magazin Essen berichtete er über die koreanische Esskultur. Während der vier Jahre, die er als Produzent für TBS Radio arbeitete, entdeckte er die Welt der koreanischen Musik. Und die ganze Zeit über setzte er sich der koreanischen Kultur so stark wie möglich aus. „Wer in einem Land lebt, der muss so tief wie möglich in seine Kultur eintauchen, d.h. in Sprache, Musik, Essen, in alles“, erklärte Alper, als wir ihn in der Nähe seines Büros im Design House trafen, wo er vor kurzem als Editor für Morning Calm, das Bord-Magazin von Korean Air, begonnen hat. „Das ist für mich das Beste am Leben in einem anderen Land: neues zu erleben, neues zu lernen. Ich möchte nicht in einer Enklave von Englisch sprechenden Expats leben und mich dort wie Zuhause weg von Zuhause fühlen. Ich möchte Neues entdecken und mich jeden Tag überraschen lassen. “

Fußball: ein Tor zu Korea Tim Alper, geboren und aufgewachsen in Großbritannien, hat sich schon immer für Fußball interessiert, weshalb er nach seiner Entscheidung, in den Journalismus einzusteigen, auch über Fußball schreiben wollte. „Es ist wohl das, was jeder männliche Journalist machen möchte“, meint er mit einem schiefen Lächeln. Aber das bedeutet auch harte Konkurrenz. Alper hatte Schwierigkeiten, in der Industrie Fuß zu fassen. Aber anstatt seinen Traum aufzugeben, entschied er sich für eine eher unkonventionelle Herangehensweise an sein Ziel: „Ich dachte, es sei besser einige Spezialgebiete zu entwickeln, als alles abzudecken. Aufgrund meiner damaligen Lebensumstände traf ich viele Koreaner und alleine durch die Unterhaltungen mit ihnen kam ich dem koreanischen Fußball näher. Dann stand die Fußball WM Korea-Japan 2002 an und ich spezialisierte mich noch etwas mehr auf Fußball in Asien. “ Er begann für eine Zeitung für in Großbritannien lebende Koreaner eine Kolumne über asiatischen Fußball zu schreiben. Es war ein kostenloses Blatt, das aber eine breite Leserschaft hatte, was Alper schließlich einen Job als Online-Reporter für koreanischen Fußball einbrachte. Da er in Großbritannien lebte, war das Verfolgen von Fußballspielen in Korea schon eine Herausforderung: Das Online-Streaming war nicht immer von der besten Qualität und aufgrund des großen Zeitunterschiedes arbeitete er zu recht ungewöhnlichen Zeiten. 2005 verbrachte er das erste Mal einen kurzen Aufenthalt in Korea, gefolgt von einem weiteren Kurzaufent-

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Tim Alper, u.a. auch FoodKolumnist, genießt die ruhige Atmosphäre der kleinen TeeLäden in der Nähe seines Büros in Jangchung-dong.

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halt im Jahr darauf, bevor er sich 2007 entschloss, ganz umzusiedeln, um näher am Ball zu sein. Obwohl er heute keine Fußball-Reportagen mehr macht, geht er immer noch zu so vielen Spielen wie möglich. Er sagt, dass er oft gefragt wird, worin sich koreanischer und japanischer Fußball unterscheiden. „Es gibt mehr Gemeinsamkeiten als Unterchiede. Beide sind sehr Technik-orientiert, beide versuchen, den Ball auf dem Boden zu behalten, und insgesamt gibt es viel weniger waghalsige Angriffe als im europäischen Fußball. Für koreanischen Fußball lässt sich sagen, dass das Ausdauervermögen extrem hoch ist – es gehört zu den höchsten in der Welt. Wenn man sich z.B. Weltmeisterschaftsspiele ansieht, dann überrascht es immer wieder, um wie viel länger eine koreanische Mannschaft mit 100% Power spielen kann. “ Auch wenn Fußball schon seit geraumer Zeit in Korea gespielt werde, so habe die Fußballweltmeisterschaft 2002 doch die Fußball-Infrastruktur der Nation völlig umgekrempelt, erklärt Alper, und fügt hinzu: „Vor der WM gab es nur ein einziges, speziell für Fußball konzipiertes Stadion, aber heutzutage gibt es mehrere. Es gibt einige fantastische Stadien mit an die 60.000 Zuschauerplätzen.“ Diese Infrastruktur in Kombination mit intensivem Training und der Haltung, nie aufzugeben, hat Resultate gebracht: „Heutzutage hat Korea einen großen Namen auf der Weltbühne. Es ist enorm im Ranking gestiegen und hat bei den letzten Olympischen Spielen die Bronzemedaille geholt – das ist die erste große Ehre dieser Art für eine asiatische Fußballmannschaft überhaupt. Außerdem gibt es viele koreanische Spieler in Übersee. Man braucht nur Namen

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Er ist ein großer Fan der koreanischen Musik. Dabei sollte man aber nicht an die Koreanische Welle denken: Alpers koreanische Lieblingsmusik ist nämlich die Trottmusik Ppongjjak, eine Mischung aus koreanischen, japanischen und westlichen Musikstilen, die die historischen Wurzeln der koreanischen Popmusik bilden. wie Ki Sung-yueng oder Park Ji-sung zu nennen, und schon wissen die meisten, die die Fußballszene in Europa verfolgen, wer gemeint ist.“ Was Alper jedoch bedauernswert findet, ist die mangelnde Unterstützung zu Hause. „Es ist etwas schade, dass nicht mehr Koreaner in die Stadien kommen, um sich die heimischen Fußballspiele anzusehen“, beklagt er. „Viele schauen sich lieber ein Spiel der englischen Premiere League (EPL) im Fernsehen an. Wenn man manchmal ins Stadion kommt – und ich spreche nur von kleinen Stadien – dann sind mehr als die Hälfte der Plätze leer. Die Spieler sind Profis, die Eintrittskarten sind billig, aber viele Leute gehen einfach ohne Interesse am Stadion vorbei, weil es kein EPL-Spiel ist. Aber ist ist trotzdem Fußball von hohem Niveau. Niemand wird es bereuen, sich in Korea ein Spiel anzusehen. “

Schnittstelle von Kulinarischem und Kultur Alper warnt uns, dass er stundenlang nur über Fußball reden könnte, aber sein Interesse an Korea erschöpft sich längst nicht darin. Denn da gibt es noch seine alte Liebe zur Küche. Während seiner Studentenzeit in England jobbte er als Koch in einem Restaurant. „Es hat wirklich Spaß gemacht, war aber so stressig, dass ich es aufgegeben habe. Aber mein Interesse am Essen ist geblieben, und als ich nach Korea kam, habe ich es etwas vertieft.“ Es wurde einmal über ihn geschrieben, dass sein koreanisches Lieblingsgericht Chueo-tang sei, eine Suppe auf Basis von gemahlenem Ostasiatischem Schlammpeitzger (eine Schmerlenart). Dieses Gericht gehört auch heute noch zu seinen Lieblingsessen: „Ich mag die kräftig schmeckendenTang (Suppen)“, sagt er lachend. Was ihn bei der koreanischen Küche besonders beeindruckt ist die Tatsache, dass sie ihren einzigartigen, typischen Charakter bewahrt hat. „Es gibt zwar Einflüsse der japanischen oder chinesischen Küche, die ja auch in Korea vertreten sind, aber sie existieren nur neben der koreanischen Küche. Sie sind nicht in die koreanische Küche eingedrungen oder gar zu einer dominierenden kulinarischen Richtung geworden.“ Tim Alper sieht darin eine wichtige Manifestation der koreanischen Kultur als Ganzes: „Ich kann so etwas wie einen koreanischen Geist spüren und der ist wirklich im koreanischen Essen präsent. “ Die Kolumnen, die er für das koreanische Kochmagazin Essen geschrieben hat, ermöglichten es ihm, seiner Liebe zum Essen in der Welt der koreanischen Küche zu vertiefen, wobei er sich auf Zutaten der Saison, besondere Gerichte oder spezifische Aspekte der koreanischen Esskultur fokussierte. „Was mich am meisten am koreanischen Essen fasziniert, ist die Art und Weise, wie Essen und Kultur einander bedingen. Durch das Schreiben über koreanisches Essen wurde ich gezwungen, Dinge anders zu erleben und aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen.“ Die Perspektive, mit der Alper aufgewachsen ist, ist natürlich die der britischen Küche, die nicht immer den besten Ruf genießt. Der Aufstieg von Starköchen wie Jamie Oliver oder Gordon Ramsay und das Erscheinen der „Foodie-Feinschmeckerkultur“ seien zwar Anzeichen für eine Verbesserung, aber Alper sieht auch noch genügend Raum für weitere Entwicklungsmöglichkeiten. „Das britische Essen ist irgendwie formelhaft: Wenn wir von Fleisch und zwei Gemüsen sprechen, meint das ein Stück Fleisch, ein paar Kartoffeln und noch ein Gemüse auf dem Teller – meistens gekocht. Ich überzeichne hier ein bisschen, aber darin steckt schon eine gewisse Wahrheit.“ Es ist also kein Wunder, dass er von der Vielfalt der koreanischen Küche beeindruckt ist: die Vielfalt der Zutaten und der Art der Zubereitung. Das spiegelt sich auch in der Sprache wider: „Das Essen-bezogene Vokabular im Koreanischen ist unglaublich divers. Es gibt Adjektive, für die sich einfach keine richtige englische Übersetzung finden lässt.“ Und natürlich sind die Vorstellungen der Westler über die Grundlagen von Essen und Küche völlig anders: „In Großbritannien ist die Kartoffel bei jeder Mahlzeit, ausgenommen viel-

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leicht dem Frühstück, auf dem Teller. Aber wofür verwenden Koreaner Kartoffeln? Sie setzen sie fast als Dekoration oder als Banchan (Beilage) ein. Vielleicht fällt es einem ein, noch eine Kartoffel in eine Suppe zu schneiden, oder man macht Kimchi Bokkeumbap (pfannengerührter Reis mit Kimchi), zerkleinert eine Kartoffel und rührt sie als Zutat unter. Aber auf diese Weise werden Kartoffeln in England nicht gegessen. Sie dienen einfach dazu, satt zu machen.“

Verführt vom Trott, einem originären koreanischen Pop-Genre In einem anderen Land zu leben, ist immer mit Herausforderungen verbunden. Eine davon ist für Tim Alper, zu akzeptieren, dass er anders ist. „Man fällt auf“, sagt er. „Ich erinnere mich an die Zeit, als ich das erste Mal nach Korea kam. Die Leute zeigten auf mich und die Kinder schrien und lachten. Das war natürlich alles völlig harmlos und dahinter stand keine böse Absicht. Aber die Leute erwarten einfach andere Dinge von einem.“ Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, so tief wie möglich in die koreanische Kultur einzutauchen. Neben Fußball und Essen ist er auch ein großer Liebhaber der koreanischen Musik. Dabei sollte man aber nicht an die Koreanische Welle denken: Alpers koreanische Lieblingsmusik ist nämlich die Trottmusik Ppongjjak, eine Mischung aus korenischen, japanischen und westlichen Musikstilen, die die historischen Wurzeln der koreanischen Popmusik bilden. „Ich will nicht sagen, dass ich keine anderen koreanischen Popmusik-Genres mag. Aber meiner Meinung nach haben die keine spezifisch koreanische Note. Tauscht man den koreanischen Text durch einen in einer anderen Sprache aus, könnte der Song so gut wie von überall her auf der Welt kommen. Aber Trott ist wirklich originär. Es ist eine Kombination aus westlichen Taktmustern und unterschiedlichen Klängen der koreanischen Musik sowie unterschiedlichen Singstilen der traditionellen koreanischen Musik wie dem epischen Sologesang Pansori oder der Minyo-Volksmusik.“ Und dann ist da natürlich noch die koreanische Sprache. Alper hat schon viel während seines Aufenthaltes hier gelernt, aber er hat nie einen ordentlichen Koreanischkurs besucht. „In der Schule habe ich früher Sprachen gelernt, aber mir hat die Klassenzimmer-Atmosphäre nicht gefallen. Ich habe in Spanien gelebt, ich habe in Russland gelebt und die Sprachen vor Ort gelernt. Genauso habe ich es in Korea gemacht, denke ich. Für mich persönlich funktioniert es am besten, wenn ich in einer Situation bin, in der ich gezwungen werde zu lernen und die Sprache zu sprechen“, erklärt er. „Überall, wo ich gearbeitet habe, hatte ich mit Koreanisch zu tun, sei es, dass ich mit Kollegen Koreanisch sprechen musste, koreanische Texte mit englischen Texten zu vergleichen hatte usw. Selbst als ich mit meinem Fußball-Job begonnen habe, wurde ich in die Welt des Koreanischen gezwungen, wenn ich mir etwas im Fernsehen angesehen habe oder Artikel über Fußball lesen musste. Ich hatte keine andere Wahl.“ Der Gedanke des völligen Eintauchens ist Alpers Lebensphilosophie. Nach sechs Jahren in Korea ist er schon lange kein Tourist mehr, sondern geht das Leben in Korea an wie ein Festbankettgast, der einen Bärenhunger hat. „Man muss sich selbst auf die Beine machen und nach neuen Gerichten umschauen, die man noch nicht probiert hat, nach neuer Musik, die man noch nicht gehört hat, und nach kulturellen Aspekten, Geschichte und Folklore suchen, die man bislang noch nicht kannte. Das ist Teil der Erfahrung, hier in diesem Lande zu sein. Es ist mehr als nur herumzulaufen und Fotos zu schießen. Wenn man ständig hier lebt, bewegt man sich jenseits der typischen Touristenaktivitäten. Neues zu entdecken ist eine meiner Hauptmotivationen für meinen Dauerauenthalt in Korea“, sagt er. Das schließt aber nicht aus, dass er in der Zukunft vielleicht irgendwo anders leben wird. „Wer weiß schon, was der morgige Tag bringt?“, sagt er mit einem Schulterzucken. „Ich habe meine Zeit in Korea bisher sehr genossen. Ich bin glücklich hier und verstehe Korea als mein Zuhause.“ Bedenkt man, mit welcher Leidenschaft er sich bislang an die Kultur seines Gastlandes „herangemacht“ hat, dann dürfte seine Entdeckungsreise noch einige Jahre dauern. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

„Wenn man in einem Land lebt, muss man in die lokale Kultur eintauchen, d.h. in die Sprache, in die Musik, das Essen, in einfach alles“, meint Tim Alper.

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unterwegs

Cheongsan-do Wo das Leben langsam fließt Auf der Insel Cheongsan-do passt man sich am besten den gemächlichen Schritten der grasenden Ochsen an. Bei einem Rundgang der Insel trifft man auf landschaftliche Schönheiten und Szenen aus dem Alltag, die woanders nur noch selten zu finden sein dürften.

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Kang Je-yoon Dichter, Leiter der „Inselschule“ Pressian Humanities Institute | Fotos: Ahn Hong-beom

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in alter Spruch in der Wando-Region lautet: „Auf Cheongsan-do kann keine junge Frau vor ihrer Heirat drei Mal Reis essen.“ Ein „Mal“ sind rund 8kg Reis. Der zur Provinz Jeollanam-do gehörende Landkreis Wan-do setzt sich ausschließlich aus Inseln zusammen und unter ihnen war Cheongsan-do für seine extreme Reisknappheit bekannt, weshalb Frauen es vermieden, in eine dort ansässige Familie einzuheiraten. Natürlich standen Reisgerichte aber auch auf den anderen Inseln nicht auf dem täglichen Speiseplan. Ich wurde ebenfalls im Kreis Wan-do geboren, und zwar auf der Insel Bogil-do, und die Male, an denen ich während meiner Kindheit eine Schüssel weißen Reis zu essen bekam, kann ich an den Fingern abzählen. Nur zu besonderen Anlässen wie dem Neujahrsfest und dem Erntedankfest nach Lunarkalender (Chuseok) oder zu den Ahnengedenk-Zeremonien kam weißer Reis auf den Tisch. Welche Frau hätte da schon nach Cheongsan-do, wo Reis noch seltener als auf ihrer Heimatinsel war, heiraten wollen? Es waren Zeiten, in denen Reis wie eine Währung war, ja, er war sogar noch wertvoller als Geld. Die Gudeuljang-non ermöglichten es den Inselbewohnern schließlich, diese begehrte Pflanze anzubauen. Flachland ist auf der überwiegend gebirgigen Insel Cheongsan-do eine Seltenheit. Da die Insel inmitten des offenen Meeres liegt und über fast kein Wattgebiet verfügt, war es unmöglich, Landgewinnungsmaßnahmen durchzuführen, um Felder anzulegen. Der brennende Wunsch der Inselbewohner, Reis anzubauen, führte sie dazu, das einzigartige System der Gudeuljang- Felder zu entwickeln. Anfang des Jahres wurden diese terrassenartigen Reisfelder zum ersten Agrikulturerbe Koreas bestimmt. Vielleicht wäre es aber sogar passender, statt von „Agrikulturerbe“ von einem „Mythos der Landwirtschaft“ zu sprechen.

Ein Rundgang um die Insel Von Wando-eup, einem Fährenanleger-Städtchen auf der Wando-Jeju-Route, bis nach Cheongsan-do braucht die Fähre rund 50 Minuten. Die Insel ist 33,3 km2 groß, die höchste Erhebung ist mit 385 m der Berg Maebong-san im Süden der Insel. Damit ist Cheong­san-do etwa halb so groß wie der New Yorker Insel-Stadtteil Manhattan (87,5 km2) und drei Mal so groß wie der Insel-Stadtteil Yeoui-do in Seoul (8,35 km2). Besser bekannt wurde Cheong­ san-do 1993 durch den Film Seopyonje des Regisseurs Im Kwon-

taek, der dem Publikum die Gelegenheit gab, das traditionelle koreanische Kulturerbe des epischen Sologesangs Pansori wiederzuentdecken. Der Film machte die einzigartigen Naturschönheiten der Insel in ganz Korea bekannt, so dass Cheongsan-do danach oft als Kulisse für Fernsehdramen wie Spring Waltz (Frühlingswalzer) oder Spielfilme diente, was wiederum Touristen anlockte. Für die jetzige Berühmtheit der Insel gibt es aber noch einen weiteren Grund: Im Dezember 2007 ernannte Cittàslow , eine internationale Bewegung, die sich der Langsamkeit verschrieben hat, Cheongsan-do zusammen mit fünf anderen Gebieten in Korea zu ersten Slow-City Asiens. (Die Zahl der Slow-Cities in Korea ist mittlerweile auf 10 angewachsen.) Im Anschluss daran wurden die Cheongsan-Yeosu-gil angelegt, Wanderwege, die in Anlehnung an die Olle-gil auf Jeju-do auch den Beinamen Seullo-gil (Slow Path) haben. Sie ziehen mittlerweile wahre Besucherscharen an. Mit elf Trekking-Routen und einer Gesamtlänge von 42,195 km gehört der Seullo-gil zu den eher kürzeren Wanderwegen. Doch die wunderschöne Landschaft, die sich dem Trekker bei seinem Rundgang entlang der Küste auftut, machten den Seullo-gil schnell landesweit bekannt. Als ursprünglicher Inselbewohner empfehle ich besonders, im Winter eine Trekking-Tour auf Cheongsan-do zu machen. Das Wetter ist dann dort so mild, dass sogar Chinakohl, Lattich, Knoblauch und Spinat in den Gärten wachsen. Und der Anblick der grünen Felder, auf denen die Gerste sprießt, lässt eine Ruhe aufkommen, die auch zur Zeit der blühenden Blumen nur schwer zu finden ist.

Ein tausend Jahre alter Schrein Begeben wir uns jetzt auf eine Seullogil -Tour. Startpunkt ist das Dorf Docheong-ri, wo die Passagierfähre anlegt. Vom Anlegeplatz aussind Fischer zu sehen, die sich geschäftig um ihre Kombu-Seetang-Farmen kümmern: Die Seile voller Seetang werden hochgezogen, abgeerntet, gesäubert und wieder mit Seetang-Sporen beheftet. Der Seetang wird in den meisten Fällen zum Füttern der Seeohren verwendet, denn die größte Einnahmequelle von Cheongsan-do ist die Seeohrenzucht. In der Vergangenheit war Docheong-ri berühmt für seinen Makrelen-Pasi. „Pasi“ meint „Markt auf den Wellen“ und ist ein tradi-

1. Die durch Stein-Einfassungen stabilisierten Reisterrassen, die die Inselbewohner schufen, um ihren grundlegenden Reisbedarf zu decken. Die Gudeuljang-Felder wurden Anfang des Jahres zum ersten Agrikultur­ erbe Koreas bestimmt. 2. Ein Küstendorf und das Meer, gesehen von einem Hügel am Seopyonje-gil. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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tioneller, saisonaler Fischmarkt. In der Makrelen-Saison entstanden die verschiedensten Läden für allerlei Bedarf und Bedürfnisse: Läden für Bootszubehör, Kneipen, Restaurants, Motels, Friseurläden, Badehäuser und Uhrenläden - alle machten für die Dauer der Saison Geschäfte mit den Fischern und schlossen dann wieder. Bei jedem Auslaufen gingen der Makrelenflotte mehrere Zehntausend Fische ins Netz. Waren es so viele, dass die Menge an Bord nicht bewältigt werden konnte, wurde ein Teil des Fangs wieder ins Meer geworfen. Der Gestank verrotteter Makrelen in den Gewässern vor Docheong-ri war ein großes Problem. Die Einwohner salzten die Makrelen ein und konservierten sie in Krügen. Was dann noch übrig war, wurde zu Fischdünger verarbeitet. Aus heutiger Sicht, wo Fische rar und teuer geworden sind, klingt das fast wie ein Märchen. Die Zeit des Makrelen-Marktes endete Mitte der 1960er Jahre, als die Population der Pazifischen Makrelen abnahm. Es entstand ein Markt für die Japanisch-Spanische Makrele, deren Bestände noch groß genug waren. Doch 1980 musste auch dieser Markt aufgrund von Überfischung schließen. Mit dem Verschwinden der Fischbestände verschwanden auch die Fischer von Cheongsan-do. Hatte die Insel 1973 noch 13.500 Einwohner, so sind es heute gerade noch 2.000. Es wurde still auf der Insel. Die Menschen leben heute von der Zucht von Seeohren, Kombu-Seetang und Wakame-Braunalgen. Wir lassen Docheong-ri hinter uns und nehmen den Weg nach Donggujeong in Dorak-ri. Donggujeong ist eine Quelle, die im 17.

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Jahrhundert von den ersten Bewohnern des Dorfes gegraben wurde. Selbst im tiefsten Winter, wenn alles einfriert, ist es bislang nie vorgekommen, dass diese Quelle zugefroren wäre. Der Geschmack des Wassers aus der Jahrhunderte alten Quelle ist quasi der Geschmack der Geschichte. Da die Quelle die Wasserversorgung für das ganze Dorf sicherte, ist sie auch eine lebensspendende Quelle. Heute sind nicht viele Menschen auf dem Weg anzutreffen, was ein Glück für mich als Wanderer ist. Das Wandern tut nicht nur dem Körper gut, sondern auch dem Geist. Sich in der Stille einfach nur dem Wandern hinzugeben und seinen Gedanken nachzuhängen, bringt einen in Kontakt mit dem inneren Ich und lässt es entdecken. Man lauscht in sich hinein und hört bislang nie vernommene Stimmen seines Ichs. Und dann beginnt man nachzudenken. Dieses Sinnieren ist wohl das wertvollste Geschenk des langsamen Dahinwanderns. Geht man den Hügel hoch, ist von der Spitze aus der gewundene Pfad aus dem Film Seopyonje zu sehen. Doch den schönsten Anblick bietet nicht der zementierte Weg Seopyonje-gil und auch nicht das Drama-Kulissenset inmitten eines Gerstenfeldes. Es ist vielmehr der Schrein bei Dang-ri: ein altes Gebäude, das umgeben von einem Pinienwäldchen und einer Steinmauer am Anfang des Seopyonje-gil steht. Seit über tausend Jahren ist dies ein heiliger Ort für die Inselbewohner, an dem sie den Geist des Schutzpatrons, Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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der hier eingeschreint ist, um seinen Schutz bitten. Es handelt sich also wahrhaft um ein lebendiges Kulturgut. Doch die Menschen, die wegen der Film- oder Dramensets gekommen sind, würdigen den Schrein kaum eines Blickes. Das liegt wohl daran, dass Aufkommen und Verbreitung des Christentums für eine gewisse Stigmatisierung des alten Volksglaubens als Aberglauben geführt haben. Der Schrein ist Admiral Han Nae-gu, einem legendären Helden des Silla-Reichs, gewidmet. Nach mündlichen Überlieferungen war Admiral Han ein Untergebener von Jang Bo-go (787–846), dessen Privatarmee den Meeresweg im Gelben Meer von seinem Hauptquartier in Cheonghaejin auf der Insel Wan-do kontrollierte. Admiral Han beschützte die Insel Cheongsan-do und gewann den Respekt ihrer Bewohner. Als der Admiral im hohen Alter starb, legten die Inselbewohner eine Steingruft an und bauten daneben einen Schrein, in dem er in den folgenden tausend Jahren als Schutzpatron verehrt wurde. Auf dieser kleinen Insel einen tausend Jahre alten Schrein vorzufinden ist außergewöhnlich, doch viele

Menschen wissen nicht um seinen Wert. Von den alten Tempeln, Kathedralen und Kirchen im Ausland zeigen sie sich begeistert, doch von den Schreinen der koreanischen Volksreligionen wissen sie nicht einmal, dass sie existieren. Der Schrein ist ein heiliger Ort, weshalb es nicht erlaubt war, dass etwas als „unrein“ Erachtetes wie eine Totenbahre daran vorbei durfte. Personen zu Pferde oder die Insassen einer Sänfte mussten zu Fuß an dem Schrein vorbeigehen. Auch heute noch führen die Bewohner von Dang-ri jedes Jahr am dritten Tag des ersten Monats nach Lunarkalender eine Gedenkzeremonie am Schrein durch. Früher wurde nur jemand mit der Durchführung der Riten betraut, der ein ganzes Jahr lang ein vorbildliches Leben geführt und sich nichts zuschulden hatte kommen lassen, doch heute übernimmt

1. Der Seopyonje-gil windet sich durch das harmonische Miteinander von Rapsblüten, grünen Gerstenfeldern und Steinmauern. 2. Ein Dolmen und eine Steintafel mit einem buddhistischen Bildnis, die zum Absteigen vom Pferd auffordert, stehen an einer Straße durch Eup-ri. 3. Touristen beim Spaziergang entlang des Seopyonje-gil, die zuschauen, wie Szenen aus dem gleichnamigen Film nachgestellt werden. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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Flachland ist auf der überwiegend gebirgigen Insel Cheongsan-do eine Seltenheit. Da die Insel inmitten des offenen Meeres liegt und über fast kein Wattgebiet verfügt, war es unmöglich, Landgewinnungsmaßnahmen durchzuführen, um Felder anzulegen. Der ehrgeizige Wunsch der Inselbewohner, Reis anzubauen, führte sie dazu, das einzigartige System der Gudeuljang- Felder zu entwickeln.

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Seoul

Wie man von Seoul auf die Insel Cheongsan-do gelangt Für die Strecke Seoul-Wandoeup gibt es eine Expressbuslinie, die vier Mal täglich verkehrt. Die Fahrt dauert rund fünf Stunden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, einen Nacht-Expressbus nach Gwangju zu nehmen und dort in einen Intercity-Bus umzusteigen, so dass man Wan-do frühmorgens erreicht. Mit dem Zug fährt man bis Gwangju oder Mokpo und steigt dort in einen Expressbus in Richtung Wan-do. Vom Wando-Busterminal bis zum Fähren-Terminal sind es nur drei Autominuten oder 20 Minuten zu Fuß. In dem Städtchen Wando-eup sind entlang der Küstenstraße der immergrüne Wald der Insel Ju-do, ein Naturdenkmal, sowie der Fischmarkt sehenswert. Der Fahrplan für die Fähre zwischen Wand-do und Cheongsan-do ist je nach Jahreszeit und aktuellen Wetterbedingungen unterschiedlich. Die Zeiten können auf der Homepage der Landwirtschaftlichen Genossenschaft von Cheongsan-do eingesehen werden. Eine Inselreise ist stark von den jeweiligen Wetterverhältnissen abhängig, weshalb unbedingt dazu geraten wird, vor Aufbruch die Wettervorhersage zu beachten. Schiffsfahrplan: http://www.cheongsannh.com (Koreanisch) Wettervorhersage: (82) 016-131 (Englisch, Chinesisch)

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Gwangju Mokpo Wan-do Cheongsan-do

Rundfahrt-Bus Expressbus Intercity-Bus Zug Fähre

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bun“ genannten Grabstätte handelt es sich um ein Übergangsgrab, das Teil der Pungjang-Tradition der Windbestattung ist. Der Körper wird zum Verwesen zunächst im Chobun-Grab bestattet, bevor dann die Gebeine in einer Erdbestattung zur letzten Ruhe gelegt werden. Das Grab erinnert fast an ein Schiff mit einem Grasdach. Der Sarg mit dem Leichnam ist mit einem Reisstrohdach bedeckt, an dem schon sehr die Zeit genagt zu haben scheint. Die Familie des Verstorbenen hat ein grünes Netz darübergelegt und das Ganze noch einmal mit einer Nylonschnur festgebunden. Auf dem Dach liegen ein paar Pinienzweige verstreut, die - wohl weil Gudeuljang-Felder und Chobun-Fähren ins Jenseits die Nadeln nicht leicht verotten - durch ihre Energie alles Unreine Die Dörfer, die den Feldweg säumen, tragen die Namen Cheongfernhalten sollen. Eine sanfte Brise rauscht durch den Pinienwald. gye-ri, Buheung-ri und Wondong-ri und jedes von ihnen besitzt Dem Verstorbenen wird dann nach einer gewissen Zeit ein Platz ein Gudeuljang-Feld. Ich frage mich, ob es seit dem Aufkommen auf dem Familienfriedhof zugeteilt. Die Erdbestattung ist erst drei der Agrargesellschaft überhaupt etwas gegeben hat, das mit solJahre nach dem Tod möglich. Ein Geocher Dringlichkeit einer Erfindung bedurfmant wird gebeten, einen glücksverheite wie diese Methode des Reisanbaus. Der ßenden Tag für die Bestattung zu bestimGudeuljang-Reisanbau wurde im 16. Jahrmen. Ist in dem Jahr kein entsprechender hundert entwickelt: Zuerst schüttete man Tag zu finden, müssen weitere drei Jahre einen terrassenartigen Damm auf, dessen gewartet werden. Aus diesem Grund kam Oberfläche man ebnete und mit breiten es früher manchmal vor, dass der im ChoSteinquadern auslegte, die den Gudeulbun-Grab ruhende Verstorbene einige Steinen der koreanischen Ondol-BodenJahrzehnte lang nicht endgültig bestattet heizung ähneln. Die Steine überzieht man werden konnte. Die Tradition der zweizum Schutz vor Wasser mit Lehm, auf den maligen Bestattung, die auf dem Festland eine Schicht Erde kommt und darauf das schon seit langem verschwunden ist, hat für den Reisanbau notwendige Wasser. auf den Inseln im südwestlichen Meer bis Unter den Gudeul-Steinen legte man Draiheute überdauert. Das dürfte sich dadurch nagen an, so dass abfließendes Wasser in erklären lassen, dass diese Inseln mit den darunter liegende Reisfelder fließen konn2 ihnen eigenen Glaubensvorstellungen und te. In diesen Reisfeldern steckt viel alte Ritualen bis heute noch weitgehend isoBauernweisheit. Und selbst in der heuti1. Mit einer Steinmauer eingefasstes Reisfeld und die Küste bei Sonnenuntergang. Die Insel Wan-do ist lierte Räume darstellen. Heutzutage ist gen Zeit, in der Reis kaum noch so viel wert jenseits des Wassers zu sehen. die doppelte Bestattung wiewohl schon ist wie eine Packung Instantnudeln, wer2. In Gukhwa-ri wird der Anschovis-Fang gedünstet auf den meisten Inseln ausgestorben und den sie auf Cheongsan-do immer noch als und getrocknet. Cheongsan-do ist eine der letzten, wo sich etwas Wertvolles betrachtet. noch Chobun-Gräber finden. Cheongsan-do ist ein Reich der Steine und des Windes. In den DörIn vielen Regionen der Welt herrscht noch immer der Glaube, dass fern Sangseo-ri und Dongchon-ri ist die Urform der inseltypischen die Verstorbenen einen Fluss überqueren müssen, um vom DiesSteinmauern am besten erhalten. Anders als auf dem Festland seits ins Jenseits zu gelangen. So ist es bei dem afrikanischen hat man die aufeinander gesetzten Steine nicht mit Lehm mitein­ Yoruba-Stamm z.B. Brauch, die Toten für die Überfahrt ins Jenseits ander verbunden. Das ist die typische traditionelle Bauweise für in ein Kanu zu betten. Für Inselbewohner ist das Meer mehr als nur alle Mauern und Gebäude auf Inseln oder an den Küsten Koreas. reiner Lebensraum. Einmal stürmt das Meer so heftig, als wolle Die Mauern dienen nicht als Windbarrieren, denn selbst die solies die Insel verschlucken, dann gibt es sich urplötzlich wieder volldeste Mauer kann den schneidenden Winden nicht ewig trotzen. kommen friedlich. Es ist Lebensquelle und Todesbringer in einem. Vielmehr soll der Wind durchgelassen und abgeschwächt werden. Um durchs Leben zu schiffen bedarf es eines Bootes und auch für Das ist auch der Grund dafür, warum die Hohlräume der etwas den Übergang zum Tod wird ein Boot gebraucht. Das Meer ist eine gebrechlich aussehenden Steinmauern nicht mit Lehm gefüllt sind. Schnittstelle zwischen Leben und Tod. Haben die Inselbewohner So haben die Inselbewohner ihren Frieden mit dem Wind geschlosdie Chobun-Gräber vielleich als eine Art Fähre für die Überfahrt ins sen: Auf Cheongsan-do lassen die Mauern den Wind passieren. Jenseits betrachtet? Heute sehe ich in Gedanken auf CheongsanAuf dem Berg vor dem Dorf Gujang-ri gibt es eine Grabstätte aus do ein weißes Boot am Berg von Gujang-ri dahingleiten. Gras, bei der man sich fragt, wem sie wohl gehört. Bei dieser „Choder Dorfvorsteher dieses Amt. Das Zeremonienkomitee besteht, inklusive des Hauptoffizianten, aus insgesamt fünf Personen. In den fünfzehn Tagen vor der Zeremonie ist es den Auserwählten untersagt, „Unreines“ zu tun wie etwa das Haus, in dem eine Totenwache abgehalten wird, zu betreten oder Geschlechtsverkehr zu haben. Am Tag der Zeremonie selbst sind die Tabus derartig streng, dass, wenn einer der Auserwählten jemanden auf der Straße trifft, er nach Hause zurückkehren und sich reinigen muss.

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den eigenen weg gehen

Son Sung-mok

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Eine lebenslange Sammelleidenschaft f端r Grammophone

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eit alten Zeiten erzählt man sich, dass über dem See Gyeongpo fünf Monde aufgehen: Der Mond am Himmelszelt, der Mond, der sich im Wasser des Ostmeeres spiegelt, der Mond, der in den See getaucht ist, der Mond, der in den Reisweinbecher gefallen ist, und der Mond, der in den Pupillen des geliebten Menschen scheint. Es ist der atemberaubenden Schönheit seiner Mondnächte zu verdanken, dass das Gebiet um den Gyeongpo-See zu den acht berühmtesten landschaftlichen Attraktionen östlich des Daegwalleyeong-Passes in der Provinz Gangwon-do zählt. Da an diesem malerisch gelegenen See ein weltweit bekanntes Museum liegt, wirkt die Ortschaft noch ästhetischer und freundlicher. Dass es ein Museum für Musik und Film ist, tut das Seine dazu.

1. Die Edison-Kamin-Grammophone haben phantasievolle Trichter. 2. Ein Grammophon in BuddhaGestalt. Dieses weltweit einzigartige Exemplar, das von dem Schweizer Hersteller Thorens gefertigt wurde, wurde in den 1910er Jahren von einem asiatischen Buddhisten in Auftrag gegeben. Das mit Gold und Edelsteinen besetzte Grammophon erzeugt einen tief-resonanten Klang.

Eine lebenslange Hingabe Die Besucher des Museums mit dem langen Namen „Chamsori Gramophone & Edison & Ahn Sung-ki Film Museum“ machen große Augen vor Erstaunen. Denn das, was sie hier zu sehen bekommen, übertrifft all ihre Erwartungen: Ausgestellt sind Grammophone aus aller Herren Länder und sogar mehr Erfindungen von Thomas Edison, als sie irgendwo in seiner Heimat, den Vereinigten Staaten, zu sehen wären. Aus diesem Grund heißt es, dass „selbst die Amerikaner nach Gangneung kommen müssen, wenn sie Edison treffen wollen“, und dass „Edison zwar in den USA geboren, seine derzeitige Adresse aber Gyeongpo ist“. Über 3.500 Grammophone, 2.000 Edison-Erfindungen, 500 Filmprojektoren, 1.500 Kameras, 150.000 Schallplatten und über 8.000 Bücher über Musik befinden sich im Besitz des Museums – alles zusammen­­getragen von Museumsgründer und Direktor Son Sung-mok in denüber 70 Jahren seines Lebens. Noch immer sind 98% der Exponate funktionstüchtig und spielen Musik ab. Nicht wenige von ihnen sind weltweit die letzten ihrer Art wie etwa der American Phonograph, dessen Herstellung 1900 auf sechs Stück limitiert war. Die drei Stockwerke des Museums sind vollgestopft mit wertvollen Raritäten: der erste 30-Zeilen-Fernseher von John Baird, ein 1877 von Edison erfundener Zinnfolien-Phonograph, ein 1899 hergestelltes Grammphon des Typs Class-M mit Wachswalze oder ein von Edison im selben Jahr entwickeltes Grammophon des Typs Konzert. Aber nicht nur Grammophone erwarten den Besucher. Es gibt auch unzählige andere Edison-Erfindungen wie Bügeleisen, Glühbirnen, Batterien, Toaster, Ventilatoren, Taschenlampen oder Kaffeekannen. Darunter ist auch die berühmte Wandglühlampe, mit der Edison 1881 bei der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Paris den ersten Preis gewann. Wahrhaft Erstaunliches ist zu sehen wie der erste Fernsehapparat der Welt, eine Musikspieldose aus Vor-Grammophon-Zeiten, oder mehr als 150 unterschiedliche Arten von Schrankgrammophonen. Das Museum besteht aus vier unabhängigen Ausstellungsräumen, einem über 330m2 großen Musiksaal und einer Aussichtsplattform im zweiten Stock, von der aus man einen schönen Panorama-Blick auf den Gyeongpo-See hat. Der Ausstellungsraum Welt der Töne bietet Orgeln aus den Epochen der Gotik und Renaissance, Pianolas, Musikautomaten, denen man vorwiegend im 18. Jahrhundert lauschte, Automobile aus den 1920er Jahren usw. Im Raum Welt des Films lässt sich auf den Spuren der Filmtechnologie vom Edison-Projektor über Fernseher, Kinofilme, Videos bis hin zu CDs, LDs und DVDs wandern. Die Ausstellung Welt des Lichtes ist der Geschichte von Beleuchtungskörpern vom Gaslicht bis hin zur weltweit ersten Glühbirne gewidmet. Außerdem sind auch Lautsprecher der Marke Patri-

Das Chamsori Gramophone & Edison & Ahn Sung-ki Film Museum (www.edison.kr) beherbergt mehr Erfindungen von Thomas Edison als die Edison-Museen in den USA. Man sagt sogar, „Edison ist zwar in den USA geboren, aber seine derzeitige Adresse ist Gyeongpo“. Gyeongpo meint das Gebiet um den Gyeongpo-See, das zur Küstenstadt Gangneung in der Provinz Gangwon-do gehört, wo sich das Chamsori-Museum befindet. Der geschichtliche und kulturelle Wert des Museums ist der lebenslangen Hingabe und Leidenschaft von Gründer Son Sung-mok zu verdanken. Kim Hak-soon Journalist | Fotos: Ahn Hong-beom K o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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can , die 1956 von Electro Voice hergestellt wurde, zu sehen,das Automatische Grammophon , das erste der Welt mit Fernbedienung, oder das 1925 von Victor Talking Machine hergestellte Grammaphon Credenza. Das britische Grammophon EMG, von dem nur drei Stück gefertigt wurden und das Son vom saudi-arabischen Königshaus erwerben konnte, verfügt auch heute noch über eine hervorragende Tonqualität. Die Zahl der Museumsbesucher aus dem In- und Ausland ist im Laufe der Zeit stetig gestiegen und beträgt heute 500.000 im Jahr. Darunter waren z.B. auch die Mitglieder der IOC-Evaluierungskommission, die zur Bewertung der Bewerbung Pyeongchangs für die Olympischen Winterspiele 2018 nach Korea gekommen waren, und Gordon Brown kurz vor seiner Wahl zum britischen Premierminister. Ausländische Diplomaten, die nach Gangneung kommen, besuchen fast ausnahmslos das Museum, wie z.B. der frühere USBotschafter Alexander Vershbow. Auch die ausländischen Medien wurden auf das Museum aufmerksam. Berichte über CNN (USA), CCTV (China), TV Tokyo (Japan) oder Euro TV (Europa) erhöhten die Bekanntheit des Museums.

Große Herausforderungen Son sammelte über 50 Jahre lang Exponate und bereiste über 60 Länder, bevor er schließlich im November 1992 das Museum in Gangneung eröffnete. Der Vorläufer des Museums war die Charmsoribang, die Halle des wahrhaftigen Klanges, die er 1982 im Viertel Songjeong-dong in Gangneung eingerichtet hatte. Doch mit dem Sammeln von Grammophonen begann Son schon im Alter von sechs Jahren, nachdem er von seinem Vater ein Colombia-Grammophon G241 geschenkt bekommen hatte. „Ich war der einzige Sohn in dritter Generation einer wohlhabenden Familie aus Wonsan im heutigen Nordkorea. Als ich fünf war, starb meine Mutter bei der Geburt meiner Schwester. Danach ging ich kaum noch aus dem Haus. Um mich zu trösten, schenkte mein Vater mir ein tragbares Grammophon. Das motivierte mich zum Grammophon-Sammeln, einer Leidenschaft, die bis heute anhält “, erinnert sich Son. Als Son sechs Jahre alt war, brach der Koreakrieg aus (1953). Doch er ließ auch dann sein Grammophon nicht zurück, als die Familie vor den Kriegsunruhen in Richtung Süden floh. Sein Vater schimpfte mit ihm, „ob das Ding ihm im Krieg etwa durchfüttern könne“, aber Son blieb hartnäckig. Gegen Ende der 1 Mittelschulzeit war seine Sammlung bereits

auf zehn Geräte angewachsen. Nach dem Abschluss der Universität betrieb er statt des Bauernhofes, den sein Vater ihm versprochen hatte, in der Küstenstadt Donghae, Provinz Gangwondo, ein Elektrofachgeschäft. Später, als er bei einer Baufirma im Nahen Osten arbeitete, brachte ihn seine Sammelobsession dazu, über 600 Grammophone zu erstehen. Als er nach seiner Rückkehr nach Korea durch ein auf den sozialen Wohnungsbau spezialisiertes Bauunternehmen ein beträchtliches Vermögen verdient hatte, fasste er den Entschluss, ein Museum zu bauen und seiner Sammelleidenschaft professioneller nachzugehen. Für den Erwerb eines besonderen Exponats scheute er nicht davor zurück, zehn Mal ins Ausland zu reisen, und selbst lebensgefährliche Situationen wie Raubüberfälle, Verkehrsunfälle und tätliche Angriffe konnten ihn nicht aufhalten: „Auf der Reise nach Argentinien, wo ich mit meiner Frau an einer Auktion teilnehmen wollte, wurde ich in New York Opfer eines Raubüberfalls. Durch eine Schussverletzung war meine Schulter zerschmettert worden, so dass ich nicht an der Auktion teilnehmen konnte. Glücklicherweise hörte der Besitzer des Grammophons von der Sache und sagte die Auktion ab. Schließlich wurde ein neuer Termin angesetzt und ich konnte den Zuschlag erhalten, und zwar für einen münzbetriebenen American Phonograph, den letzen seiner Art weltweit.“ Er erzählt weiter: „1997 ging mein Zement-Unternehmen im Zuge der Asienkrise bankrott und das Museum wurde verpfändet. Kurz bevor der Besitz zwangsversteigert wurde, konnte ich eine Einigung erreichen, aber ich habe heute noch Schulden. Das jetzige Museumsgebäude wurde von der Stadt Gangneung gebaut und ich muss jährlich 100 Millionen Won (ca. 70.000 Euro) an Miete aufbringen.“

Das Sammeln aufgeben bedeutet das Museum aufgeben Während seiner Grammophon-Sammel-Odyssee musste Son natürlich auch auf Edison stoßen. Edison hatte 1877 den weltweit ersten Zinnfolien-Phonographen hergestellt und Son war es möglich, fünf der insgesamt nur sechs Geräte zu erstehen. Es ist auch Sons Enthusiasmus zu verdanken, dass sich mehr als die Hälfte aller von Edison gemachten Erfindungen heute im Besitz seines Museums befinden. „Die Leute haben mit dem Finger auf mich gezeigt und mich für verrückt erklärt. Ich habe die USA bestimmt 150 Mal besucht, doch das Land selber kenne ich nicht besonders gut. Ich war immer nur kurz da, um Grammophone zu erstehen, und bin dann wieder zurückgeflogen.“

„Sagte einst Thomas Edison, der König der Erfinder, dass er 300 Jahre leben möchte, weil es noch so viel zu erfinden gebe, so möchte Son Sung-mok 500 Jahre leben, weil es noch so viel zu sammeln gibt.“ 62

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1. Son Sung-mok, Gründer und Direktor des Charmsori Grammophon & Edison & Ahn Sungki Film Museums, hat sein ganzes Leben lang Edison-Erfindungen und seltene Grammophone gesammelt. 2. Ein früher Filmprojektor gibt Zeugnis von den Pioniertagen der Kinematographie. 3. Das Margot Piano Orchestrion ist eine Musikbox, die die Töne von Klavier, Mandoline, Xylophon, Becken, Triangel und Trommel nachahmen kann.

Auch das Aufnahmegerät, mit dem der erste Farbfilm der Filmgeschichte, Vom Winde verweht, gedreht wurde, ist im Besitz von Sons Mueseum. Das Gerät war nach einem Brand der Universal Studios auf den Markt gekommen und Son hatte es nach zwei Jahren hartnäckigen Verhandelns schließlich für die stolze Summe von 300.000 Dollar erstehen können. Ursprünglich waren es zwei Geräte, die im Einsatz waren, aber bei dem Brand war das eine „vom Winde verweht“ worden. Man sagt, dass der Gesamtwert von Sons Sammlung 100 Billionen Won (ca. 70 Millionen Euro) übersteige. Mit der Zeit sind viele Stücke zusammengekommen, doch Son denkt nicht daran, mit dem Sammeln aufzuhören: „Wenn ich das Sammeln nur zwei bis drei Jahre unterbrechen würde, könnte ich mit dem gesparten Geld ein neues Museum bauen. Doch ein eingefleischter Sammler ist dazu nicht in der Lage. Auch jetzt kann man schon sagen, dass ich eine Sammlung von ordentlicher Größe besitze, doch mit dem Sammeln aufzuhören bedeutet einen Rückschritt für das Museum.“ 2011 eröffnete Son die Sonderaustellung Grammophone aus 50 Jahren Sammlertätigkeit – Eine Retrospektive. Ein Plakat drückte damals eindrucksvoll die Leidenschaft Sons folgendermaßen aus: „Sagte einst Thomas Edison, der König der Erfinder, dass er 300 Jahre leben möchte, weil es noch so viel zu erfinden gebe, so möchte Son Sung-mok 500 Jahre leben, weil es noch so viel zu sammeln gibt.“ Sein Traum ist es, das Grammophon-Museum um ein Film- und ein Kindermuseum zu erweitern, um ihm einen stärkeren Anstrich von Weltklasse zu geben. Bereits Ende 2012 unterzeichnete er VerK o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

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träge mit dem bekannten koreanischen Schauspieler Ahn Sung-ki zum Bau eines Ahn Sung-ki Museums und feierte die Grundsteinlegung. Das ist der Grund dafür, dass der ohnehin schon lange Museumsname noch einen weiteren Zusatz erhielt. Das Filmmuseum soll im östlichen Teil des Chamsori Gramophone & Edison Museums untergebracht werden und sich vom ersten Untergeschoss bis ins erste Obergeschoss erstrecken. Die Fertigstellung des Baus wird für September 2013 und die Eröffnung des Museums für Februar 2014 erwartet. In dem Filmmuseum sollen an die 10.000 Exponate zu sehen sein, darunter über 50 Filme mit Ahn Sung-ki und Materialien zu seinem Leben und Werk wie Kostüme, Auszeichnungen, Filmmaterialien sowie Abspielgeräte aus Sons Sammlung. Damit erfüllt sich Sons Traum von einem MultiplexMuseum, das die drei Bereiche Ton, Licht und Film vereint. Das geplante Kindermuseum soll einen Raum bieten, den Kinder und Erwachsene gemeinsam genießen können, so dass das Museum noch attraktiver wird und mehr Besucher anzieht. Vor einigen Jahren musste sich der an Krebs erkrankte Son einer Gastrektomie und einer Darmoperation unterziehen. Er hatte sich zu sehr verausgabt. Dass es aber noch viel zu tun und immer noch Träume zu erfüllen gibt, verleiht ihm die Kraft, alle Strapazen zu überstehen: „Ich habe darum gebeten, mich im Falle meines Todes unter dem neu gebauten Museum zu begraben, denn das Museum ist mein Leben. Ich möchte eine Stiftung zu seiner Betreibung gründen, damit meine Kinder die Exponate nicht verkaufen können. Ich habe die Stücke zwar gesammelt, aber sie sollen als Eigentum der Gesellschaft erhalten bleiben.“

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Korea: Das unmögliche Land Verfasst von Daniel Tudor, 320 Seiten, US$22.95, Vermont: Tuttle Publishing (2012)

Daniel Tudor, derzeit Korea-Korrespondent für The Economist und Verfasser von Beiträgen für Newsweek Korea, versucht in diesem jüngst veröffentlichten Buch einige Kernfragen über Korea wie z.B. die folgenden zu beantworten: Wie sieht Südkoreas Verhältnis zu Nordkorea aus? Welche Auswirkungen hat das Englischlernfieber auf die koreanische Gesellschaft? Was bedeutet der Multikulturalismus-Trend für Korea? Wo stehen Frauen im modernen Korea? Bevor der Leser das Buch überhaupt aufschlägt, macht ihn schon der Titel neugierig: Warum soll Korea „das unmögliche Land“ sein? Der Autor gibt darauf eine zweigeteilte Antwort: Einerseits schien es unmöglich, dass Südkorea überhaupt überleben, geschweige den prosperieren konnte, und doch hat es zwei Wunder vollbracht: ein erstaunliches Wirtschaftswachstum und den raschen Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie. Andererseits, so argumentiert Tudor, übt die koreanische Gesellschaft auf den Einzelnen einen zu hohen Erfolgsdruck aus, und die Ziele, die die Menschen erreichen sollen, um wirklich Erfolg zu haben, sind in vieler Hinsicht nicht erreichbar. Das Buch beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der koreanischen Geschichte von prähistorischer Zeit bis zum Ende des Koreakriegs (1950-1953). Dieser Überblick umfasst nur wenige Seiten, vermittelt aber die notwendigen Grundlagen, auf denen der Rest des Buches aufbaut. Im ersten Teil wird der Leser mit den sechs Säulen, auf denen die moderne koreanische Gesellschaft ruht, vertraut gemacht: Schamanismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum, Kapitalismus und Demokratie. Interessant ist dabei, dass die vier eher traditionellen religiösen Säulen in einer Reihe mit den beiden modernen ideologischen Säulen stehen, aber diese Kombination erscheint angebracht zu sein. Tudor begnügt sich nicht mit einer reinen Beschreibung der vier Glaubenssysteme, sondern beleuchtet auch, auf welche Weise sie bis heute das koreanische Denken beeinflussen, wobei er in diesem Kontext einige recht interessante und scharfsinnige Einsichten zu vermitteln hat. Die vier restlichen Abschnitte behandeln kulturelle Codes, u.a. „typisch koreanische“ Konzepte, die oft als schwer zu übersetzen gelten, wie z.B. Jeong und Han. Behandelt werden auch aktuell diskutierte Themen der koreanischen Gesellschaft in Bezug auf Politik, Arbeitsplatz, Heiratsindustrie und Englischunterricht, weiterhin Phänomene in Bezug auf Lebensstil und Kultur wie die Einstellung zu Wohnen und Wohnraum, koreanische Küche, koreanischen Film und Popmusik oder das kulturelle Phänomen, bis spät in die Nacht zu trinken. Den Schluss bilden eine Reihe von Überlegungen über die koreanische Identität: Diskussionen über Nationalismus, Multikulturalismus, die Koreanische Welle und den Export der koreanischen Kultur sowie die sich verändernde Haltung in Bezug auf Homosexualität und die Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Die themenmäßigen Unterkapitel sind alle kurze, aber überzeugende Essays, die für sich alleine stehen und eher aus Bequemlichkeitsgründen denn thematischer Kohärenz jeweils in einem Kapitel zusammengestellt sind, was insbesondere auf Kapitel 3 und 4 zutrifft. Insgesamt gilt für einen großen Teil des Inhalts, dass das Buch keinem roten Erzählfaden folgt, sondern durch eine Serie von kleineren Vignetten ein größeres Bild darzustellen versucht. Ein Vorteil davon ist, dass jedes Kapitel unabhängig von den anderen gelesen werden kann, ohne dass etwas verloren geht. Zusammengenommen ist das Ganze jedoch größer als die Summe der Einzelteile. In Schnappschüssen präsentiert das Buch ein Korea, das nicht in einfachen Begriffen zu fassen ist, ein vielfältiges, komplexes Korea. Damit kann es hervorragend als Führer über das moderne Korea und seine Wurzeln dienen.

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neuerscheinung

Rätselraten eines britischen Korrespondenten über Korea

Charles La Shure Professor an der Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies


Einführung in buddhistische Praktiken für englischsprachige Leser

Korea in den Augen der Gattin eines frühen amerikanischen Gesandten

6 Wege zum Herzen: Die wesentlichen Übungen des koreanischen Buddhismus

Briefe aus Joseon

Verf. v. Seong Jae-hyeon, übers. v. Hong Yon-ju, durchgelesen v. Ross Chambers, Fotos v. Ha Ji-kwon, 192 Seiten, 20.000 Won, US$18.00, Seoul: Bulkwang Publishing, Association of Korean Buddhist Orders (2011)

Geschrieben und zusammengestellt von Robert Neff, 431 Seiten, 19.000 Won, US$30.00, Seoul: Seoul Selection (2012)

Dies ist der zweite Band einer dreiteiligen Ausgabe, die den koreanischen Buddhismus englischsprachigen Lesern vorstellt. Band 1, Korean Buddhism , wurde 2009 herausgegeben und bietet eine allgemeine Einführung, während der 2013 veröffentlichte dritte Band Encounter with the Beauty of Korean Buddhism das buddhistische Kulturerbe Koreas vorstellt. Band 2 beschäftigt sich mit sechs Kernübungen des koreanischen Buddhismus: Meditation über bestimmte Themen, Buddha-Rezitationen, Mantra, Sutren-Lesen, SutrenAbschreiben sowie Verbeugungspraktiken. Damit dient das Buch als praktischer Führer für Tempelbesucher, deren Interesse über die Geschichte des koreanischen Buddhismus hinausgeht. Wie der Titel bereits verrät, geht es um die Kernübungen des koreanischen Buddhismus. Gleichzeitig vermittelt die Lektüre ein fast meditatives Gefühl. Die Einführung A Way Home beschwört ein lebhaft-intuitives Bild des Konzeptes „Zuhause“. Es folgen Liedertexte, die den Frühling im Heimatort des Dichters beschreiben. Die Bilder dürften eher den koreanischen Leser ansprechen, da sie auf die traditionelle koreanische Vorstellungswelt von „Heimatort“referieren, aber sie sind trotzdem sehr bewegend. Selbst in den konkreteren und Praxis-orientierten Abschnitten bleibt der Grundton des Buches meditativ, so dass das Lesen an sich schon eine eigene Übung zu sein scheint. In Anschluss an die Einführung wird dem Leser die Frage gestellt: „Wie ist es um Ihr Inneres bestellt?“ Diese Frage leitet zur Diskussion des menschlichen Leidens in Form von Krankheiten von Geist und Seele über. Sie werden von den drei Giften Habgier, Zorn und Unwissenheit verursacht. Die buddhistischen Praktiken werden als Gegengifte und endgültige Heilmethoden für diese Krankheiten präsentiert. Es folgen Kapitel über die sechs Übungen. Dabei weist jedes Kapitel dieselbe Grundstruktur auf: Erklärung der jeweiligen Übung, Diskussion ihrer Grundlagen in der buddhistischen Doktrin und kurzer Überblick über ihre Geschichte, eine Beschreibung, wie die Übung im modernen Korea ausgeführt wird und eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Ausführen der Übung. Jeder Abschnitt endet mit einem kurzen, „Sinnieren“, das Reflexion und Selbstprüfung befördern soll. Zu erwähnen sind auch die hervorragenden Fotos, mit denen das Buch bebildert ist. Die meisten stehen in keinem direkten Zusammenhang zum Inhalt, verstärken aber die Kontemplativität des Textes und helßen beim Ausführen der beschriebenen Übungen.

Das Buch mit dem recht langen Untertitel 19th Century Korea through the Eyes of an American Ambassador’s Wife bietet dem Leser einen einzigartigen, privaten Blick auf das Korea im letzten Jahrzehnt des 19. Jhdts, als Japan China als dominierende Fremdmacht auf der koreanischen Halbinsel verdrängte – ein Wandel, der letztlich zur Besetzung Koreas durch Japan führte. Das Buch steht für eine Reise, die mit einer veröffentlichten Sammlung von Briefen von John M. B. Sill (US-Botschafter in Korea von 1894-1897) begann, und zu über 750 Seiten von Sill-Familienbriefen führte, die an der University of Michigan auf Mikrofilm gespeichert sind, um schließlich mit dem vorliegenden, faszinierenden Blick in eine turbulente Zeit der koreanischen Geschichte zu enden. Neben den Briefen von Sally Sill, der Gattin des Botschafters, bezieht das Buch auch Briefe von BotschafterSill selbst und von Sallys Schwester Lily ein. Zusammen mit diplomatischen Depeschen und privaten Briefen von anderen bedeutenden westlichen Persönlichkeiten geben sie ein anschauliches Zeitzeugnis, das sich von offiziellen geschichtlichen Darstellungen abhebt. Selbst wohlbekannte historische Vorkommnisse wie der Chinesisch-Japanische Krieg, der Mord an Kaiserin Myeongseong und die Flucht Kaiser Gojongs in die russische Gesandtschaft werden aus der erfrischenden Perspektive einer westlichen Familie, die noch neu in Asien ist, beschrieben. Die Briefe schildern auch Aspekte des Alltagslebens in der amerikanischen Gesandtschaft wie z.B. Probleme mit dem Postwesen, die Sportveranstaltungen oder Skandale in der westlichen Expatgemeinde. Zahlreiche Fotos und Illustrationen lassen das Seoul von vor über hundert Jahren wieder lebendig werden. Die eingefügten Biographien von historischen Persönlichkeiten, die eine Rolle im Leben der Sills spielten, helfen, das Protagonisten-Set mit Leben zu füllen. Zusammengehalten wird all dies durch die flüssige Erzählweise von Robert Neff, der insgesamt bemüht ist, die Briefe für sich selbst sprechen zu lassen. Die kurze Periode, die das Buch abdeckt, war die emotional geladene Zeit direkt vor Koreas Verlust seiner Souveränität. Solche Zeiten werden meist aus einem breiten Blickwinkel dargestellt. Das Buch zeigt, dass gerade eine sehr persönliche Sicht der Dinge Geschichte realistischer zu vermitteln vermag als etwa eine offizielle Darstellung.


Sonderbeitrag

Verdienstvolle Deutsche im Königreich Joseon Aus Anlass des 130. Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Korea und Deutschland stellt der in Korea lebende deutsche Experte der ersten Kontaktgeschichte zwischen den beiden Ländern verdienstvolle Deutsche im Königreich Joseon mit Bildern von historischem Wert vor. Alexander Kneider Professor für Germanistik, Hankuk University of Foreign Studies

Am Mittwoch, dem 24. Okt. 1883, liefen in aller Eile die Bewohner des kleinen Fischerdorfes Jemulpo an ihrem erst kürzlich notdürftig errichteten Pier zusammen, um die Ankunftvon S.M. Korvette Leipzig in voller Takelage zu bestaunen. Bis dato war ein ausländisches Kriegsschiff für sie ein seltener Anblick, waren doch erst 17 Monate vergangen, seitdem das feudale Königreich mit Amerika als erster westlicher Nation am 22. Mai 1882 einen Handelsvertrag geschlossen hatte. Der Kapitän der Leipzig, Otto Herbig, war drei Tage vorher von Nagasaki aus gestartet, um den deutschen Generalkonsul aus Yokohama, Carl Eduard Zappe, nach Korea zu bringen. Zappes Auftrag bestand darin, ebenfalls einen Vertrag mit Korea zu schließen, doch war seine Aufgabe keine leichte. Die ein Jahr zuvor unter Max von Brandt ausgehandelten Vertragsbedingungen waren u.a. auf die Bitte

Korvette Leipzig

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Vertrag von 1883

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Großbritanniens in Berlin nicht ratifiziert worden, so dass neue Verhandlungen notwendig geworden waren. Nach einem einmonatigen harten Tauziehen waren schließlich die letzten Hürden genommen, so dass am 26. Nov. 1883 der deutsch-koreanische Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag in Hanyang, dem heutigen Seoul, feierlich unterzeichnet werden konnte. Damit begann die erste Phase der offiziellen deutsch-koreanischen Beziehungen, die indes nur von kurzer Dauer sein sollte. Mit der Unterzeichnung des Protektoratsvertrags am 17. Nov. 1905 übernahm Japan die Kontrolle und Leitung der auswärtigen Beziehungen Koreas. Als unmittelbare Folge wurde am 2. Dez. 1905 die deutsche Ministerresidentur in Seoul geschlossen und die deutsche Gesandtschaft in Tokio mit der Übernahme der diplomatischen Amtsgeschäfte beauftragt. Mit dem Inkrafttreten des japanischen Annexionsvertrags vom 29. Aug. 1910 endete schließlich nach 419 Jahren das JoseonReich, und Korea musste für die nächsten 35 Jahre sein Schicksal als japanische Kolonie erdulden. Von dem Augenblick an, als der erste Deutsche koreanischen Boden betrat, bis zum 1. Jan. 1910, als das Kaiserreich Korea (König Gojong hatte 1897 Joseon zum Kaiserreich erklärt.) quasi keine Souveränität mehr besaß, haben über 300 Deutsche ihren Weg ins „Land der Morgenstille“ gefunden. Aus Anlass des 130-jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Korea soll im Folgenden an diejenigen Persönlichkeiten erinnert werden, die als Deutsche Besonderes in Korea geleistet und damit die bilateralen Beziehungen bis in die heutige Zeit positiv geprägt haben.

Paul Georg von Möllendorff (1847-1901) Aufgrund einer annähernd 250-jährigen Isolationspolitik war die koreanische Regierung in Belangen der Außenpolitik äußerst hilflos. Nach dem Vertrag mit den USA im Jahre 1882 wurde zwar ein Amt für Auswärtige Angelegenheiten eingerichtet, doch war man gerade im Umgang mit einer westlichen Nation völlig unerfahren. Als sich König Gojong daher mit der Bitte um einen Berater an China wandte, wurde der deutsche Jurist und Sinologe Paul Georg von Möllendorff, der in chinesischen Diensten stand, nach Korea entsandt. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung bestand von Möllendorffs Aufgabe vornehmlich darin, ein Seezollwesen nach chinesischem Muster aufzubauen, aber auch in Angelegenheiten der Außenpolitik in beratender Funktion tätig zu sein. Während seines relativ kurzen Aufenthaltes in Korea von Ende 1882 bis 1885 sollte Paul Georg von Möllendorff in koreanischer Tracht er dennoch eine bedeutende Rolle im Modernisierungsprozess des Landes spielen. In seiner Eigenschaft als Generalzolldirektor kam er nicht nur seiner Hauptaufgabe nach, sondern wirkte daneben auch als Berater auf vielerlei Gebieten wie Finanz-, Justiz- und Militärwesen, Landwirtschaft, Handwerk und Industrie. Ebenso bemühte er sich um die Schaffung eines modernen Schulwesens, der Vermittlung technischer Kenntnisse und den Aufbau einer koreanischen Industrie, die sich an das traditionelle Kunsthandwerk anlehnen sollte. In kurzer Zeit bekleidete der deutsche Berater hohe koreanische Adelspositionen innerhalb der Regierung, angefangen vom Posten eines Vizeministers im Ministerium des Äußeren, des Ministeriums für Arbeit und des Kriegsministeriums, bis hin zum Direktor der neuen staatlichen Münze. Um eine erfolgversprechende Arbeit in Korea leisten zu können, übernahm von Möllendorff die Sitten des Landes, kleidete sich stets in traditioneller koreanischer Amtstracht und nahm den koreanischen Namen Mok In-deok an. Sein persönliches Engagement galt in erster Linie der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes. Er war der festen Überzeugung, dass die Beziehungen Koreas zu möglichst vielen Ländern

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letztendlich die Unabhängigkeit des Königreichs garantieren könnten. Dabei richteten sich seine Bemühungen nicht nur gegen den immer stärker werdenden Einfluss Japans, sondern auch gegen den traditionsgebundenen Machtanspruch Chinas auf Korea. Letztendlich unterlag von Möllendorff jedoch den Intrigen und dem Ränkespiel rivalisierender Mächte im Kampf um die Vorherrschaft auf der koreanischen Halbinsel, so dass er am 5. Dez. 1885 nach China zurückkehren musste.

Carl Andreas Wolter (1858-1916) und die Handelsfirma Meyer & Co. Gleich zu Beginn seiner umfangreichen Tätigkeiten in Korea konnte von Möllendorff den deutschen Kaufmann in Shanghai Heinrich Constantin Eduard Meyer dazu bewegen, in Jemulpo eine Filiale zu gründen. Die Gelegenheit, in einem Lande, das gerade erst dabei war, sich dem Westen zu öffnen, wirtschaftlich Fuß zu fassen, ließ sich Meyer nicht entgehen und beauftragte 1883 seinen Teilhaber Carl Andreas Wolter mit dieser Aufgabe. Meyer selbst wurde 1886 von der koreanischen Regierung zum ersten Honorarkonsul ernannt und vertrat damit offiziell in Hamburg die Interessen Koreas in Deutschland. Kurz nach seiner Ankunft am 6. Juni 1884 eröffnete Carl Wolter eine Niederlassung der Firma Meyer & Co., die den koreanischen Namen Sechang yanghaeng trug, und auf lange Jahre das einzige deutsche Handelshaus in Korea blieb. Zu Beginn seiner Tätigkeit Carl Andreas Wolter 1902 konnte Wolter mit der Unterstützung Möllendorffs rechnen, der u.a. über das deutsche Handelshaus die erforderlichen Prägemaschinen und andere Instrumente für die neue Münze aus Deutschland importieren ließ. Aber auch die Lieferung verschiedener Waffen sowie nötige Materialien für die Telegraphenlinie Seoul-Busan wurden über Meyer & Co. abgewickelt. 1887 lieferte die Firma der koreanischen Regierung zwei deutsche Dampfer namens Deutschland und Signal und einen kleinen Flussdampfer. 1897 konnte sich Meyer & Co. zwar eine Goldminenkonzession sichern, es stellte sich allerdings heraus, dass die Mine kaum ertragreich war, so dass sie 1903 wieder geschlos-

Familie Schirbaum mit Angestellten in Jemulpo

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sen wurde. Eine zweite Minenkonzession, erworben 1907, ging kurz nach der Okkupation Koreas 1910 an Japan. Der Einsatz Wolters war dennoch von Erfolg gekrönt, da er 1905 fast die gesamte Einfuhr europäischer Waren abwickelte und verschiedene Produkte importierte wie Nadeln, Chemikalien, Farben, Eisenwaren, Instrumente, Maschinen, Fahrzeuge, Sprengstoffe, Holz-, Woll- und Papierwaren sowie Erzeugnisse landwirtschaftlicher Nebengewerbe. Ende 1907 übernahm Carl Wolter die Firma und benannte sie in Wolter & Co. um. Ein Jahr später kehrte er nach 24-jähriger Tätigkeit in Korea mit seiner Frau und seinen acht Kindern nach Hamburg zurück und übergab das Handelshaus an seinen Teilhaber Paul Schirbaum, der die Geschäfte bis zum Ausbruch des Koreakrieges 1950 weiterführte.

Johannes Bolljahn (1862-1928) Am 23. Sep. 1897 richtete sich der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Min Jong-muk, an den deutschen Vertreter in Seoul, Konsul Ferdinand Krien, mit der Bitte, einen Direktor für eine geplante deutsche Sprachschule zu finden. Fünf Monate später berichtete Krien in einer Erfolgsmeldung nach Berlin, einen geeigneten Kandidaten gefunden zu haben. Johannes Bolljahn, gebürtig aus Paske in Vorpommern, hatte bereits seinen Weg im Jahre 1889 nach Japan gefunden. Zunächst als Lehrer an der Privatschule der evangelischen deutschen Gemeinde in Tokio, unterrichtete er später ebenfalls an verschiedenen höheren Mittelschulen sowie der Kadettenanstalt und der Kriegsschule als Deutschlehrer. Im Jahre 1898 entschloss er sich, den Posten als Direktor und Lehrer der ersten Johannes Bolljahn 1904 deutschen Sprachschule in Seoul zu übernehmen, nicht zuletzt weil es ihn reizte, der erste Deutsche mit einer derartigen Aufgabe im jungen Kaiserreich Korea zu sein. Am 15. Sep. 1898 wurde die deutsche Sprachschule in Seoul feierlich eröffnet. Die Anzahl der Schüler variierte zu Beginn zwischen 40 und 70, und das Alter zwischen 16 und 25. Die deutsche Schule war keineswegs nur eine reine Sprachschule. Neben Konversation, Lesen, Schreiben,

Bolljahn mit Schülern vor der deutschen Sprachschule

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Grammatik, Diktat und Aufsatz in deutscher Sprache wurde ebenso Unterricht erteilt in den Fächern Geographie, Mathematik, Physik, Geschichte sowie Turnen und in den höheren Klassen sogar Buchführung und Übersetzen. Im Rahmen der japanischen Kolonisationspolitik wurde die Schule ab dem 1. Jan. 1911 in normale Oberschulen integriert. Johannes Bolljahn selbst blieb vorerst in Korea und verdiente seinen Lebensunterhalt u.a. durch Privatunterricht, den er den Kindern und Enkeln der in Seoul lebenden Deutschen erteilte. 1920 kehrte er schließlich nach Deutschland zurück und heiratete am 15. Sep. 1922 Ida Wilhelmine Gorschalki, die Witwe des in Seoul verstorbenen deutschen Kaufmanns Albert Friedrich Gorschalki. Im Alter von 66 Jahren starb der einstige Direktor der Kaiserlich Deutschen Sprachschule in Seoul am 25. Okt. 1928 und wurde auf dem Friedhof seines Geburtsortes Paske zur letzten Ruhe getragen.

Franz Eckert (1852-1916) Als Musiker, Komponist und Kapellmeister widmete Franz Eckert sein gesamtes Leben der Aufgabe, westliche Musik, insbesondere deutsche Militärmusik, zunächst in Japan und anschließend in Korea einzuführen. Geboren am 5. April 1852 in Neurode, einer Stadt in der Preußischen Provinz Schlesien, wurde Eckert 1879 von der deutschen Marine-Musik-Verwaltung nach Japan entsandt, um die Leitung der Marinekapelle in Tokio zu übernehmen. In den nächsten 20 Jahren arbeitete er in etlichen Ministerien, führte westliche Instrumente ein und organisierte verschiedene Militärkapellen. Zu Eckerts größten und nachhaltigsten Werken in Japan zählt indes die japanische Nationalhymne Kimi ga Yo, die er für europäische Instrumente arrangierte und harmonisierte. Ihre Uraufführung fand Franz Eckert anlässlich des Geburtstages des Tennos am 3. Nov. 1880 statt. 1899 kehrte Eckert aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurück, nahm aber bereits Ende 1900 das Angebot der koreanischen Regierung an, am Kaiserhof eine Militärkapelle nach europäischem Muster

Eckert mit seiner Kapelle im Pagoda-Park

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aufzubauen. Bei seiner Ankunft in Seoul am 19. Feb. 1901 brachte Eckert 52 Holz- und Blechblasinstrumente mit und hatte sechs Monate später bereits eine Hofkapelle von 50 stolzen Musikern an diesen Instrumenten ausgebildet. Eckerts Erfolge waren derart groß, dass er nicht nur regelmäßig bei offiziellen Anlässen am Hofe auftrat, sondern auch jeden Donnerstag zur Freude aller ansässigen Europäer im Pagoda-Park in Seoul Konzerte veranstaltete. Dabei gab er sowohl selbstkomponierte Marschmusik als auch Wagner-Ouvertüren zum Besten. Auch die erste koreanische Nationalhymne, Daehanjeguk aegukga, ist Eckerts Verdienst und wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zum 49. Geburtstag Kaiser Gojongs am 7. Sep. 1901 zum ersten Mal öffentlich aufgeführt. Am 6. Aug. 1916 starb Franz Eckert im Alter von 64 Jahren an einem Halskarzinom und wurde unter allen Ehren auf dem Yanghwajin-Ausländerfriedhof in Seoul beigesetzt.

Richard Wunsch (1869-1911) Der nächste in der Liste verdienstvoller Deutscher in Korea ist der Schlesier Dr. med. Richard Wunsch, der von November 1901 bis zum April 1905 als Leibarzt des koreanischen Kaisers in Seoul tätig war. Zweifellos muss er zu denjenigen Medizinern gezählt werden, die den deutschen Pionierärzten wie Engelbert Kämpfer, Philipp Franz von Siebold und Erwin von Bälz nach Ostasien gefolgt waren und die deutsche Medizin bis auf den heutigen Tag gefestigt haben. So beschränkte sich seine Arbeit in Korea keinesfalls auf den kaiserlichen Hof. Vielmehr fand Wunsch seine große Erfüllung und Aufgabe in der kostenlosen Behandlung armer Menschen. Er führte aufgrund seines Rufes als hervorragender Arzt auch Operationen im amerikanischen Hospital durch und wurde von vielen Europäern konsultiert. Durch seine Tagebücher und Aufzeichnungen, die seine Tochter Gertrud ClausDr. med. Richard Wunsch sen-Wunsch 1976 unter dem Titel Dr. med. Richard Wunsch. Arzt in Ostasien teilweise veröffentlichte, wird der Nachwelt ein zeithistorisches Dokument von besonderem Wert hinterlassen, das auf lebendige Weise die Geschichte Ostasiens in ihrer Übergangsphase vom 19. ins 20. Jh. schildert. Aufgrund gescheiterter Pläne für ein Hospital in Seoul folgte Richard Wunsch im April 1905 zunächst einem Ruf von Erwin Bälz nach Japan, um dessen Nachfolge anzutreten. Enttäuscht durch große Einschränkungen in seinem Arbeitsbereich nahm Wunsch drei Jahre später das Angebot an, am Faber-Hospital in Qingdao, der Hauptstadt des „Deutschen Schutzgebietes“ in China, zu arbeiten. Ende Februar 1911 infizierte er sich dort bei seinen Patienten mit Fleckentyphus und starb im jungen Alter von 41 Jahren am 13. März 1911. Antoinette Sontag (1839-1925) Nicht als einziger, aber doch als wichtigster Dame der kleinen deutschen Gemeinde im alten Seoul gebührt der Elsässerin Antoinette Sontag ein Platz unter den bedeutendsten Persönlichkeiten in Korea. Im Okt. 1885 begleitete sie ihren Schwager, den russischen Generalkonsul Carl Iwanowitsch Waeber, nach Korea, um zunächst seinen Haushalt in Seoul zu führen. Aufgrund großer Sympathie wurde sie schon bald von der Königin immer häufiger beauftragt, die Hofbeamten bei der Vorbereitung von Empfängen ausländischer Delegationen zu unterstützen und die Vorzimmer des Changdeok-Palastes westlich einzurichten. Daneben servierte sie dem Königspaar häufig Gebäck und andere selbst zubereitete Speisen und Antoinette Sontag

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Sontag Hotel

machte sie mit Kaffee bekannt, der von beiden sehr gern getrunken wurde. Auf diese Weise gewann Frl. Sontag das Vertrauen des Monarchen und seiner Gemahlin. Als Königin Min (ab 1897, als König Gojong sich zum Kaiser von Daehan-jeguk ausrufen ließ, Kaiserin Myeongseong) am 8. Okt. 1895 von den Japanern ermordet wurde, flüchtete König Gojong in die russische Gesandtschaft. Dort blieb er ein Jahr und wurde derart fürsorglich von Antoinette Sontag betreut, dass er sie aus Dankbarkeit zur Hofzeremonienmeisterin ernannte. In dieser Funktion war sie nicht nur für den gesamten Haushalt des Hofes zuständig, sondern trug auch die Verantwortung für Empfänge und Bankette, die zu Ehren ausländischer Würdenträger veranstaltet wurden. Diplomaten aller Nationen suchten nicht selten die Hilfe von Fräulein Sontag, um ihre Ziele bei der Regierung durchzusetzen, so dass das Intrigenspiel am Hof florierte. Ihr politischer Einfluss, den sie am Hof und bei König Gojong genoss, brachte ihr bald den Beinamen „ungekrönte Königin von Korea“ ein. Neben ihrer Stellung am Hof unterhielt Frl. Sontag ebenfalls eine Pension, die später unter dem Namen „Sontag Hotel“ bekannt wurde. Als sich eine endgültige Okkupation Koreas durch Japan abzeichnete, wurden ihre Ressentiments gegen die Japaner derart groß, dass sie ihren Aufenthalt in Korea Ende 1909 nach fast 25 Jahren beendete und nach Europa zurückkehrte.

Benediktinermönche Im Herbst 1908 klopfte der Apostolische Vikar von Seoul, Bischof Gustave Charles Mutel (1854-1933), an die Pforte des Benediktinerklosters in St. Ottilien und bat Erzabt Norbert Weber (1870-1956) um die Mithilfe der deutschen Mönche bei seiner Arbeit in Korea. Der persönliche Einsatz des Bischofs und seine Schilderungen über das fernöstliche Kaiserreich gaben dann auch den Anstoß zur Gründung einer Benediktinermission in Korea. Im Frühjahr 1909 reisten daraufhin die Patres Bonifatius Sauer und Dominikus Enshoff als Vorhut nach Seoul und kauften ein Grundstück für das Erzabt Norbert Weber

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erste Kloster im heutigen Seouler Stadtbezirk Heyhwa-dong. Bei den Aufbauarbeiten bekamen sie im Dez. 1909 die Unterstützung von zwei weiteren Patres und vier Brüdern, die ebenfalls als Pioniere der Benediktiner genannt werden müssen: Pater Cassian Niebauer, Pater André Eckardt sowie die Brüder Paschalis Fangauer, Ildefons Flötzinger, Martin Huber und Columban Bauer. André Eckardt kehrte um die Jahreswende 1928/29 nach Deutschland zurück und begründete 1950 als Professor am Ostasiatischen Seminar in München die deutsche Koreanistik. Aufgrund der japanischen Kolonialpolitik war es den Benediktinermönchen nicht erlaubt, ein Seminar zur Ausbildung von Schullehrern oder andere Einrichtungen für schulische Zwecke zu unterhalten. Daher konzentrierte sich ihre Arbeit anfänglich auf die Ausbildung von Handwerkern, besonders in ihrer Schreinerei, die sich bald einen entsprechenden Ruf erwarb. Dies änderte sich erst, als den Benediktinern ein eigenes Missionsgebiet zugesagt und das Kloster am 17. Nov. 1927 offiziell nach Deokwon, einem kleinen Ort in der Nähe der nordkoreanischen Hafenstadt Wonsan, verlegt wurde. Kurz nach der Gründung der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik am 2. Sep. 1948 wurde das Kloster von nordkoreanischen Soldaten besetzt, alle Mönche in Pyeongyang vor Gericht gestellt und wegen antikommunistischer Sabotage zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt. Während des Koreakrieges erlitten zahlreiche Mönche und Schwestern der Benediktiner in einem Konzentrationslager am Yalu den Märtyrertod. Neben der Abtei in Waegwan und einem Priorat der Benediktinerinnen in Daegu bestehen heute ebenfalls Konvente in zahlreichen anderen Städten Südkoreas.

Benediktinerkloster in Hyehwa-dong

Benediktinerkloster in Deokwon

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GOURMETFREUDEN

Yukgaejang Heiß, scharf, aber unglaublich erfrischend

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Yukgaejang , ein „Ein-Topf-Gericht“, das mit seinen Fleisch- und Gemüsezutaten für eine ausgeglichene Nährstoffzufuhr sorgt, soll die durch den Genuss von kalten Speisen geschwächten Organe stärken. Es ist ein bodenständiges, koreanisches Sommergericht, das – heiß und erfrischend zugleich – die Hitze aus dem Körper treibt.

Ye Jong-suk Food Columnist, Professor für Marketing,Hanyang University

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m die Hitze im Hochsommer zu vertreiben, verlangt es die Koreaner immer wieder nach heißer Brühe. Während der „Hundstage“ im Juli und August, wenn die Hitze ihren Höhepunkt erreicht, findet man in den Restaurants im ganzen Land überall Koreaner, die ihre heiße Brühe löffeln und – während ihnen der Schweiß in Strömen herunterläuft – bei jedem Löffel ein seeliges „Ah, ist das erfrischend“ von sich geben. Für viele Ausländer mag diese Kultur schwer zu verstehen sein, dabei folgt sie lediglich dem Prinzip, Hitze mit Hitze zu bekämpfen. Eine aktuelle Befragung von 1.000 Ausländern brachte denn auch das Ergebnis, dass für 52% der Befragten die am wenigsten verständlichste Eigenart der koreanischen Kultur das Essen von heißen Suppen an heißen Tagen ist. Amerikaner und Engländer lieben es zwar auch, im Sommer den Grill anzufachen und ein Barbecue zu genießen – aber das im Freien. Das Essensverhalten der Koreaner, sich im Hausinnern – auch wenn heutzutage die Klimaanlage für Raumkühle sorgt – bei heißer Brühe abzukühlen, empfinden sie als schon sehr originell.

Heiße Brühe erhält das körperliche Gleichgewicht Das Prinzip, Hitze mit Hitze zu bekämpfen, basiert auf der alten chinesichen Theorie von Yin und Yang und den Fünf Elementen, bei der es in diesem Fall, einfach ausgedrückt, um die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Körper und Ernährung geht. Wenn die Hitze im Sommer zunimmt, versuchen die Menschen durch kalte Speisen ihre Körpertemperatur niedrig zu halten. Doch nimmt man ständig kaltes Essen zu sich, kühlen auch die inneren Organe ab, was zu Verdauungsstörungen und einer allgemeinen Schwächung des Körpers führt. Der Logik der traditionellen östlichen Medizin zufolge, kann man das körperliche Gleichgewicht bewahren, indem man heiße Brühe zu sich nimmt und so die Organe wärmt. Die Hitze-mit-Hitze-bekämpfen-Logik geht konform mit den Prinzipien der in Europa, Südamerika oder Indien weit verbreiteten Homöopathie, die auf alternative Heilungsmethoden setzt. Dabei sollen künstlich dem Krankheitsbild entsprechende Symptome hervorgerufen werden, so dass der Körper dazu stimuliert wird, Selbstheilungskräfte zu entwickeln. Unter den heißen Sommersuppen gilt Yukgaejang als die wirkungsvollste. Zwar wird im Sommer auch gern Samgyetang, gekochtes Huhn mit Ginseng, verzehrt, aber weil Yukgaejang nicht nur heiß, sondern auch noch so scharf ist, dass es einem den Mund zu verbrennen droht, gerät die Sommerhitze – zumindest für eine Weile – in Vergessenheit. Rindfleischsuppe in vielenVariationen Es gibt viele Yukgaejang -Varianten, aber die Standardversion wird wie folgt zubereitet: Rindfleisch (in der Regel Rinderbrust) wird in ausreichend Wasser zusammen mit Lauch und Knoblauch gut durchgekocht. Ist das Fleisch gar, nimmt man es aus dem Topf und reißt es mit den Fingern entlang der Maserung in Streifen. Die Brühe wird abkühlen gelassen und dann das Fett abgeschöpft. Das Fleisch wird mit gekochten Taro-Stängeln, AdlerK o r e a n a ı S o mme r 2 01 3

Eine Schüssel heiße und scharfe Yukgaejang mit Reis ist eine wohlausgewogene Mahlzeit zur Bekämpfung der Sommerhitze.

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Rindfleisch (in der Regel Rinderbrust) wird in ausreichend Wasser zusammen mit Lauch und Knoblauch gut durchgekocht. Ist das Fleisch gar, nimmt man es aus dem Topf und reißt es mit den Fingern entlang der Maserung in Streifen. Die Brühe wird abkühlen gelassen und dann das Fett abgeschöpft. Das Fleisch wird gewürzt und zusammen mit verschiedenen Gemüsen und Lauch zurück in die Brühe gegeben, die man dann eine Weile köcheln lässt. farn und blanchierten Mungobohnensprossen gemischt und mit Chilipulver, Chiliöl, Knoblauch und schwarzem Pfeffer gewürzt. Die Mischung wird zusammen mit Porreestücken zurück in die Brühe gegeben und köcheln gelassen. Wenn man zum Reis dieses Ein-TopfGericht hat, braucht man keine weiteren Beilagen. Ein Rezept aus dem Sieui jeonseo , einem Kochbuch aus dem späten 19. Jahrhundert, nennt – anders als man es heute kennt – neben Rindfleisch auch Seeohren oder Seegurken als Zutaten. Das Yukgaejang-Rezept in Joseon Yori (Koreanische Gerichte), das 1940 von Son Jeong-gyu veröffentlicht wurde, weist hingegen kaum Unterschiede zum heutigen auf, so dass angenommen werden kann, dass Yukgaejang zu der Zeit bereits in der heutigen Form etabliert war. Yukgaejang wird bei häuslichen Totenwachen den Trauergästen serviert. Dahinter steht wohl zum einen, dass es ein einfach zuzubereitendes, nahrhaftes Gericht ist, aber zum anderen wohl auch der – womöglich schamanistisch basierte – Glaube der Vergangenheit, die rote Brühe könne Geister vertreiben. Yukgaejang hat mehrere Verwandte wie z.B. Daegu-tang und Ddaro gukbap (wörtlich: Reis und Brühe getrennt). Diese beiden Gerichte stehen in enger Beziehung zu Daegu, der drittgrößten Stadt Koreas, gelegen in der Provinz Gyeongsangbuk-do. Der Historiker und Schriftsteller Choe Nam-seon (1890–1957) erwähnte in seinem 1946 erschienenen Buch Joseon sangsik mundap (Fragen und Antworten zum Allgemeinwissen in Korea) Daegutang, ein berühmtes regionales Gericht von Daegu, als eine Yukgaejang-Variante. Da die Stadt Daegu in einem Tal gelegen ist, staut sich die Hitze im Sommer dort besonders stark, und um der Schwüle zu widerstehen, wurde Daegu-tang, also Yukgaejang à la Daegu, entwickelt. Der in Daegu geborene Professor und Küchenhistoriker Yi Seong-u erklärt:

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„Anders als bei der Yukgaejang aus Seoul wird bei Daegu-tang das gekochte Fleisch nicht in Streifen gerissen, sondern in einem Stück so lange gekocht, bis es auseinanderfällt, was das Gericht fleischreicher macht.“ Der Schriftsteller Kim Dong-ri erinnerte sich folgendermaßen: „In meiner vagen Erinnerung war die Daegu-Yukgaejang eine Art dicke Rindersuppe, die mit einer Unmenge grüner Chilischoten, Schnittlauch und Lauch gekocht wurde.“ Bezüglich des Ursprungs des Namens Daegu-tang gibt es allerdings unterschiedliche Theorien. Während es so gut wie Allgemeinwissen ist, dass Yukgaejang während der japanischen Kolonialzeit (1910-1945) in Daegu als Daegu-tang bekannt war, gibt es allerdings auch die Behauptung, dass den Bewohnern von Daegu ein solches Gericht gar nicht bekannt gewesen ist. Der Journalist Jo Pung-yeon (1914–1991) schreibt in seinem Buch Seoul Japhak Sajeon (Wörterbuch des Seouler Trivialwissens)(1989): „Zu Beginn der 1930er Jahre wurde in dem Restaurant Daeyeongwan im Seouler Viertel Jeong-dong das erste Mal Daegu-tang serviert. Die Suppe erinnerte stark an Yukgaejang , mit der Besonderheit, dass sehr viel Lauch hinzugegeben wurde. Wegen des Namens nahm man an, das Gericht müsse wohl aus Daegu stammen, aber die Leute aus Daegu kannten es nicht, so dass das Gericht an sich und der Name wohl einfach erfunden worden sein müssen.“ Verwirrenderweise stand aber in einer Ausgabe von 1929 des Monatsmagazins Byeol Geon Gon: „Daegu-tangban heißt eigentlich Yukgaejang. Es stammt aus Daegu, hat aber nun seinen Weg nach Seoul gefunden.“ Angesichts dieser Tatsachen war Daegu-tang wohl eine Art von Yukgaejang aus Daegu, doch als es nach Seoul kam, wurde das Gericht Daegu-tang genannt, um es vom Seouler Yukgaejang zu unterscheiden. Interessant ist, dass zurzeit keines der beliebten Gukbap-Restaurants in Daegu die Bezeichnung „Daegu-tang“ verwendet. Das Yukgaejang-Gericht Ddaro-gukbap ist aufgrund der Bitte von Gästen, Brühe und Reis getrennt zu servieren, zu seinem Namen gekommen. Für gewöhnlich werden koreanische Gerichte nach ihrer Zubereitungsart oder den verwendeten Zutaten oder Gewürzen benannt. Dass in diesem Fall die Art des Servierens Pate für den Namen stand, ist ungewöhnlich. Viel wichtiger ist jedoch, dass man mit einer Schüssel scharfer Yukgaejang auf alle Fälle die Sommerhitze vertreiben kann. Die Seouler Restaurants Yeokjeon Hoegwan in Mapo-gu und Pyeongnaeok in Jeo-dong haben sich einen Namen für ihre Yukgaejang gemacht. Das Restaurant Joseonok in Uljiro 3-ga serviert immer noch Daegu-tang, ein Gericht, das nicht einmal mehr in seinem Heimatort auf der Speisekarte zu finden ist. In Daegu ist das Yetjip Sikdang berühmt für Yukgaejang und das Gugil Ddaro Gukbap kann sich rühmen, Ddaro-gukbap kreiert und bereits seit 60 Jahren serviert zu haben. In Seoul kann man einen guten Ddaro-gukbap im Gangnam Ddaro Gukbap in Jamwon-dong bekommen.

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1.Die Zutaten für Yukgaejang können variieren. Die auf dem Schneidbrett zu sehenden Zutaten betonen die PilzGeschmacksnote. Neben Austernpilzen, Enoki- und Shiitake-Pilzen kommen auch Mungobohnensprossen, Adlerfarn und Porree hinein. 2. Blanchierte Gemüse und lange gekochtes Rindfleisch, das entlang der Maserung in dicke Streifen gerissen wurde. 3. Nachdem die blanchierten Zutaten leicht per Hand mit Knoblauch, schwarzem Pfeffer, Chilipulver und Chiliöl vermischt worden sind, lässt man die Mischung für zwei bis drei Stunden stehen, damit die verschiedenen Geschmacksrichtungen miteinander verschmelzen können.

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reisen in die koreanische literatur

rezension

Wessen Alptraum ist es? Uh Soo-woong Journalist für Kunst und Kultur, Tageszeitung The Chosun Ilbo

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ch traf Lee Jang-wook zum ersten Mal vor drei Jahren, und zwar bei der Verleihung des Nachwuchsschriftsteller-Preises des Verlags Munhakdongne Publishing Group. Damals war er schon 42 Jahre alt, so dass das Attribut „Nachwuchsschrifsteller“ nicht mehr so richtig passen wollte. Unter den sieben Preisträgern war er denn auch der älteste. Der Preisstifter erklärte dazu: Für den Preis können alle diejenigen Schriftsteller als Kandidaten gelistet werden, deren Debüt vom jeweiligen Stichjahr an gerechnet bis zu zehn Jahre zurückliegt. LeeJang-wook debütierte bereits 1994 als Dichter, aber seine Erzählschriftsteller-Karriere begann erst 2005 mit Die lustigen Teufel von Callot. Dieser Erstlingsroman brachte ihm den dritten Munhaksucheop-Autorenpreis (Literaturheft-Autorenpreis). Bei der Verleihungszeremonie gratulierte man Lee mit den folgenden Worten: Er möge doch auch in Zukunft jedes Jahr den Nachwuchsschriftsteller-Preis bekommen, bis es aufgrund der zeitlichen Begrenzung nicht mehr möglich sei. Es lag zwar wohl nicht nur an dieser Beglückwünschung, aber jedenfalls wurde er auch im folgenden Jahr Träger eines Nachwuchspreises, i.e. des Jungautoren-Preises. Die Erzählung Das tanzende Zimmer des Iwan Menschikow wird als „autobiografisch” bezeichnet. Normalerweise wird eine autobiografische Erzählung mit den wahrhaftigen Geständnissen eines Ich-Erzählers verbunden, aber bei dieser Erzählung ist dies ganz und gar nicht der Fall. Es sind durchweg unklare und ambivalente Sätze, von denen sich manchmal nicht sagen lässt, was sie bedeuten sollen. Vielleicht hat der Autor diese Erzählung mit der Hoffnung geschrieben, dass der Leser das herausliest, was er selbst versteckt hält. In der Erzählung kommen drei Personen vor: der Antagonist Ich, der Schriftsteller Iwan Menschikow, der Eigentümer der Wohnung ist, in dem der Erzähler wohnt, und Andrej, der Freund des Erzählers, der ihm diese Wohnung vermittelt hat. Nach dem Literaturkritiker Kim Hwa-young sind diese drei Personen Hersteller von Fiktionen, d.h. Horrorroman-Schreiber, und im Kern der Erzählung, an den man wie bei Zwiebelringen durch mehrfaches Schälen herankommt, steckt der Horrorroman Der Traum von Iwan Menschikow. Möglicherweise ist Iwan Menschikow ein Phantom. Nein, manchmal erscheint er auch wie eine reale Person, wobei der Leser nie

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mit Sicherheit ausmachen kann, ob er wirklich existiert oder tot ist; und wenn er tot ist, wie er dann gestorben ist; und wenn er noch lebt, ob er dann wirklich zu einer Selbstmordreise aufgebrochen ist. Auch kann der Leser nicht erfahren, warum sich die Dinge in Menschikows Zimmer bewegen, und wer im fünften Stock tanzt. Es ist Andrej, der dem Ich-Erzähler die Geschichte von Iwan Menschikow erzählt. Der Erzähler war 1994 als Austauschstudent in Sankt Petersburg. Zu der Zeit war Andrej 29 Jahre alt. Der Andrej von heute jobbt in einem Sushi-Restaurant und schreibt angeblich nachts Romane, und zwar Horrorromane. Und der berühmte Schriftsteller Iwan Menschikow soll sein Freund sein. Aber je mehr Andrej dem Ich-Erzähler von Menschikow erzählt, und je tiefer die Nächte von Sankt Petersburg werden, desto mehr leidet der Erzähler an Schlaflosigkeit und Halluzinationen. Um den Lesern bei der Lektüre behilflich zu sein, seien hier einige Zeilen aus den tagebuchartigen, der Erzählung in der Originalausgabe angefügten Aufzeichnungen, die der Autor 2007 machte, vorgestellt. „Es ist Abend. Ich sitze in einem Mehrfamilienwohnhaus in Sankt Petersburg in Russland. Es ist ein altes Gebäude, in dem ich die schwere hölzerne Eingangstür aufschieben und durch das dunkle, muffig riechende Treppenhaus hochsteigen muss. Die Tür geht erst auf, wenn ich die schweren Messingschlüssel in die drei dafür vorgesehenen Schlüssellöcher eingepasst habe. Und wenn ich auf dem alten Stuhl sitze, sickert das Knarren der Treppenstufen durch die Spalten der Wohnungstür herein. In dieser Stadt gibt es ein paar Schokoladenmuseen. Dort findet man Schokoladenfiguren des Revolutionärs Lenin. Da die Figuren verkauft werden, können die Reisenden sogar „süßen Lenin“ probieren. Schokoladen-Lenin. Nein, Schokolade in Lenin-Form. Popart, zubereitet aus den Zutaten des Sozialismus. Oder vielleicht eine komödienhafte Umkehr des einst unantastbaren, erhabenen Symbols.“

Lee hat wohl etwa zwanzig Tage in dem Haus in Sankt Petersburg gewohnt. Als er es verließ, schrieb er: Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Lee Jang-wook, der nicht nur Gedichte und Erzählungen schreibt, sondern auch als Kritiker aktiv ist, ist ein Schriftsteller, der selbst mit dem Hintergrund eines„Spukhauses“ eine durch und durch intellektuelle Geschichte zu stricken vermag.

Lee Jang-wook

„Ich entdeckte, dass die Treppe nicht aus Holz, sondern aus Stein war. Die steinerne Treppe war fest, trocken und still. Was war dann das nächtliche Knarren? Woher stammten dann die Geräusche, die in meine Träume einsickerten? Und wohin ist Raskolnikow verschwunden, der, mit einer Axt in der Hand, auf dem Treppenabsatz stand und mich anschaute?“

Wenn man die Erzählung zusammen mit diesen Notizen liest, nehmen die vagen Verzweiflungen und Fragen des Autors Gestalt an. Der Leser erfährt, dass in der Erzählung die Wellen des Kapitalismus den sowjetischen Boden bereits überschwemmt haben. Iwan Menschikow, einst ein dissidentischer Schriftsteller, hat sich in einen populären Horrorroman-Autor verwandelt, und Andrej, einst ein atheistischer Theologie-Student, ist jetzt Assistenz-Manager eines Sushi-Restaurants und schreibt nebenbei Horrorromane. Der anonyme Ich-Erzähler ist zwar von Zweifeln geplagt über Andrej und über Menschikow, von dem er nicht nicht weiß, ob es sich um ein Phantom oder eine real existierende Person handelt, aber er selbst ist letztendlich auch nicht viel anders als die beiden. Nach den Worten des Literaturkritikers No Dae-won wäre es, übertragen auf die heutige Zeit, die Geschichte von jemandem, der den Kapitalismus über alle Maßen hasst, nur um dann festzustellen, dass er selbst in Aktien investiert hat. Das sei ein schlimmer Alptraum, in dem man sein früheres Selbst verrät. Der 1968 geborene Lee Jang-wook ist ein typischer Vertreter der sogenannten 386-Generation1. Er ist wohl Zeuge davon geworden, wie seine Freunde, die einst den Kapitalismus hatten überwinden wollen, jetzt, in ihren Vierzigern, an vorderster Front auf dem Hochseil des Kapitalismus tanzen, und hat vielleicht diese Erzählung entsprechend als Hochseilakt zwischen dem Schreibbaren und dem Nicht-Schreibbaren konzipiert. In einem alten Mehrfamilienhaus im Stil des 19. Jahrhunderts in Sankt Petersburg, in dem sich dunkle Lichter rühren. Der Leser, der auf den nicht besonders vertrauenswürdigen IchErzähler angewiesen ist, kann nicht anders, als dessen Verwirrung und Zweifel zu teilen. Der Höhepunkt der Erzählung ist die Szene, in der der von Geisterangst ergriffene Antagonist in Menschikows von blauem Licht erfüllten Zimmer ohne es selbst zu wollen einen Stepptanz aufführt. Ein Stepptanz, den er an einem Ort, Tausende von Kilometern von Seoul entfernt, tanzt. Der Leser, der voller unerklärlicher Angst an der vordersten Front des Neoliberalismus lebt, sieht sein Selbst unweigerlich auf diesen Stepptanz projiziert. 1 Mit „386-Generation“ wird in Südkorea die in den 1960er Jahren geborene Generation bezeichnet, die in ihrer Jugend politisch aktiv war und die Demokratiebewegung vorantrieb.

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IMpressionen

„Was macht man denn hier?“ / „Was gibt es da drin?“ / „Wer wohnt denn hier drin?“ / „Kannst du was sehen?“ Die Kinder, die durch Torspalten durchspähen, sind voller Neugierde. Es gibt nichts zu sehen. Aber in dem Raum, der sich schier unendlich jenseits des Tors entfaltet, hallen ultimative Fragen wider. „Wer bin ich?“ An einer Stelle, an die die Köpfe der Kinder nicht reichen, hängt eine große Schrifttafel. Darauf steht in chinesischen Schriftzeichen„Yeongju Seonjae“ (瀛洲禪齋), d.h. Tief in den Bergen gelegene Meditationshalle, in der die Götter wohnen. Auf der Säule rechts vom Tor stehen die zwei Schriftzeichen „Seonwon (禪院)“, Ort der Meditation. Die Neugierde der Kinder ist aber noch längst nicht gestillt. Weiter hilft folgende, auf dem roten Tor angebrachte Erklärung, die einfacher verständlich ist: „Da das eine Halle der asketischen Übungen ist, ist Unbefugten der Zutritt verboten.“ Diejenigen, die aber einmal durch das Tor gegangen sind, kommen nicht wieder hinaus, bis alle Antworten auf ihre Fragen tief ins Herz gedrungen sind und es zum Schwingen gebracht haben. Das rote Tor ist es, wo sich Innen- und Außenwelt treffen und Weltzugewandtheit und –abgewandtheit einander geräuschlos berühren. Der Beomeo-sa, einer der zehn größten Tempel Koreas, befindet sich am Fuße des Berges Geum­ jeong-san vor den Toren Busans, der zweitgrößten Stadt Koreas. Ein König aus dem 7. Jahrhundert soll von einem Fisch, der vom Himmel herunterkam und in einer goldenen Quelle unter dem großen Felsen auf dem Berggipfel spielte, geträumt haben. An der Stelle, wo der Fisch sich vergnügte, soll der Beomeo-sa, der„Tempel des Himmlischen Fisches“, errichtet worden sein. In diesem Tempel liegt die Meditationshalle verborgen, in der die Mönche ihren asketischen Übungen nachgehen. „Wer bin ich?“ Diese Frage wirft ein Echo wie die Klänge der Trommelschläge und verleiht der Umgebung eine Atmosphäre der Erbauung. Die Kinder, die durch den Torschlitz lugen, können die Trommelklänge nicht hören. Das noch unschuldige Herz der Kinder, die sich vom Tor abwenden, mag Antwort auf die Frage geben, warum das wohl so ist.

„Wer bin ich“ - Meditationshalle Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts Fotos: Ahn Hong-beom


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