Koreana Autumn 2011 (German)

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H e rbst 2011

Koreanische Kultur und Kunst Spezial H erbst 2011

Kunsthandwerk und Design J ah rg an g 6, N r. 3

Koreanische Design-Ästhetik

Holzmöbel; Textilkunst; Töpferei; Lackmalerei; Metallkunst

ISSN 1975-0617

Jahrgang 6, Nr. 3

Ein Blick auf Werke moderner Künstler


IMpressionen

B

evor ich geboren wurde, existierte die Welt schon in ihrer stoischen Gleichgültigkeit. Gerade diese Welt sehe ich durch dieses Blau. Wenn ich nicht mehr bin, wird sie immer noch sein, immer noch gleichgültig. Durch dieses Blau schaue ich hinüber auf die Welt. Es ist die Farbe der sich in die Luft verstreuenden Asche des Lebens, das durch sinnlose Leidenschaft ausgebrannt wurde. In diesem Blau der Ewigkeit, an dem weder Freude noch Trauer ist, werde ich nicht mehr existieren. „Der Mensch wurde nicht geboren, um ewig zu leben — so muss es heißen. Deswegen wird eines Tages, der ohne Zweifel kommen muss, das Universum ein leerer Raum sein, in dem es ihn nicht mehr gibt. Die Zivilisation, die er geschaffen hat, und die Siege, die er errungen hat, werden mit ihm verschwinden. Sein Vertrauen, seine Zweifel, seine Rechtfertigungen — sie alle werden verschwinden. Nichts Kim Hwa-young Wissenschaftler der französischen Literatur wird von ihm übrig bleiben. Fotos: Kang Woon-gu Viele andere Dinge werden entstehen und wieder vergehen. Es werden andere Arten von Leben erscheinen und andere Gedanken werden sich in der Welt verbreiten. Und dann werden sie wieder in eine formlose Existenz zurückkehren, die von allen geteilt wird.“ (J. M. G. Le Clézio) Die Könige von Silla liegen stumm in ihrem 1500 Jahre langen Schlaf. Den Samen unergründlichen Schweigens umarmend, sind ihre großen, runden Grabhügel zu Wellen der Ewigkeit geworden und wogen langsam und gemächlich in Harmonie mit dem Rhythmus der fernen Berge. Die Zeit, zerbröckelt und zersetzt, hat selbst eine blaue Farbe angenommen. Nur die senkrecht in die Höhe schießenden Bäume stehen in einem dichten Kreis und blicken gleichgültig auf die Wellen der Ewigkeit und das Blau. Sie bezeugen: „Und doch: Die Welt wird nach wie vor dort sein und dort wird immer etwas sein. Eine Substanz, eine unvergängliche Substanz, wird immer noch existieren in einer Zeit und einem Raum so weit entfernt, wie wir es uns nur vorstellen können.“ Und dann wird in diesem Blau ein Bewusstsein erwachen.

Das Blau und die Wellen der Ewigkeit

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Koreanische Kultur und Kunst Herbst 2011 IMPRESSUM Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea

Ausschnitt aus einer Video-Einführung zu Textildesignerin Chang Eung-boks Ausstellung Verborgene Blumen (Seoul 2010) Kalligraphie © Kang Byung-in

See am Morgen (Detail), Lackmalerei von Jun Yong-bok, 60cmx60cm, 2010

Die Welt der modernen koreanischen Künstler Jede Nation und jedes Volk hat einen eigenen Schönheitssinn, der in einfachen Gegenständen des Alltags zu erkennen ist. Das gilt auch für Korea, das auf eine lange, über Generationen von Kunsthandwerkern weitergegebene Tradition der Herstellung von Gebrauchsgegenständen zurückblicken kann. Obwohl die Namen dieser Künstler unbekannt sind, bleibt ihr Geist bis auf den heutigen Tag in zahlreichen ihrer Arbeiten erhalten, die als wahre Kunstwerke Bewunderung finden. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern in alter Zeit haben die Kunsthandwerker von heute, die in dieser Ausgabe vorgestellt werden, sich mit ihren Werken einen Namen gemacht. In dieser Hinsicht können sie als erste Generation moderner koreanischer Kunsthandwerker bezeichnet werden, denen es gelungen ist, sich mit einer eigenen künstlerischen Stimme zu artikulieren. Ob nun bewusst oder unbewusst – sie wurden bereichert durch

die Fülle kreativer Traditionen und Werke, die die Kunsthandwerker aus einer fernen Vergangenheit hinterlassen haben, und die die distinktive Essenz des koreanischen Sinnes für Ästhetik verströmen Es ist eine große Freude für die Redaktion, in der vorliegenden Ausgabe von Koreana einen kleinen Blick in die Welt einiger hervorragender koreanischer Künstler gewähren zu können, die mit ihren hingebungsvollen Bemühungen um innovatives Kunstschaffen den Geist unserer Zeit repräsentieren. Unsere SPEZIAL-Reihe ist ein Versuch, diese meisterhaften Künstler von gestern und heute und die Bedeutung ihres einzigartigen kunsthandwerklichen Schaffens zu beleuchten. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe


spEZIAL Kunsthandwerk und Design

04 08 14 20 24 30

EinfÜhrung

60 64 70 70

Choi Joon-sik

Holzmöbel

Lee Jeong-sup und die Renaissance der Holzmöbel von Joseon

Goo Bon-joon

Textilkunst

Textildesignerin Chang Eung-bok: Von der koreanischen Ästhetik „geborgte“ Designwelt

Jeon Eun-kyung 30

Töpferei

Yi Yoon-shin: Alltagskeramik für einen modernen Lebensstil

20

Jeon Eun-kyung

Lackmalerei

Jun Yong-bok: Ein Lackkünstler, der die Grenzen der traditionellen Lackkunst erweitert

Park Hyun-sook

Metallkunst

Yu Kuk-il entwirft Lautsprecher für die klaren Klänge der Natur

36 42 48

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Das ästhetische Empfinden der Koreaner

Kim Young-woo

Fokus 1

Die Zukunft von Koreastudien weltweit

Huh Jin-suk

Fokus 2 Hofprotokolle Oegyujanggak uigwe : Heimkehr nach 145 Jahren Lee Kyong-hee kunstkritik

„Landschaften von tausend Jahren“, erfasst durch das „Licht der Zeit“

Interview

Lee Moon-jae

48

Die Schwere der Wahrheit hinter der Pracht der Oberfläche Lee Yongbaek 2011 Biennale di Venezia Koh Mi-seok Auf der Weltbühne

Weltweite Begeisterung über Please Look After Mom

Kim Mi-hyun

Kunsthandwerker

Perfektion der Töpferkunst: Onggi-Meister Kim Il-man und seine Söhne

Park Hyun-sook

Unterwegs

Die Tripitaka-Prozession

Ehrwürdiger Mönch Sungahn

78

54

Neuerscheinung Kim Hak-soon Cho˘ng Yagyong (Jeong Yak-yong): Gekürzte Klassikerausgabe auf Englisch

Admonitions on Governing the People

Bewertung der touristischen Ressourcen Koreas aus europäischer Sicht

Michelin - Le Guide Vert Corée

Mehr als Musik: Treffen von Spitzen-Aufnahmetechnologie und Tradition

Echoes of the Great Pines 88

80 82 86 88 92

Entertainment

Heißer Wettkampf der Besten: Ich bin Sänger

Lee Young-mee

Gourmetfreuden

Bindaetteok: Pfannkuchen für jeden Tag und jede Gelegenheit

Ye Jong-seok

blick aus der ferne

Ein besonderer Aspekt von Lebensqualität

Peter Kloepping

Lifestyle

Die Busaner Seemöwen: Fans des Baseballteams Lotte Giants

Song Young-man

Reisen in die Koreanische Literatur

Rezension: Wegweiserin an einem Ort ohne Weg. Die Erzählwelt von Kim Mi-wol Die Führerin der Seouler Höhle von Kim Mi-wol

Lee Kwang-ho


EinfÜhrung

Kunsthandwerk und Design

Das ästhetische Empfinden der Koreaner Aus welchen Elementen besteht die „kulturelle DNA“ der modernen Designer Koreas? Hinweise darauf finden sich in den traditionellen Patchwork-Einschlagtüchern und den herb-schönen Keramikschalen aus der Joseon-Zeit, die einen exquisiten Zusammenklang von Natürlichem und Menschengemachtem aufweisen. Choi Joon-sik Professor für Koreanistik, Graduate School of International Studies, Ewha Womans University

Ein Patchwork-Einschlagtuch (Museum für Koreanische Stickerei) und ein „Mond-Topf“ aus dem 18. Jhdt. (Koreanisches Nationalmuseum)

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ine eindeutige Definition der Ästhetik der traditionellen Kunst ist von vornherein unmöglich, da sie so divers in ihrem Ausdruck ist wie die Geschichte Koreas lang. Zum Beispiel würde ein Vergleich der 1.500 Jahre alten Kunst von Baekje mit der des Joseon-Reiches von vor 100 Jahren ergeben, dass sie so verschieden sind wie die zweier unterschiedlicher Länder. Hier möchte ich mich daher nur auf den Teil der traditionellen Kunst konzentrieren, den die Koreaner von heute als „traditionell“ wahrnehmen. Überraschenderweise ist festzustellen, dass die Kunst, die die modernen Koreaner als „traditionell“ begreifen, nicht die Kunst der fernen Vergangenheit, sondern größtenteils die Kunst aus der späten Joseon-Zeit ist (spätes 16. bis spätes 19. Jhdt.). Zum Beispiel entwickelte sich das repräsentative Genre in der volkstümlichen Musik Koreas, das Pansori (epischer Sologesang), das auch in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen wurde, erst Ende des 19. Jahrhunderts zu seiner heute bekannten Form. Es sind die ästhetischen Charakteristika der in dieser Periode geschaffenen Kunstwerke, die hier näher betrachtet werden sollen.

Palastarchitektur Der auffälligste Unterschied zwischen der Kunst Koreas und der anderer Länder gegen Ende des 19. Jahrhunderts liegt in der ästhetischen Realisierung von Außergewöhnlichem, das durch Begriffe wie „Asymmetrie“ und „Spontanität“ charakterisiert wird. Es scheint, dass die Koreaner eine angeborene Abneigung gegen konventionelle Vorstellungen von Ordnung haben. Vergleicht man die Kunst Koreas mit der seiner Nachbarländer China und Japan, die zum selben Kulturraum gehören, wird diese Besonderheit noch deutlicher. Während sich die traditionellen Kunstwerke beider Länder durch ein Ästhetikideal der perfekten Symmetrie auszeichnen, dominieren in der späten Joseon-Zeit asymmetrische Werke die koreanische Kunstwelt, sei es nun im Bereich der Keramik oder der Bauarchitektur. Ein Beispiel ist die Anlage der Königspaläste. Die chinesischen Palastanlagen wie die Verbotene Stadt weisen eine exakte Symmetrie auf: Alle Gebäude sind symmetrisch an einer Mittelachse, die vom ersten Tor bis hin zum letzten Tor läuft, angeordnet. Unter den fünf Königspalästen in Seoul hat jedoch nur der Hauptpalast Gyeongbok-gung einen solchen Grundriss. Alle anderen Paläste, und hier besonders der Changdeok-gung, der zweite Palast von Joseon und Welterbe der UNESCO, ignorieren das Prinzip der Achsen-Symmetrie und folgen einem asymmetrischen, am natürlichen Terrain orientierten Grundriss.

Einschlagtücher und „Mond-Töpfe“ Wenn es um die Ästhetik der Asymmetrie von Joseon geht, darf auch das Jogakbo, das traditionelle Patchwork-Einschlagtuch, nicht unerwähnt bleiben. Das Jogakbo wird aus Stoffresten, die bei der Fertigung von Kleidern übrig bleiben, genäht. Die Herstellung erfordert eine äußerst akribische Geschicklichkeit mit der Nähnadel. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Komposition: Da ausschließlich Stoffreste verwendet werden, ist jedes Jogakbo ein Einzelstück. Es ist von vornherein unmöglich, Symmetrie in der Komposition zu erzielen. Man muss sich sogar fragen, wie es überhaupt möglich ist, aus solch verschieden geformten Stoffstücken ein Tuch zu fertigen. Allerdings ist ein fertiges Jogakbo ein Meisterwerk der Komposition von Farben und Formen, bei dem der Asymmetrie oder spontanen Zusammensetzung eine unsichtbare Ordnung zugrunde liegt. Wenn diese Patchwork-Arbeiten im Westen präsentiert werden, fragen die Ausstellungsbesucher oft nach dem Künstler, weil die Komposition der Tücher dermaßen einzigartig ist. Die Designs stammen jedoch, wie jeder Koreaner weiß, von namenlosen Frauen aus der Joseon-Zeit. Sie haben zwar nie Designen gelernt, aber trotzdem solch elegante Werke hinterlassen. Dies zeigt das in der späten Joseon-Zeit herrschende hohe Design-Niveau. Im gegebenen thematischen Kontext darf auch die Porzellanherstellung nicht außer Acht gelassen werden. Repräsentativste Porzellanart gegen Ende der Joseon-Zeit sind die Dal-Hangari (Mond-Töpfe), bauchige, beinahe kugelförmige Vorratstöpfe aus weißem Porzellan. Unter den bis heute erhaltenen Porzellanstücken mit diesem schönen Namen gibt es kein einziges, das in Farbe oder Form völlig identisch mit einem anderen wäre. Jedes ist auf seine Weise einzigartig. Außerdem weisen die Mond-Töpfe in ihrer Gesamterscheinung immer irgendeine Asymmetrie auf. Oft erscheint eine Seite leicht schief oder eingedrückt. Solch asymmetrisch verformtes weißes Porzellan ist in Japan oder China kaum zu finden, während es auf der koreanischen Halbinsel allgemein verbreitet war. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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Interessanterweise wurden die Mond-Töpfe aus zwei schalenartigen Hälften zusammengesetzt. Die dabei entstandene Nahtstelle wurde unbearbeitet gelassen. Betrachtet man das Porzellan genauer, sind oft feine Risse an der Nahtstelle zu erkennen, eine Besonderheit, die nur koreanische Porzellane aufweisen. Dieses Phänomen ist ein Beleg dafür, dass die Koreaner sich nicht so besonders für Details interessieren und daher kleine Risse, die während der Herstellung entstanden sind, großzügig ignorieren. In den Augen chinesischer oder japanischer Kunsthandwerksmeister wäre das ein Zeichen für schlampiges Arbeiten. Jedoch werden bei den koreanischen Kunsthandwerksarbeiten generell Details großzügig übersehen, und lediglich das große Bild findet Berücksichtigung. Daher weisen koreanische Kunstwerke von weitem gesehen in ihrem Gesamterscheinungsbild meist eine hervorragende Schönheit auf, während sie bei genauerer Betrachtung aus der Nähe etwas grob gearbeitet wirken. Wenn ein koreanischer Kunsthandwerksmeister technisch nicht versiert war, waren bei diesem wenig verfeinerten Arbeitsstil nur Produkte minderwertiger Qualität das Resultat. Wenn aber einer mit hohem technischen Geschick grob arbeitete, entstanden Kunstwerke, die auch von japanischen oder chinesischen Künstlern nicht nachgeahmt werden konnten. Dieser Geist der Künstler spiegelt sich auch in den „Mak sabal (grobe Keramikschale)“ wider. Diese Art von Schalen waren ab dem 17. Jahrhundert in Japan wegen ihrer Grobheit und Ungeschliffenheit beliebt. Diese Besonderheit wird auch oft mit dem umstrittenen Wort „Naturalismus“ beschrieben. Bei den „Mak sabal“ handelt es sich um Schalen, bei deren Herstellung der Eingriff von Menschenhand in höchstmöglichem Maße vermieden wurde: Glasur, die beim Brennen frei herunterlief, oder feine Risse in der Oberfläche wurden einfach unbearbeitet gelassen, was erneut den Geist der Ästhetik des NichtPerfekten, den die koreanische Kunst prägt, erkennen lässt. Dieser Geist der Nicht-Verfeinerung schuf eine Ästhetik der Natürlichkeit, was die Japaner, die an künstliche Schönheit gewohnt waren, stark anzog. (Die „Mak sabal“ waren aber in China nur wenig beliebt.)

Holzmöbel Man darf aber auch nicht vergessen, dass in der koreanischen Kunst auch eine Schönheit einer ganz anderen Art zu finden ist, die sich völlig von der der Spontanität unterscheidet. Es ist, nebenbei bemerkt, ohnehin unmöglich, die traditionelle Kunst eines Landes unter ein, zwei Konzepten zu subsumieren. Diese andere Art von Ästhetik ist die der Einfachheit oder sogar Naivität. Die Kunstwerke Ende der Joseon-Zeit wurden höchstwahrscheinlich vom Konfuzianismus, und zwar vor allem vom Neokonfuzianismus, der Zurückhaltung vorschrieb, beeinflusst, denn sie weisen generell eine sehr einfache Form auf. Die Mond-Töpfe wären ein typisches Beispiel dafür. Porzellan, das wie die Mond-Töpfe rein weiß und ohne jeglichen Dekor belassen bleibt, ist in Japan oder China sehr selten. Das ästhetische Bewusstsein, das sich bei den Mond-Töpfen findet, ist eine Kombination von Spontanität und Einfachheit, aber daneben erscheint auch die etwas abgewandelte Kombination von extremer Zurückhaltung und Einfachheit. Als repräsentative Beispiele für diese Ästhetik gelten die hölzernen Möbelstücke der Joseon-Zeit. Wegen ihrer perfekten Proportioniertheit in Kombination mit Einfachkeit und Natürlichkeit können sie auch als Kunstwerke von Weltniveau bezeichnet werden. Die Holzmöbel von Joseon sind für sich allein ein großes Thema, das aus verschiedenen Aspekten betrachtet werden sollte, aber hier soll nur ihre Schlichtheit beleuchtet werden. Diese Möbel weisen ein symmetrisches Design auf, was sicherlich funktional bedingt ist, da sie dem Rauminneren angepasst sein müssen. Das Besondere der Holzmöbel von Joseon ist das schlichte Design, das wiederum vom Neokonfuzianismus, der jegliche Protzigkeit verneinte, beeinflusst sein dürfte. Deshalb findet man kaum prächtige Kunstwerke aus der Joseon-Zeit, wie sie etwa in China vorherrschend waren. Dagegen stechen viele Werke ins Auge, bei denen möglichst auf jeden Dekor verzichtet wurde. Das gilt auch für die Holzmöbel von Joseon, die einen hervroragenden Sinn für Proportionen erkennen lassen. Ihre perfekte Proportioniertheit, bei der es nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen gibt, erinnert an die dreistöckige Steinpagode Seokga-tap im Tempel Bulguk-sa, die denselben minimalistischen Geist erkennen lässt. (Es handelt sich um eine Steinpagode in einfachster Form, die wegen ihrer perfekten Proportionen dennoch als hervorragendste in Korea gilt.) Die Möbel von Joseon sind im Gegensatz zu denen aus China oder Japan frei von aufwändigen Verzierungen. Sie sind bewusst schlicht gehalten, wobei die Künstler sehr darum bemüht waren, Natürlichkeit zu erreichen, indem sie z.B. die Jahresringe des Holzes sichtbar gelassen haben. Auffälligste Eigenschaft der Ästhetik von Joseon ist, wie gesagt, jeglichen künstlichen Eingriff zu minimieren, und diese Tendenz wird vor allem bei den Möbeln deutlich.

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Auffälligste Besonderheit der Ästhetik von Joseon ist, dass der künstliche Eingriff von Menschenhand minimiert wird. Demzufolge weisen die Kunstwerke dieser Zeit eine das Gewohnt-Übliche durchbrechende Schönheit auf, die mit den Begriffen „Asymmetrie“ und „Spontanität“ gefasst werden kann.

Eine grobe Keramikschale aus Joseon und ein dekoratives Holzregal (National museum of Korea). K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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Holzmöbel

Kunsthandwerk und Design

Lee Jeong-sup und die Renaissance der Holzmöbel von Joseon Lee Jeong-sup, der selbst als „Holzarbeiter“ bezeichnet werden möchte, ist ein anerkannter Tischlermeister, der die traditionelle Schönheit der Holzmöbel von Joseon zu neuem Leben erweckt. Er, der einst westliche Malerei studiert hatte, zog sich eines Tages in die Berge zurück, lernte von der Pike auf, wie man ein traditionelles koreanisches Hanok-Haus baut und entwickelte sich zum Meister von heute. Goo Bon-joon Journalist der Tageszeitung Hankyoreh | Fotos: Ahn Hong-beom

1. Das Teezimmer von Space Hanok im Gebäude der Space Group, eingerichtet mit Arbeiten von Lee Jeong-sup: ein Teetisch, eine einzelne niedrige Ablage und ein RegalSet für das Teezubehör.

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ie 2010 im Hauptsitz des Architekturbüros Space Group im Seouler Viertel Wonseo-dong eröffnete Architektur-Fachbuchhandlung Gongganseoga sorgte für Furore in den koreanischen Kulturkreisen, weil die ganze Einrichtung wie Tische, Stühle, Regale und andere Gegenstände von Lee Jeong-sup, dem Besitzer der Naechon-Tischlerei-Galerie, gefertigt worden war. Dieser Hauptsitz der Space Group, der von dem verstorbenen Architekten Kim Swoo-geun, einem Pionier der modernen Architektur in Korea, entworfen wurde, gilt nämlich unter den koreanischen Architekturstudenten als Walfahrtsort, der auch gerne von internationalen Architekten auf ihren Koreareisen aufgesucht wird. Die Space Group, eins der führenden koreanischen Architekturbüros, war so beeindruckt von Lee Jeong-sups Arbeiten, dass sie sie in diesen „geheiligten Hallen“ der koreanischen Architekturkreise ausstellte, um sie einem größeren Publikum bekannt zu machen. Die Besucher von Gongganseoga können auf den von Lee Jeong-sup gefertigten Stühlen Architektur-Fachbücher lesen.

Konkurrenz mit importierten Luxusmarken

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Die Holzmöbel von Joseon weisen aufgrund ihrer dunklen und typisch tiefen Holzfarbe, ihrer schlichten Formen bar jeder Dekoration und Ornamente sowie ihrer quasi heiklen Proportioniertheit einen besonderen Charme auf. Sie spiegeln eine gewisse Tiefe vergangener Zeiten wider und besitzen dennoch in der Eindeutigkeit ihres schlichten und klaren Designs eine größere Modernität als die Möbel der heutigen Zeit. Deshalb war und ist es die ewige Aufgabe und das große Ziel der modernen koreanischen Designer, eine Renaissance der Holzmöbel von Joseon auf den Weg zu bringen. Lee Jeong-sup, der selbst als „Holzarbeiter“ und nicht als Designer bezeichnet werden möchte, wird als Tischlermeister bewertet, der die traditionelle Schönheit der Holzmöbel von Joseon zu neuem Leben erweckt. Das Besondere an den Möbeln von Lee Jeong-sup ist ihr bestechend schlichtes Design ohne jegliches überflüssiges Element. Der Charakter des natürlichen Holzes wird getreu zum Vorschein gebracht, wobei die Möbel von hervorragender Stabilität und Langlebigkeit sind, so dass sie ihrer grundsätzlichen Bestimmung als Möbelstücke gut gerecht werden. Sie erinnern aber auch an die traditionellen Bauwerke von Korea: Die leicht nach außen geschwungene Sitzfläche der Holzstühle lässt Assoziationen zu den geschwungenen Dachlinien der Hanok-Häuser aufkommen und die Steck-Verbindung von Sitzfläche und Stuhlbeinen zu den Stützpfeilern eines Hanok. Es ist noch nicht so lange her, dass Lee Jeong-sup seine Werke der Welt präsentiert hat. Erst 2007 hat er die Naechon-Tischlerei-Galerie eröffnet und zwar in Cheongdam-dong, einem Seouler Viertel voller Geschäfte für importierte Luxusmarken, mit denen er ganz bewusst die Konkurrenz aufnehmen wollte. Dieser gewagte Versuch führte zwar nicht direkt zu einem kommerziellen Erfolg, aber seine Möbel gewannen dadurch an Aufmerksamkeit. Die von Lee Jeong-sup gefertigten Stücke, die eine besondere Harmonie von traditioneller Ästhetik und modernem Design aufweisen, wurden bald beliebt, weil sie sowohl in traditionelle als auch in moderne Räumlichkeiten passen. Dieser koreanische Designer für Qualitätsmöbel wird auch oft mit dem japanisch-ameri-

2. Ein Tisch mit Beinen aus geschmiedetem Eisen. Dieses Stück demonstriert die einzigartige Harmonie von schmiedeeisernen Beinen von Junji Kawai (Schmied, außerplanmäßiger Professor an der Musashino Art University und Tokyo University of the Arts) und einer hölzernen Tischplatte von Lee Jeong-sup.

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kanischen Holz-Kunsthandwerker und Meister George Nakashima verglichen.

„Kreieren gibt es nicht mehr.“ In Korea war der Architekt der Zimmermann. Auch heute noch werden die traditionellen Hanok meist von Zimmermannmeistern entworfen und gebaut und nicht von Architekten. Denn die Hanok bestehen hauptsächlich aus Holz. Egal, ob es sich um einen prächtigen Palast oder um ein bescheidenes Haus handelt: Der Bau lag in der Hand eines Zimmermanns. In Korea unterscheidet man traditionell zwischen dem Daemok, dem Zimmermann, der für die großen, gebäudetragenden Holzarbeiten wie den Dachstuhl u.ä. zuständig ist, und dem Somok, dem Tischler, der sich um die kleineren Holzarbeiten im Inneren wie Möbel, Türen, Fenster usw. kümmert. Die Arbeitsbereiche von Zimmermann und Tischler waren streng getrennt. Lee Jeong-sup arbeitet jedoch in beiden Bereichen, denn er wurde Holzarbeiter, weil er Häuser bauen wollte. Ursprünglich hatte er davon geträumt, einmal Maler zu werden. Er hatte sogar an der Seoul National University westliche Malerei studiert. Doch schon bald war er von der übermäßigen Institutionalisierung und gegenseitigen Abschottung, die in den Künstlerkreisen herrschte, enttäuscht und verlor das Interesse an der Malerei. Er gab seinen Traum vom Malen auf und fand eine Arbeit, die er aus tiefstem Herzen machen

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1. Der Space-Buchladen, eine offene Fachbuchhandlung im Gebäude der Space Group, eingerichtet von Lee Jeong-sup. 2. Ein niedriges, einzelnes Regalbrett, das Lee Jeong-sups schlichten Stil und einzigartige Proportionierung zum Ausdruck bringt. 3. Holzarbeiter Lee Jeong-sup, der Möbel tischlert, wenn es regnet, und ansonsten Häuser baut.

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wollte. Ihm, der schon immer ein leidenschaftlicher Bastler gewesen war, hatte es das kleine Haus, das sein Onkel in seinem Heimatort gebaut hatte, angetan. Dieses einfache Heim, das sein Onkel, der weder Zimmermann noch Architekt war, eigenhändig gebaut hatte, wurde Quelle der Inspiration und Vorbild der schöpferischen Tätigkeit. Ein Haus, das von seinem künftigen Bewohner errichtet wird, der zwar keine Ahnung von Design hat, aber das Haus nach seinen Bedürfnissen entwirft, also ein Haus ohne beabsichtigtes Design, das dann im Alltag des Bewohntwerdens seine wahre Schönheit entfaltet – so ein Haus wollte Lee bauen. Er schrieb sich in einer Schule für traditionelle Hanok-Architektur ein, erlernte das Zimmermannshandwerk und begann ein neues Leben als Holzarbeiter. Es gab aber natürlich niemanden, der einem jungen Zimmermann ohne Architekten-Qualifikation und ohne praktische Erfahrung einen Bauauftrag geben wollte. Lee wandte sich deshalb der Möbelherstellung zu. Er begann, eigene Möbel zu tischlern, weil niemand Möbel herstellte, die in seinen Augen Gefallen finden konnten. Er wollte Möbel, die „aus gutem Material gefertigt sind und auch nicht schlecht aussehen“. Gleichzeitig sollten sie stabil sein. Jedoch konnte er nirgends solche Möbel finden. Deshalb beschloss er, sie eigenhändig zu tischlern und entwickelte zugleich ein für ihn charakteristisches Design. Er verzichtete auf alle schmückenden Elemente und fertigte Stücke, die allein durch ihre Struktur Schönheit zum Ausdruck bringen. Die Möbel von Lee Jeong-sup, der sich nie um Fragen der Wirtschaftlichkeit kümmerte und Massenproduktion ablehnt, sind Produkte von reiner Handarbeit und Schweiß und wurden bald durch Mundpropaganda bekannt. Die Zahl der Kunden, die diese Möbel ohne Zögern kaufte, nahm zu und Lee erhielt immer wieder Anfragen zur Teilnahme an verschiedenen Ausstellungen. Sobald er sich einen Namen als Möbeldesigner gemacht hatte, erfüllte sich auch sein alter Traum, Architekt zu werden. Personen, die von seinen minimalistischen Möbeln in Bann geschlagen waren, baten ihn, Häuser im selben Stil zu bauen. Die Häuser, die Lee Jeong-sup selbst entworfen und gebaut hat, sind wie seine Möbel extrem schlicht und unterstreichen die natürliche

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Holzarbeiter Lee Jeong-sup wollte Möbel, die „aus gutem Material gefertigt sind und auch nicht schlecht aussehen“. Gleichzeitig sollten sie stabil sein. Jedoch konnte er nirgends solche Möbel finden. Deshalb beschloss er, sie eigenhändig zu tischlern und entwickelte zugleich ein für ihn charakteristisches Design. Er verzichtete auf alle schmückenden Elemente und fertigte Stücke, die allein durch ihre Struktur Schönheit zum Ausdruck bringen. Schönheit der verwendeten Materialien. Interessanterweise sagt Lee nie, dass er seine eigenen Designs geschaffen hat. Laut Lee wurden auf der Welt bereits in fernster Vergangenheit die hervorragendsten Designs von Menschenhand geschaffen und er wendet nur das, was bereits da ist, an. „Ich konnte an den Töpfen von Mesopotamien, die im Britischen Museum ausgestellt sind, erkennen, dass die perfektesten Designs schon vor langer Zeit geschaffen worden sind. Kreieren gibt es nicht mehr. Ich bin nur jemand, der die vorhandenen perfekten Proportionen kombiniert und auf dieser Basis Möbel fertigt.“

Werkstatt im Bergdorf Sein Leben besteht aus Holzarbeit in seiner Werkstatt in Naechon-myeon (Kreis Hongcheon-gun, Provinz Gangwon-do). Die vor zehn Jahren eröffnete Werkstatt liegt nur zweieinhalb Stunden entfernt von Seoul in einer gut erhaltenen natürlichen Umgebung, in der die Lebenskraft abgelegener Bergdörfer zu spüren ist. Das Wohnhaus, das Lee mit seinen eigenen Händen erbaut und mit einfachen, nach seinem Geschmack entworfenen Möbeln eingerichtet hat, ist das beste Beispiel für seine Design-Philosophie als Holzarbeiter. Lee lebt in diesem Haus, in dem er an Regentagen Möbel tischlert, während er ansonsten Häuser baut. Da er nur Holz bester Qualität verwendet, das er über fünf Jahre trocknen lässt, sind seine Möbel so stabil, dass man sie problemlos herumwerfen könnte, ohne dass sie Schaden litten. Der große Zeitaufwand erlaubt nur eine Herstellung in geringen Mengen. Lee verwendet zudem ausschließlich Materialien wie z.B. Klebstoffe, die von der US-Lebensmittelaufsichtsbehörde (Food and Drug Administration; FDA) als unschädlich erklärt worden sind, und wenn er keine Bestandteile findet, die ihm gefallen, stellt er sie selbst her. Seine Werke, die den aktuellen Trends der Zeit widersprechen, gelten trotzdem als wahrhafte Meisterwerke, was Lee durch sein Beharren auf einfachen, aber schwer aufrecht zu erhaltenden Werten wie Ehrlichkeit und Fleiß erreicht hat.

1. Das Gästehaus von Lee Jeong-sup. 2. Der Aufenthaltsbereich des Space-Buchladens, eingerichtet mit Sofa, Sessel und niedrigem runden Tisch von Lee Jeong-sup. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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Textilkunst

Koreana Kunsthandwerk und Design

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hang Eung-bok ist eine Designerin, die einen Rohstein in einen glänzenden Edelstein verarbeiten kann. „Koreanische Stoffe“ – damit wird man immer den Namen Chang Eung-bok assoziieren. Nach dem Studium der Textilkunst an der für Kunst und Design renommierten Hongik Universität in Seoul gründete sie 1985 die Firma Mono Collection und arbeitet jetzt bereits seit 25 Jahren als Textildesignerin. Ihre „Mono-cheon (Mono-Stoffe)“ sind so einzigartig, dass sie schon als Eigenname gelten, was für die internationale Anerkennung ihres ästhetischen Empfindens spricht.

Softe Innenausstattung Die Textilien von Chang Eung-bok, die oft mit Kunsthandwerk verglichen werden, wurden zwar von traditionellen koreanischen Motiven wie blumengemusterten Schuhen, Fächer, Chaekgado (Stillleben mit den Utensilien eines Gelehrten), Tteoksal (Reiskuchenform), Norigae (Schmuckknotenanhänger), Gummischuhen u.ä. inspiriert, wirken aber dennoch sehr modern. Die Stoffe selbst sind bereits von so hoher Perfektion, dass sie häufig als Innendeko-Elemente verwendet werden. Sie definiert ihre Arbeit als „weiche Innenausstattung“: „Ich mache selbst Stoffe, aber ich schaffe mit diesen Stoffen auch Möbel oder dekoriere Räume. Mit weicher Innenausstattung meine ich Designs, die weich und veränderbar sind, so dass der Kunde Räume nach eigenem Geschmack gestalten kann. Anders ausgedrückt: Meine weiche Innenausstattung könnte vielleicht mit Bezug auf die Privatsphäre etwas unbequem sein, aber sie schafft organische und interaktive Räume.“ Vor kurzem verlegte Chang ihre Werkstatt nach Gwacheon, einer Vorstadt von Seoul. Der große, offene Raum an sich ist mit seinen seitlich verschiebbaren Trennwänden, die mit Stoffen der Mono

Textildesignerin Chang Eung-bok: Von der koreanischen Ästhetik „geborgte“ Designwelt Chang Eung-bok ist eine Textildesignerin, die den koreanischen Ästhetiksinn in modernem Stil neu interpretiert und sich dadurch weltweit einen Namen gemacht hat. Chang, die über ihre Arbeit mit verschiedenen Textilien auch zum Möbel- und Innendesign gekommen ist, bezeichnet das, was sie macht, als „weiche Innenausstattung“ und unternimmt damit einen Sprung auf eine neue Ebene. Jeon Eun-kyung Chefredakteurin, Monatszeitschrift Design | Fotos: Ahn Hong-beom

Textildesignerin Chang Eung-bok neben einer verschiebbaren Trennwand, bezogen mit einem Stoff mit Motiven von blumengemusterten Schuhen. Die von ihr entworfenen Muster finden bei einer ganzen Palette von Produkten Anwendung, von Unterwäsche bis hin zu Möbeln.

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Collection bespannt sind, schon ein Beispiel für weiche Innenausstattung. Textilien haben den Vorteil, dass sie leicht wiederzuverwerten und zu behandeln sind. Die Stärke der weichen Innenausstattung liegt darin, dass mit nur wenigen Stoffen neue Räume geschaffen werden können, ohne dass es viel kostet oder Wände niedergerissen werden müssen. Faltwände, Lampen, Möbel und Vorhänge sind einige Beispiele für die Anwendungsmöglichkeiten von Stoffen. Chang hegt die Ambition, ihr Soft-Design-Konzept einmal in einem Hotel zu verwirklichen, einem Raum, wo sich der öffentliche und der private Bereich überschneiden.

Motive aus der traditionellen Volksmalerei „Schon an der Betrachtungsweise der Natur ist der unterschiedliche Charakter des koreanischen, chinesischen und japanischen Volks erkennbar. Die Japaner schmücken ihre Gärten mit Naturnachbildungen im Miniformat, während die Chinesen ihre Gärten möglichst prächtig und groß gestalten wollen. Aber die Koreaner stellen an einem landschaftlich reizvollen Ort einen Pavillon auf, so dass die Landschaft in den Garten einbezogen wird.“ Wie Changs Vorfahren Landschaft als Hintergrund „geborgt“ haben, so borgt sie traditonelle koreanische Themen für ihr Design. „Ich werde von sehr unterschiedlichen Dingen inspiriert, aber die meisten meiner bislang präsentierten Arbeiten lehnen an Motive der koreanische Malerei an. Auch von traditionellen koreanischen Alltagsgegenständen wie blumengemusterten Schuhen, Gummischuhen und dem traditionellen Tabletttisch Soban bekomme ich Ideen, wobei ich nur absolut bewährte Motive verwende. Ich habe nach Designs gestrebt, die zwar moderne Neuinterpretationen sind, aber innerhalb des Rahmens der für Korea charakteristischen traditionellen Schönheitsmaßstäbe bleiben.“ Chang Eung-bok ist in einem traditionellen koreanischen HanokHaus in Jeongneung aufgewachsen, einem Viertel, wo die Tradition Koreas gut bewahrt ist. „Man sagt, dass ich sehr koreanische Designs mache. Das hängt nicht wenig mit dem Familienumfeld, in dem ich aufgewachsen bin, zusammen. Mein Großvater, der mir meinen Namen gab, war ein Gelehrter der chinesischen Klassiker und bei mir zu Hause wurden fast täglich Ahnenverehrungszeremonien abgehalten. Mit meinem Vater, der Beamter war, und meiner

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Chang liebt es, mit ihren Mustern neue Stimmungen zu schaffen, sei es in der Innenausstattung oder Kleidung. Unten: Eine Trennwand nach der Vorlage eines Bildes des Geumgang-Gebirges (Diamant-Gebirge) von Jeong Seon, einem Meister der Landschaftsmalerei aus der Joseon-Zeit.

„Viele meiner Motive sind von der koreanischen Malerei inspiriert. Auch von traditionellen koreanischen Alltagsgegenständen wie blumengemusterten Schuhen, Gummischuhen und dem traditionellen Tabletttisch Soban bekomme ich Ideen.“

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Mutter, die geschickte Hände besaß, lebte ich ein sehr einfaches Leben. Ich bin in einer traditionellen Umgebung aufgewachsen, aber damals wusste ich das nicht besonders zu schätzen.“ Wenn sie sich so an ihre Kindheit erinnert, dann muss ihre Wohngegend und Umgebung an sich schon „antik“ gewesen sein. Einmal sah ein Trödler, der an ihrem Haus vorbeikam, ungewöhnliche alte Tonschalen, die sich auf Krügen im Hof befanden, und klopfte an die Haustür, um zu fragen, ob er diese Schalen kaufen könnte. In den 1960er und 1970er Jahren, als das Zeitalter des Plastiks in Korea anbrach, gab es in ihrem Elternhaus kein einziges der sonst überall zu findenden Plastikprodukte. Wenn sie jetzt an diese Zeit zurückdenkt, bot ihre Umgebung ihr eine unbezahlbare Erfahrungswelt, aber in ihren jungen Jahren, als sie die meiste Zeit im Ausland verbrachte, wurde ihr dies nicht bewusst. „In meinen Dreißigern und Vierzigern war ich die meiste Zeit im Ausland unterwegs. Früher habe ich eine Art exportierbaren Orientalismus verfolgt, d.h. ich machte gezwungenermaßen von den Traditionen Koreas Gebrauch, um als Designerin überleben zu können. Heute bin ich frei davon.“ In den letzten 25 Jahren war sie als Designerin tätig und entwickelte einen eigenen, originären Stil, der das schmückende Beiwort „koreanisch“ nicht mehr braucht. Vor kurzem lancierte Chang zur Bekanntmachung von erstklassigen Designprodukten die Innendekor-Marke Bogg . Ihr erster Versuch mit einer Bettwäsche-Linie, die die elegante Note ihres Designs aufweist, aber trotzdem in Massen produzierbar ist, kommt bei den Kunden gut an und zeitigt zufrieden stellende Resultate. Mono Collection erreichte auf weltweiten Designmessen und der Seoul Living Design Fair , der größten Design-Plattform Koreas, beeindruckende Erfolge. Es begann 1994 mit der Japan Heimtextil , der größten japanischen Messe für Innenausstattung, Dekoration und Heimtextilien in Tokio. Danach stieß Mono Collection im Jahre 2000 auf der Messe Heimtextil, einer internationale Fachmesse für Wohn- und Objekttextilien, in Frankfurt/Main auf positive Resonanz. 2005 folgte die Ausstellung The Elegance of Silence im Mori Art Museum in Japan und 2007 der Export von Stoffen und Stoff-Produkten an die französische Möbelfirma Roche Bobis. Chang Eung-bok denkt derzeit darüber nach, wie sie als Designerin aus dem Zeitalter von Tusche und Pinsel im derzeitigen analogen und digitalen Zeitalter arbeiten sollte. „Früher habe ich mir beim Fotografieren und Musterzeichnen das Letzte abverlangt. Wenn all diese Prozesse automatisiert und damit zu einfach werden, verlieren sie dann nicht auch einen Teil ihres Reizes?“

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Nach Chang besteht die Kraft der weichen Innenausstattung darin, dass nur mit wenigen Stücken Stoff oder Dekorationen völlig neue Räume geschaffen werden können.

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Töpferei

Kunsthandwerk und Design

Yi Yoon-shin: Alltagskeramik für einen modernen Lebensstil Töpfermeisterin Yi Yoon-shin betont, dass Töpferwaren nicht in den Ausstellungsschrank, sondern auf den Esstisch gehören. 2010 eröffnete sie im Seouler Hanok-Viertel Bukchon ein Mehrzweckkulturzentrum, um die Schönheit der koreanischen Keramik bekannt zu machen und eine neue Lebensstil-Kultur zu verbreiten. Jeon Eun-kyung Chefredakteurin der Monatszeitschrift Design | Fotos: Ahn Hong-beom

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n welchem Geschirr haben Sie heute das Essen serviert? Auch aus der einfachsten Mahlzeit kann je nach dem Geschirr, in dem sie auf den Tisch gebracht wird, ein Festessen werden. Der britische Kunst- und Literaturkritiker Sir Herbert Read hat daher einmal gesagt, dass man das kulturelle Niveau eines Landes an der im Alltagsleben gebrauchten Keramik erkennen kann. Korea gilt mit seinen hochwertigen Porzellanen wie dem Seladon-Porzellan des Goryeo-Reiches (918-1392) und dem weißen Baekja-Porzellan von Joseon (1392-1910) als Land mit langer und starker Tradition in puncto Keramik. Jedoch hat die Keramikherstellung mit dem Übergang zur Moderne eine Rückentwicklung erlebt, so dass die einstige Größe verblasst ist. Unter der Kolonialherrschaft von Japan (1910-1945) und während der Industrialisierung des Landes in den 1960er und 1970er Jahren wurde das wertvolle kulturelle und künstlerische Erbe des Landes vernachlässigt. Und obwohl die heimische Keramikindustrie über eine ausgezeichnete Infrastruktur verfügte, konzentrierte man sich nur auf die Bewahrung der Tradition. Für Keramik schien kein Raum zu bleiben im hektischen Alltag der modernen Koreaner. Yi Yoon-shin empfand dafür großes Bedauern und gelobte mit Entschlossenheit: „Das Geschirr, das ich herstelle, muss unbedingt auf den Tisch.“

Keramik für jeden Tag Yi Yoon-shin zählt zu den Töpfern der ersten Generation, die so genannte Alltagskeramik fertigen. Sie hat an der Hongik Universität ihren B.A.- und auch ihren M.A.-Abschluss in Kunst gemacht. Danach setzte sie ihre Studien an der Graduiertenschule der Kyoto City University of Arts in Japan im Bereich Töpferei fort. Noch vor 25 Jahren, als sie mit der Töpferei begann, galt „schönes Geschirr“ als Ausstellungsgegenstand und war nicht für den alltäglichen Gebrauch gedacht. Während ihres Studiums in Japan, wo Alltagskeramik damals schon weiter entwickelt war als in Korea, empfand Yi Neid und Bedauern, dass es in ihrer Heimat anders aussah. Sie entschloss sich, Keramikwaren herzustellen, die voller Selbstverständlichkeit im Alltag verwendet werden, anstatt in der Präsentiervitrine zu verstauben. Sie setzt daher ihre höchste Priorität auf die praktische Nutzung im Alltag und glaubt, dass Keramik den Zeitgeist der praktischen Anwendbarkeit widerspiegeln muss. „Betrachtet man Geist und Kultur von Goryeo und Joseon, kann man erkennen, dass Seladon bzw. das weiße Baekja einfach notwendige Ergebnisse des jeweiligen Zeitalters waren. Dementsprechend gibt es sicherlich eine bestimmte Art von Keramik, die im Korea des 21. Jahrhunderts hervorgebracht werden muss. Seladon und Baekja sind unbestritten schön, besitzen aber in der heutigen Zeit keinen praktischen Wert mehr.“ Um Keramik herzustellen, die den Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts entspricht, verwendet sie fürs Brennen statt der klassischen Holzbrennöfen Elektro- oder Gasöfen. Sie beharrt auch nicht auf traditionellen Herstellungsverfahren, sondern setzt ihre Energie eher dafür ein, einfache, aber trotzdem elegante Keramiken zu entwerfen, die der modernen Lebens- und Esskultur angemessen sind. „Für ein einziges Keramik-Kunstwerk muss man mehrere Monate an Zeit und Kraft in den Herstellungsprozess investieren, während Alltagskeramik in Massenfertigung produziert wird, weshalb man auch nach der Fertigstellung noch viele verschiedene Aspekte berücksichtigen muss. Mein Ziel ist es, Alltagskeramik zu verbreiten. Darum müssen die Keramikprodukte in großen Mengen herstellbar sein, was es notwendig macht, die Geheimnisse der Herstellung mit den Mitarbeitern zu teilen.“ Natürlich ist hier mit der Bezeichnung „Massenproduktion“ keine vollautomatisierte Fabrikherstellung gemeint. Da zum Teil auch mit der Hand gearbeitet werden muss, können lediglich 100 bis 200 Stücke auf einmal gefertigt werden, was in etwa der Kapazität einer traditionellen Kermikwerkstatt mit großem Brennofen entspricht. Es ist eine Kompromisslösung, die es erlaubt, Produkte mit dem besonderen Charakter traditioneller koreanischer Töpfereien von Hand mit praktischen Anwendungszwecken zu kombinieren. Die Werkstatt von Yi Yoon-shin, die sie mit dieK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

Nach Yi Yoon-shin ist es der Benutzer, der Geschirr erst seinen Wert verleiht.

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sem Gedanken im Kopf eröffnete, wurde in Anlehnung an die Wiedergabe ihres Familiennamens in chinesischen Schriftzeichen „李陶 (Yi-Do: Keramikwerkstatt von Yi)“ genannt. Seit 2006 wird als Markenname einfach die latinisierte Schreibweise „Yido“ verwendet, um die Verbreitung der Alltagskeramik zu vereinfachen und Auslandsmärkte zu erschließen.

Gefüllt noch schöner Die bisher gefertigten Keramiken koreanischen Stils entsprachen nicht so sehr dem internationalen Geschmack, aber das Geschirr von Yido passt nicht nur zur koreanischen Küche, sondern auch zur japanischen oder westlichen. Yido-Keramik wird daher in Hotels und Restaurants westlichen Stils fürs Servieren von Nudelgerichten, Salaten oder Kuchen verwendet. Yido-Produkte sind grundsätzlich traditionell, aber gleichzeitig modern von der Form, so dass sie eigentlich zu jedem Gericht und jedem Ambiente passen. Es ist zudem ein großer Vorteil der Marke Yido, „Je wertvoller ein Geschirr ist, desto öfters sollte man es benutzen, dass auch Produkte verschiedener oder älterer Serien erstaunlich gut harmonieren, damit sich sein Wert erhöht. Die Schönheit der Töpferwaren an sich so dass stilistische Fauxpas vermieden werist zwar auch von großer Bedeutung, aber noch wichtiger ist das den können. Da sie zudem von keiner exakt berechneten Schönheit sind, vermitteln sie würdigende Auge des Benutzers und die Nützlichkeit der Keramik.“ Gelassenheit und Wohlgefühl. Yido-Produkte sind frei von elaboriertem Dekor, stilisierten Mustern oder prächtigen Farben, wie sie bei den Keramikwaren aus Japan oder Europa zu finden sind, die für Vollendung höchsten Grades stehen. Dafür gewinnt Yido-Geschirr an Schönheit, wenn es mit Speisen gefüllt wird. Yi Yoon-shin hat beim Entwerfen immer daran gedacht, dass in ihrem Geschirr Gerichte serviert werden. Denn Geschirr ist grundsätzlich dazu bestimmt, verwendet zu werden und nicht dazu, zur Schau gestellt zu werden. Da Yido-Geschirr an Schönheit und Wert gewinnt, wenn es Speisen enthält, ist es selbstverständlich, dass seine Besitzer es immer wieder auf den Tisch bringen möchten. Yido-Essgeschirr wurde vor allem in Europa sehr positiv bewertet. Anlässlich des „Visit Korea Year (2010-2012)” wurde die TV-Dokumentationsserie The Kimchi Chronicles mit dem weltweit bekannten New Yorker Chefkoch Jean-Georges Vongerichten und seiner Frau Marja, die halb Koreanerin ist, gedreht und ausgestrahlt, um die koreanische Küche und Kultur vorzustellen. Für diese Serie wurde Geschirr von Yido benutzt. Yi Yoon-shin empfiehlt, Werke von renommierten Künstlern nicht in der Vitrine zur Schau zu stellen, sondern ganz nach Belieben zu benutzen. Sie selbst benutzt

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neben ihren eigenen Produkten auch die von namhaften Keramikmeistern. „Je wertvoller ein Geschirr ist, desto öfters sollte man es benutzen, damit sich sein Wert erhöht. Die Schönheit der Töpferwaren an sich ist zwar auch von großer Bedeutung, aber noch wichtiger ist das würdigende Auge des Benutzers und die Nützlichkeit der Keramik. Das bedeutet, dass der Wert eines Geschirrs letztendlich vom Benutzer entschieden wird. Benutzen Sie Ihr Geschirr und erkennen Sie seinen Wert!“ Diese Töpferin, die den Gebrauch von Alltagskeramik propagiert, hat sogar mit dem koreanischen Lifestyle Magazin Haus voller Glück (Haengbok-i gadeukhan jip) eine „Geschirr-Kampagne“ durchgeführt, die jeden Monat einem Magazinleser die Chance gab, sein Geschirr gegen Alltagskeramik auszutauschen. Darüber hinaus veranstaltet sie auch jährlich eine Ausstellung mit dem Titel Mit 10.000 Won glücklich werden, bei der man Geschirr für nur 10.000 Won (ca. 7 Euro) kaufen kann.

Für Panini oder Bibimbap Yi Yoon-shin hat nach langer Vorbereitung 2010 das Mehrzweckkulturzentrum Yido eröffnet, um die Schönheit der koreanischen Keramik und den hohen Wert von handwerklich gefertigten Produkten bekannt zu machen und so eine neue Lebensstil-Kultur zu verbreiten. Das Zentrum befindet sich in einem hochmodernen Gebäude am Rande von Gahoe-dong, einem Seouler Viertel, das mit seinen zahlreichen Hanok-Häusern eine entsprechend traditionelle Atmosphäre atmet. Dort kann man verschiedene Arten von Alltagsgeschirr, angefangen von kleinen Teetassen und Reisschalen über große Schüssel und Teller bis hin zu Tonkrügen, finden und kaufen, aber auch die Werke bekannter Keramikmeister. Das Mehrzweckkulturzentrum Yido bietet verschiedene Ausstellungen sowie Kurse über Tischdecken, Foodstyling und Töpferei an. Yido wurde auch MichelinLe Guide Vert Corée (Mai 2011) vorgestellt, in dem 23 Touristenattraktionen Koreas wie der Palast Gyeongbok-gung, das Hanok-Viertel Bukchon, das Hanok-Dorf in Jeonju, die Festung Hwaseong in Suwon usw. näher beschrieben werden. Yido wird im Abschnitt über für ausländische Touristen besonders empfehlenswerte Restaurants und Cafés erwähnt. Im Restaurant Il Cipriani, das sich im zweiten Stockwerk des Yido-Zentrums befindet, werden Panini und Kaffee in Yido-Geschirr serviert. Das Zentrum ist sozusagen Resultat von Yis lebenslanger Kampagne, der Alltagskeramik zur Verbreitung zu verhelfen. Was für ein Mensch Yi Yoon-shin ist, die betont, dass man am Geschirr den Charakter seines Benutzers erkennen kann, lässt sich wohl auch an ihrem Keramikgeschirr und an den Räumlichkeiten des Zentrums ablesen. „Ich werde mich auch in meinem nächsten Leben der Töpferei widmen. Dann kann ich alles noch besser machen.“ Es gibt viele Künstler, die ich schon einmal persönlich getroffen habe, aber ich habe nie jemandem kennen gelernt, der diesen Brustton der Überzeugung besaß. Yis Ziel ist es, die Marke Yido so stabil zu entwickeln, dass sie auch nach ihr und ohne sie einmal kontinuierlich wachsen kann. Sie ist sicher, dass ihre Marke nicht nur den koreanischen, sondern auch den internationalen Markt erobern kann und sich der Kreis der potentiellen Kunden auch unter der jungen Generation stetig erweitern wird. In letzter Zeit ist das Interesse an der koreanischen Kultur und damit auch an koreanischen Gerichten wie Bibimbap (Reis mit diversen Gemüsen und Fleisch, gemischt mit Chilipaste) und Bulgogi (mariniertes Rindfleisch) oder Getränken wie dem trüben Reiswein Makgeolli in den verschiedenen Ländern wie z.B. Frankreich stark gewachsen. Laut Yi Yoon-shin kann der Slow Food Geist der koreanischen Küche erst dann richtig vermittelt werden, wenn die Speisen auf koreanischem Geschirr serviert werden. Wie die japanische Küche, die mit ihrer Keramik zusammen bekannt geworden ist, so sollte sich auch die koreanische Küche in Kombination mit entsprechendem koreanischen Geschirr präsentieren. Daher werden wir wohl in nicht allzu ferner Zukunft auch im Ausland koreanische Gerichte auf dem stilvollen Geschirr von Yi Yoon-shin kosten können.

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Die Yido Keramikwerkstatt im Untergeschoss des Mehrzweckkulturzentrums Yido in Gahoe-dong, Jongno-gu (links). Yido-Keramik passt zu beidem: asiatischer und westlicher Küche.

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Lackmalerei

Kunsthandwerk und Design

Jun Yong-bok: Ein Lackk체nstler,der die Grenzen der traditionellen Lackkunst erweitert Jun Yong-bok wird als K체nstler anerkannt, der die Welt der Lackkunst erweitert hat, indem er grunds채tzlich die traditionelle Lackkunst Koreas pflegt, gleichzeitig aber Techniken der japanischen Lackkunst sowie selbst entwickelte Methoden anwendet. Park Hyun-sook Freiberufliche Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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nfang April 2011 sorgte die Ausstellung eines Lackkünstlers, die im Nationalen Kunstmuseum (National Art Museum of China) in Peking stattfand, für große Aufmerksamkeit. Das Museum ist eine staatliche Einrichtung, die hauptsächlich moderne und zeitgenössische Kunstwerke Chinas ausstellt, sammelt und erforscht, weshalb ausländische Künstler höchst selten die Gelegenheit erhalten, ihre Arbeiten zu präsentieren. Gerade in diesem Museum zeigte ein koreanischer Lackkünstler unter dem Titel Unvergänglicher Glanz des Lacks seine Werke. Diese zehntägige Veranstaltung, die von rund 25.000 Besuchern sowie 2 renommierten chinesischen Künstlern besucht und ein beispielloser Erfolg wurde, war eine Ausstellung des koreanischen Lackkünstlers Jun Yongbok. Jun machte sich einen Namen, als er die Gesamtleitung über die Restaurierung der in den frühen 1930er Jahren gebauten Tokioer Banketthalle Meguro Gajoen, die den Status eines Nationalschatzes hat, übernahm. Das Projekt umfasste die Restaurierung großflächiger Lack-Wandbilder und weiterer 5.000 Lackarbeiten. Dazu gehörte die Lackarbeit Vier-Jahreszeiten-Landschaft, ein mit 26,3 Meter Breite und 1,4 Meter Höhe gigantisches Werk, das die traditionellen Lacktechniken Koreas und Japans vereint.

Verschiedene Anwendungsmöglichkeiten Bei der Lackkunst werden aus dem Naturlack, der aus dem Lackbaum gewonnen und raffiniert wird, Kunstwerke geschaffen. Die Fertigung eines großen Lackkunstwerkes ist keine einfache Sache, weil der Lack während des Trocknens sehr empfindlich auf Luftfeuchtigkeit und Temperatur reagiert und ein Werk bis zu seiner Fertigstellung mehr als 30 Arbeitsschritte beansprucht, für die man mindestens sechs Monate veranschlagen muss. Dessen ungeachtet hat Jun bei seiner Ausstellung in China rund 50 großformatige Exponate wie z.B. das 5,6 Meter breite und 1,8 Meter hohe Werk Heimkehr präsentiert, das Scharen von gegen die Strömung kämpfenden Lachsen darstellt, die flussaufwärts zu ihren Laichorten ziehen. Ebenfalls zu sehen waren traditionelle Möbelstücke wie Schränke, Kommoden und Kosmetiktische in einem Stil, der eine neue Interpretation der traditionellen Landschaftsmalerei durch Lackkunst darstellt, aber auch mit Lack veredelte Musikinstrumente wie ein Cello, eine Violine und eine Gitarre sowie eine Uhr. Jun Yong-bok erklärt, dass die besondere Eigenschaft des Lacks ihn dazu geführt habe, über die Grenzen der zweidimensionalen Leinwand hinaus neue Versuche zu machen. „Naturlack besitzt eine besondere ästhetische Eigenschaft, die andere Arten von Farben nicht aufweisen. Ich meine den typischen Glanz des Lacks sowie seine dekorative und formbare Beschaffenheit. Je nach Anwendungstechnik sind zudem die Ausdrucksmöglichkeiten, die Lack bietet, unbegrenzt. Außerdem sind Lackwaren ungemein haltbar, was durch Lackkunst-Funde belegt wird, die mehr als 10.000 Jahre überdauert haben. Naturlack blockiert auch Schadstoffe in Betonbauten oder elektromagnetische Wellen von Computern, während er gleichzeitig die für den Menschen wohltuende Infrarotstrahlung abgibt. Lack schafft sozusagen ‚Gi (Energie)‘, den Ursprung der Lebenskraft.” Bis Jun Yong-bok seine originären Lacktechniken erfolgreich entwickeln konnte, musste er wie-

1. Melodie im Frühling , Lackmalerei auf Holz, 80×60cm, 2007. 2. Jun Yong-boks Ausstellung im Museum für Lackkunst in der Präfektur Iwate, Japan. 3. Truhe im modernen Stil, dekoriert unter Anwendung von Techniken der traditionellen koreanischen Lackkunst.

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Jun Yong-bok vor einem Kleiderschrank mit Lackmalerei. Unten zwei Beispiele für seine Hochzeitstruhen.

derholt Misserfolge einstecken. Um den Lack auf Metallplatten aufzutragen und nicht nach traditioneller Art und Weise auf Holz, experimentierte er mit zahlreichen Werkzeugen und Techniken, bis es ihm letztendlich gelang, eine besondere Hochtemperatur-Härtungsmethode zu entwickeln, die es ihm ermöglichte, Aufzüge und Uhren mit Lack zu schmücken. Auch die Technik, mit einem Strohhalm Gold- oder Silberstaub auf eine lackierte Oberfläche zu sprenkeln, ist eine von Juns innovativen Methoden (Kuchibuki Makie). Sie ist Resultat wiederholten Scheiterns beim Erlernen der traditionellen japanischen Technik Makie, bei der ein Bambusrohr mit Gold- und Silberstaub vorsichtig mit den Fingerspitzen angetippt wird, um die Partikel auf dem Lack zu verteilen. Es wollte und wollte Jun Yong-bok einfach nicht gelingen, das Bambusrohr mit der Stärke anzutippen, die eine gleichmäßige Verteilung des Pulvers garantiert, so dass er aus schierer Frustration einen tiefen Seufzer ausstieß – der dann erstaunlicherweise den gewünschten Effekt der gleichmäßigen Verteilung erzeugte. Obwohl es ein Zufall war, steht hinter Juns Erfolg eine endlose Hingabe. Jun Yong-bok arbeitet auch heute noch in seinem eigenen LackkunstInstitut daran, die Grenzen der Lackkunst zu erweitern, indem er verschiedene Geräte wie Laser und Computer verwendet. Er leitet auch eine Lackkunst-Akademie und setzt sich mit großer Leidenschaft für die Ausbildung junger Lackkünstler ein.

Lackmalerei „Ich habe nie eine formelle Kunstausbildung erhalten. Da meine

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Juns Lackmalereien schmücken verschiedene Oberflächen, darunter die eines Esstisches und einer Gitarre (unten).

Familie sehr arm war, war es mir gerade noch möglich, die Oberschule abzuschließen. Aber danach musste ich helfen, für den Lebensunterhalt meiner Familie zu sorgen und habe als Obstverkäufer und Bauarbeiter gearbeitet. Dann entdeckte ich eines Tages die Lackkunst und suchte viele Lackkünstler auf, von denen ich ihre Techniken erlernte, während ich gleichzeitig versuchte, eigene kreative Methoden zu entwickeln. In meinen jungen Jahren hatte ich es schwer, aber mich tröstete die Schönheit, die ich überall in allen Dingen entdecken konnte. Während der kurzen Arbeitspausen auf dem Bau war ich von der Struktur der Risse im Boden fasziniert, die entstanden, wenn ich meine Schaufel in den Boden steckte, um mich auszuruhen. Spätabends, wenn ich erschöpft nach Hause ging, machten mich das Mondlicht, das durch den Bambushain schimmerte, und die sanfte Nachtbrise glücklich.“ Als Kind träumte Jun Yong-bok davon, Künstler zu werden. Er sammelte zerbrochene Vorratstöpfe, Äste und sogar die geflochtenen Strohschnüre, die an den Hoftoren der Nachbarhäuser hingen, um die Geburt eines Babys zu signalisieren, arrangierte sie nach eigenem Gutdünken und erklärte sie zu seinen Kunstwerken. Seine beiden Onkel mütterlicherseits, die Künstler der westlichen bzw. der asiatischen Malerei waren und denen er beim Malen über die Schulter schaute, beeinflussten ihn ebenfalls. Leider musste er wegen der Armut der Familie seinen Traum zunächst aufgeben. Aber er bewarb sich bei einer Möbelfirma und arbeitete fleißig, so dass er sehr schnell aufstieg und sich seine finanzielle Lage allmählich verbesserte. Nun konnte er endlich mit der Lackkunst beginnen, um seinen Kindheitstraum zu verwirklichen. Als er bei der Möbelfirma arbeitete, lernte er verschiedene Streich- und Lackiermaterialien kennen und entdeckte den Reiz von Naturlack. Die Lackkunst war wahrscheinlich sein Schicksal. Bei seinen Arbeiten brachte er Lackschichten auf traditionellen Möbelstücken an und schuf Lackmalereien nach Vorlagen von Landschaftsbildern des großen Malers Kim Eunho. Die Gebirgszüge gestaltete er mit Intarsien aus Perlmuttstückchen, die er nach Najeonchilgi-Art (Najeonchilgi: traditionelle koreanische Lackarbeiten mit Perlmutt-Intarsien) einlegte. Auch realisierte er die traditionelle Tuschemalereitechnik Bubyeokjun (Axthieb-Pinselstrich), bei der durch wiederholtes Auftragen eine schroff-zerfurchte Textur erzielt wird, die an Hiebe mit der Axt erinnert, mit Lack auf völlig neue Art und Weise. Jun hat durch Adaption von Perlmuttintarsien-Technik und Techniken der traditioK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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„Lebenskraft und Schönheit der Natur“- Das ist das Motto, das Jun Yongbok in seinen Werken zu realisieren sucht. Und Lack erwies sich als das optimale Material, diesem Bestreben Ausdruck zu verleihen.

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nellen Tuschemalerei versucht, neue Horizonte in der Lackmalerei zu erschließen und in unendlicher Herausforderung seiner selbst eine originäre Kunstwelt zu schaffen.

Vorbereitung einer weltweiten Ausstellungstour 1986, zehn Jahre nach seiner Begegnung mit der Lackkunst, gewann er beim Wettbewerb für moderne koreanische Handwerkskunst den ersten Preis für eine Arbeit, bei der er die traditionelle Technik der Anbringung von Lack auf Töpferwaren angewendet hatte. Zwei Jahre später wurde er beim Handwerkskunstwettbewerb der Iwate Präfektur in Japan mit dem Sonderpreis ausgezeichnet. Sein in Korea preisgekröntes Werk brachte Juns künstlerischen Geist mit traditioneller Technik zum Ausdruck, in Japan gewann er den Sonderpreis mit einem innovativ-originären Werk aus Styropor und Trockenlack. „Als ich den Knoblauch, den ich aus Korea mitgebracht hatte, betrachtete, überschnitt sich das Bild einer nackten Frau mit den Linien des Knoblauches. Mir wurde klar: ‚Das ist es! Eine Kombination von asiatischen Linien und der Mentalität Koreas.‘ Ich habe dann mit Styropor die elegante Form des Knoblauchs nachgeahmt und diese Grundform anschließend mit Hanffaserstoff und einer Mischung aus Ton und Lack mehrmals überzogen. Das Hanfleinengewebe habe ich gelockert, um die Textur deutlich erkennen zu lassen. Nachdem die Außenschicht getrocknet war, wurde das Styropor herausgeschmolzen. Resultat war eine neuartige Lackkunstarbeit in Form eines Porzellantopfes. Ich habe sie Verlangen genannt, eine Emotion, die am Anfang von Groll, Bedauern, Wut, Trauer usw. liegt, eine Gefühlsmischung, die die Koreaner mit ‚Han (恨)‘ zusammenfassen.“ Jun Yong-bok ist im Moment dabei, eine weltweite Ausstellungstour vorzubereiten, die für Herbst 2012 geplant ist.

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1. Ein Kleiderschrank mit Türen, die mit einem Gemälde des Geumgang-Gebirges (Diamant-Gebirge) bei Sonnenaufgang geschmückt sind. 2. Lackmalerei auf Holz. 3. Ein Keramikkrug mit Lacküberzug.

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Metallkunst

Kunsthandwerk und Design

Yu Kuk-il entwirft Lautsprecher für die klaren Klänge der Natur Yu Kuk-il, ein Designer von Lautsprechern, wählte Metall als Material, weil es den Originalklang am perfektesten wiedergibt. Seine Lautsprecher finden wegen ihrer optimalen Klangwiedergabe und gestalterischen Schönheit weltweit Anerkennung. Kim Young-woo Reporterin, Monatszeitschrift Design | Fotos: Ahn Hong-beom

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1. Für Schwan , das mit der Auszeichnung Red Dot Award 2010 gekrönt wurde, brauchte Yu vier Jahre. 2. Lautsprecher-Designer Yu Kuk-il in seinem Studio. 3. Wie an Mond III zu sehen, strebt Yu nach perfektem Klang vereint mit ästhetischer Form, wofür er Löcher und kleine Details zur Anwendung bringt.

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u Kuk-il, der Metallkunst und Design studierte, kombinierte seine seit seinen Kindertagen gehegte Liebe zur Musik mit seinem Studienfach und begann 1992 mit dem Design von Lautsprechern aus Metall. 1998 gründete er die Firma Metal Sound Design (MSD) und ging 2004 mit dem weltweit führenden deutschen Hersteller von Lautsprechereinheiten Accuton eine technische Partnerschaft zur gemeinsamen Herstellung von High-End Lautsprechern von internationaler Spitzenqualität ein. Yus Lautsprecher werden hoch bewertet, da die Technik zur Wiedergabe des Originalklangs in die gestalterische Form integriert ist, wobei die spezifischen Eigenschaften des Materials Metall voll ausgenutzt werden. Yu wurde auf der Consumer Electronics Show (CES), einer der weltweiten Leitmessen zur Unterhaltungselektronik, drei Mal mit dem Preis für Innovation ausgezeichnet.

Warum Metall? Schon am Namen seiner Firma, Metal Sound Design (MSD), ist der Schwerpunkt seiner Designtätigkeit zu erkennen: Der Name deutet an, dass Yu Lautsprecher aus Metall entwirft. Als Lautsprecher-Designer besteht seine Arbeit darin, Lautsprecher aus Metall so zu gestalten, dass durch die Spezifik ihrer Form eine möglichst originalgetreue Klangwiedergabe erreicht wird. Abgesehen von den Membraneinheiten und Schaltkreisen sind seine Lautsprecher angefangen vom Gehäuse bis hin zu den internen Komponenten aus Metall. Metall-Lautsprecher, die in ihrer Beschaffenheit schwerer und solider sind, produzieren im Vergleich zu Holz-Lautsprechern weniger Vibration, so dass es zu keinen Tonverzerrungen kommt und ein klarer und sauberer Klang erzeugt wird. Das ließ Yu Metall für seine Lautsprecher wählen. Andererseits ist Metall ein anspruchsvolles Material, das schwer zu bearbeiten ist, und bei dem selbst der kleinste Herstellungsmakel den Produktwert ruiniert. Tatsächlich produzieren die weltweit führenden Lautsprecher-Hersteller wegen des Kostenaufwandes selten Metall-Lautsprecher. Aber Yu widmet sich seit 1992, also schon fast 20 Jahre, der Herstellung von Metall-Lautsprechern, die nicht nur bezüglich ihrer perfekten Klangwiedergabe, sondern auch wegen ihrem ansprechenden Design weltweit anerkannt werden. Er sagt: „ Ein Designer muss Fachkenntnisse über die Eigenschaften des Materials, mit dem er es zu tun hat, besitzen. Auch muss er den gesamten Herstellungsprozess aufs Genaueste kennen. Er muss das große Ganze im Kopf haben und gleichzeitig die Einzelschritte jeden für sich genau erwägen, z.B. wie die Oberflächen bei der Montage miteinander verbunden werden, wie sich das Produkt beim Benutzen anfühlen wird und wie das Endprodukt aussehen soll. Ich denke, dass die K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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Die geschwungenen Linien der Lautsprecher wirken derart natürlich, dass man kaum glauben kann, dass sie aus Metall sind – Resultat der langjährigen Konzentration Yus auf ein einziges Material. Das auf den ersten Blick stilvolle und dekorative Äußere ist Mittel zur Erzeugung des bestmöglichsten Klangs.

natürliche Verbindung von spezifischen Materialeigenschaften und Design zu einem guten Werk­ resultat führt.“ Unter den verschiedenen Metallarten bevorzugt Yu vor allem Duraluminium, das bei der Herstellung von Flugzeugen zum Einsatz kommt. Nachdem er eine Vielzahl von Metallen wie Bronze, Gusseisen und Edelstahl ausprobiert hatte, fand er heraus, dass sich Duraluminium am besten für Lautsprecher eignet, weil das Material leicht und fest ist, so dass weniger Vibration entsteht, und zudem leichter zu bearbeiten ist. Die geschwungenen Linien der Lautsprecher wirken derart natürlich, dass man kaum glauben kann, dass sie aus Metall sind – Resultat der langjährigen Konzentration Yus auf ein einziges Material. Das auf den ersten Blick stilvolle und dekorative Äußere ist Mittel zur Erzeugung des bestmöglichsten Klangs.

Übereinstimmung von Sichtbarem und Unsichtbarem „Das Sichtbare ist zwar wichtig, aber ich glaube, dass auch das Unsichtbare ein wichtiger Faktor ist. Deshalb achte ich bei meiner Arbeit stets darauf, dass Sichtbare und das Unsichtbare in Einklang miteinander zu bringen.“ Diese Äußerung hat zweierlei Bedeutung: Zum einen verwendet Yu sogar für die inneren, nicht sichtbaren Baukomponenten, Metall. Zum anderen designt er auch für nicht sichtbare Klänge. Dies ist nur möglich, weil er ein solch empfindliches Gehör hat, dass er selbst die Klang-Fein­ abstimmung vornehmen kann. Als Lautsprecher-Designer versucht er eher zunächst die Form, die zur Klangerzeugung geeignet ist, zu finden, als über ästhetische Designs nachzudenken. Danach bringt er diese Form auf natürliche Weise und gestalterisch ansprechend zur Geltung. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist seine Rhea W Serie, deren Design an Höhenlinienkarten erinnert. Der Lautsprecher wurde so entworfen, dass sich die Höhen der Bereiche um die Membrane entsprechend des Abstands zur Membrane verringern und dadurch die sich um die Membrane verbreitenden Wellenlängenkurven immer flacher werden. Das Design dient dazu, die durch die Schallreflexion entstehende Verzerrung zu reduzieren, und stellt einen Sternenhimmel dar. Das Modell, bei dem die Theorie, dass eine kurze Wellenlänge für einen klaren Klang sorgt, Anwendung findet, wurde mit dem CES Innovation Award 2009 ausgezeichnet. Sehen wir uns den Lautsprecher Moon II an, für den Yu 2005 den ersten CES Innovation Award erhielt. Der Lautsprecher wurde mit zwei runden Lautsprechergehäusen, auch Lautsprecherboxen genannt, ausgestattet. Diese Lautsprechergehäuse dienen dazu, Töne im oberen Frequenzbereich besser wiederzugeben, und erinnern an das Bild des die Erde umkreisenden Mondes. Die Löcher um die Membrane reduzieren die Klangverzerrungen und stellen die Milchstraße dar. Bei Planet , dem ersten in Zusammenarbeit mit Accuton gefertigten Lautsprechermodell, dreht sich der Hochtöner, der hoch- und mittelfrequente Töne erzeugt, zur optimalen Klangwiedergabe in alle Richtungen, und stellt Planeten dar, die um den Mars kreisen. Das Modell

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1 Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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1. Lyra mit Super-Kalottenhochtöner (für hohe Frequenzen). 2-3. Bei Planet rotieren Superhochtöner für mittelhohe Frequenzen (oben) von vorne nach hinten und von rechts nach links, um den richtigen Platz für eine optimale SoundWiedergabe zu finden. 4. Diese jüngste Arbeit, Yeon (Lotus) , stellt gekräuselte Wellen in einem Teich in Lotusblatt-Form dar. Das Design ist als eingebauter Deckenlautsprecher eines traditionellen koreanischen Hauses gedacht.

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wurde mit dem CES Innovation Award 2006 ausgezeichnet. All diese Produkte sind Ergebnis von Yus Bestreben, „das Sichtbare und das Unsichtbare in Einklang zu bringen“.

Inspiration durch die Natur Die Natur ist der größte Inspirator für Yuns Lautsprecher-Designs. Seit 2001 hat er den Nachthimmel als Grundmotiv genommen und alle seine Lautsprecher nach Sternen und Himmelskörpern benannt. Für ihn kann alles in der Natur Anstoß für ein Design sein. Er meint: „Ich denke, es ist wichtig, dass ein Designer alles in seiner Umgebung wahrnimmt. Auf natürliche Weise führt eine Empfindung zu einem Bild im Kopf und dieses Bild zu einem Design.“ Für die Fertigstellung eines Werkes investiert Yu viel Zeit. An Swan, das 2010 beim Red Dot Design Award , einem der drei größten internationalen Design-Wettbewerbe, mit einem Preis ausgezeichnet wurde, arbeitete er vier Jahre lang, um das Design zu finden, das selbst im Laufe der Zeit weder mangelhaft noch übertrieben sein würde. Er sagt: „Ein aus der Goryeo-Zeit (918-1392) stammendes Seladon-Stück mit schönem Farbton wirkt im Ausland anders als in Korea, da die Intensität des Sonnenlichts und der Farbton der natürlichen Umgebung unterschiedlich sind. Das gilt auch für die Sterne am Himmel. In der Wüste haben sie einen rötlichen Farbton, aber auf See wirken sie blau. Jeder Gegenstand spiegelt seine jeweilige Umgebung wider.“ Er fügt hinzu, dass er den Bildern, zu denen ihn die Natur inspiriere, Ausdruck verleihen möchte, nicht aber bewusst dem, was man unter der „Schönheit koreanischen Stils“ verstehe. Für die Lautsprecher von MSD werden Lautsprechereinheiten von Accuton und Netzwerkschaltungen von Mundorf verwendet, zwei deutsche Firmen, die als Spitzenhersteller von Audio-Komponenten bekannt sind. Als Yu 2008 Mundorf besuchte, sagten ihm die Mitarbeiter: „Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Bauelemente in Ihren schönen Lautsprechern verwenden.“ Accuton, der weltweit führende Membranen-Hersteller, der seine Produkte in 34 Länder liefert, listet MSD trotz der vergleichsweise geringen Auftragsmenge unter die 14 wichtigsten Kunden. Yus Werke finden zwar weltweit Anerkennung, aber er sagt, dass er nicht designe, um seine Arbeiten vorzuzeigen oder Anerkennung zu suchen, sondern Werke kreieren möchte, die vor seinen eigenen Augen bestehen können. „Ich denke, dass der Designer selbst am besten weiß, wie seine Arbeit ist. Ich mache lediglich die Arbeit, die ich liebe, und zwar für mich selbst, nicht für andere.“

1. Der Fuß von Moon III.

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2. Rhea W , prämiert mit dem CES Innovations 1 Award 2009. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


K o r e a n a 覺 A u t u mn 2 011

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Fokus 1

Die Zukunft von Koreastudien weltweit

Die 2011 Korea Foundation Assembly fand vom 7. bis zum 9. Juli unter Teilnahme von rund 200 Wissenschaftlern aus dem Bereich der Koreastudien, darunter 86 aus dem Ausland, im Lotte Hotel in Seoul statt. Unter dem Thema Neue Ansätze für

Koreastudien: Korea im globalen Kontext verstehen suchte man nach Wegen zur Entwicklung von Koreastudien im Ausland. Die Diskussionen fokussierten auf folgende sechs Bereiche: koreanische Sprache, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Theorie und Politik, Didaktische Methodologie und Zentren für Koreastudien. Huh Jin-suk Reporter, Tageszeitung The Dong-a Ilbo

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ie Korea Foundation (KF) hat aus Anlass ihres 20-jährigen Gründungsjubiläums zum ersten Mal eine internationale Konferenz auf den Weg gebracht, auf der eine große Zahl von Wissenschaftlern, deren Professuren von der Korea Foundation unterstützt werden, und Leitern von Koreastudien-Zentren aus aller Welt zusammenkamen. So wie ein junger Erwachsener mit zwanzig Pläne für seine Zukunft schmiedet, so hat die Korea Foundation diese Konferenz organisiert, um sich gemeinsam Gedanken über die Förderung von Koreastudien in der internationalen Gemeinschaft zu machen. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden mit Unterstützung der Korea Foundation insgesamt 100 Lehrstühle an 69 Einrichtungen in 12 Ländern gegründet. Heute sind zudem rund 40 Zentren für Koreastudi-

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en in 13 Ländern in Betrieb. 2010 überstieg die Zahl der Teilnehmer, die sich für von der Korea Foundation unterstützte Korea-bezogene Kurse eingeschrieben hatten, die 9.000-Marke pro Jahr. Die Zahl der Studierenden pro Kurs lag bei über 20 und damit über dem Minimum für den Bestand einer regulären Hochschulveranstaltung.

Nordkorea-Studien einbeziehen Auf der Konferenz wurden eine ganze Reihe von Vorschlägen für die Weiterentwicklung der Koreastudien gemacht. Einige Teilnehmer plädierten dafür, Koreastudien als Teil der Forschung im Bereich der angewandten Sozialwissenschaften zu entwickeln und so die Grenzen der traditionellen akademischen Disziplinen wie Philosophie, Religion, Gedankengut und Geschichte zu erweitern. Andere beton-


ten die Notwendigkeit, Nordkorea-Studien in den Bereich der Koreastudien zu inkorporieren. Nach dem traditionellen Einteilungsprinzip gehören führende Experten auf dem Gebiet der Wirtschaftsentwicklung Koreas nicht zu den Koreastudien-Wissenschaftlern und sind damit vom Unterstützungsprogramm ausgenommen – so die Kritik von John Lie, Professor an der University of California, Berkeley. Er betonte, dass zur Gewährleistung des Fortbestandes der Koreastudien die Aufrechterhaltung eines leistungsfähigen akademisch-intellektuellen Systems unabdinglich sei. Er machte zudem darauf aufmerksam, dass Japan bei seinen Unterstützungen der Japanstudien den Fehler gemacht hätte, Japan-kritische Wissenschaftler nicht zu fördern, und riet Korea, einen solchen Fehler zu vermeiden. Ein Wissenschaftler aus dem Publikum betonte die Wichtigkeit, Koreastudien mit Blick auf die „Perspektive eines Konsumenten“ zu erweitern. Er merkte an, dass einer der Gründe, warum sich viele Ausländer für Koreastudien interessieren, der Bedarf an Korea-bezogenen Informationen für ihre Geschäftsaktivitäten sei, was bedeute, dass auch Betriebswirtschaft in den Bereich der Koreastudien einbezogen werden sollte. Forschungen über koreanische Kultur sollten entsprechend auf praktische Disziplinen wie „koreanische Kultur für Geschäftzwecke“ ausgedehnt werden. Cho Sung-taek, Professor für Philosophie an der Korea University, bemerkte in einem Interview mit der Dong-a Ilbo: „In Anbetracht der K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

wirtschaftlichen Entwicklung Koreas und des Einflusses der Hallyu-Welle besteht eine immer größer werdende Notwendigkeit, die Ünterstützung für Koreastudien über die traditionellen Bereiche der Humanwissenschaften wie Geschichte, Kultur und Kunst hinaus auf alle Bereiche wie z.B. Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft und Wirtschaft zu erweitern.“ Professor Cho, der derzeit ein von der Akademie für Koreastudien (Academy of Korean Studies) unterstütztes Forschungsprojekt über Wege zur Entwicklung der Koreastudien leitet, fügte hinzu: „Wir müssen jetzt auf die speziellen Besonderheiten der einzelnen Regionen wie Nordamerika oder Südostasien zugeschnittene Strategien entwickeln, da sich der Bedarf im Laufe der Jahre deutlich diversifiziert hat.“ Dennoch waren auf dieser Konferenz auch Stimmen zu hören, dass es nach wie vor notwendig sei, die Unterstützung für die traditionellen humanwissenschaftlichen Bereiche zu verstärken. Sie verwiesen darauf, dass auch Japanstudien und Chinastudien erst dann erweitert worden seien, nachdem die traditionellen Zweige in ausreichendem Maße gefördert worden waren.

Hallyu als ernsthafter Forschungsgegenstand Hallyu, i.e. die Verbreitung der koreanischen Populärkultur im Ausland, ein Phänomen, das auch als „Koreawelle“ bekannt ist, war ebenfalls ein heißer Diskussionspunkt. Während einer gemeinsamen Pressekonferenz am 7. Juli berichteten ausländische Konferenzteil-

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„In der Vergangenheit interessierte man sich im Ausland hauptsächlich für die besondere Sicherheitslage und das schnelle wirtschaftliche Wachstum in Korea. Aber in letzter Zeit profiliert sich Hallyu, die Welle der koreanischen Popkultur im Ausland, als ein Faktor, der eine neue Betrachtungsweise bewirkt hat. Daher ist es notwendig, die Hallyu-Forschung zu unterstützen.“

nehmer Wissenswertes und Interessantes über Hallyu in ihren jeweiligen Herkunftsländern und riefen zu einer Unterstützung für die wissenschaftliche Untersuchung des Hallyu-Phänomens auf. Professor Antonio Fiori von der Universität Bologna in Italien sagte, dass viele italienische Studenten, die ohne K-Pop nie etwas von Korea gehört hätten, jetzt Sprachkurse für Koreanisch besuchen. Professor Niu Linjie von der Universität Shandong, die die größte Abteilung für Koreastudien in China unterhält, bemerkte: „Früher schrieben sich viele Studenten für Koreastudien ein, weil sie darauf hofften, nach dem Abschluss eine Anstellung bei einer koreanischen Firma zu finden. Aber heutzutage sagen über die Hälfte der rund 150 Studien­ anfänger, dass sie sich für Koreastudien entschieden hätten, weil sie koreanische Musik und TV-Serien mögen.“ Und Professor Vyjayanti Raghvan von der Universität Jawaharlal Nehru in Indien verwies darauf, dass die indische Gesellschaft nicht nur von der koreanischen Popkultur stark beeinflusst worden sei, sondern dank Hyundai Motors auch von der koreanischen Arbeits- und Geschäftskultur. Bei einer Meinungsumfrage, die die Dong-a Ilbo unter 20 ausländischen Konferenzteilnehmern aus dem Bereich der Koreastudien durchführte, antworteten 80 Prozent der Befragten, dass ihrer Meinung nach der jüngste, von K-Pop geführte Hallyu-Boom einen positiven Effekt auf die Bemühungen zur Bekanntmachung Koreas in der Welt haben würde. Professor Victor Cha, ein koreanisch-amerikanischer Experte für Fragen der koreanischen Halbinsel an der Georgetown University, und Professor David Kang von der University of Southern California, betonten beide die Notwendigkeit, Hallyu als ernsten Forschungsgegenstand zu betrachten. Professor Cha sagte: „In der Vergangenheit interessierte man sich im Ausland hauptsächlich für die besondere Sicherheitslage und das schnelle wirtschaftliche Wachstum in Korea. Aber in letzter Zeit profiliert sich Hallyu als ein Faktor, der eine neue Betrachtungsweise bewirkt hat. Daher sollten entweder die koreanische Regierung oder die Korea Foundation die HallyuForschung unterstützen.“ Professor Kang betonte, dass die Koreawelle Hallyu, die sich unabhängig von den verschiedenen kulturellen Mechanismen in den einzelnen Regionen der Welt verbreite, zweifelsohne ein Gegenstand für wissenschaftliche Forschungen sei.

Vorschläge für künftiges Vorgehen

che, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Zentren für Koreastudien, Theorien und Politik sowie Didaktische Methodologie. Am 9. Juli, dem letzten Konferenztag, formulierten die Teilnehmer auf Basis der Ergebnisse ihrer Diskussionen eine Reihe von Vorschlägen für Maßnahmen zur künftigen Förderung von Koreastudien im Ausland, die sie der Korea Foundation vorlegten. In diesem Vorschlägekatalog betonten sie mit Bezug auf den Sprachunterricht, dass noch mehr Lehrmaterial für Koreanischlernende mit Korea-Hintergrund entwickelt werden müsse und noch mehr Lehrkräfte, die Koreanisch als Fremdsprache unterrichten können, gebraucht würden. Im Bereich der Humanwissenschaften verwiesen sie darauf, das Forschungen über das moderne Korea unverhältnismäßig stark unterstützt würden und forderten eine stärkere Berücksichtigung von Forschungen über das prämoderne Korea. Weiterhin wurde empfohlen, die Unterstützungsprogramme für Koreastudien im Bereich Sozialwissenschaften auszubauen, da sich bei den Koreastudien in Nordamerika und Europa der Schwerpunkt in jüngster Zeit von den Humanwissenschaften auf die zeitgenössische koreanische Gesellschaft und Politik verlagert hat. In Bezug auf Governance und Netzwerkaufbau wurde die Wichtigkeit der Schaffung einer koreanischsprachigen Online-Datenbank betont, die die Zusammenarbeit von Vertretern aus den Bereichen Koreanisch als Fremdsprache und Koreastudien befördern helfen könnte; zudem sollten der internationale Austausch im Bereich Korea­ studien und die Veranstaltung von internationalen Seminaren verstärkt unterstützt werden. Außerdem wurde vorgeschlagen, dass zur Entwicklung der Korea­ studien über Nordamerika hinaus auch in anderen Regionen der Welt Zentren für Koreastudien eingerichtet werden sollten und dass die Forschung über die koreanische Diaspora erweitert werden sollte. Die Teilnehmer wünschten sich weiterhin mehr Unterstützung für Forschungszentren für Koreastudien. In diesem Zusammenhang wurde der Aufbau einer Vielzweck-Datenbank vorgeschlagen, die Zugang bietet zu Video- und Audiomaterial, Lehr- und Unterrichtsplänen, Abhandlungen, Aufzeichnungen usw., die für Unterricht und Forschung mit Korea-Bezug notwendig sind. Abschließend wurde die Wichtigkeit der Errichtung eines interdisziplinären Netzwerks, das Vertreter von Koreastudien und anderen Wissenschaftsdisziplinen umfasst, betont.

Die Konferenz war in sechs Sektionen unterteilt: koreanische Spra-

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Koreastudien-Wissenschaftler aus aller Welt lernen einander kennen Clark W. Sorensen Professor für Internationale Studien, University of Washington, USA

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ie erste Korea Foundation Assembly war eine bedeutsame Zusammenkunft für fast 100 Wissenschaftsvertreter aus Nordund Südamerika, Europa, Australien, Nordost- und Südostasien und, natürlich, Korea. Die Konferenz hat mir die Chance geboten, das „junge Blut“ im Bereich der Koreastudien kennen zu lernen, was für mich ein besonderes Vergnügen war. Als einer der älteren Vertreter des Faches, der noch bei James B. Palais, einem der Gründerväter der Koreastudien in den USA, studiert hat, habe ich in meinem Vortrag an die traurige, aber leider nur allzu wahre Tatsache erinnert, dass Koreastudien als Wissenschaftsdisziplin in meinem Land hauptsächlich als Folge der Machtexpansion der USA in den asiatisch-pazifischen Raum in Erscheinung getreten sind. Im Vergleich zu China und Japan, die die amerikanische Vorstellungswelt bereits seit über einem Jahrhundert in ihren Bann geschlagen haben, war es für Korea bis vor kurzem noch sehr schwer, überhaupt das Interesse der Amerikaner für sich zu wecken. Glücklicherweise konnten durch die – in nicht geringem Maße durch die Korea Foundation unterstützte – Einrichtung von Koreastudien in den Vereinigten Staaten Studieninhalte entwickelt werden, die langsam aber sicher auf das Interesse der allgemeinen Öffentlichkeit stoßen. Es ist erfreulich, zu sehen, dass das wirtschaftliche Wachstum Koreas und die jüngste Popularität von koreanischen TV-Serien und anderen Kulturprodukten die jüngere Generation begeistern. Die Dinge werden langsam besser, aber was ich in meinem Vortrag betonte, ist der unvermeidliche Zusammenhang von Koreastudien und amerikanischer Politik. Koreastudien bildeten sich als Disziplin heraus, weil die amerikanische Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg koreanischsprachige Verwaltungsbeamte und Sicherheitsdienst-Analysten brauchte, von denen einige dann von Korea als Land fasziniert wurden und Koreastudien in den USA begründeten. Ich habe v.a. die Fähigkeit von Wissenschaftlern beleuchtet, über ihre Arbeit zu reflektieren und danach zu streben, die Grenzen der jeweils vorausgegangenen Generation und der institutionellen Strukturen, in denen sie arbeiteten, zu überwinden. Ich möchte aber auch kritische politische Wendepunkte in den USA, die die Regionalstudien beeinflusst haben, nicht unerwähnt lassen; zu nennen sind v.a. die Angst vor der Roten Gefahr in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren und die kritische Haltung in den Wissenschaftskreisen, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren aufkam, was zum Teil auch eine Antwort auf den Vietnamkrieg war.

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Auf meinen Vortrag gab es erwartete, aber auch unerwartete Reaktionen. Zu den erwarteten gehörte, dass einige Teilnehmer aus dem Publikum, die die akademischen Wenden, die ich zu beschreiben versucht hatte, aus persönlicher Erfahrung kannten, einige meiner Interpretationen korrigierten. Zu den unerwarteten Reaktionen gehörte, dass einige jüngere amerikanische Wissenschaftler, die mit der Geschichte des Bereiches nicht vertraut waren, sich bei mir für meine Darstellung des historischen Hintergrundes bedankten. Eine noch überraschendere Reaktion kam aber von den europäischen Wissenschaftlern – und zwar nicht nur auf meinen Vortrag, sondern auf eine ganze Reihe von Vorträgen von amerikanischen Wissenschaftlern über den Charakter von Regionalstudien und den Standort von Koreastudien im Rahmen der Regionalstudien. Die amerikanischen Wissenschaftler konzentrierten sich auf die Frage, welchen Einfluss die amerikanische Kulturpolitik auf die Korea­ studien gehabt haben könnten. In diesem Kontext erinnerten die europäischen Kollegen daran, dass die Koreawissenschaften in den USA von den politischen Gegebenheiten, in denen sie aufgekommen sind, und den politischen Kontroversen, die in regelmäßigen Abständen durch die akademische Welt schwappten, geprägt wurden, dass diese Spezifik aber nur für die USA Gültigkeit besäße. Olchi! (Erfasst!) , würde man da auf Koreanisch sagen. Wir in den Vereinigten Staaten tendieren dazu, wie es so schön heißt, nicht über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und anzunehmen, dass das, was sich in unseren akademischen Auseinandersetzungen abspielt, absoluten und universalen Charakter hat. Unsere korean­ischen Kollegen schlagen oft in dieselbe Kerbe, da der amerikanische Bildungseinfluss in Korea groß ist und zudem eine enge koreanischamerikanische Allianz besteht, die sich auf ähnliche Art und Weise in der Politik der Wissenschaftswelt der beiden Länder bemerkbar macht. Unseren Kolleginnen und Kollegen aus Europa sind die politischen Traumata der jüngeren amerikanischen Geschichte fremd, weshalb sie in Bezug auf den Charakter von Regionalstudien weniger verabsolutierende Standpunkte vertreten, als das amerikanische Beispiel zeigt. So war Vergnügen und wesentlicher Inhalt der KF Assembly für mich: Wir kennen einander und bewundern gegenseitig unsere Arbeit. Und doch: Bis wir alle auf einer Konferenz zusammenkamen und unsere Gedanken über Koreastudien zu Papier bringen mussten, war uns nicht bewusst, dass wir über solch wichtige Themen nicht einer Meinung sind.

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Interview mit einem Teilnehmer der KF Assembly

Korea: Ein bedeutungsvolles asiatisches Fallstudienobjekt für internationale Beziehungen Antonio Fiori Inhaber des Stiftungslehrstuhls der Korea Foundation und Professor für Politikwissenschaft, Universität Bologna, Italien

Q. Was war der bedeutendste Aspekt der KF Assembly?

A. Allen voran war es eine Zusammenkunft von Koreastudien-Experten aus aller Welt, bei der über die Zukunft des Faches gesprochen und versucht wurde, Wege zur weiteren Verbesserung dieser Wissenschaftsdisziplin zu finden. Für meine Begriffe ist eine solche Gelegenheit der beste Weg zur Verbesserung der Zukunftsaussichten für Koreastudien. Q. Wie wurde Ihr Interesse für Koreastudien geweckt? Gab es eine besondere Motivation? Auf welche Schwierigkeiten sind Sie als Experte für Koreastudien gestoßen und was sind die lohnenswertesten Aspekte? A. Mein Interesse für das Koreanische wurde geweckt, als ich entdeckte, dass das koreanische Alphabet keine Ideogramme kennt. Nach und nach haben mich dann Kultur, Gesellschaft, Geschichte und politische Entwicklung Koreas fasziniert. Ich habe es nie bedauert, mich bei meinen Forschungen auf Korea konzentriert zu haben, da ich der Meinung bin, dass Korea für einen Politikwissenschafter eine wertvolle Quelle der Inspiration ist. Es gibt einige Sozialwissenschaftler, die glauben, dass eine auf Korea beschränkte Forschung zu begrenzt sei, aber ich bin überzeugt, dass Korea einen höchst interessanten Mikrokosmos darstellt und ein äußerst relevantes Fallstudienobjekt für all diejenigen ist, die sich für internationale Besziehungen in Asien interessieren. Q. Wie würden Sie die derzeitige Situation von Asienstudien in Italien beschreiben? A. Derzeit ist die Situation der Asienstudien in Italien zufriedenstellend. Drei wichtige Universitäten (L’Orientale in Napoli, La Sapienza in Rome, Ca’ Foscari in Venice) bieten Koreastudien mit Fokus auf Sprache und Literatur an. An der Universität Bologna wurde der von der Korea Foundation gesponserte Lehrstuhl jedoch an der Fakultät für Politikwissenschaften, an der ich koreanische Politik und internationale Beziehungen lehre, eingerichtet. Ich unterrichte sowohl B.A.Kurse (Schwerpunkt: politische und soziale Entwicklung Koreas seit 1910) als auch M.A.-Kurse (Schwerpunkt: Südkoreas internationale Beziehungen und innerkoreanische Beziehungen). Seit der Einrichtung des Lehrstuhls im Jahre 2008 ist die Zahl der an koreanischer Politik interessierten Studenten schnell gewachsen und diese Popularität wird durch eine ständig steigende Zahl von Bachelor- und Master-Arbeiten belegt. In Zukunft wollen wir den Studiengang ausbauen, indem wir einen Lehrstuhl für koreanische Sprache einrichten. Q. Beschreiben Sie bitte die Situation der Koreastudien in Europa.

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Was erwarten Sie in Bezug auf die Entwicklung dieses Faches in der Region und in Bezug auf seine künftige Richtung?

A. Koreastudien haben in Europa eine sehr lange Tradition und sind entsprechend etabliert. Meiner persönlichen Meinung nach wird sich das Fach in Europa in Zukunft positiv entwickeln, jedenfalls lässt die steigende Anzahl von Studenten, die an Korea und Koreastudien interessiert sind, darauf schließen. Für die nahe Zukunft ist es wichtig, dass es zu einer größeren Integration unter den europäischen Universitäten kommt. In diesem Kontext müssen Digitalisierung und Netzwerkaufbau entwickelt werden. Dann wird es für die europäischen Universitäten möglich werden, eine Art Konsortium einzurichten, das sehr nützlich dabei sein könnte, Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen der Koreastudien an Universitäten zu bringen, wo diese Bereiche nicht vorhanden sind. Darüber hinaus sollten noch mehr europäische Universitäten Promotionsmöglichkeiten in Koreastudien anbieten, um die Zahl qualifizierter Nachwuchswissenschaftler zu erhöhen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Q. Welche Mankos bestehen im Bereich der Koreastudien in Europa? Welche Verbesserungen wären wünschenswert? A. In den letzten Jahren sind die Koreastudien in Europa an allen Universitäten, an denen sie angeboten werden, in eine Phase der Konsolidierung eingetreten. Im Gesamtkontext der Asienstudien müssen die Koreastudien sich sehr bemühen, um mit den bei den Studenten seit jeher beliebteren Chinastudien und Japanstudien mitzuziehen, indem sie z.B. Mittel zur Verfügung stellen, die eine leichtere Unterstützung für die Studenten ermöglicht. Es sollen auch mehr Lehrstühle mit Korea-Fokus eingerichtet werden. Auch wäre es wichtig, mehr öffentliche Initiativen auf den Weg zu bringen, die Korea der allgemeinen Öffentlichkeit näher bringen. Die Rolle der Korea Foundation ist in Bezug auf die Verbreitung der Koreastudien in Europa von ausschlaggebender Bedeutung, da einige Länder, darunter auch Italien, derzeit grundlegende Bildungsreformen zur Umstrukturierung des Hochschulsystems durchführen. Q. Was würden Sie angesichts der wachsenden Popularität von K-Pop in Europa der koreanischen Regierung und den Wissenschaftskreisen raten, um unter der jungen Generation in Europa ein nachhaltigeres Interesse an Korea zu befördern? A. Ich bin kein Hallyu-Spezialist, aber einige meiner Studenten durch haben koreanische Filme, TV-Serien, K-Pop, Comics und Ähnliches zu Koreastudien gefunden Daher begrüße ich das. Anwachsen und die zunehmende Beliebtheit der Hallyu-Welle. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Interview mit einem Teilnehmer der KF Assembly

Hallyu : Entscheidend für die Erweiterung der allgemeinen Wahrnehmung Koreas unter den Ausländern Carolina Mera Professorin für Koreastudien, University of Buenos Aires, Argentinien

Q. Was hat Sie dazu gebracht, sich mit Koreastudien zu befassen und worin liegt Ihr Hauptinteresse?

Wie aktiv ist der Austausch unter den Koreastudien-Experten in der Region?

A. Mein Interesse wurde in erster Linie durch die koreanischen Einwanderer in Argentinien geweckt. Das ist auch seit 1991 mein Schwerpunkt geblieben. Daneben interessiere ich mich aber auch sehr für historische und kulturelle Aspekte der modernen und zeitgenössischen koreanischen Gesellschaft wie Familie, Religion und politischer Wandel. Q. Soweit uns bekannt ist, ist die Universität Buenos Aires die einzige Bildungseinrichtung in Lateinamerika, die ein Zentrum für Koreastudien unterhält. Wie kam es zur Einrichtung und was sind die Pläne für die Zukunft? A. Das Programm für Koreastudien wurde 1995 vom Gino Germani Institut der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Buenos Aires eingerichtet. Seitdem fungiert es als Drehscheibe für Studien über die koreanischen Immigranten in Argentinien. Als Resultat hat der Universitätsverlag 1997 ein Buch mit dem Titel Migration der Koreaner in Buenos Aires veröffentlicht. Seit 1999 hat das Institut eine zentrale Rolle bei den Forschungen zur Identität von koreanischen Einwanderern der zweiten Generation gespielt. 2000 hat es eine Reihe von Veranstaltungen wie Konferenzen, Seminare und Kulturevents organisiert, bei denen es um einen Rückblick auf die 35-jährige Geschichte der koreanischen Gemeinde in Argentinien ging. Highlight war die Ausstellung 35 Jahre koreanische Gemeinde in Argentinien. In einer Sitzung des gemeinsamen Komitees zur Kooperation in Wissenschaft und Technologie zwischen Argentinien und China, die am 30. Mai 2001 in Peking stattfand, hat Professor Pedro Krotsch, der damalige Direktor des Instituts, die Gründung der Studiengruppe Ostasien (East Asian Studies Group; GEEA) vorgeschlagen, um Forschungen im Bereich der ostasiatischen Regionalstudien zu befördern. Die GEEA, die ich im Rahmen meiner Aktivitäten in der Kulturabteilung des Instituts organisiert hatte, entwickelte sich später zu einer interdisziplinären Forschungsgruppe aus B.A.- und M.A.-Studenten unserer Universität. Die Gruppe führte Ostasien-bezogene Forschungsprojekte aus und organisierte im Zuge der Vorbereitung von Forschungsvorhaben verschiedene Konferenzen und Seminare. Vor diesem Hintergrund wurde das Centro de Estudios Corea-Argentina (CECA), ein Forschungszentrum für Koreastudien an der Universität von Buenos Aires, ins Leben gerufen. Q. Wie ist der derzeitige Status von Koreastudien in Lateinamerika?

A. Die Koreastudien befinden sich immer noch in den Kinderschuhen in Lateinamerika. Trotz der intensivierten Zusammenarbeit unter den Wissenschaftlern wird es lange dauern, bis Zentren für Koreastudien mittel- bis langfristig gesehen Fuß fassen können, denn es braucht Zeit, eine neue Generation von Wissenschaftlern heranzuziehen. Für ein langfristiges und nachhaltiges Wachstum ist es allen voran vonnöten, Korea-bezogene Studien in den Bereichen Sozialwissenschaften, Literatur, Kunst, Wirtschaft, Linguistik und Politikwissenschaft zu fördern. Q. Wie stark ist die Koreawelle Hallyu in Argentinien präsent? Welche Anstrengungen sollten die koreanische Regierung oder Koreastudien-Experten in Übersee unternehmen, um die wachsende Popularität der koreanischen Popkultur in ein tieferes Interesse für alle Aspekte Koreas entwickeln zu können? A. Das Korea-Verständnis der Ausländer wird zu einem großen Teil von ihrer Wahrnehmung der koreanischen Popkultur und ihrem Interesse daran geprägt. Die Herausforderung besteht darin, dieses eingeschränkte Interesse an K-Pop und Seifenopern in ein tieferes Interesse an Koreas Kultur und Geschichte zu verwandeln. Ich denke, Hallyu spielt eine große Rolle dabei, die Gesamtwahrnehmung, die Ausländer von Korea haben, auszuweiten. Aber die Gesamtatmosphäre ist noch nicht ausgereift genug, um hier eine Verbindung zum ernsthaften Feld der Koreastudien und der Universitäten in Lateinamerika herzustellen. Q. Welche Aspekte der koreanischen Kultur sprechen Ihrer Meinung nach die Argentinier am meisten an? A. Wenn wir über koreanische Popkultur sprechen, darf Taekwondo nicht unerwähnt bleiben, und K-Pop hat in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit der Argentinier geweckt. Unter anderem sind auch Filme berühmter koreanischer Regisseure beliebt. Q. Was sollte für eine mittel- und langfristige Entwicklung der Koreastudien in Lateinamerika getan werden? A. Die Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Hochschulen und Forschungsinstituten sollten gestärkt werden, aber auch die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Korea insgesamt. Die Veröffentlichung von spanischen Übersetzungen koreanischer Bücher muss gefördert werden und es sollten mehr spanischsprachige Seminare und Konferenzen über die koreanische Geschichte, Kultur, Gesellschaft und Politik veranstaltet werden.

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FoKus 2

Hofprotokolle Oegyujanggak uigwe : Heimkehr nach 145 Jahren Mit der Ankunft der letzten Lieferung am 27. März 2011 sind jetzt alle 297 Bände aus dem Hofarchiv Oegyujanggak, die bisher in der französischen Nationalbiliothek in Paris aufbewahrt worden waren, nach Korea heimgekehrt. Die Rückgabe dieser Hofprotokolle, die von immensem kulturellen und wissenschaftlichem Wert sind, wurde mit einer Reihe von Veranstaltungen gefeiert. Lee Kyong-hee Journalistin, Tageszeitung The Joongang Ilbo | Fotos: Suh Heun-gang

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as Oegyujanggak (wörtlich: Außen-Hofarchiv) ist eine Außenstelle des Gyujanggak (Hofarchiv), die 1 1782, im sechsten Regierungsjahr von König Jeongjo (reg. 1776-1800), auf der Insel Ganghwa-do eingerichtet wurde. Dort wurden etwa 5.000 Schriften von ca. 1.000 Arten archiviert, darunter auch die Hofprotokolle mit detaillierten Aufzeichnungen über wichtige Ereignisse und Zeremonien des Reiches. Aber 1866, im dritten Regierungsjahr von König Gojong (reg. 1863-1907), fielen französische Marinesoldaten auf der Insel ein und raubten an die 340 Bücher aus dem Hofarchiv, darunter auch 297 Bände der Hofprotokolle Uigwe . Den restlichen Archivbestand setzten sie in Brand. Die Existenz der Hofprotokolle wurde überhaupt erst bekannt, als die koreanische Bibliografin Dr. Park Byeng-sen, die als Bibliothekarin in der französischen Nationalbibliothek arbeitete, 1975 eine Bestandsliste erstellte und veröffentlichte. Dr. Park war es auch, die die Anthologie der ZenLehren großer buddhistischer Mönche (Jikji simche yojeol oder Jikji simgyeong) in der französischen Nationalbibliothek entdeckte. Das 1377 im Goryeo-Reich veröffentlichte Jikji ist das älteste erhaltene Buch der Welt, das mit beweglichen Lettern aus Metall gedruckt wurde.

1. Titeleinband von: Königliches Protokoll über die Verleihung eines Ehrentitels an Königin Jangnyeol (Jangnyeol wanghu jonsung dogam uigwe , 1686). Das Protokoll hält das Procedere fest, nach dem Königin Jangnyeol (1624-1688), die zweite Gemahlin von König Injo, mit einem Ehrentitel ausgezeichnet wurde. Diese Ausgabe, die für den König bestimmt war, hat einen Einband aus grüner Seide mit Wolkenmuster. Der Titel steht auf einem separaten Seidenstreifen, der auf den Einband genäht wurde. 2. Eine Sänfte mit Repliken eines königlichen Protokolls wird von einem stattlichen Gefolge von 500 Personen begleitet, darunter einer Eskorte von Hofbeamten, einer traditionellen Band, Tänzern und Kavalleriesoldaten. 3. Die Prozession zieht in den Hof der Hauptthronhalle des Palastes Gyeongbok-gung ein.

Rückgabeprozess 1991 startete die Seoul National University, die für Pflege und Verwaltung der Dokumente aus dem Hofarchiv Gyujanggak zuständig ist, eine Bewegung zur Rückgabe der JoseonBücher. 1992 forderte die koreanische Regierung die französische Regierung in einem offiziellen Schreiben zur Rückgabe der Dokumente auf. Auf dem koreanisch-französischen Gipfeltreffen von 1993, auf dem Frankreich für den Export seiner TGV-Hochgeschwindigkeitszug-Technologie nach Korea warb, gab der damalige französische Präsident François Mitterrand einen Band der 1866 geraubten Hofprotokolle aus dem Oegyujanggak zurück: Hwigyeongwon wonso dogam uigwe (Königliches Protokoll über die Verlegung der Grabstätte Hwigyeongwon). Dabei wurde die vollständige Rückgabe versprochen. Dieses Versprechen wurde jedoch aufgrund des Widerstandes in Frankreich, der sich u.a. im Protest der Bibliothekare der französischen Nationalbibliothek äußerte, nicht eingehalten. Auch gerieten die diesbezüglichen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen ins Stocken und muss-

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Ko re a n Cu l tu re & A rts

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In der Joseon-Zeit (1392-1910) wurde das Hofprotokoll für jedes Ereignis immer in mehrfacher Ausfertigung erstellt. Das Original erhielt der König, die Abschriften wurden in den verschiedenen Behörden, die für das Hofzeremoniell zuständig waren, und in historischen Archiven aufbewahrt. Die Dokumente, die jetzt rückgeführt wurden, sind zum großen Teil besonders wertvolle, für den König angefertigte Exemplare. Auch befinden sich in der Gesamtlieferung 30 Bände, von denen keine weiteren Abschriften in Korea existieren.

1. Eine Illustration aus: Das königliche Protokoll zur Hochzeit von König Yeongjo und Königin Jeongsun (Yeongjo jeongsun wanghu garye dogam uigwe , 1759). Die Zeichnung stellt die Prozession von König Yeongjo dar, der nach dem Tode seiner ersten Gemahlin bei seiner zweiten Hochzeit höchstpersönlich die Braut empfangen ging. In anderen Protokollen von Königshochzeiten wird die Braut normalerweise von Abgesandten und nicht vom König in Empfang genommen. Diese Illustration ist das erste Beispiel, dass die Sänfte des Königs in der Empfangsdelegation für die Braut zeigt. 2. Aufzeichnungen über den Bau des Schreins von Kronprinz Munhui (Munhuimyo yeonggeoncheong deungnok , 1789): Eine Kopie der offiziellen Aufzeichnung über das königliche Bauvorhaben, die in einer der relevanten Regierungsbehörden aufbewahrt wurde. 3. Königliches Protokoll über die Beisetzung von Prinz Uiso (Uiso seson yejang dogam uigwe , 1752): Aufzeichnung über die Beisetzung des ältesten Sohnes von Kronprinz Sado. Das Protokoll enthält minutiöse Einzelheiten über die Bestattung; sogar die Größe jedes einzelnen Gewandes, das bei den Ritualien verwendet wurde, ist erfasst.

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ten mehrmals unterbrochen und wieder aufgenommen werden. Der Durchbruch kam dann 2010 auf dem G20-Gipfel in Seoul, als sich die Oberhäupter beider Länder auf eine langfristige Leihgabe, die alle fünf Jahre erneuert werden soll, verständigen konnten. Die koreanische Regierung hielt kritischen Stimmen, die mit der Leihgabe-Vereinbarung unzufrieden waren, entgegen, dass dieser Kompromiss eine „reelle Rückgabe“ sei, eine „vollständige Rückgabe“ sei erst nach der Novellierung der relevanten französischen Gesetze möglich. Danach unterzeichneten die französische Nationalbibliothek und die koreanische Nationalbibliothek eine Vereinbarung auf Arbeitsebene über das Procedere der Rückgabe. Die Hofprotokolle wurden schließlich vom 14. April bis 27. Mai 2011 in vier Lieferungen nach Korea zurückgebracht.

der Dokumentation von Geschichte dar, da die Texte durch Illustrationen veranschaulicht werden. Die Protokolle folgen meist dem Leben der königlichen Familie. Sie beginnen etwa mit der Geburt eines Prinzen und halten fest, wie ein Platz zur Aufbewahrung der Plazenta bestimmt wurde, die Plazentakammer gebaut und die Plazenta dort protokollgemäß aufbewahrt wurde. Das Gleiche gilt für die Proklamation des Kronprinzen und der des „Kronenkels“, des Thronanwärters der zweiten Generation. Gab es eine Hochzeit am Königshof, wurde ein Garyedogam uigwe angefertigt, ein Protokoll, das nicht nur die Hochzeitszeremonie bis ins Kleinste beschrieb, sondern auch alle Vorbereitungen wie die Wahl der Braut, die Mitgift-Liste und die Prozession des Bräutigams zur Begrüßung der Braut. Beim Tode eines Königs oder einer Königin wurde ein Gukjangdogam uigwe angefertigt, beim Tode des Kronprinzen oder seiner Gemahlin ein Yejangdogam uigwe. Auch für die Anlage der königlichen Grabanlagen gab es ein spezielles Protokoll, ebenso für die Einschreinung der königlichen Ahnentafeln, die nach Ablauf der dreijährigen Trauerzeit in den königlichen Ahnenschrein Jongmyo gebracht wurden. Mit gleicher Akribie dokumentiert wurden die Renovierungsarbeiten an Palästen oder Festungsmauern, verschiedene königliche Bankette, der Kompilierungsablauf der Annalen der Herrschaft eines jeden Joseon-Regenten, die Anfertigung königlicher Porträts und vieles mehr. Die Hofprotokolle von Joseon sind für ihre rigorose Genauigkeit bekannt. Für jede Veranstaltung wurden die dafür mobilisierten Personen mit Namen und Profil aufgelistet, alle verwendeten Objekte in Größe und Material beschrieben und die Ausgaben bis auf den letzten roten Heller dokumentiert. Zum Beispiel wurden im Königlichen Protokoll über den Bau der Festung Hwaseong (Hwaseong seongyeok uigwe) alle 1.800 an den Arbeiten beteiligen Baumeister und Handwerker gelistet, wobei sich unter jedem Namen Angaben zu den Lohnzahlungen finden, die gegebenfalls bis auf Halbtageslöhne genau berechnet sind. In der Joseon-Zeit wurde durch die Darlegung

Uigwe der Joseon-Zeit Der größte Teil der zurückgegebenen Bücher aus dem Königlichen Archiv Oegyujanggak sind Uigwe, Protokolle, die über 500 Jahre hinweg wichtige Ereignisse des Reiches oder am Königshof handschriftlich und mit Zeichnungen genauestens dokumentieren. Das koreanische Wort „Uigwe“ ist eine Zusammensetzung der Zeichen „Ui“ für „Zeremonie“ und „Gwe“ für „vorbildhafte Maßstäbe“. „Uigwe“ kann daher definiert werden als „vorbildhafte Maßstäbe für Zeremonien“. Es ist eine Art Weißbuch, das jedes Detail von staatlichen und königlichen Zeremonien festhält und so als wertvolles Referenzwerk nachkommenden Generationen hilft, Protokollfehler zu vermeiden. Die Hofdokumente des Joseon-Reiches wurden 2007 ins UNESCOWeltdokumentenerbe aufgenommen. Zusammen mit den Joseonwangjo-silok (Annalen des Joseon-Reiches), die ebenfalls als Weltdokumentenerbe gelistet sind, gelten die Hofprotokolle von Joseon als Krönung der Aufzeichnungskultur des Landes. In den Joseon wangjo-silok sind die wichtigen Ereignisse der Joseon-Zeit in chronologischer Reihenfolge in reiner Textform aufgezeichnet. Im Vergleich zu diesen Annalen stellen die Uigwe eine lebendigere Form K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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1. Eine Illustration aus: Königliches Protokoll über die Beisetzung von Königin Jangnyeol (Jangnyeol wanghu gukjang dogam uigwe, 1688). Das Protokoll dokumentiert den Trauerzug bei der Beisetzung von Königin Jangnyeol, der zweiten Gemahlin von König Injo. Schutzschirme auf beiden Seiten der königlichen Totenbahre sorgen für Blickschutz. Die Trauernden, die hinter der Totenbahre marschieren, werden mit weißen Vorhängen vor Blicken geschützt. Bei der Beisetzung von Königen wurden keine Schutzschirme oder Vorhänge verwendet. 2. Feierliche Begrüßungsvorstellung vor der Hauptthronhalle des Palastes Gyeongbok-gung.

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in den Hofprotokollen Transparenz in die Staatsführung gebracht und der Verschwendung des Staatshaushaltes einen Riegel vorgeschoben. Die Illustrationen der Hofprotokolle stammen von den besten Malern des Dohwaseo, des Königlichen Büros für Malerei. Entsprechend hoch ist ihr Niveau. Die Darstellungen sind so präzise, dass man heutzutage mit Hilfe der Protokolle die Feierlichkeiten der JoseonZeit so gut wie originalgetreu rekonstruieren und nachstellen kann. In diesem Kontext ist z.B. die im Koreakrieg stark zerstörte Festung Hwaseong zu nennen, die 1975 auf Grundlage der 200 Jahre alten Hofprotokolle restauriert wurde. Man kann sagen, dass es auch den Protokollen zu verdanken ist, dass die renovierte Festung zum Welterbe der UNESCO bestimmt wurde.

Wissenschaftliche Bedeutung In der Joseon-Zeit (1392-1910) wurde das Hofprotokoll für jedes Ereignis immer in mehrfacher Ausfertigung erstellt. Das Original erhielt der König, die Abschriften wurden in den verschiedenen Behörden, die für das Hofzeremoniell zuständig waren, und in historischen Archiven aufbewahrt. Die Dokumente, die jetzt rückgeführt wurden, sind zum großen Teil besonders wertvolle, für den König angefertigte Exemplare. Auch befinden sich in der Gesamtlieferung 30 Bände, von denen keine weiteren Abschriften in Korea existieren. Für das Exemplar, das an den König ging, wurden nur Papier und Farben allerhöchster Qualität verwendet, der Einband bestand aus Seide mit Bronzeverschlüssen. Im Gegensatz dazu sind die Kopien, die für die einzelnen Behörden und Archive bestimmt waren, auf grobem Maulbeerbaumpapier geschrieben, der Einband ist aus Hanf und die Verschlüsse sind aus Eisen. Die zurückgegebenen Dokumente aus dem Oegyujanggak sind verglichen mit den etwa 3.800 Protokollbänden, die im Kyujanggak Institute for Korean Studies an

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der Seoul National University und der Academy of Korean Studies aufbewahrt werden, von vollendeter Qualität. Etwa die Hälfte der 297 heimgekehrten Protokolle sind Aufzeichnungen über königliche Beisetzungen, der Rest beschreibt königliche Hochzeiten, verschiedene Feierlichkeiten, Proklamation des Kronprinzen sowie die Restaurierung von Palästen und Festungsmauern. Shin Byeong-ju, Professor für Geschichtswissenschaft an der Konkuk University, hat an fünf Inspektionen der Oegyujanggak-Dokumente in Frankreich teilgenommen. Er erklärte, dass die BanchadoIllustrationen (Illustrationen zu den Feierlichkeiten der königlichen Familie) einfach perfekt seien: Die Darstellung der zahlreichen, an einer Zeremonie beteiligten Personen, die ihrem Rang nach positioniert sind, sei so detailliert, dass sogar die einzelnen Barthaare deutlich zu erkennen seien. Abgesehen von den 30 Bänden, von denen jeweils nur noch ein Exemplar erhalten ist, gibt es von den übrigen Bänden auch Kopien in Korea. Da jedoch alle Kopien per Hand geschrieben und illustriert wurden, lassen sich feine Unterschiede am Buchdeckel und in der Bindeweise feststellen. Laut Professor Shin fehlten in den für die Behörden und Archive gefertigten Versionen einige Illustrationen, doch die zurückgegebenen Bücher, die für den König bestimmt waren, seien nahezu perfekt. Die 30 Bände, von denen keine Kopien vorhanden sind, wurden 2005 von der koreanischen und der französischen Regierung gemeinsam digitalisiert. Da damals noch nicht feststand, ob die Protokolle nach Korea zurückgebracht werden würden, wollte man als Alternative die Möglichkeit der Erforschung der Dokumente mittels digitaler Kopien anbieten. Nun ist es möglich, die Originale an Ort und Stelle in Augenschein zu nehmen und auch Feinheiten wie Papierqualität, Einband, Farben usw. mit zu berücksichtigen. Professor Shin fügte noch hinzu, dass die Originale viel aussagekräftiger als die elektronischen Abbildungen seien. Außerdem müssten bei der Analyse die Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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Dokumente als Ganzes betrachtet werden, d.h. neben dem Inhalt sollten auch Material und Papierqualität, Schreibstil, Tinten usw. berücksichtigt werden. Die nach Korea zurückgekehrten Dokumente sind von hohem wissenschaftlichem Wert und zwar nicht nur als Forschungsmaterial in den Bereichen koreanische Geschichte oder Bibliografie, sondern auch in Hinblick auf die Geschichte von Kleidung und Kunst. Leider ist nur noch von 12 Bänden (7 Titel) der Originaleinband erhalten. Es wird vermutet, dass die Einbände vor oder beim Transport nach Frankreich durch Feuer oder Wasser beschädigt und später in Frankreich ausgebessert wurden. Daher sind die 12 Exemplare mit Originaleinband von besonders hohem Wert.

Begrüßungsfeier Außer dem einen Band, der 1993 von François Mitterrand zurückgegeben wurde, wurden die restlichen 296 Bände in vier Lieferungen mit dem Flugzeug nach Korea zurückgebracht. Nach einem heißen Konkurrenzkampf zwischen den beiden koreanischen Fluggesellschaften Korean Air und Asiana Arlines einigte man sich darauf, den Transport gemeinsam zu übernehmen und abwechselnd zu fliegen. Die heimgekehrten Hofprotokolle wurden gleich ins koreanische Nationalmuseum in Yongsan, Seoul, gebracht. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

Die Begrüßungsfeier fand am 11. Juni 2011 in Seoul und auf der Insel Ganghwa-do, wo sich das Oegyujanggak befand, statt. Am Vormittag zog eine Prozession von 500 Personen einschließlich der Inselbewohner vom Südtor der Festung Ganghwa bis hin zu der Stelle, an der einst das Archiv Oegyujanggak stand. Diese Prozession wurde auf Grundlage des Naegakillyeok (Tägliche Arbeitsberichte) , den Arbeitsprotokollen des Gyujanggak, in denen das Procedere der Lieferung der Gyujanggak-Dokumente im Jahr 1783 vom Hauptarchiv Gyujanggak in Seoul zum Außenarchiv Oegyujanggak in Ganghwa genau dokumentiert ist, nachgestellt. Zu den diversen Festivitäten gehörte auch ein Ahnenritual, mit dem den Vorfahren feierlich die frohe Botschaft verkündet wurde, dass die Hofprotokolle wieder zurückgekommen sind. Am Nachmittag folgten dann auf dem Gwanghwamun Plaza und im Palast Gyeongbok-gung in Seoul verschiedene Veranstaltungen. Das Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus und das koreanische Nationalmuseum haben ein Forschungsteam aus Wissenschaftlern und Experten gebildet, das für Dezember 2012 ein Symposium plant. Bis 2013 sollen die 297 aus Frankreich heimgekehrten Bände in einer digitalen Datenbank erfasst werden. Elektronische Versionen der 30 Bände, für die keine Kopien mehr existieren, sollen schon noch im Laufe dieses Jahres online angeboten werden.

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1. Buddha, Bodhisattva und Himmelsfeen, eingraviert auf der Ostseite von Sabangbul in Tapgol, einem alpinen Tal an den Hängen der Berge Nam-san in Gyeongju, 1986. 2. Grabhügel von Nodong-dong, Gyeongju, 1984.

Landschaften von „tausend Jahren“, erfasst durch das „Licht der Zeit“ 2

Kang Woon-gu gehört zur ersten Generation der Dokumentarfotografen in Korea. Seine Fotoausstellung Alte Land-

schaften (Vintage Landscapes) ist die Frucht seiner jahrzehntelangen Erforschung der Archetypen der koreanischen Kultur wie der Mythen aus der Zeit der Drei Königreiche, der Königsgräber der Silla-Zeit und buddhistischer Artefakte. Lee Moon-jae Dichter und Professor für Kreatives Schreiben, Kyung Hee Cyber University | Fotos: Kang Woon-gu

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s ist wohl übertrieben, Busan als „Stadt der Fotografie“ zu bezeichnen. Beschränkt man das jedoch auf die koreanischen Fotografie-Kreise, dann war Busan tatsächlich seit Mitte April zweieinhalb Monate lang eine Stadt der Fotografie.

Drei Fotoausstellungen Busan, die zweitgrößte Stadt und gleichzeitig die größte Hafenstadt Koreas, ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts als „Stadt des Films“ bekannt. Denn das Pusan International Film Festival (PIFF; Pusan: alte Umschrift des Namens von Busan), das als eines der weltweit dynamischsten Filmfestivals anerkannt ist, findet bereits 16 Jahre lang statt. Eine Fotoausstellung, dazu noch die Retrospektive eines Fotografen – Kang bestreitet energisch, dass es eine „Retrospektive“ ist – , erregt allgemein nicht so große Aufmerksamkeit wie ein Filmfestival, aber die große Ausstellung von Kang Woon-gu Alte Landschaften sorgte trotzdem für Furore. Der Ausstellungsort, das neue Annexgebäude des GoEun Fotomuseums (GoEun Museum of Photography) verdient ebenfalls Beachtung: Es handelt sich hier um das zweite auf Fotografie spezialisierte Museum, das in der Provinz, also außerhalb der Hauptstadt Seoul, seine Tore öffnet. Das erste Fotomuseum ist das vor vier Jahren eröffnete GoEun Fotomuseum im Hauptgebäude. Beide Museen befinden sich in Haeundae-gu in Busan, einem Stadtbezirk am Badestrand. Zufälligerweise fanden zwei weitere Fotoausstellungen in Busan K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

statt, während die Fotos von Kang Woon-gu den Stadtbewohnern präsentiert wurden. Im Hauptgebäude des GoEun Fotomuseums war Kwon Tae-Gyuns Ausstellung Steine des (Schweigens) zu sehen und im Toyota Artspace Suh Heun-gangs Garten der Götter. Kwon TaeGyun und Suh Heun-gang sind namhafte Künstler, die beide zum sog. „Kang Woon-gu-Kreis“ gehören. Die Werke von Kang, dem Pionier der Dokumentarfotografie in Korea, und die der beiden von ihm beeinflussten Fotografen der zweiten Generation wurden zeitgleich in derselben Stadt gezeigt und standen sogar im selben thematischen Kontext, nämlich traditionelle koreanische Kultur. Von April bis Anfang Juli war Busan ohne Zweifel eine Stadt der Fotografie.

Drei Themen aus der Geschichte In der Ausstellung Alte Landschaften von Kang Woon-gu wurde das koreanische Kulturerbe unter drei Themen beleuchtet. Vor zehn Jahren hielt er eine Ausstellung mit dem Titel Bilder von drei Dörfern, in der Fotos von drei abgeschiedenen Bergweilern präsentiert wurden, und veröffentlichte ein Fotografiebuch mit dem selben Titel. Die drei Säulen der diesmaligen Ausstellung bildeten jedoch die Königsgräber der Silla-Zeit (57 v.Chr.–668 n.Chr.), mythische Orte aus dem Samgukyusa (Memorabilia der Drei Königreiche, Ende 13. Jh.) und buddhistische Artefakte aus der Silla-Zeit. Diese drei Themen, die Kang bereits an die 40 Jahre erforscht, sind Verkörperungen der traditionellen koreanischen Kultur, die über tausend Jahre

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Landschaft mit einem in Fels gravierten Buddha in Yaksu, einem alpinen Tal an den Hängen der Berge Nam-san in Gyeongju, 1985.

Bestand haben. Das Samgukyusa , eine der wichtigsten Kompilationen über die antike Geschichte Koreas, wurde in der Goryeo-Zeit 1292 von dem Mönch Iryeon (1206-1289) verfasst und ist eine Sammlung von Sagen, Volkserzählungen und Mythen, die mit dem Mythos der Gründung des ersten koreanischen Reiches durch Dangun (2333 v.Chr.) beginnt und mit dem Zusammenbruch des Vereinten Silla-Reiches (676-935) endet, wobei die Silla-Zeit alleine fast tausend Jahre (57 v. Chr.-936 n. Chr.) umfasst. Das Samgukyusa enthält hauptsächlich Mythen und Legenden, aber es werden auch historische Daten sowie Stätten erwähnt, die heute noch besichtigt werden können. Im parallel zur Ausstellung veröffentlichten Bildband merkt Kang an: „Mir wurde klar, dass Mythen nicht Geschichten über den Himmel, sondern auf der Realität basierende Geschichten über die Erde sind.“ In der Ausstellung wurden insgesamt 100 Fotos präsentiert, von denen vor allem die Abbildungen der buddhistischen Artefakte aus der Silla-Zeit aus den Bergen Nam-san in Gyeongju die Besucher fesselten. Die Nam-san befinden sich im Süden der einstigen SillaHauptstadt Gyeongju und sind nur 471 Meter hoch, aber in jedem Tal und auf jedem Bergrücken sind Tempel, Pagoden und steinerne Buddhafiguren zu finden. Die Nam-san sind ein wahres „Museum ohne Decke“, in dem der tausendjährige Odem des Silla-Buddhismus bis heute zu spüren ist. Seit Ende der 1970er Jahre hat Kang Woon-gu diese Berge durchkämmt. Als er sich zum ersten Mal zu einer Fotoexpedition dorthin aufmachte, war er ein noch unerfahre-

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ner junger Fotograf voller Enthusiasmus. Er warf alle Fotos, die er im Laufe eines Jahres geschossen hatte und die eigentlich in seinem ersten Fotoband aufgenommen werden sollten, weg. Er erinnert sich: „Ich habe mich zu sehr angestrengt, um wirklich gute Bilder zu schießen, aber sie waren zu dilettantisch.“ Die folgenden vier Jahre setzte er seine Fotografierstreifzüge in die Nam-san fort. Anstatt sich jedoch mit den steinernen Buddhastatuen auf ein geistiges Kräftemessen einzulassen, wartete er diesmal geduldig darauf, dass sie ihm im Laufe der Zeit auf natürliche Weise ihr inneres Wesen offenbarten. Er wartete auf den richtigen Augenblick, in dem Intensität und Lichteinfallwinkel den Gesichtsausdruck der Steinbuddhas in höchstem Maße zum Leben erwecken. Die Fotos von Kang Woon-gu sind Ergebnisse des Wartens. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er für ein einziges Foto ein bis zwei Tage lang wartet. Um die königlichen Grabstätten der Silla-Zeit im Schneegewand zu fotografieren, lauschte er Winter für Winter den Wettervorhersagen. Wurde Schneefall angekündigt, eilte er gleich zu den Königsgräbern, nur um anzukommen, nachdem die weiße Pracht schon wieder geschmolzen war. Es gibt auch Objekte, die nur einmal im Jahr eine spezielle Gelegenheit zum Fotografieren bieten. Der in einer Grotte sitzende Steinbuddha, dessen Gesicht nur einmal pro Jahr vom Sonnenlicht erhellt wird, gehört dazu. Das Foto Gesicht des sitzenden Buddhas in der Bulgol-Grotte (1984) wurde im Rahmen der Ausstellung präsentiert (S. 143 des Bildbandes). Ein Mönch aus Gyeongju suchte die Bulgol-Grotte auf, um ebenKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Die West-Pagoda des Tempels Mireuk-sa in Geumma-myeon, Iksan, Provinz Jeollabuk-do, 1996.

falls ein Foto des Steinbuddhas zu machen, nachdem er das Bild in Kangs Buch Gyeongju Namsan (1987) gesehen hatte. Aber so oft er die Grotte auch besuchte, nie drang das Sonnenlicht herein, worüber er sich bei Kang auf der Ausstellung beklagte. Nach Beendigung des Foto-Projekts Gyeongju Namsan schrieb Kang: „Meine einzige Methode bestand in der Hartnäckigkeit, den Ort häufig aufzusuchen und immer und immer wieder zu fotografieren. Wenn mein Objekt erfreulicherweise mit einem gewissen Maß an Genauigkeit festgehalten werden konnte, dann ist das nur auf meine schiere, fast stumpfsinnige Beharrlichkeit zurückzuführen.“

„Ausgrabung“ von Landschaften Das Wort „alt“ im Titel der Ausstellung Alte Landschaften hat eine Doppelbedeutung. Zum einen geht es um Werke des Kulturerbes, die lange Zeit, nämlich fast tausend Jahre, dem Zahn der Zeit trotzten, und zum anderen bedeutet das Wort, dass die Fotos vor langer Zeit aufgenommen wurden. In den Fotos von Alte Landschaften kommt nicht das Licht, sondern die Zeit zum Tragen. Fotografien sind Ergebnis der Einwirkung des Lichtes. Aber die Fotos von Kang hängen nicht vom Licht der Sonne ab, sondern vom „Licht der Zeit“ – unter diesem Titel hat Kang auch einen Bildband veröffentlicht. Es scheint, dass die in der diesmaligen Ausstellung präsentierten Fotos eher das Damals (Dort) als das Jetzt (Hier) hervorheben. Seine Fotos von einem Kiefernwald, vom roten Himmel bei Sonnenuntergang, von einer Meeresküste, von einer Steinpagode oder einer abgeK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

legenen Ecke einer königlichen Grabstätte vermitteln sowohl die zurückliegenden Zeiten als auch die jetzige Zeit in einem, so dass das Damals und das Jetzt nicht deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Aber das Foto Nekropole in Nodong-dong, Gyeongju (1984) mit den Silla-Königsgräbern vor einem Hintergrund von vier Schichten von Bergrücken dreht die Zeit geradezu zurück: Landschaften von vor tausend Jahren scheinen hier eingefangen worden zu sein. Man wird von einem Schock erfasst, als wäre urplötzlich eine Landschaft von vor einem Millennium im Hier und Jetzt wieder aufgetaucht. Könnte eine Landschaft wie Artefakte ausgegraben werden, würde sie wohl der auf Kangs Foto ähneln. Es zeigt nicht die Zeit des Lichtes, sondern das Licht der Zeit. Dabei ist die „Zeit“ wohl eine Metapher für Zeitalter und Geschichte. Das heißt, die „Zeit“ ist die des Fotografen, sie steht für seine geistige Einstellung. Das Foto der Grabstätte in Nodong-dong ist, wie Kang sagte, Resultat einer geglückten Harmonie von Objekt und Ausdrucksweise. Aber in seinen Werken spielt die Art und Weise des Ausdrucks keine so große Rolle. Seine Fotos sind von technischer Raffinesse derart weit entfernt, dass jüngere Fotografen sagen, dass sie wie Amateur-Fotos wirken. Das ist darauf zurückzuführen, dass Kang stärker als andere Fotografen auf den Grundlagen der Fotografie, i.e. den fototypischen Charakteristika, beharrt. In den 1960er Jahren, als er Anglistik studierte, begann Kang mit dem Fotografieren. Nach dem Abschluss des Studiums fand er eine

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1. Die Tempelstätte Mujang-sa in den Wäldern von Amgok-dong, Gyeongju, 1995. 2. Stehender Avalokitesvara, Bodhisattva des Mitleids, in den Bergen Nam-san in Gyeongju, 1985.

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Stelle bei einem Zeitungsverlag, war aber sehr enttäuscht, weil nen Ausstellungen und Büchern Bilder von drei Dörfern (2001), Am ihm als Fotograf keinerlei Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Abend (2008) und All die Sedimente (1997) zu sehen ist. Kang, der schon früh als freiberuflicher Fotograf tätig war, hat sich zugestanden wurden. 1975 wurde ihm unter dem damaligen Milimit den verschiedensten Genres beschäftigt. Aber er hat nie Auftärregime, das eine strengere Medienzensur auszuüben versuchte, tragsarbeiten als eigene Werke anerkannt, selbst wenn die Fotos gekündigt. Kang, der sich mit der Frage „Was ist Fotografie?“ ausvon hoher Qualität waren. Er rät den Nachwuchsfotografen: „Dereinandersetzte und die Geschichte der Fotografie im Selbststudium jenige, der den Fotografen schützt, ist einzig und allein der Fotograf lernte, wurde nach seiner Entlassung der erste freiberuflich tätige selbst.“ Er gehört zu den wenigen Künstlern, die Arbeit und Leben Fotograf Koreas. In diesen harten Zeiten, als Fotografen keine Rechin Einklang miteinander zu bringen vermochten. Der Verleger Yi Gite, sondern nur Pflichten hatten, reiste Kang durch die ländlichen ung, der die meisten von Kang Woon-gus Büchern veröffentlichte, Gegenden Koreas, die im Zuge der von der Regierung betriebenen schreibt in der Einleitung des 2010 publizierten Buches Philosophie Entwicklungsdiktatur mit rasantem Tempo der Zerstörung anheim fielen, und hielt die Landgemeinden in seinen Bildern fest, wodurch er seine Ein Foto von ihm dreht die Zeit geradezu zurück: Landschaften von vor eigene fotografische Sprache entwickelte. tausend Jahren scheinen darin eingefangen worden zu sein. Man wird Kangs Philosophie von Fotografie kann mit „Bap-Fotografietheorie“ auf den von einem Schock erfasst, als wäre urplötzlich eine Landschaft von vor Punkt gebracht werden. Er meint: „So wie die beste Speise, die man aus einem Millennium im Hier und Jetzt wieder aufgetaucht. Könnte eine dem Getreide Reis machen kann, Bap Landschaft wie Artefakte ausgegraben werden, würde sie wohl der auf (gekochter Reis) ist, so ist die Essenz der Fotografiekunst das dokumenKangs Foto ähneln. tarische Foto.“ Seine Bap-Theorie ist Beginn und Kern der koreanischen der Fotografie von Kang Woon-gu : „Kang Woon-gu ist eigensinnig. Dokumentationsfotografie. Für Kang sind die Fotos am „foto-authenEr gibt seine Überzeugungen nicht auf. Aber bis er zu diesen Übertischsten“, die das Objekt schnell und wirklichkeitsgetreu festhalten. zeugungen gekommen ist, hat er vieles beobachtet, gedacht und stuDie Aufgabe eines Fotojournalisten besteht dementsprechend darin, diert. Daher sind seine Überzeugungen meistens richtig.“ durch solche realistischen Bilder mit der Öffentlichkeit zu kommuKang, geboren 1941, wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Bedenkt man nizieren. Es ist die deutliche und konsequente Anwendung seiner sein Alter, dann gehört auch sein Leben zu den “Alten Landschaften”. Philosophie, die ihm den Respekt der jungen Dokumentarfotografen Aber seine Fotografie und sein künstlerischer Geist bleiben weiterhin Koreas eingebracht hat. Seine Werke lassen sich grob gesehen in jung, weil er am Wesen der Fotografie und an seiner Würde als Foto„die Epik der Erde“ und „das Erzählen der Geschichte“ einteilen. Das graf festhält. In diesem Sinne verkörpert Kang Woon-gu die ewige Letztere wurde in der Ausstellung Alte Landschaften und im gleichnamigen Fotografiebuch präsentiert, während das Erstere in seiJugend.

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Interview

Die Schwere der Wahrheit hinter der Pracht der Oberfläche

Lee Yongbaek 2011 Biennale di Venezia Die 54. Biennale di Venezia (4. Juni - 24. November 2011) präsentierte als Hauptveranstaltung eine Kunstausstellung zum Thema „Licht“ mit dem Titel ILLUMInations . Auf der Biennale, die 2011 unter Gesamtleitung der schweizer Direktorin Bice Curiger stand, waren in der internationalen Pavillonausstellung 89 Teilnehmerländer vertreten — ein Rekord in der Geschichte dieser renommierten Kunstplattform. Der koreanische Pavillon zog durch die Einzelausstellung des bekannten Künstlers Lee Yongbaek, mit deren Organisation der Kurator Yoon Jaegap beauftragt wurde, Aufmerksamkeit auf sich. Koh Mi-seok Fachjournalistin für Kunst und Design, Tageszeitung Dong-A Ilbo


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ls Lee Yongbaek nach Beendigung der Vorbereitungsarbeiten für die Eröffnung der Biennale in Venedig wieder nach Korea zurückkam, machte er sich, noch bevor er sich von den Reisestrapazen erholt hatte, schon wieder auf den Weg nach Namhae, einer koreanischen Inselstadt am Südmeer. Nach einem viertägigen Angelurlaub, in dem das Handy ausgeschaltet blieb, traf ich ihn in seiner Werkstatt in Ponae-ri, Wolgotmyeon, einem Dorf, das zur Stadt Gimpo in der Provinz Gyeonggi-do gehört. Von kleiner, aber kräftiger Statur, mit sonnenverbranntem Gesicht und unordentlichen Haaren macht Lee nicht den Eindruck eines Medienkünstlers, der sich mit konzeptuellen Arbeiten beschäftigt, sondern erinnert eher an einen erfahrenen Seemann. Nachdem er seine Schul- und Studienzeit in Seoul verbracht hatte, kehrte Lee vor 20 Jahren wieder in seinen Heimatort Gimpo in der Provinz Gyeonggi-do zurück, wo er sich auf einem kleinen Hügel eine Werkstatt einrichtete. Was ihm heute als Wohn- und Arbeitsraum dient, ist ein vor drei Jahren gebauter Betonbau. In seinem Arbeitsraum sah es wie in einer unordentlichen Fabrik aus. Auf der einen Seite stand ein riesiger Lautsprecher, wie man ihn in Aufnahmestudios finden kann, und überall lagen große Fernsehbildschirme und Werkzeug herum. Nach der Besichtigung der Werkstatt gingen wir in die Küche, wo wir an einem langen Esstisch einander gegenüber Platz nahmen.

Plastic Fish (Kunststoff-Fische ), ein Gemälde auf Leinwand, zeigt Plastik-Fischköder in lebhaften Farben und vielerlei Formen (links). Rechts, vor einem Hintergrund von Fenstern, die üppiges Grün einrahmen, die Pietà , Eigentod eine zeitgenössische Interpretation eines Themas mit Kultsymbolcharakter, bei der die Gussform das Gussprodukt in den Armen hält.

Koh: Herzlichen Glückwunsch! Die Ausstellung des koreanischen Pavillons auf der Biennale di Venezia, die aus 14 Ihrer Kunstwerke besteht - darunter die Medieninstallationen Angel Soldier (Engel-Soldat) und Broken Mirror (Zerbrochener Spiegel), die Pietà-Skulpturen Eigenhass und Eigentod sowie das Bild Plastic Fish (Kunststoff-Fische) — wird von den ausländischen Medien mit Komplimenten überschüttet. Wie bewerten Sie den Erfolg? Lee: Ich kannte die Biennale zwar schon von meinen drei, vier Besuchen, aber es ist noch einmal eine ganz andere Dimension, als ausstellender Künster daran teilzunehmen. Es ist das reinste Schlachtfeld, auf dem eine enorme Konkurrenz herrscht. Die Amerikaner gaben zum Beispiel für einen umgekippten Panzer in ihrem Pavillon über 4 Bio. Won (ca. 2,7 Mio. Euro) aus. Da dachte ich mir: „Inszeniert ruhig Krieg. Ich werde in die entgegengesetzte Richtung gehen.“ Als Kontrapunkt zur Aggressivität, die in den internationalen Pavillons vorherrschte, hängte ich gewaschene Soldatenuniformen mit Blumenmuster auf die Leine der Dachterasse. Aus Soldatenuniformen Wäsche zu machen, symbolisiert nämlich Rast und steht als Zeichen einer nicht-kriegerischen Haltung für Frieden. Durch die vielen Berichte, die in den ausländischen Medien über die Ausstellung erschienen, und die Mundpropaganda der Besucher konnte ich langsam die begeisterte Resonanz spüren.

Blumen und Soldatenuniformen Die Besucher des koreanischen Pavillons kamen extra zu Lee Yongbaek und lobten seine Ausstellung mit hochgehobenem Daumen. Zu solchen Komplimenten kommentiert er gelassen, dass seine Werke, die äußerlich prächtig wirken, für ihn selbst traurige Arbeiten seien. Die Besucher schienen diese verborgene „Trauer“ erkannt zu haben. Koh: Der Titel der Ausstellung Love is gone, but the scar will heal (Die Liebe ist gegangen, aber die Narbe wird heilen) lässt Assoziationen zu einem Liebesgedicht aufkommen. Was bedeutet der Titel und nach welchen Kriterien wurden die Werke ausgewählt? Lee: Diesen Titel schlug Kurator Yoon Jaegap vor. Ich habe ihn als die unerwiderte Liebe zur westlichen Kunst und den Prozess der allmählichen Überwindung dieser Liebe interpretiert, und zwar in dem Sinne, dass die Wunde jetzt geheilt ist und dass wir daher K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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heute auf gleicher Höhe konkurrieren können. Vor der Auswahl der Werke habe ich den Ausstellungsraum bedacht. Der Raum selbst machte nämlich bereits in leerem Zustand den Eindruck, voll gefüllt zu sein, so dass er für eine Ausstellung mit einem einzigen Werk nicht geeignet gewesen wäre. Daher haben wir Werke verschiedener Medien und Genres wie Malereien, Skulpturen, Installationen usw. ausgestellt. Wir sind davon ausgegangen, dass sich jeder Besucher von wenigstens einem der Werke angesprochen fühlt und so dann auch das Interesse für die anderen Stücke geweckt wird. Der erste Eindruck, den die Exponate als Ganzes vermitteln, ist der von Schönheit und Glanz. Aber inhaltlich besitzen sie eine gewisse Schwere. Bei Angel Soldier (Engel-Soldat), einem Kunstwerk aus Installation, Video und Fotografie, sind auf dem Bildschirm, der dicht mit harmonisch aufeinander abgestimmten Farben gefüllt ist, Menschen in mit Blumen gemusterten Soldatenuniformen zu sehen, die sich mit Waffen in der Hand ganz langsam bewegen. Blumen sind für die modernen Künstler der Stoff, von dem sie sich fernhalten, aber ich habe dieses oberste Tabu genau umgekehrt genutzt. Auf den ersten Blick fällt zunächst die Schönheit der Blumen auf, doch unter der Oberfläche verbirgt sich ein seltsames Gefühl von Furcht und Anspannung, das die politische Lage der Teilung der koreanischen Halbinsel nachempfinden lässt . Koh: Die Skulptur Pietà: Self-death (Eigentod) und Self-hatred (Eigenhass) ist ein sehr außergewöhnliches Werk, bei dem die Gussform Mensch das Gießprodukt Mensch im Schoß hält. Die Gussform wird in der Bildhauerei normalerweise weggeworfen, bei der Pietà wird sie jedoch ins Werk integriert, weshalb man die Skulptur auch als genial gelobt hat. Lee: Der Mensch besitzt die Dualität von großer Eigenliebe und großem Eigenhass. Die Pietà zeigt diese beiden Seiten des Menschen, der den eigenen Tod in seinen Armen hält bzw. sich selbst angreift. Pietà ist eigentlich ein Ausdruck für die Verkörperung der Trauer über das Menschsein an sich. Im Westen bezieht er sich auf die Darstellung Marias als die schmerzhafte Mutter mit dem Leichnam Jesu in den Armen. Ich glaube, die wahre Trauer des Menschen ist sein eigener Tod. Dabei ist nicht einfach der phy-

sische Tod gemeint, sondern der Verlust seiner Träume. Koh: Auch das interaktive Medienwerk Broken Mirror (Zerbrochener Spiegel), bei dem der Spiegel mit einem Schussknall zersplittert, wenn sich der Betrachter davor stellt, ist bei den Besuchern gut angekommen. Lee: Dieses Spiegelwerk steht philosophisch für die Selbst-Reflektion in dem Sinne, dass man sein Selbst zerbricht. Da der Knall sehr stark war und einen Schock auslöste, waren auch die Reaktionen entsprechend extrem. So liefen z.B. einige Besucher schreiend davon. Seit meinem Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart beschäftige ich mich mit der Spiegelkunst. Als Mann schaute ich früher kaum in den Spiegel, bis ich mich dann in Stuttgart vor einer Präsentation oft vor den Spiegel stellte. Ich stand davor und führte Selbstgespräche oder sann über mein Ich im Spiegel nach. Das wirkliche Ich und das ideale Ich in meiner Vorstellung – in der Kluft dazwischen tut sich einiges. Nähern sich Realität und Vorstellung einander an, sagt man, dass man seinen Traum erfüllt habe, wird die Kluft breiter, packt einen die Frustration. Ich habe versucht, diese Kluft durch den zerbrechenden Spiegel darzustellen.

Plastic Fish (Kunststoff-Fische) , ein Bild mit bunten Plastik-Ködern, birgt die schneidende Metapher für eine Realität, in der das Gefälschte, das lediglich eine Nachahmung der Natur ist, als Mittel zum Fangen der echten Natur verwendet wird. Die Ausstellung von Lee Yongbaek, in der all diese Werke ein harmonisches Ganzes bilden, ist nach allgemeiner Bewertung eine konzent-

Die Medieninstallation Angel Soldier (Engel-Soldat ) (links) und ihr Schöpfer Lee Yongbaek (rechts). Bei näherem Hinschauen sind mit Gewehren bewaffnete Figuren zu sehen, die sich heranschleichen.

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„Kunst und Dokumentarfilmproduktion, ich möchte weiterhin beides machen. Ich trage mich mit dem Gedanken, mich ernsthaft mit Naturdokumentationen zu beschäftigen, wenn ich die 60 überschritten habe. Ich möchte alle unbewohnten Inseln Koreas aufnehmen, im Meer angeln und tauchen. Ich denke, um lange als Künstler schaffen zu können, muss man auch verstehen, das Leben zu genießen.“ rierte Darstellung der modernen Geschichte Koreas im 20. Jahrhundert und ihrer Schmerzen.

Treffen mit Paik Nam June Als Künstler verehrt Lee Yongbaek am meisten John Cage, Paik Nam June und Joseph Beuys. Es sind alles Künstler, die das Paradigma in der Kunst veränderten. Lee bewahrt insbesondere die Gespräche mit Paik Nam June, dem Vater der Videokunst, als wertvollen Schatz in seiner Erinnerung. Lee: Eines Tages, während meines Studiums in Stuttgart von 1991 bis 1996, fingen die Studenten plötzlich an zu laufen und ich fragte, was denn los sei. Sie antworteten: „Paik Nam June ist da!“ Ich habe mich ihnen angeschlossen und begegnete Paik zum ersten Mal. Ein anderes Mal traf ich ihn in einem Museum, zu dem ich gegangen war, um mir ein Buch zu kaufen. Als ich mich als koreanischer Kunststudent vorstellte, lud er mich zum Essen ins Hotel ein und wir unterhielten uns stundenlang. In Bezug auf mein Kopfzerbrechen über den Weg, den ich einschlagen sollte, riet er mir: „Gibt es an der Uni überhaupt noch was zu lernen? Geh irgendwohin, sei es nun Korea oder Amerika, wo du deine Kunstwelt realisieren kannst.“ Er wies noch darauf hin, dass man zwischen „funny“ und „interesting“ unterscheiden können müsse. Vor allem Paiks Rat „ Zeig nicht, was du gut machst, bemühe dich eher darum, deine Fehler zu reduzieren“ bewahrt Lee in seinem Herzen. Auch auf der Biennale in Venedig hielt er sich daran. Auf Paiks Ratschlag kehrte Lee Yongbaek nach seinem Studium wieder nach Korea zurück, aber es war nicht leicht, sich als unbekannter Künstler in der koreanischen Kunstwelt zu behaupten. Lee: 1998, zwei Jahre nach meiner Rückkehr, bekam ich von einem Museum das Angebot einer Solo-Ausstellung. Aber nach einem Wechsel des Kurators wurde die Ausstellung sehs Monate vor der Eröffnung abgesagt. Ich ging zum Kurator des Sungkok Art Museums, dessen Namen ich nicht einmal kannte, und bat ihn um eine halbe Stunde Zeit, um ihm meine Werke zu erklären und ihn zu überzeugen. Er genehmigte meine Ausstellung. Dieser Kurator war der bekannte Rhee Won-il, der K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11


leider vor kurzem frühzeitig verstarb. Obwohl es die Ausstellung eines unbekannten Künstlers war, gab es zum Glück viele Besucher und auch gute Bewertungen. Aber die Ausstellung meines interaktiven Werks Künstliche Sensivität im Jahr 2000, bei der ich versuchte, die Besucher mit der Atmung einer toten Kuh zu verknüpfen, erreichte nur eine Besucherzahl von 30. Es versetzte mir einen gewaltigen Schock, dass sich niemand dafür interessierte. Koh: Das war dann wohl eine Phase der Fustration für Sie. Lee: Ja, stimmt. Da dachte ich mir, ich sollte etwas pausieren. Ein Künstler kann nämlich nicht alleine existieren. Abgesehen davon, dass eine Nachfrage nach seinen Werken bestehen sollte, ist es wichtig, dass sich wenigstens jemand für seine Experimentalwerke interessiert. Von keinem anerkannt zu werden, war sehr hart. Ab 2001 gab ich keine Ausstellungen mehr, sondern widmete mich der Filmproduktion. Ich verbrachte die Zeit damit, mit schwerer Ausrüstung in 30 Meter Wassertiefe Naturdokumentationsfilme zu drehen. Seit seinen 30ern bis zum vorigen Jahr wiederholte Lee immer dasselbe: Er verdiente Geld durch die Filmproduktion und investierte diese Mittel dann in seine Kunstwerke. Für die Webseite der Behörde für Kulturerbeverwaltung (Cultural Heritage Administration) drehte er Dokumentarspots über das koreanische Kulturerbe wie den Tempel Bulguk-sa. Mit 41 verkaufte er schließlich sein erstes Kunstwerk und seitdem beschäftigt er sich ernsthaft mit dem Kunstschaffen. Lee: Kunst und Dokumentarfilmproduktion, ich möchte weiterhin beides machen. Ich trage mich mit dem Gedanken, mich ernsthaft mit Naturdokumentationen zu beschäftigen, wenn ich die 60 überschritten habe. Ich möchte alle unbewohnten Inseln Koreas aufnehmen, im Meer angeln und tauchen. Ich denke, um lange als Künstler schaffen zu können, muss man auch verstehen, das Leben zu genießen. Eigentlich ist das noch schwieriger als fleißig zu arbeiten. Wer Kunst schaffen will, der braucht auf irgendeine Art und Weise Stimulation von außen.

Zeitalterlicher Hintergrund Lee Yongbaeks Werke werden als direkt und stark bewertet. Kurator Yoon Jaegap kommentiert sie wie folgt: „Während viele Werke anderer Künstlern meistens konzeptionell, mehrdeutig und persönlich sind, präsentieren Lee Yongbaeks Werke die Ästhetik der Bezogenheit. Grob gesagt, sie sprechen kunstsoziologisch, stellen aber zugleich auch das wesentliche Leben dar. Außerdem verfügen sie über einen originären

Stil, für den es in der westlichen Kunst nichts Vergleichbares gibt. Koh: Ihre Arbeit umfasst eine Vielfalt von Kunstmedien wie Malerei, Bildhauerei, Installation, Medien usw. Lee: Die Diversität meiner Werke liegt darin begründet, dass ich in einem Zeitalter aufwuchs, in dem die künstlerische Freiheit und die Erweiterung der Ausdrucksweise als Tabu galten. Als ich 1985 an der Hongik Universität zu studieren begann, waren alle Professoren Minimalisten. In mir entwickelte sich ein Widerstand gegen den nur an einer einzigen Methode festhaltenden Lehrmechanismus. Ich hatte mich für das Kunststudium entschieden, um meine eigene Kunst zu entwickeln, aber alles war verboten und ich fühlte mich erstickt. Unter der Militärdiktatur von den 1960er bis in die1980er Jahre war auch die Selbstzensur ausgeprägt. Während ich die Kunst als eine Erweiterung der Ideen und des Bewusstseins verstand, sah ich mich in der Realität unterdrückt wie durch einen konservativen feudalistischen Vater. Außerhalb der Universität herrschte wiederum die Minjung-Misul, die „Kunst des Volkes“. Diese Dichotomie war nichts für mich. Ich war davon überzeugt, dass Kunst etwas ist, das im Grunde sich selbst befreien kann und dadurch auch andere Menschen zur Selbstbefreiung bringt. Aber zu meiner Studienzeit fand das kein Verständnis. Mir blieb als einzige Wahl, ins Ausland zu gehen, und während meines Studiums im Ausland überließ ich mich der Freiheit, soweit es mir das Gesetz erlaubte. In meiner Anfangsphase interessierte ich mich für die „Prozesskunst“, deren Werke sich nach der Ausstellung auflösen. Aber um diese Werke dokumentarisch aufzubewahren, brauchte ich das Mittel Video. Da dachte ich, dass ich mit der neu aufgekommenen Kunstform Video-


kunst mit den europäischen Künstlern auf gleicher Augenhöhe konkurrieren könnte, was bei den traditionellen Kunstgattungen wie Malerei oder Bildhauererei nur schwer möglich war. Also versuchte ich mein künstlerisches Schaffen zu diversifizieren. Seitdem ist es für Lee zur Gewohnheit geworden, eine neue Idee mit verschiedenen Medien zu interpretieren und zu gestalten. Die endgültige Entscheidung für ein Medium hänge von seinem jeweiligen Kontostand ab. Koh: Der Text, den John Rajchman, Professor für Kunstgeschichte und Archäologie an der Columbia University/USA, zum Werkverzeichnis schrieb, sorgte ebenfalls für Furore. Er sieht die Phase der eigenständigen Entwicklung der modernen koreanischen Kunst in der Zeit nach der Demokratisierungsbewegung von 1987 und weist darauf hin, dass Ihre Werke in engem Zusammenhang mit der politischen, historischen und gesellschaftlichen Situation Koreas stehen. Waren Sie auch ein Demokratiekämpfer in Ihrer Studentenzeit? Lee: Ich habe zwar an Demonstrationen teilgenommen, gehörte jedoch nicht zum harten Kern. Einmal warf ich bei einer Demonstration Steine und sah einen Polizisten fallen. Danach habe ich nie wieder Steine geworfen. Schon in meiner Oberschulzeit, als ich zum Malen in Ateliers ging, waren die Lehrer in Modernisten und Minjung-Volkskünstler gespalten. Aber mir gefiel beides nicht. Meine Generation, die unter der autoritären Regierung von Park Chung-hee (reg. von 1961 bis zu seiner Ermordung 1979) aufwuchs, war an Zwang gewöhnt. Auch die Minjung-Misul war nicht viel anders. Als ich sah, wie auch in der Minjung-Kunst Doktrin, Hierarchien und Macht aufkamen, fragte ich mich, wo denn der Unterschied zwischen Modernismus und Minjung-Misul sei. Meiner Ansicht nach kann es keine Kunst sein, wenn man die Betrachtungsweise der Welt schon vornherein bestimmt und sich dann in dieses Korsett zwängt.

Wieder an der Startlinie Lee Yongbaeks Werke sind schön. Das hat auch mit seiner Existenz als Künstler zu tun. Durch die Verpackung mit Schönheit und Glanz löst er die zweifelnde Wachsamkeit gegenüber seinen Werken auf und lässt die Menschen die Wahrheit des eigenen Inneren sowie die Fragen des Zeitalters erkennen. So wie er als Student der Dichotomie widerstand, so lehnt er es heute ab, sich in seinem Schaffen

von einem fixierten Rahmen einschränken zu lassen. Lee: Während meines Studiums in Deutschland habe ich verschiedene künstlerische Experimente unternommen, aber sobald jemand meine Arbeit lobte, hörte ich sofort damit auf und versuchte wieder etwas Neues. Als ich mir über meine Zukunft Gedanken machte, las ich in einem Buch eine Passage, die einen tiefen Eindruck auf mich machte: „Man stellt zwar eine Falle auf, wenn man einen Hasen fangen will, aber wenn man einen Hasen gefangen hat, dann sollte man die Falle wegwerfen.“ Ich habe dies auf mein Leben übertragen. Kunst ist ein Mittel zur Kommunikation, aber wenn die Kommunikation zu Ende ist, sollte man es wegwerfen. Deshalb habe ich nach meinem Studium alle meine Werke, für die ich sogar zwei Container gebraucht hätte, weggeworfen und nur meine Werke aus Papier mit nach Korea genommen. Koh: „Was haben Sie noch vor? Lee: Im September veranstalte ich in der Pin Gallery im Pekinger Kunstviertel 798 eine große Ausstellung. Wenn man die Kunstausstellung in Venedig als Vorrunde bezeichnet, dann wäre die Ausstellung in China die Hauptrunde. Mit aufgeregtem Gesicht erklärte er das Konzept der Ausstellung. Mit einem einzigen Thema ein ganzes Leben lang zu arbeiten, kann Lee sich nur schwer vorstellen. Er ist nämlich davon überzeugt, dass nur die Künstler, die unermüdlich über sich selbst reflektieren, lange erfolgreich sein können. Aufgrund seiner Weisheit, nach der Jagd die Falle entschlossen wegzuwerfen, ist zu erwarten, dass Lee Yongbaek auch weiterhin unendliche Herausforderungen annehmen und Fortschritte machen wird.

Links: Pietà Eigenhass — eine Skulptur greift die hingestreckte Gussform an, aus der sie geformt wurde. Rechts: Lee hängte Militäruniformen mit Blumenmuster als Symbol des Friedens an die Wäscheleine des Daches des koreanischen Pavillons der Biennale die Venezia.


Auf der Weltbühne

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Weltweite Begeisterung über

Please Look After Mom Der Roman Eommareul Butakhae (Please Look After Mom) von Shin Kyung-sook (Im deutschsprachigen Raum wurde ihr Name als Sin Kyongsuk oder Sin Kyong-suk bekannt. Auch in: Interview , Koreana, Winter 2010) stößt nicht nur in den USA, sondern jetzt auch in Europa auf große Resonanz. Durch den Symbolgehalt der Gestalt der Mutter hat die Autorin erfolgreich literarische Universalität für ihren Roman erzielt. Kim Mi-hyun Professorin für Koreanistik an der Ewha Womans Univiersity, Literaturkritikerin

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ur zehn Monate nach der Veröffentlichung mehr als eine Million Druckexemplare verkauft! Überschreitung der Eine-Million-Verkaufsmarke in der bislang kürzesten Zeit in der koreanischen Literaturgeschichte“, „Bis Juni 2011 1,75 Mio. Exemplare verkauft“, „Verträge für die Veröffentlichung in 28 Ländern“, „Erstmalige Veröffentlichung der Übersetzung eines Werkes der koreanischen Literatur in Großbritannien, Portugal, Israel, Serbien, Finnland und Island“, „In der ersten Hälfte 2011 unter den 10 Top-Bestsellern von Amazon“, „Platz 14 auf der New York Times-Bestsellerliste“, „Erfolgreiche Buchtour durch sieben USamerikanische Städte und acht europäische Länder“. Die oben aufgeführten Fakten und Zahlen belegen den nationalen und internationalen Erfolg des Romans Please Look After Mom von Shin Kyung-sook. In einem Interview sagte sie bescheiden: „Die englische Ausgabe ist sowohl für mich persönlich als auch für die koreanische Literatur so etwas wie der erste Schneefall in den USA.“ Aber ihre Erfolge im Ausland gleichen in literarischer und kommerzieller Hinsicht eher einem Schneesturm als den zarten Flocken des ersten Schnees. Darüber hinaus handelt es sich hier nicht um einen schlagartigen Zufallserfolg, sondern um das Ergebnis von Shins seit ihrem Debüt im Jahr 1985 ständig weiter entwickeltem literarischem Können. (Eingehende Informationen über das literarische Gesamtwerk von Shin Kyung-sook finden sich in: Interview, Koreana, Winter 2010; Anmerkung der Redaktion) Den Erfolg des Buches haben zwar zum Teil auch äußere Faktoren bewirkt wie die nachhaltigen Bemühungen und die Unterstützungen, mit denen das Institut für die Übersetzung koreanischer Literatur (Korea Literature Translation Institute) und die Daesan Stiftung (Daesan Foundation) die Vorstellung koreanischer Werke im Ausland fördert, die flüssige Übersetzung der Übersetzerin Kim Ji-young und die umfassenden PR-Aktivitäten des weltweit anerkannten US-Literaturverlags Knopf, aber noch entscheidender sind die werkimmanenten Faktoren.

Über die Grenzen der koreanischen Literatur hinaus

2 1. Die Schriftstellerin Shin Kyung-sook im Lincoln Center for the Performing Arts, New York City. Sie sagt, sie besuchte das Center häufig während ihres Aufenthalts als Gastwissenschaftlerin an der Columbia University von September 2010 bis August 2011. (Foto: Lee Jae-an) 2. Titeleinband der amerikanischen Ausgabe von Please Look After Mom.

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Welche Seiten dieses Romans konnten über die Grenzen von Nationen und ethnischen Hintergründen hinaus die Leser aus aller Welt ansprechen? Der Roman enthält viele Elemente, die die gängige Vorstellung, dass das Volkstümlichste gleich das Universalste sei, brechen. Da ist vor allem das Motiv „Mutter“ zu nennen. Dem Roman gelang es, durch den symbolischen Gehalt der Mutterfigur den Anspruch von „Universalität“ der Literatur, der zwar selbstverständlich, aber nur schwer zu erreichen ist, erfolgreich zu verwirklichen. Die Mutter im Roman opfert sich für den Erhalt der Werte der Familie, die immer mehr in Vergessenheit geraten, trägt Konflikte mit den einzelnen Familienmitgliedern aus und verändert die Familie. Der Leser versteht und interpretiert die Mutter jeweils aus seiner ganz eigenen, persönlichen Perspektive. Dabei kann die Mutter für eine Personifizierung Gottes, für Leben (Gebärmutter, Heimat), für „Andere“ oder sogar für das Ich des Lesers stehen. Deutlich ist dabei, dass die Mutter an sich bestimmte Werte, die wir verloren haben, aber wieder finden sollten, repräsentiert. Bewertungen von Lesern wie „Der Roman handelt zwar von einer koreanischen Familie, aber wenn man Orte und Namen ändert, wird daraus die Geschichte einer normalen Familie in den USA“ bei Amazon.com oder „Dieser Roman bringt ein Dilemma, das Familien überall auf der Welt erleben, zum Ausdruck“ im Ms. Magazine Blog belegen die universale Bedeutung der Mutter. Eine weitere Besonderheit dieses Romans liegt in der „neuen“ Einsicht ins Muttersein. Die Mutter in Please Look After Mom folgt nicht einfach dem traditionellen Bild der opferbereiten Mutter. Sie leistet auf eigene Art und Weise Widerstand gegen die gängige Mutter„Ideologie“. Laut Shin Kyung-sook ist Please Look After Mom „ein Roman, der es ermöglicht,

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Die Autorin bei einer Signierstunde auf dem Hay Festival in Hay-on-Wye, Wales, GroĂ&#x;britannien, im Mai 2011

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die wirkliche Mutter zu entdecken, Mutter-Stereotypen zu durchbrechen und das Mutterbild quasi auf eine menschliche Weise zu dekonstruieren.“ Auch wenn die Mutter im Roman rein äußerlich betrachtet die patriarchalich-konservativen und altmodischen Werte von Muttersein aufzuweisen scheint, kann der Leser dahinter doch eine fortschrittliche und selbstbestimmte Mutterfigur entdecken. Daher spielt der Roman in Bezug auf die Mutterschaft quasi die Rolle eines „Trojanischen Pferdes“. Denn auch wenn eine traditionelle Mutter porträtiert wird, ist diese Muttergestalt keine Verkörperung von „Anti-Modernismus“ oder „Anti-Feminismus“, sondern steht für „Post-Modermismus“ und „Post-Feminismus“. In Please Look After Mom wird die Mutter nicht als passiv Seiende, sondern als agierendes, lebendes Wesen in ihrer Komplexität dargestellt. Wie die Autorin bei mehreren Gelegenheiten bemerkte, geht es bei dem Roman nicht um Erinnerungen an die Mutter der Vergangenheit, sondern um eine Annäherung an das wahre Wesen der Mutter. In diesem Sinne ist Please Look After Mom ein Roman über die Mutterschaft und Familie des 21. Jahrhunderts.

Das internationale Lesepublikum Ermutigend ist vor allen Dingen, dass der literarische Wert von Please Look After Mom Anerkennung findet. Der Aufbau des Romans, angefangen mit dem ersten Satz „Es ist eine Woche her, dass Mutter verschwunden ist“ bis zum Schlusssatz „Es ist neun Monate her, dass Mutter verschwunden ist“, sorgt für die Spannung eines Kriminalromans. Hinzu kommt die narrative Stärke, die mittels unterschiedlicher Perspektiven durch den Wechsel des Erzäh„Der Roman handelt zwar von einer koreanischen Familie, aber lers von „Sohn – Tochter – Ehemann – Mutter“ erreicht wird, wobei die „Du“-Erzählweiwenn man Orte und Namen ändert, wird daraus die Geschichte se der drei ersten Erzähler für Frische und Spannung sorgt, während die „Ich“-Erzäheiner normalen Familie in den USA.“ lung der Mutter von emotionalem Echo und Nachklang des Gefühls gekennzeichnet ist. Der literarische Wert des Romans wird durch den Symbolgehalt verschiedener Objekte wie die Schuhe, des Alter Ego der Mutter, des Vogels, der Pietà von Michelangelo etc. erhöht. Betrachten wir einmal die Fragen im Reading Guide der April-Ausgabe 2011 des Monatsmagazins Oprah Magazine von Oprah Winfrey, das Please Look After Mom als eins von zehn lesenswerten Büchern empfiehlt. „Wie bringt die Du-Erzählform das Gefühl der Figuren gegenüber der Mutter zum Ausdruck? Warum erzählt nur die Mutter ihre Geschichte in der Ich-Form?“ „Warum ist Essen in der Erinnerung von Hyeongcheol (Sohn) an die Mutter ein so starkes Element?“ „Nach Aussagen von Personen, die die Mutter gesehen haben, soll sie blaue Plastik-Slipper getragen haben und ihr Fuß verletzt gewesen sein, aber die Familienmitglieder glauben, dass sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens beigefarbene Sandalen mit niedrigem Absatz trug. Wie lässt sich das erklären?“ An diesen Fragen ist das Interesse der Leser an den literarischen Modi erkennbar. Die Leser sind bemüht, einen richtigen und tiefen Einblick in Please Look After Mom zu gewinnen, indem sie sich nicht nur für Inhalt und Handlung des Romans, sondern auch für seine literarische Darstellungsweise interessieren. Das lässt erwarten, dass dieser Roman von Shin Kyung-sook keine „Bestseller-Eintagsfliege“ ist, sondern nachhaltig als „künstlerisches Werk“ aufgenommen wird. Der wesentliche Zug der Werke von Shin liegt nicht darin, das Kalte noch kälter wiederzugeben oder die Welt in beißendem Ton anzuklagen. Je größere Bedeutung der Literatur als Quelle von zwischenmenschlicher Verbundenheit, Trost, Selbstreflexion und emotionaler Bewegtheit beigemessen wird, desto deutlicher finden die literarischen Werke Shins ihre Daseinsbegründung. Denn durch ihre Augen betrachtet, wird die Welt eine Spur wärmer.

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Kunsthandwerker

Perfektion der Töpferkunst:

Onggi-Meister Kim Il-man und seine Söhne Eine der Besonderheiten der koreanischen Küche ist, dass die wichtigsten Nahrungsmittel einer Fermentierung unterzogen werden. Onggi, große irdene Gefäße, dienen v.a. zur Aufbewahrung fermentierter Gemüse wie Kimchi, das als repräsentativste fermentierte Speise wegen seiner gesundheitsfördernden Wirkung weltweite Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber auch für die Fermentierung von Soßen und Pasten wie Ganjang (Sojasoße), Doenjang (Sojabohnenpaste) und Gochujang (Chilipaste) sind die Onggi, die wegen ihrer Luftdurchlässigkeit auch als „atmende Gefäße“ bezeichnet werden, ideal. Onggi-Meister Kim Il-man hält in der sechsten Generation an der traditionellen Herstellung dieser Onggi fest und gibt seine beständige Liebe zu Onggi an seine vier Söhne und den Enkel weiter. Park Hyun-sook Freie Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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atürliche Nahrungsmittel, die durch den Zusatz von Laktobazillen zum Gären gebracht werden, schmecken nicht nur gut, sondern sind auch gut für die Gesundheit. Wer einmal den unverwechselbar tiefen und intensiven Geschmack fermentierter Speisen gekostet hat, der kann ihn nicht wieder vergessen. Der amerikanische Futurologe Alvin Toffler, der Autor von Die dritte Welle, bezeichnete ihn als den „dritten Geschmack“. Laut Toffler soll sich der Schwerpunkt der Esskultur der Welt auf den „dritten Geschmack“ verlagern. Er bezeichnete den ersten Geschmack als den „Geschmack des Salzes“, den zweiten als den „Geschmack der Soße“ und den dritten als den „Geschmack der Fermentation“. Durch die Fermentierung werden die Nahrungsmittel mit Nährstoffen angereichert und es bilden sich verschiedene gesundheitsfördernde Stoffe. 90 Prozent der koreanischen Speisen sind fermentiert und Onggi-Krüge wurden speziell zur Aufbewahrung von diesen Nahrungsmitteln entwickelt. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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1. Töpfermeister Kim Il-man glättet den Rand eines Topfes in einem abschließenden Schritt der Formgebung. 2. Lange Lehmschlangen werden auf der Töpferscheibe aufgeschichtet, um den unteren Teil des Onggi zu formen. 3. Die Innen- und Außenseiten der Lehmwände werden durch Schlagen mit Bleueln geglättet und gehärtet. 4. Das fertige Gefäß wird trocknen gelassen und vor dem Brennen glasiert.

Bestehen auf traditioneller Brennweise Onggi werden aus Tonerde hergestellt. Die Tonmasse wird durch Drehen auf der Töpferscheibe geformt und das Gefäß anschließend in einem mit z.B. Eichenholz gefeuerten Lehm-Brennofen gebrannt. Bei den Onggi unterscheidet man zwischen den glasierten Oji-geureut (Oji-Krug) und den unglasierten Jil-geureut (Jil-Krug). Da jedoch seit Beginn der Moderne die Zahl der unglasierten Jil-geureut dramatisch zurückging, meint man heutzutage, wenn man von Onggi spricht, die glasierten Oji-geureut. Die Onggi-Krüge haben porenartige Löcher für den Luftaustausch, die die Fermentierung in Gang setzen. Weil Onggi luftdurchlässig aber trotzdem wasserfest sind, verfaulen die darin aufbewahrten Nahrungsmittel nicht. Die Onggi werden daher auch „atmende Gefäße“ genannt. Seit alters her kümmern sich koreanische Frauen darum, diese Töpfe stets gut zu säubern, um die Poren offen zu halten, und so den Geschmack von Kimchi und Gewürzpasten zu bewahren. Cheongja (jadegrünes Seladon) strahlt die erhabene Würde der Seonbi, der koreanischen Gelehrten alter Zeit, aus, während Baekja (weißes Porzellan) an die schüchterne Grazie junger Damen erinnert. Diese Porzellane werden daher sorgfältig aufbewahrt und sind mehr dekorative Objekte des optischen Genusses. Hingegen sind die Onggi Alltagsgegenstände, die an die Zeilen „meine Frau, die nichts Beson-

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deres ist und auch nicht hübsch, und das ganze Jahr barfuß herumläuft“ aus dem Gedicht Heimweh von Jeong Ji-yong (1902-1950) erinnern. Die Onggi besitzen zwar nicht die Art von Schönheit, die den Betrachter auf den ersten Blick zu fesseln vermag, aber mit der Zeit lernt man ihre anheimelnde Ausstrahlung zu schätzen. Im Alter von fünfzehn Jahren begann Onggi-Meister Kim Il-man (70) mit dem Erlernen des „Subi“-Prozesses, d.h. Tonerde in Wasser zu geben und aus den Ablagerungen den für die Onggi-Herstellung geeigneten Ton herauszufiltern. Am 11. Februar 2010 wurde er zum Träger des „Immateriellen Kulturgutes Nr. 96“ ernannt, was ihn sehr freute, weil dadurch seine lebenslange Arbeit Anerkennung fand. 1 „Benutzt man einen traditionellen Brennofen, erhält man 50 Prozent Ausschuss. Die Krüge reißen, weil die Hitze nicht gleichmäßig reguliert werden kann. Bei einem Gasbrennofen braucht man nicht die Nächte hindurch Holz nachzulegen und es entsteht auch kein Ausschuss. Die Verwendung elektrischer Töpferscheiben statt der traditionellen Töpferscheibe mit Fußantrieb erleichtert zwar die Arbeit, aber ein richtiger Onggi-Meister benutzt sie nicht.“

Acht Generationenen traditionelles Handwerk Im Samguksagi (1145), der Chronik der Drei Königreiche, finden sich Aufzeichnungen zu den Onggi. Diesen Berichten zufolge gab es zur Zeit des Silla-Reichs (57 v. Chr. - 668 n. Chr.) eine speziell für die Onggi-Herstellung zuständige staatliche Behörde. Bis in die 1960er Jahre gab es landesweit noch 500 traditionelle Brennöfen. Der beste Beweis für Meister Kims unerschütterlichen Glauben an die Überlegenheit der traditionellen Herstellungsmethoden findet sich direkt am Eingang zu seinem Haus. Dort stehen nämlich drei 150 Jahre alte traditionelle Brennöfen, die nach ihrem Standort in der Provinz Gyeonggi-do als „Brennöfen von Yeoju, Ipo-ri“ bekannt sind. Die Öfen weisen jeweils eine unterschiedliche Form und Größe auf. Der größte, ursprünglich 40 Meter lange Ofen (Daepo-gama), ist heute nur noch 24,5 Meter lang, 2,4 - 2,8 Meter breit und 1,53 - 1,75 Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Meter hoch. Er dient hauptsächlich dazu, große Vorratskrüge zur Aufbewahrung von Gewürzpasten oder Kimchi zu brennen. Im mittelgroßen Ofen (Siru-gama) mit einer Länge von 10,73 Metern, einer Breite von 1,5 Metern und einer Höhe von 1,1-1,15 Metern werden Krüge mittlerer Größe oder kleine Töpfe zum Dämpfen gebrannt. Der kleinste Ofen (kleiner Daepo-gama), der sieben Meter lang, 1,95 Meter breit und 1,15-1,27 Meter hoch ist, wird fürs Brennen kleiner Krüge oder unglasierter Töpfe (Banoji-geureut und Jilgeureut) verwendet. „Meine Heimat ist Andong und seit meinem Urururgroßvater lebt meine Familie von der Onggi-Herstellung. Ich übe diesen Familienberuf in der sechsten Generation aus. Heute wie damals schlagen sich die Töpfer nur mühsam durch. Wenn mein Vater Onggi verkaufen konnte, hat er das Geld gleich in Alkohol umgesetzt. Weil er kein festes Zuhause hatte, ist er von einer Onggi-Töpferei zur anderen gezogen und hat sich als Töpfer verdingt. Erst ich wurde Hoju (Töpfer mit einer eigenen Werkstatt). In den 1980er Jahren ließ ich mich hier in Ipo-ri nieder. Damals war es noch ein Onggi-Dorf und es gab viele Brennöfen wie die hier, aber jetzt haben sie Seltenheitswert.“ Den Öfen gegenüber liegt die Töpferwerkstatt. An den nebeneinander stehenden fünf Töpferscheiben, die per Fuß betrieben werden, töpfern drei Männer einen rund 110-Liter-Krug. Es sind Meister Kims ältester Sohn Seong-ho (49), der jüngste Sohn Yong-ho (37) und der Enkel Myeong-jin (23), der Sohn von Seong-ho. Meister Kim

hat fünf Söhne und eine Tochter und vier seiner Söhne setzen die Familientradition fort. Sein zweiter Sohn Jeong-ho (46) und sein dritter Sohn Chang-ho (43) zogen nach der Heirat aus. Die Töpfe werden unter dem Markennamen „Obuja onggi (Onggi vom Vater und seinen vier Söhnen)“ vertrieben und sind Zeugnisse der Weitergabe des Familienhandwerks über acht Generationen. Der älteste Sohn, Seong-ho, der wie sein Vater im Alter von 15 Jahren mit der OnggiHerstellung begann, hat eine Berufserfahrung von mehr als 30 Jahren, trotzdem nennt er sich noch „Schüler“: „Das ist deshalb, weil ich noch lerne. Es ist schwierig, im ganzen Land gute Tonerde zu suchen, sie von Verunreinigungen zu befreien, die Tonmasse in eine bestimmte Form zu bringen und zu brennen. Mein Vater besteht darauf, alle Herstellungsprozesse auf traditionelle Art und Weise durchzuführen und ich finde das richtig. Die traditionelle Herstellungsweise ist auf die Überzeugung meines Vaters zurückzuführen, dass Maschinen die Hände des Menschen nicht ersetzen können. Das bedeutet, dass er mit großer Hingabe seiner Arbeit nachgeht. Wenn Töpfe in traditionellen Brennöfen gebrannt werden, reißen zwar viele davon, aber die auf diese Weise erfolgreich gebrannten Tonwaren sind stabiler und haben einen natürlicheren Glanz. Wenn man die Töpferscheiben mit dem Fuß dreht, kann man seinen eigenen Arbeitsrhythmus schaffen. Nur dadurch kann das „Surejil“ (mit dem Werkzeug Sure die Außenseite der Krüge bearbeiten, um die gewünschte Glattheit und Dichte zu erreichen) so, wie es

„Benutzt man einen traditionellen Brennofen, erhält man 50 Prozent Ausschuss. Die Krüge reißen, weil die Hitze nicht gleichmäßig reguliert werden kann. Bei einem Gasbrennofen braucht man nicht die Nächte hindurch Holz nachzulegen und es entsteht auch kein Ausschuss. Die Verwendung elektrischer Töpferscheiben statt der traditionellen Töpferscheibe mit Fußantrieb erleichtert zwar die Arbeit, aber ein richtiger Onggi-Meister benutzt sie nicht.“ 2

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1. Die traditionellen Brennöfen für Obuja Onggi werden vier Mal im Jahr für fünf Tage hintereinander ununterbrochen geheizt. 2. Kim prüft die gebrannten Onggi im abgekühlten Brennofen. In einem traditionellen Brennofen ist die Temperatur so unbeständig, dass fast die Hälfte der Töpfe beim Brennen reißt.

sich gehört, gemacht werden.“ Der Enkel von Meister Myeong-jin, der nach dem Abschluss der Oberschule für Töpferkunst visuelle Kunst studiert, sagt, dass er von seinem Großvater den Stolz und die Freude des Meisters, „das Familienhandwerk fortzusetzen“, lerne. Chang-ho, der dritte Sohn, fügt hinzu: „Die Onggi-Herstellung erfordert von Anfang bis Ende ununterbrochen große Anstrengungen. Insbesondere beim Feuern der Öfen muss man fünf Nächte hindurch wach bleiben, um Tag und Nacht die Hitze zu regulieren. Wenn am letzten Tag das Feuer gelöscht wird, sind die meisten Töpfer zu Tode erschöpft. Mein Vater ist der einzige, der sich noch am selben Tag wieder an die Töpferscheibe setzt und eine neue Arbeit beginnt. Er arbeitet so hart, dass er den Spitznamen ‚preußischer Soldat‘ bekam. Da ich meinen Vater in meiner Kindheit so erlebt habe, habe ich mich entschlossen, in seine Fußstapfen zu treten.“ Vor dem Handwerksmeister, der an der letzten Töpferscheibe Onggi erschafft, arbeiten zwei seiner Söhne und ein Enkel. Die Szene erinnert an das Bild eines Vaters, der schweigend den Weg betrachtet, den seine Kinder gehen. Der Meister sagt: „Wenn kräftige Töpfer die Töpferscheibe drehen und die Außenseite der Töpfe bearbeiten, dann klingt das kraftvoll und lebendig. In fortgeschrittenerem Alter verliert das Drehen der Töpferscheibe an Schwung und die Schläge klingen kraftloser. Schauen Sie sich sie nur an! Wie kraftvoll es klingt.“ Meister Kim ist voller Stolz auf die Techniken und Fertigkeiten seiner Söhne und des Enkels, die die Töpferscheiben schwungvoll mit dem Fuß drehen. „Als ich noch jung und kräftig war, habe ich einen Krug von rund 1.260 Litern allein hergestellt. Das bedeutet nicht, dass ich außergewöhnlich war, sondern alle Töpfer konnten das. In anderen Ländern mit Töpfertradition sollen große Gefäße wie die Onggi von mehreren Töpfern gemeinsam gefertigt werden, weil es für einen allein zu schwer ist. Dort sollen Stücke aus Ton geformt und aneinander gesetzt werden. Aber hier bei uns schaffen die Töpfer lange, meterwurstartige Tonstreifen, die dann quasi aufgewickelt werden. Dadurch werden die Onggi noch stabiler.“ Zur Herstellung von stabilen Onggi ist große handwerkliche Geschicklichkeit vonnöten und man sollte vor allem im „Surejil“ erfahren sein, also in der Bearbeitung der Außenseite der Krüge, die durch Schlagen in die gewünschte Glattheit und Dichte gebracht werden müssen. Laut Meister Kim braucht man zwei bis drei Jahre, um die langen Ton-Meterwürste richtig zu legen und aufzuwickeln und es soll zehn Jahre Erfahrung brauchen, das Surejil zu beherr-

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schen.

Je reifer, desto atmungsaktiver Gut gereifter Kimchi schmeckt gut. Reife ist auch für die Onggi entscheidend: Nur von Anfang bis Ende „durchgereifte“ Onggi sind in höchstmöglichem Maße atmungsaktiv. Eine Redewendung besagt, dass zunächst der Großvater die Tonerde wählt und erst sein Enkel sie bearbeitet: So gut und lange soll der Ton reifen gelassen werden. „Je nach Region ist die Beschaffenheit der Erde völlig unterschiedlich. Wie es Klebreis und Nicht-Klebreis gibt, so ist auch die Tonerde in klebrige und nicht-klebrige zu unterteilen. Darüber hinaus gibt es steinige und nicht-steinige Erde, und auch die Steine weisen jeweils unterschiedliche Charakteristika auf. Weil die Eigenschaften der Tonerde gut zur Geltung kommen sollten, darf nicht nur Erde aus einer einzigen Region verwendet werden. Bezüglich der Erde sagte man früher: „Je mehr, desto problemloser“ und meinte damit, dass verschiedene Tonarten gemischt werden sollen, um Ton von hoher Qualität zu gewinnen. Ich habe alle Gebiete mit guter Tonerde wie Goryeong, Boeun und Jochiwon besucht und dort jeweils Proben Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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gesammelt, um sie miteinander zu mischen. Auf diese Weise kann man Ton von bester Qualität gewinnen.“ Die verschiedenen Tonerden werden in Wasser getaucht, um Verunreinigungen wie Graswurzeln und Steine abzusondern und den Ton reifen zu lassen (Subi). Dann wird der Ton gut getrocknet, geschlagen und gemischt (Saengjil). Danach wird er mit den Händen gerieben, gemischt und unter Zugabe von Wasser zu einer teigartigen Masse geknetet. Durch diesen Prozess werden Luftbläschen beseitigt und die Tonmasse erhält die notwendige klebrige Konsistenz. Danach wird sie eine Meterwürsten ähnelnde Form gebracht (Geona). Anschließend wird die Tonmasse auf die mit Kaolin-Pulver bestreuten Töpferscheiben gelegt, mit dem Werkzeug Sure geschlagen und zum Boden des Onggi geformt. Auf diesen Boden werden bis zu einer gewissen Höhe strangförmige Tonwürste aufeinander gewickelt, wobei die Onggi-Außenseite geschlagen wird, um sie dünner und stabiler zu machen. Abschließend wird der Onggi je nach Jahreszeit eine Woche bis zu einem Monat getrocknet und dann glasiert. Auch die Glasuren, die aus einer Mischung aus Holzasche und Lehm bestehen, sollten einen zwei- bis viermonatigen Reifeprozess K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

hinter sich bringen. Von der Tonerde-Auswahl über die Herstellung der Ton-Stränge und das Töpfern der Onggi auf der Töpferschreibe bis hin zum Trocknen und Brennen braucht es insgesamt 50 bis 60 Arbeitstage. „Onggi werden in einem traditionellen Ofen vier Mal im Jahr, d.h. zwei Mal im Frühling und zwei Mal im Herbst, gebrannt. In einem Ofen werden 350 bis 400 Töpfe aufgestapelt. Gefeuert wird bei mir ausschließlich mit der Rinde von Rotkiefern aus Gangneung an der Ostküste. Denn sie entwickeln viel Hitze. Die Temperatur steigt von 100 Grad Celsius am ersten Tag bis auf 1.200 bis 1.230 Grad Celsius. Am fünften Tag wird dann das Feuer gelöscht.“ Für den Laien sieht zwar ein Onggi wie der andere aus, aber der Meister und seine vier Söhne erkennen die von ihnen hergestellten Onggi sofort. Das gilt auch für andere Töpfer. Auch wenn sie von der Welt nicht anerkannt werden, wollen sie die Tradition der OnggiHerstellung unverändert fortsetzen, um auch in den Augen kritischer Kunden bestehen zu können. Ihre Hartnäckigkeit, die Tradition von Generation zu Generation weiterzugeben, scheint genau so unerschütterlich wie die Beständigkeit der Onggi zu sein.

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Unterwegs

In diesem Jahr feiert die Goryeo Chojo dajanggyeong , die ursprüngliche Fassung der Tripitaka Koreana , ihren 1000. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurde in der Gegend des Tempels Haein-sa im Kreis Hapcheon-gun, Provinz Gyeongsangnam-do, wo die Tripitaka aufbewahrt wird, das Weltkulturfestival 1.000 Jahre Tripitaka

Koreana veranstaltet. Als Auftakt zur Hauptveranstaltung, die am 23. September begann, fand 100 Tage zuvor eine dreitätige Tripitaka-Prozession statt. Ehrwürdiger Mönch Sungahn Leiter der Bewahrungsabteilung, Research Institute of Tripitaka Koreana des Tempels Haein-sa | Fotos: Ahn Hong-beom

Die Tripitaka-Prozession

Die Prozession, angeführt von der Sänfte mit einem Original-Holzdruckstock der Tripitaka, umkreist die Pagode im Haupthof des Tempels Haein-sa, bevor sie sich auf den Weg nach Seoul macht.

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Ko re a n Cu l tu re & A rts


Einer der hölzernen Druckstöcke der Tripitaka Koreana . Es ist tausend Jahre her, dass die Original-Version der Druckstöcke graviert wurde. Die ursprünglichen Druckstöcke fielen während des Einfalls der Mongolen ins Goryeo Reich 1232 den Flammen zum Opfer und nur einige der Originale blieben erhalten. Vier Jahre später, 1236, wurde mit der Gravur einer neuen Ausgabe des buddhistischen Kanons begonnen, die 15 Jahre in Anspruch nahm.

A

m Morgen des 18. Juni 2011 verbreitete sich der gewichtige Klang von fünf Glockenschlägen aus dem Glockenpavillon des Tempels Haein-sa. Danach sang ein Chor in der traditionellen Tracht Hanbok Die drei Zufluchten (Zufluchtnahme zu den drei Juwelen = Buddha, Dharma, Sangha), Mönch Nojeon rezitierte die Herz-Sutra und der Rektor des Haein Sangha College, der Mönchsschule des Tempels, schloss mit dem Gobulmun (Bericht an Buddha). Anschließend holte der Abt einen der Tripitaka-Holzdruckstöcke aus der Aufbewahrungsstätte Janggyeongpan-jeon und legte ihn in die Sänfte. Damit endete die Aufbruchszeremonie, der erste Schritt der TripitakaProzession auf ihrem langen Weg nach Seoul.

Die Prozession beginnt Die Trommel- und Hornklänge einer traditionellen, in gelbe Kostüme gekleideten Band signalisierten den Beginn der Prozession. Es folgten die Mönche, die verschiedene Ritualgegenstände trugen: ein Weihrauchgefäß, ein Schriftband mit dem Namen des Bodhisattva, der die Seelen ins Paradies geleitet, fünffarbige Schriftbänder mit den Namen der fünf Himmelsrichtung-Bodhisattva, Baldachine und große, blattförmige Fächer. Hinter ihnen folgten die Tripitaka-Sänfte, der Abt und eine Heerschar von Mönchen: Mönche die sich in der Meditationshalle der Meditation widmen, Mönche, die in der Vinaya-Halle die Ordensregeln studieren, Mönche, die in der Vorlesungshalle die heiligen Schriften studieren sowie Nonnen, die im Tempel Haein-sa an der Sommer-Meditation teilnehmen. Den Schluss des Zuges bildeten buddhistische Gläubige, die jeweils eine Replik der Tripitaka-Blöcke auf dem Kopf trugen. Nach dem Aufbruch von der Halle Beopbo-jeon, der Halle des Dharma-Juwels, führte der Weg vorbei an der Daejeokgwang-jeon, der Halle des Großen Stillen Lichts, bis zur Straße der Stelen vor dem Tempeleingang. Dort übergab der Abt den TripitakaDruckstock dem Leiter des Kreises Hapcheon-gun. Mit dieser feierlichen Übergabe ging der erste Teil der dreitätigen Veranstaltung zu Ende. Die zweite Etappe der Tripitaka-Prozession beinhaltete eine Gedenkzeremonie in der Hauptstadt Seoul. Danach ging es am dritten Tag weiter zum Hafen Gaegyeong-po im Kreis Goryeonggun, bevor die Prozession schließlich wieder zu ihrem Ausgangspunkt, dem Tempel Haein-sa, zurückkehrte. Es heißt, dass hochentwickelte Kulturen in Zeiten der Prosperität ihre höchste Blüte erlangen. In diesem Sinne ist die Tripitaka das repräsentativste Kulturerbe, ihrer Zeit das die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Goryeo-Reiches (918-1392) bestens demonstriert. Der Ehrwürdige Mönch Uicheon (1055-1101), Sohn von König Munjong und Begründer der Cheontae-Schule des Buddhismus, beschrieb die Herstellung der Tripitaka-Druckstöcke als „Weitergabe der Weisheit des Mil­lenniums an das Millennium der Zukunft“. Die Menschen von Goryeo fassten in diesem Kanon Wissen K o r e a n a ı S u mme r 2 011

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und Techniken der vergangenen 1.000 Jahre zusammen und gaben sie an uns, ihre Nachfahren nach 1.000 Jahren, weiter. Ziel des groß angelegten, festlichen Umzugs war, sich dieser immensen Bedeutung noch einmal voll bewusst zu werden. Bevor wir uns dem Umzug anschließen, machen wir einen kleinen Streifzug durch die Landschaften auf dem Weg zum Janggyeongpan-jeon.

1. Buddhistische Gläubige mit einer Druckstock-Replik auf Kopf auf dem Weg von der Einsiedelei Gilsangam zurück zum Tempel Haeinsa. 2. Die Aufbruchszeremonie vor den Lagerhallen der Tripitaka Koreana im Tempel Haein-sa.

108 Treppenstufen Folgt man dem klaren Wasserlauf, der sich im Gebirge Gaya-san durchs Tal von Hongnyudong schlängelt, kommt irgendwann der majestätische, 1.000-jährige Tempel Haein-sa in Sicht, der von anmutigen Berglinien eingerahmt wird. Geht man am künstlichen Teich Yeongji, in dem sich die Bergspitze widerspiegelt, vorbei und passiert das Ilju-mun (Ein-Säulen-Tor) mit der Namenstafel Haein-sa im Gaya-san , das Bonghwang-mun (Phönix-Tor) und das Sacheonwang-mun (Tor der vier himmlischen Wächter), trifft man auf eine Steintreppe. Steigt man diese Treppe gen Himmel blickend hinauf, erreicht man das Haetal-mun (NirwanaTor) mit der Schrifttafel Haedongwonjong daegaram (Der Große Tempel des Hwaeom-Ordens des koreanischen Buddhismus). Dieses Tor führt in einen weitläufigen Innenhof mit dem Pavillon Gugwangnu (Pavillon der neun Lichtstrahlen) im vorderen Bereich. Hinter diesem zweistöckigen Pavillon sind im Hof eine dreistöckige Steinpagode und eine Steinlaterne aus der Silla-Zeit (57 v. Chr.- 935 n. Chr.) zu sehen. Auf der rechten Seite befindet sich das Gwaneum-jeon (Halle des Avalokitesvara Boddhisattva) und auf der linken Seite das Hyeon-dang (Halle der Endgültigen Wahrheit), wo die Mönchstudenten wohnen und meditieren. Steigt man von dort weiter die Treppe hinauf, kommt man zum Daejeokgwang-

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jeon, zur Halle des Großen Stillen Lichts, der Haupthalle des Tempels, die den Vairocana-Buddha beherbergt. Rechts davon befindet sich das Seonnyeol-dang (Halle der Zen-Glückseligkeit), wo der Abt wohnt, das Myeongbu-jeon (Halle des Gerichts über die Toten) mit dem Ksitigarbha Bodhisattva sowie das Eungjin-jeon (Halle des Arhat-Boddhisattva). Hinter dem Daejeokgwang-jeon schließlich liegt ein großer Komplex mit den ältesten Gebäuden des Tempels, darunter auch das Janggyeongpan-jeon, die Aufbewahrungsstätte der hölzernen Druckstöcke der Tripitaka Koreana . Am Ende der steilen Treppe wird der Besucher von einer Holztafel mit der Aufschrift „Palman daejanggyeong“ (80.000-Tripitaka) empfangen. Es sind insgesamt 108 Treppenstufen, die man vom Eingangstor Ilju-mun bis zum Janggyeongpan-jeon hochsteigen muss. Diese Zahl geht auf die buddhistische Vorstellung zurück, dass der Mensch 108 Leidenschaften Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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ausgesetzt ist, die Ursache allen Leidens sind. Die Buddhisten sagen, dass man sich von diesen Leidenschaften befreien kann, wenn man alle 108 Stufen der Treppen auf dem Weg zur Tripitaka hochsteigt, ohne dabei eine einzige auszulassen. Jedes Mal, wenn der Fuß auf eine Stufe gesetzt wird, soll man von einer Leidenschaft befreit werden. Diejenigen, die zum Tripitaka-Gebäude hochgestiegen sind, ohne innere Ruhe und Frieden gefunden zu haben, sollen zwei Stufen auf einmal genommen haben. Als ich in die Tempelgemeinschaft von Haeina-sa eintrat, brachte ich 3.000 Verbeugungen in der Haupthalle dar, danach wurden mir die Haare geschoren und ich erhielt das braune Gewand der Postulanten. Jedem Postulant wird eine bestimmte Arbeit zugeteilt. Ich wurde im für die Tempelküche zuständigen Verwaltungsbüro eingesetzt. Zu den wichtigen Aufgaben eines Postulanten dieses Verwaltungsbüros gehört, den Mönchen,

1. Die hölzernen Druckstöcke der Tripitaka stehen dicht an dicht auf den Regalen der Aufbewahrungshalle. Der Ehrwürdige Mönch Sung­ ahn nimmt einen der Druckstöcke in Augenschein. 2. Die Prozession der Tripitaka Koreana bei ihrem Zug durch die Straßen von Insa-dong in Seoul.

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der für die Überwachung der Tripitaka Koreana zuständig ist, während der drei Essenszeiten zu vertreten, dabei sein Aufsichtsbüro zu säubern und die TripikataDruckstöcke alleine zu überwachen. In dem 65 Jahre alten kleinen Gebäude des Aufsichtsbüros wohnen der Aufsichtsmönch und der Mönch, der in der TripitakaHalle das 1.000-Tage-Gebet leitet. Es war für mich jedes Mal sehr aufregend, drei Mal am Tag die steile Treppe zum Janggyeongpan-jeon hinaufzusteigen. Es kam mir immer so vor, als wäre die Stätte von einer unbeschreiblich geheimnisvollen Atmosphäre eingehüllt.

Die Tripitaka-Aufbewahrungsstätte Janggyeongpan-jeon Hinter dem Boan-mun, dem Tor der panoptischen Augen, ist die Schrifttafel „Sudara-jang“ zu sehen. „Sudara-jang“ ist eine Zusammensetzung aus dem Hindi-Wort „Sudara“, der Transliteration des Sankrit-Wortes für „Sutra“, der allgemeinen Bezeichnung für die Schriften und Lehren Buddhas und der buddhistischen Prinzipien, und „Jang“, dem sinokoreanischen Wort für „aufbewahren“. „Sudara-jang“ ist also Aufbewahrungsort der buddhistischen Schriften, die sich im Janggyeongpan-jeon befinden. Das Eingangstor des Sudara-jang ist rund und sieht wie eine große Glocke aus. Geht man durch das Tor, erscheint auf der linken Seite ein schwarz-weißes Bild: Der Mönch, der sich vor dem Eingang seine Hände faltend verbeugt, und die Dachziegel des Bonan-mun werfen einen Schatten, der wie eine Lotusblume, das Symbol des Buddhismus, aussieht. Der Mönch bildet das Staubblatt der Blume. Dieses Schattenbild erscheint nur eine Woche lang zum Frühlings- und Herbstäquinoktium. Zu anderen Zeiten ist der Schatten nicht deutlich, so dass die Lotusblume fehlt. Das Janggyeongpan-jeon, das im frühen Joseon-Reich unter König Seongjong


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gebaut wurde (1488), ist der älteste Bau des Tempels. Seine Hauptfunktion ist Schutz und Langzeitaufbewahrung der Tripitaka-Blöcke. Um die Holzblöcke vor Korrosion und Verformung zu bewahren, müssen eine konstant angemessene Raumtemperatur und Lüftung gesichert werden. Standort, Grundriss und Ausrichtung der Gebäude nach links, Anlage der papierbeklebten Fenstern und Türen, Struktur der Holzregale, Anordnung der Schriftblöcke usw. - all diese Faktoren gewährleisten architektonisch und strukturell optimale Voraussetzungen für die Tripitaka-Aufbewahrung in Bezug auf Ventilation, Licht, Temperatur und Feuchtigkeit. Die Konstruktion ist eher funktional-praktisch als ästhetisch, aber auch hier findet sich wieder Buddhismus-typischer Symbolgehalt. So beträgt die Zahl der Säulen z.B. 108. Die Gesamtfläche umfasst 365 Pyeong (ca. 12.000 m²), was für die 365 Tage des Jahres steht. Als weitere Besonderheit ist zu nennen, dass die Grundsteine weitgehend naturbelassen und nur minimal bearbeitet wurden. Durch das Fensterglas des Gebäudes mit der Schrifttafel „Palman gyeonggak“ sieht man Stapel alter Bücher. In

satz von umgerechnet 1,3 Mio. Personentagen konnte das Mega-Projekt in kurzer Zeit vollendet werden. (Nach heutigem Maßstab wären für eine reguläre Vollzeitarbeitskraft rd. 252 Personentage anzusetzen.) Die Tripitaka enthält an die 52 Mio. Schriftzeichen und ist damit im Umfang mit den Annalen des JoseonReiches, die über einen Zeitraum von etwa 500 Jahren geschrieben wurden, vergleichbar. In Korea gibt es drei Tempel, die für die drei Juwelen des Buddhismus – Buddha, Dharma (Lehre) und Sangha (Mönchstum) – stehen: Der Tempel Tongdo-sa, wo die Sarira von Buddha eingeschreint sind, Haein-sa, wo die Lehren Buddhas in Form von Holzdruckstöcken und Druckschriften aufbewahrt werden, und Song­ gwang-sa, der viele große Mönche hervorgebracht hat. Haein-sa ist als Aufbewahrungsstätte der Tripitaka der repräsentativste Dharma-Tempel in Korea.

Der Tripitaka-Umzug in Seoul

Am zweiten Tag der Prozession wurde im Tempel Jogye-sa in Seoul um 13 Uhr eine Feier abgehalten, bei der in einer Fusion-Stil-Darbietung die buddhistischen Gebetsgesänge und die Versen der Großen Dharani-Sutra dem schnellen Tempo moderner Musik angepasst wurden, was für eine lebhafte Atmosphäre sorgte. Das Weltkulturfestival 1.000 Jahre Tripitaka Koreana war ein nationales Fest, das weit über den buddhistischen Rahmen hinausging. An der Tripitaka-Prozession nahmen auch prominente Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens teil und hielten Gedenk- und Gratulationsreden. Auf dem Der Ehrwürdige Mönch Uicheon beschrieb die Herstellung der TripiPodium erschienen zudem der paraguayische Botschafter in Seoul, Ceferino Valtaka-Druckstöcke als „Weitergabe der Weisheit des Millenniums an dez, der zum Ehrenbotschafter des Tripitaka-Weltkulturfestivals ernannt wurde, das Millennium der Zukunft“. Die Menschen von Goryeo fassten in und die bekannte „Vier-Finger-Pianistin“ Lee Hee-ah. Es gab auch eine Druck-Perdiesem Kanon Wissen und Techniken der vergangenen 1.000 Jahre formance, bei der ein speziell gefertigter, überdimensionaler Holzdruckstock zusammen und gaben sie an uns, ihre Nachfahren nach 1.000 Jahmit dem eingravierten Wunsch für eine ren, weiter. Ziel des groß angelegten, festlichen Umzugs war, sich erfolgreiche Ausführung der Veranstaltung mit Tusche bestrichen und auf ein Tuch dieser immensen Bedeutung noch einmal voll bewusst zu werden. gedrückt wurde. Um zwei Uhr nachmittags startete die Prozession mit dem traditionellen Trompetensignal im Tempel Jogye-sa. Zunächst diesem Pavillon der 80.000 Schriften befinden sich 6.791 ging es ins Galerien- und Antiquitätenviertel Insa-dong, wo es, weil es Sonntag Bücher, die mit den Tripitaka Koreana Holzdruckstöcken gedruckt wurden. Die Menge ist so enorm, dass man 18 war, nur so wimmelte von in- und ausländischen Besuchern, die die ProzessiJahre brauchen würde, wenn man jeden Tag ein Buch onsteilnehmer in ihren traditionellen Gewändern und Schuhen mit Druckstockliest. Auf den Regalen in den beiden AufbewahrungsgeRepliken auf dem Kopf mit Applaus und Zurufen begrüßten. Der ungewöhnliche bäuden, der Sudara-jang und dem Beopbo-jeon, stehen Anblick ließ viele stehen bleiben und mit Handys und Kameras Erinnerungsfotos die Holzdruckstöcke dicht an dicht. Die enorme Menge schießen. Die von Ochsen gezogenen Karren mit den Druckstock-Nachbildunder 80.000 Holzblöcke ist nur schwer vorstellbar: Aufeingen waren besonders interessant für die jüngeren Kinder, die so etwas noch nie andergelegt würden sie einen 3.200 Meter hohen Stapel gesehen hatten. ergeben und aneinandergereiht eine 60 Kilometer lange Von Insa-dong ging es weiter durch die Straßen Jong-ro 2-ga, Cheonggye 2-ga Schlange bilden. Ihr Gesamtgewicht beträgt sage und und Cheonggyecheon-ro bis zur Brücke Gwangtong-gyo. Die bunte Menge aus schreibe 280 Tonnen. Sicherheitsbeamten, Soldaten in Rüstung, Verwaltungs- und Militärbeamten, Die Gravur der Druckstöcke begann 1236 und war 1251, buddhistischen Gläubigen, die Tripitaka-Repliken auf den Rücken gebunden hatnach nur 15 Jahren, bereits abgeschlossen. Unter Einten oder in der traditionellen Kiepe transportierten, Ochsenkarren und traditio-

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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Die Zeremonie im Hafen Gaegyeong-po. Man nimmt an, dass die an verschiedenen Orten hergestellten Druckstöcke der Tripitaka mit Holzfrachtschiffen in diesen Hafen gebracht wurden, der der nächste in der Umgebung von Haein-sa war.

nellen Volksmusikbands boten ein farbenfrohes Spektakel in den Seouler Straßen. Die vielen Teilnehmer wanderten zwei Stunden lang in der heißen Sonne durch die Großstadt. Aber sie wirkten gar nicht müde, sondern riefen sich Buddhas Worte ins Gedächtnis und beteten für die erfolgreiche Ausrichtung des Tripitaka-Festivals im September.

Das Finale Am 20. Juni, dem letzten Tag, wurde die Prozession am Hafen Gaegyeong-po in der Ortschaft Gaejin-myeon, Kreis Goryeong-gun in der Provinz Gyeonsangbuk-do weitergeführt. Die 80.000 Druckstöcke wurden im Tripitaka-Verwaltungsrat Daejang dogam und in dessen Provinzniederlassung hergestellt. Aber wie es zu ihrer Aufbewahrung im Tempel Haein-sa kam, ist immer noch ein ungelöstes Rätsel. Unbestritten ist jedoch, dass sie via den Hafen Gaegyeong-po, der auch „TripitakaHafen“ genannt wird, zum Tempel transportiert wurden. Damals, als die Transportmittel noch nicht so weit wie heute entwickelt waren, bot sich für den Transport einer so großen Ladung der Schiffsweg an und Gaegyeong-po K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

war der am nächsten gelegene Hafen. Daher begann die Schlussveranstaltung auf einem Holzfrachtschiff. Holzfrachtschiffe wurden in der Joseon-Zeit verwendet, um die Getreideernte aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt Seoul zu schiffen. Ihr Fassungsvermögen war entsprechend groß. Im Hafen Gaegyeong-po wurde symbolisch nachgestellt, wie die Tripitaka-Blöcke vom Schiff geladen wurden. Danach marschierte der Zug in gleicher Zusammensetzung wie am Vortag in Seoul vom Hafen bis zu dem Steindenkmal, das vor kurzem aufgestellt wurde, um die historische Bedeutung des Hafens für den Transport der Tripitaka zu würdigen. Vor dem Steindenkmal wurde nochmals die Bedeutung der Prozession hervorgehoben, die anschließend mit der der Übergabe des authentischen Tripitaka-Druckstocks durch den Kreisleiter von Goryeong-gun, Provinz Gyeongsangbuk-do, an den Kreisleiter von Hapcheon-gun, Provinz Gyeongsangnam-do, zu Ende ging. Die Prozession zum Tempel Haein-sa wurde dann in der zum Tempel gehörigen Klause Gilsangam wieder aufgenommen. Das dichte Grün der Bäume beschattete den Weg von der Klause zum Tempel. Im Schatten und erfrischt von der klaren und kühlen Luft marschierten die Teilnehmer mit einem heitereren Gesicht als zuvor zu den Klängen der Marschmusik. Auf dem Weg zum Tempel, der das Hongnyudong-Tal entlang führt, ließ das Rauschen des kräftig durchs Tal fließenden Wassers die Sommerhitze vergessen. Am Schluss der Prozession wurde der Original-Tripitaka-Block wieder durch das Tor Ilju-mun und vorbei an der Halle Beopbo-jeon getragen, um dann wieder im Janggyeongpan-jeon an seinen alten Platz zurückgestellt zu werden. Mit einem dreifachen „Manse (Hurra)!“ von Abt und Prozessionsteilnehmern klang die dreitätige Veranstaltung aus. Aus der Ferne kündete ein Glockenschlag den Abend an und die Glockenwindspiele am Dachvorsprung bimmelten in der sanften Brise. Die Abenddämmerung senkte sich und das Janggyeongpan-jeon versank wieder in der jahrtausendalten Stille des Bergtempels.

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Neuerscheinung Kim Hak-soon Kolumnist

Cho˘ng Yagyong (Jeong Yak-yong) Gekürzte Klassikerausgabe auf Englisch

Admonitions on Governing the People Die englische Kurzversion von Mongminsimseo , geschrieben von Jeong Yakyong, übersetzt von Choi Byeong-hyeon, University of California Press, 1.174 Seiten, $ 95.00 (gebundene Ausgabe)

Mongminsimseo, das Meisterwerk von Jeong Yak-yong (1762-1836), eines

Der vietnamesische Politiker Ho Chi Minh, der besondere Verehrung für

Gelehrten der Joseon-Zeit, zählt zu den hervorragendsten klassischen

seine Integrität genoss, soll Zeit seines Lebens eine Ausgabe des Mongmin­

Schriften Koreas. Bei einer Umfrage wurde es zur „Lektüreempfehlung

simseo neben seinem Bett liegen gehabt und gerne darin gelesen haben.

Nr. 1 für jeden Koreaner“ gewählt. Das Mongminsimseo ist kurz gesagt

Dieses wertvolle Buch wurde für Leser in aller Welt Ende 2010 auf Eng-

ein Leitfaden zur kommunalen Verwaltung. Als solcher enthält es geistige

lisch veröffentlicht. Übersetzer Choi Byeong-hyeon, Professor für Anglistik

Einstellung, einzuhaltende Regeln und Regulierungen sowie ethisch-mo-

an der Honam Universität, kommentiert: „Es ist ein großes Meisterwerk,

ralische Grundsätze, die ein Beamter als Person von Autorität aufzuweisen

das mit Platons Politeia vergleichbar ist. Durch die englische Ausgabe kann

bzw. zu beachten hat. Jeong Yak-yong verfasste diese Schrift mit dem Ziel,

Jeongs Werk jetzt zu einem Weltklassiker werden.“

durch eine verstärkte Fokussierung auf das Wohl der Bürger eine Reform

Das ursprünglich aus 12 Bänden bestehende Werk von Jeong Yak-yong

der Kommunalverwaltung und des gesamten politischen Systems auf den

wurde in einem Band zusammengefasst. Allein die Zusammfassung ent-

Weg zu bringen. Auf der Grundlage reichhaltiger Fakten und logischer

hält über 660.000 Wörter auf 1.174 Seiten. Es war ein enormes Unterfan-

Schlüsse werden Realität und Praktiken der Zeit erläutert. In konkreter und

gen, das sich über zehn Jahre hinzog: sieben Jahre für die Übersetzung

analytischer Weise wird nach dem Grund gesellschaftlicher Übel gesucht

und weitere drei Jahre für Verbesserung, Ergänzung und Veröffentlichung.

und Lösungsvorschläge werden vorgelegt. Seine Liebe für das koreanische

Das Jingbirok (Ermahnungen zur Vorbeugung künftigen Unglücks) , eine

Volk, seine Integrität und Bescheidenheit als Gelehrter, die detailliert-präzi-

Dokumentation über das Joseon-Reich während der japanischen Invasion

sen und umfassenden verwaltungstechnischen Empfehlungen: Aus all dem

in den Jahren 1592-1598, die von dem Gelehrten Yu Seong-ryong verfasst

spricht die Intensität, mit der Jeong nach Selbstkultivierung strebte.

wurde, wurde ebenfalls von Choi Byeong-hyeon übersetzt und 2003 als The

Die von ihm am stärksten betonte Tugend eines Beamten ist die „Integ-

Book of Corrections von der kalifornischen Universität Berkeley publiziert.

rität“. „Integrität ist die Hauptpflicht eines Regierenden, die Quelle alles

Es wird als Unterrichtsmaterial für Vorlesungen über asiatische bzw. kore-

Guten und Grundlage aller Tugenden. Ohne Integrität kann man kein regie-

anische Geschichte an verschiedenen Universitäten eingesetzt, darunter in

render Beamter werden. Ist das Haupt bestechlich, werden auch die ihm

den USA an der University of Michigan und der Ball State University sowie

Unterstellten davon angesteckt, so dass bald jeder nur noch für seine eige-

in Kanada an der University of British Columbia. Choi arbeitet heute an

ne Bereicherung arbeitet. Das sind nur gemeine Diebe, die den Bürgern

einem englischen Glossar für koreanische Klassiker (Glossary for the Eng-

das Blut aussaugen.“

lish Translation of Korean Classics).

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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Bewertung der touristischen Ressourcen Koreas aus europäischer Sicht

Mehr als Musik: Treffen von Spitzen-Aufnahmetechnologie und Tradition

Michelin - Le Guide Vert Corée

Echoes of the Great Pines

450 Seiten, € 25

31st Productions, 15.000 KRW

Der weltweit anerkannte Hotel- und Reiseführer Guide Michelin teilt

„Vor einigen Jahren hatte ich einmal die Gelegenheit, an der Morgenan-

sich in den Roten Michelin für hochqualitative Restaurants und Grü-

dacht im Tempel Songgwang-sa teilzunehmen. Ich empfand die Musik

nen Michelin mit allemeinen touristischen informationen über Gesell-

als so grandios, dass selbst die Schicksalssinfonie von Beethoven dane-

schaft, Geschichte, Kultur, Sehenswürdigkeiten und Restaurants. Im

ben verblasste. Als die CD Echoes of the Great Pines he­rauskam, habe

Frühling 2011 wurde in Frankreich die französischsprachige Korea-

ich sie sogleich gekauft und mir die Musik noch einmal angehört. Wie

Ausgabe des Grünen Michelin veröffentlicht. Es ist das erste Mal, dass

erwartet, war sie hervorragend“ – so der Kommentar eines koreani-

der Guide Michelin Korea in seine Serie aufgenommen hat. Der Grüne

schen Arztes. „Klingt fantastisch!“- lautete die Bewertung von John

Guide Michelin vergab an 23 Reiseziele in Korea seine Höchstnote der

Newton, einem international renommierten und mehrfach mit dem

drei Sterne (★★★): Dazu gehören in Seoul die Königspaläste Gyeong-

Grammy ausgezeichneten Toningenieur und Präsident der Musikredakti-

bok-gung und Changdeok-gung sowie das Hanok-Viertel Bukchon; in

on Sound Mirror.

der Provinz Gyeonsangbuk-do der Tempel Bulguk-sa mit der Seokgu-

Der 1.000 Jahre alte Tempel Songgwang-sa zählt zu den drei großar-

ram-Grotte sowie die traditionellen Sippendörfer Hahoe und Yangdong;

tigsten Tempeln Koreas. Die Musik der Morgenandacht dieses Tem-

in der Provinz Gyeonsangnam-do der Tempel Haein-sa in der Stadt

pels, die als erste in Korea mit DSD (Direct Stream Digital)-System in

Hapcheon; auf der Insel Jeju-do der Sonnenaufgangsgipfel Seongsan

5.0-Kanal-Surround vor Ort aufgenommen wurde, bietet ein überwälti-

Ilchulbong usw. Auch die Tempel Seonam-sa und Songgwang-sa sowie

gendes Klangerlebnis.

die Bucht Suncheon-man (Stadt Suncheon, Provinz Jeollanam-do) wur-

Unter den verschiedenen buddhistischen Zeremonien ist die Morgenan-

den mit drei Sternen ausgezeichnet. Es gibt auch einige überraschende

dacht für ihre große Ehrerbietung und Majestät bekannt. Die Morgenan-

Drei-Sterne-Wertungen, so z.B. für den Mai-san Provinzpark in Jinan

dacht des Songgwang-sa besitzt aber darüber hinaus noch die Beson-

und das Gochang Dolmen-Museum, beide in der Provinz Jeollanam-do.

derheit, dass in ihrem Mittelpunkt einzigartige Klänge stehen. Daher

„Sie wurden hoch bewertet, da sie für ausländische Touristen, die sich

kann sie auch als äußerst „musikalisch“ bewertet werden.

für typisch Koreanisches interessieren, geeignete Reiseziele sind“- so

Echoes of the Great Pines ist in verschiedener Hinsicht von Bedeutung.

Bernard Delmas.

Es gibt bereits mehrere CDs mit buddhistischer Zeremonialmusik auf

Der grüne Reiseführer vergab an insgesamt 110 Touristenziele in

dem Markt. Auch die hochqualitative Musik der Zeremonien von Songg-

Korea Sterne. Bemerkenswert ist, dass darunter auch zahlreiche

wang-sa wurde bereits zwei Mal als CD veröffentlicht. Dass die diesma-

Märkte sind. So wurde der Busaner Fischmarkt Jagalchi mit zwei Ster-

lige Herausgabe trotzdem besonders große Aufmerksamkeit genießt,

nen ausgezeichnet. In der Stadt Daegu wurden der Markt für Heilkräu-

liegt an ihrer hervorragenden Tonqualität. CD-Musik-Aufnahmen erfol-

ter der traditionellen koreanischen Medizin sowie der Seomun-Markt

gen normalerweise über das PCM (Pulse Code Modulation)-System,

als interessante Ein-Sterne-Sehenswürdigkeiten gewählt. Verschie-

doch dieses Album wurde mit dem DSD (Direct Stream Digital)-System

dene Märkte in Seoul wie der Gwangjang-Markt, der Gyeongdong-

aufgenommen, das noch eine Stufe über dem PCM steht.

Heilkräutermarkt, die Gebrauchtwagenmärkte in Janganpyeong und

Hört man sich die Musik mit geschlossenen Augen an, fühlt man sich in

Dapsimni sowie verschiedene Flohmärkte bekamen zwar keine Sterne,

die Gebetsstunde im Tempel versetzt. Das Album bringt die morgend-

wurden jedoch als sehenswerte Reiseziele empfohlen. Westliche Tou-

lichen Klänge von Songgwang-sa Silbe für Silbe zu Ihnen ins Wohnzim-

risten bevorzugen Reisen, bei denen man in Ruhe kleine Spaziergänge

mer. Während Sie sich in der Musik verlieren und sich von ihr tragen

mit interessanten Besichtigungen zwischendurch machen kann. Daher

lassen, fühlen Sie sich vielleicht dem Nirwana näher, ganz so wie im

wurden Itaewon und Myeong-dong, die beiden repräsentativsten Tou-

Text zum Album beschrieben. Hören Sie sich die CD beim Autofahren

rismusviertel Seouls, die von Menschen und Einkaufsmöglichkeiten

an und genießen Sie das sanfte Streicheln, mit der die Musik Ihre Seele

überquellen, vom Michelin nicht mit besonders großer Aufmerksam-

beruhigt und den Frust des Staus in Nichts auflöst.

keit bedacht.

Hwang Byeong-jun, Präsident von Sound Mirror Korea, der die Auf-

Interressant ist auch die Auszeichnung von Jjimjilbang, einer korea-

nahmearbeiten leitete, zählt zu den hervorragendsten Toningenieuren

typischen Trockensauna, als „Sehenswürdigkeit“. Jjimjilbang wird als

Koreas. Hwang gehörte auch zum Aufnahme-Team hinter dem Projekt

ein Ort, an dem man „die koreanische Kultur des Teilens“ erfahren

Grechaninovs Chormusik: Passion Week , das im Jahr 2008 Grammy-

kann, vorgestellt. Es werden auch verschiedene Aspekte der koreani-

Preisträger in der Kategorie Best Engineered Album, Classical war.

schen Kultur aus objektiver Sicht beschrieben: die wirtschaftliche Lage,

Hwang hat große Hoffnungen für die Neuerscheinung: „Dieses Album

die Popkultur-Koreawelle Hallyu, die Trinkkultur und der Verzehr von

ist ein weiterer Grammy-Anwärter im Bereich Tontechnik.“ Mit die-

Hundefleisch usw. Michelin plant, im November 2011 die englische

sem Ziel vor Augen wurde alles, vom Titel bis zur CD-Beschreibung, ins

Version der Korea-Ausgabe herauszugeben und den Roten Michelin

Englische übertragen und das Album gleichzeitig in Korea und in den

Korea in Angriff zu nehmen.

USA herausgebracht.

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Entertainment

Heißer Wettkampf der Besten:

Ich bin Sänger

Zurzeit sind in Korea sogenannte „Survival-Shows“, Wettbewerbe, bei denen es ums Überleben des Besten geht, der große Renner. Öffentliche TV-Anstalten und Kabelsender strahlen im Moment bereits an die zehn solcher Sendungen aus und ihre Zahl nimmt ständig zu. Ganz oben auf der Liste steht dabei Ich bin Sänger. Lee Young-mee Popkulturkritikerin, Professorin an der Sungkonghoe University

I

n Ich bin Sänger (Naneun Gasuda), das von dem öffentlichen Sender MBC (Kanal 11) ausgestrahlt wird, treten sieben professionelle Sängerinnen und Sänger, die in Korea bereits wegen ihres hervorragenden Singvermögens populär sind, gegeneinander an. Nach der Vorstellung bewertet eine Jury aus 500 Zuschauern, die in fünf Altersgruppen von Teens bis Fünfziger aufgeteilt ist, den Auftritt. Der Kandidat, der nach zwei Wettbewerbsrunden die niedrigste Stimmenzahl hat, scheidet aus. Neben dieser Suche nach dem beliebtesten Sänger sorgt ein Blick hinter die Kulissen für weitere Unterhaltung: So werden Szenen eingeblendet, in denen die Künstler das Los für ihren „MissionSong“ ziehen, diesen einüben und im Stil abändern, oder Szenen, die die Zuschauer das Lampenfieber kurz vor dem Bühnenauftritt miterleben lassen.

Widerspiegelung der koreanischen Gesellschaft Es ist eine Tatsache, dass die koreanischen „Survival-Shows“ nach dem Format bereits populärer TV-Sendungen im Ausland aufgemacht sind. Aber die Popularität dieser Sendungen wurde nicht einfach mit dem Format übernommen, was sich bei einer näheren Betrachtung der Veränderungen der koreanischen Gesellschaft erkennen lässt. Denn 2001 und 2006 wurden bereits erste Anläufe mit der Ausstrahlung von Survivor-Wettbewerben gemacht, diese Shows stießen aber längst nicht auf die heiße Resonanz, wie sie heute zu sehen ist. Das Phänomen, dass dieses vor zehn Jahren nur lauwarm vom Publikum aufgenommene Entertainment-Format heute dermaßen beliebt ist, dass gleich zehn solcher Shows erfolgreich ausgestrahlt werden können, weist auf Veränderungen in Haltung und Sozialpsychologie der koreanischen Öffentlichkeit hin. Um die Millenniumswende erschienen Sendungen mit der Tendenz, Gute-Zweck-Kampangnen und Unterhaltung unter einen Hut zu bringen. Ein gutes Beispiel dafür ist Ausrufezeichen! . Durch diese Sendung wurde das allgemeine Interesse am Bücherlesen gesteigert, in einigen Gebieten entstanden kleine Bibliotheken und das Kulturerbe, das aus dem Blickpunkt des Interesses geraten war, erlangte neue Aufmerksamkeit. Zu dieser Zeit befand sich Korea in der Finanzkrise, die 1997/98 ganz Asien heimgesucht hatte, und die koreanische Wirtschaft bedrohte. Zusammen mit dem Start der neuen Regierung unter Präsident Kim Dae-jung im Jahre 1998 verbreitete sich eine Atmosphäre des Engagements für das soziale Gemeinwohl, in der die Bürger bereitwillig ihre Gold-Wertsachen aus den Schränken holten und spendeten, um die Kapitalreserven des Landes aufzustocken und so die Krise überwinden zu helfen. In dieser gesellschaftlichen Stimmung sprachen Sendungen, die im Zusammenhang mit dem öffentlichen Wohlergehen standen, das Publikum mehr als Survival-Shows an. Es kam sogar die

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Meinung auf, dass die Popcharts-Sendungen mit ihrem Ranking von Popmusik abgeschafft werden sollten. Ab 2003 wurde eine neue Art von Unterhaltungssendung, die Bildung und Wissen in den Vordergrund stellte, beliebt. Als typisches Beispiel dafür ist Sponge zu nennen, eine Infotainment-Show, die den Wissensdurst der Zuschauer stimulierte und auf unterhaltsam-lehrreiche Weise durch Quizfragen, Diskussionen und Experimente stillte. Es folgten Sendungen wie Vitamin, in der Wissen über gesunde Lebensführung und Ernährung mit Unterhaltung kombiniert wurde, oder Maldalija, das Wissenswertes über die verschiedenen Dialekte Koreas mit Vergnüglichem verband. Dieses Phänomen ist nicht ganz unabhängig vom spezifischen Hintergrund der Zeit, denn mit Roh Moo-hyun war der bis dahin jüngste koreanische Präsident auf der politischen Bühne erschienen, der – zum großen Teil selbst Autodidakt – Lesen, Diskutieren und Erziehung besonders betonte.

Licht und Schatten von extremem Wettbewerb Hinter der gegen 2010 einsetzenden großen Beliebtheit der Survival-Shows steht auch die Sozialpsychologie der Zeit als wirkender Faktor. Diese Shows sind Spiegel der koreanischen Gesellschaft von heute, in der die Menschen in extremem Wettbewerb miteinander stehen und – ohne Hassgefühle für den anderen zu hegen oder ihm etwas Böses zu wollen – gegeneinander antreten und für den Sieg ihre Kräfte messen müssen, wobei der Verlierer unerbittlich ausscheidet. Ich bin Sänger muss daher beim Publikum ankommen, denn es ist Survival-inspirierte Unterhaltung, bei der die Besten ihres Faches unter Aufbietung ihres ganzen Selbstbewusstseins quasi stellvertretend für den Zuschauer Höhen und Tiefen, Anspannung und Erleichterung, Sieg und Niederlage erleben. Es gibt weitere, ähnliche Programme, in denen Sänger und Entertainer miteinander konkurrieren, z.B. in den Bereichen Opernarien-Singen, Sporttanzen oder Eiskunstlaufen. Aber die Sänger, die in diesen Programmen auftreten, haben wenig zu verlieren. Die Künstler aber, die sich in Ich bin Sänger dem Wettbewerb stellen, treten in ihrem eigenen Berufsbereich an, weshalb ein Ausscheiden ein schrecklicher Schlag für Image und Karriere bedeuten kann. Auch wenn sie sich selbst damit zu trösten versuchen, dass ihnen ihr Ranking nicht so wichtig sei, herrscht während des ganzen Wettbewerbs eine unglaubliche Anspannung. Diese Fernsehsendung, die ein Ergebnis der Gesellschaft des unendlichen Wettbewerbs ist, ist ironischerweise auch Balsam für das ausgedürrte Herz des Publikums. Bis jetzt waren hauptsächlich TV-Shows mit Boys- und Girl-Gruppen populär, bei denen der Fokus auf perfekt choreografiertem Tanz mit elektronisch unterstütztem Gesang liegt, aber dank Ich bin Sänger richtet sich das Interesse seit langem zum ersten Mal wieder auf Sängerinnen und Sänger, die durch ihr Gesangstalent überzeugen. Es bietet ein ganz anderes Bild, wenn das Publikum die Darbietung der Gruppe YB, die einen Mottenkisten-Schlager in Rockversion präsentiert, mit Beifall belohnt, oder wenn der Sänger Im Jaebeom nach langer Pause noch einmal auftritt und mit seinem Shouting, in dem nun auch die Schwere des Lebens mitklingt, dem Publikum die Tränen in die Augen treibt. Ich bin Sänger geriet zwar in die Kontroverse, weil es Künstler, bei denen das individuelle Talent karriereentscheidend ist, einem Ranking unterwirft und ausscheiden lässt, aber es gibt auch die positive Bewertung, dass diese Sendung dem TV-Publikum die Live-Bühne mit guten Liedern und hohem Darbietungsniveau zurückgegeben habe. Es kann aber auch nicht die Tatsache verneint werden, dass die Sänger wegen des Ranking-Drucks in Bezug auf Emotionen und Performance übertreiben und sich so völlig verausgaben. Profis, die schon seit Jahrzehnten singen, verbrauchen auf der Bühne dermaßen viel Energie, dass sie nach ihrem Auftritt nicht mehr richtig laufen können und nach ein, zwei Wochen so geschwächt sind, dass sie unter ärztlicher Aufsicht erst wieder zu Kräften kommen müssen. Das ist natürlich alles andere als eine normale, gesunde Situation. Aber die koreanischen Zuschauer lieben diese Sendung. Der Grund dafür ist gerade, dass sie selbst wie die Stars einem extremen Wettbewerb ausgesetzt sind, in dem sie ihre ganze Energie verbrauchen müssen. Deswegen wollen sie sich am Wochenende von den Liedern, die mit höchster Hingabe gesungen werden und ihre Jugend zurückrufen, trösten lassen. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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Gourmetfreuden

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A

uf der Welt gibt es unzählbar viele Pfannkuchenversionen: In China gibt es Jian Bing und Cong You bing, in Japan Okonomiyaki, in Russland Bliný, in den USA und Großbritannien Pancake, in Italien Pizza, in Indien Dosa und Uttapam, in Äthiopien Injera, in Frankreich Crêpe, in Mexiko Tortilla, in Vietnam Bánh xèo usw. – wobei jedes dieser Gerichte als jeweils repräsentativstes Pfannkuchengericht gelten kann. Je nach Land unterscheiden sich Zutaten, Zubereitung und auch die Art und Weise des Essens. Trotz all dieser Unterschiede bleibt aber die Gemeinsamkeit, dass die Pfannkuchengerichte den einfachen Bürger durch gute und schlechte Zeiten begleitet haben. Die meisten der oben genannten Gerichte werden als Straßenimbiss angeboten, was für ihre Popularität spricht.

Pfannkuchen des armen Mannes? In Korea gibt es viele verschiedene Jeon, also Pfannkuchengerichte, die jeweils nach ihrer Hauptzutat benannt werden: Pajeon (Lauch-Pfannkuchen), Gamjajeon (Kartoffel-Pfannkuchen), Kimchijeon (Kimchi-Pfannkuchen), Hobakjeon (Zucchini-Pfannkuchen), Saengseonjeon (Fisch-Pfannkuchen) und Gogijeon (Fleisch-Pfannkuchen). Am beliebtesten ist aber unbestreitbar der Bindaeddeok, der neben Kimchi und Bulgogi zu den repräsentativsten Gerichten der koreanischen Küche gehört. Ein Merkmal des Bindaeddeok ist, dass er genauso wie die Pfannkuchenvarianten anderer Länder ein Gericht des kleinen Mannes ist. Betrachtet man die Herkunft des Gerichtnamens, dann gibt es zwar viele verschiedene Erklärungsansätze, aber am landläufigsten ist die Ansicht, dass die Bezeichnung auf „Binjaddeok“ zurückgeht, was soviel wie „Pfannkuchen der Armen“ bedeutet. Für Bindaeddeok werden gut in Wasser gequollene Mungobohnen fein püriert und mit verschiedenen Gemüsen wie Ballonblumenwurzeln, Adlerfarnsprossen, Lauch, Kimchi, Chilischoten usw. und Fleisch zu einem dicken Teig vermischt, in einer Gusseisenpfanne zu dünnen Küchlein gebraten, in mundgerechte Stücke geteilt und mit einem gewürzten Dipp auf Sojasoßenbasis serviert. Früher wurden Bindaeddeok als eine Art Unterlage für gebratene Fleisch- und Fischfilets verwendet, wenn diese auf den Opfertisch für die Ahnenverehrungszeremonie oder an hohen Feiertagen auf die Festtafel gebracht wurden. Nach dem Ende der Zeremonien teilte sich die Dienerschaft den Bindaeddeok. Später entwickelte sich Bindaeddeok zu einem eigenständigen Gericht. Wenn es in der Joseon-Zeit (1392-1910) zu Dürren kam, versammelte sich nicht-sesshaftes Volk vor dem Namdaemun, dem Südtor der Hauptstadt Seoul. In solchen Zeiten wurden in den mächtigen Häusern der Stadt Berge von Bindaeddeok gebraten, auf Ochsenkarren geladen und mit den Worten „dies ist eine Spende von der und der Familie“ an die Bedürftigen ausgeteilt. Man könnte sagen, dass es eine frühe Form der Nahrungsmittelunterstützung war.

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1. Ein großer, dicker BindaeddeokPfannkuchen kommt goldbraun und knusprig von der Bratplatte im Imbiss Bei Sunhi . Der nur mit Kimchi und Mungobohnensprossen gemischte Teig wird auf einer gut eingeölten Platte gebraten. 2. Eine Portion Bindaeddeok im Restaurant Pyeongnaeok, mit Mungobohnensprossen, Schweinefleisch und Frühlingszwiebeln.

Bindaeddeok:

Pfannkuchen für jeden Tag und jede Gelegenheit Bindaeddeok ist bei den Koreanern eine der beliebtesten Beilagen zum Alkohol. Mungobohnen werden fein püriert und mit verschiedenen Gemüsen, Fleisch oder Meeresfrüchten zu einem dicken Teig vermischt, in einer Gusseisenpfanne zu dünnen Küchlein gebraten und – in mundgerechte Stücke geteilt – mit einem gewürzten Dipp auf Sojasoßenbasis serviert. Ye Jong-seok Professor an der School of Business, Hanyang University | Fotos: Ahn Hong-beom

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Aufzeichungen in alten Kochbüchern Bindaeddeok wurde gegen 1670 zum ersten Mal im Eumsik dimibang (Gourmet-Rezepte) erwähnt, einem Kochbuch, das als das erste von einer Frau verfasste in Ostasien gilt. Die Autorin, eine Dame aus dem Jang-Clan von Andong schreibt: „Man muss die Mungobohnen enthülsen und zu einem dickflüssigen Teig pürieren. Danach sollte man ein wenig Öl in die Pfanne geben und, wenn es zu sieden beginnt, kleine Mengen des Teigs in die Pfanne gießen. Auf den Teig lege man enthülste und mit Honig bestrichene Adzukibohnen, die man mit einer weiteren Schicht Mungobohnenteig bedeckt. Das Ganze wird gebraten, bis es eine goldgelbe Farbe annimmt.“ Anders als der heutige Bindaeddeok ist diese alte Version ein süßes Pfannenkuchengericht mit einer Füllung aus Roten Bohnen. Eine ähnliche Beschreibung findet sich im Gyuhap chongseo (Enzyklopädie für Frauen) aus dem Jahr 1809. Das Rezept unterscheidet sich nur darin, dass als Füllung statt honigglasierter Roter Bohnen in Honig gewendete Kastanien verwendet und die Pfannkuchen abschließend in der Mitte mit Pinienkernen und am Rand mit Jujuben garniert werden, wie es bei den Hwajeon (Pfannkuchen mit Blumen) üblich ist. Früher war der Bindaeddeok demnach im Vergleich zu heute ein süßliches Gericht von dekorativer Form, das eher die Rolle eines Desserts spielte. Die heutige Zubereitungsart ohne Füllung wurde erst im 1924 veröffentlichten Joseon mussang sinsik yori jebeop (Unschlagbare, neue koreanische Kochrezepte) vorgestellt. Aber auch hier ist Bindaeddeok noch immer eher ein Gourmet-Gericht, das aus teuren Zutaten wie Seegurken, Seeohren und vielen verschiedenen Pilzen zubereitet wurde und wenig mit den heutigen Pfannkuchen des einfachen Volkes zu tun hat. Daran lässt sich ablesen, dass sich Bindaeddeok von einem FeinschmeckerGericht für Adlige zu einem einfachen Gericht für den Normalbürger entwickelt hat. Der Hitsong Bindaeddeok Kavalier von Han Bok-nam aus dem Jahr 1948 gibt Aufschluss darüber, dass Bindaeddeok zu dieser Zeit endgültig als Gericht des kleinen Bürgers Wurzeln geschlagen hatte. Der Liedtext handelt von einen armen Kavalier, der in einem Wirtshaus isst und trinkt und schließlich unter Prügel hinausgeworfen wird, weil er die Zeche nicht zahlen kann. Bei dieser Szene rufen ihm die Gisaeng-Hostessen spöttisch hinterher: „Wenn du kein Geld hast, dann bleib doch zu Haus und lass dir Bindaeddeok machen!“ Die Darstellung dieser komischen Szene rührte an das Gefühl der großen Allgemeinheit.

Wirkung der Mungobohnen Der koreanische Bindaeddeok unterschiedet sich von den Pfannkuchengerichten anderer Länder dadurch, dass als Hauptzutat nicht Mais oder Weizenmehl verwendet wird, sondern Mungobohnen. Im Donguibogam, der 25-bändigen Enzyklopädie der Medizin, oder im Bonchogangmok

1. Ein Stapel Bindaeddeok, frisch aus der Pfanne, führt Passanten in Versuchung. 2. Ein Mühlstein wird für das Mahlen eines Haufens eingeweichter Mungobohnen verwendet.

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An einem regnerischen Tag denken viele Koreaner, wenn es Abend wird, automatisch an Bindaeddeok und Makgeolli (trüber Reiswein) – eine Kombination, die man nicht voneinander trennen kann.

(Handbuch der Materia Medica) steht, dass Mungobohnen hervorragend in Bezug auf den Nährstoffgehalt sind und daher zu den besten Getreidesorten gehören. Wer Mungobohnen nicht kennt, dem hilft fürs Verständnis die Erklärung, dass die Sprossen der Mungobohnen Sojasprossen sind. In der traditionellen koreanischen Medizin sagt man, dass Mungobohnen die Hitze im Körper senken und durch die Ausscheidung schädlicher Stoffe entgiftend wirken. Weil Mungobohnen reich an für die Blutgefäße förderlichen ungesättigten Fettsäuren sind, wirken sie gegen Diabetes und Hypertonie. Auch sind sie gut für die Wiedergewinnung von Energie, da sie viele essentielle Aminosäuren sowie Vitamin B1 und B2 enthalten.

Delikatesse für regnerische Tage Bindaeddeok ist bei den Koreanern eine der beliebtesten Beilagen zum Alkohol. Anders als Westler essen Koreaner 2 zum Alkohol nicht nur viele Beilagen, sondern halten diesen Brauch auch wichtig für das soziale Bonding in der Gruppe. Die Bedeutung von Beilagen unterstreichen Redewendungen wie „Gute Beilagen sorgen fü gutes Trinken“ oder „Wenn man keine Beilagen isst, kann man auch keine Unterstützung vom Schwiegersohn bekommen“. In jedem traditionellen koreanischen Wirtshaus wird ohne Ausnahme Bindaeddeok als Beilage serviert. Und jede Beilage hat ihren dazu passenden Alkohol, was im Falle von Bindaeddeok der Reiswein Makgeolli ist. Besonders an Regentagen essen die Koreaner gerne Bindaeddeok. Dazu gibt es verschiedene Theorien. Die erste Begründung lautet, dass man in der Agrargesellschaft von einst an Regentagen nicht auf dem Feld arbeiten konnte, weshalb man sich zu Hause die Zeit mit der Zubereitung von Bindaeddeok, einem leicht herzustellendem Gericht, vertrieb. Einer weiteren Begründung nach hängt der Hormonspiegel des menschlichen Körpers von der Sonnenmenge ab: Bei Regen wird mehr Melatonin gebildet, das den Appetit stimuliert. Die dritte Begründung ist, dass an Regentagen der körpereigene Metabolismus mehr Arbeit leisten muss, um die Körpertemperatur zu bewahren. Daher spürt man den Hunger schneller und bekommt Lust auf fettige Gerichte wie Bindaeddeok. Als letzte Begründung wird schließlich herangezogen, dass das Geräusch der fallenden Regentropfen an das des in der Pfanne brutzelnden Bindaeddeok erinnert und man daher Lust darauf bekommt. Auf jeden Fall denken viele Koreaner an regnerischen Abenden automatisch an Bindaeddeok und Makgeolli. In Seoul gibt es viele Restaurants, die guten Bindaeddeok anbieten. Besonders berühmt darunter sind das Restaurant Hanseong in Nonhyeon-dong südlich des Han-Flusses (Gangnam) und das Restaurant Pyeongnaeok in Jeo-dong nördlich des Han-Flusses (Gangbuk). Bei Sunhi, das sich in der Fressgasse des Gwangjang-Marktes in Jong-ro 5-ga befindet, serviert man besonders dicke Bindaeddeok nach einem Rezept der Provinz Pyeongan-do in Nordkorea. Bereitet man zu Hause Bindaeddeok zu, kann man je nach eigenen Geschmacksvorlieben den Teig mit Zutaten seiner Wahl zubereiten. Mit reichlich Öl in der Pfanne gebraten, erhält man knusprigen und leckeren Bindaeddeok – ob es nun regnet oder nicht. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

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blick aus der ferne

Ein besonderer Aspekt von Lebensqualität Peter Kloepping Manager für HR-Planung, ThyssenKrupp Elevator (Korea) Ltd.

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amals, im Jahre 2005, war der Entschluss, mit Familie und einem neugeborenen Kind für einen längeren Zeitraum nach Korea überzusiedeln, von unzähligen Bedenken überlagert. Einige waren z.B.: Wie lässt es sich in der verstopften und engen Metropole Seoul leben? Gibt es eine gesicherte kinderärztliche Versorgung und einen angemessenen Kindergartenplatz? Findet man Anschluss an koreanische Familien mit Kindern und kann man sich einen Freundeskreis aufbauen? Zu groß war aber die berufliche Verlockung, den Umbau und die Entwicklung eines deutschen Unternehmens mit vollständig koreanischer Organisation mitzugestalten. In Seoul angekommen, klärten sich diese Bedenken bald mit Nüchternheit auf. Das befürchtete Chaos in Seoul ist beherrschbar und man ist mit geübtem Instinkt für die Verkehrslage auch schnell mit dem Auto in einer schönen Umgebung außerhalb Seouls. Die kinderärztliche Versorgung ist auf höchstem Niveau gesichert und man hat die Qual der Wahl zwischen modern eingerichteten Kindergärten, die sich mit altersgerechten Bildungsangeboten und -konzepten gegenseitig auszustechen versuchen. Der Kontakt zu koreanischen Familien gestaltet sich so einfach, dass man manchmal die Bremse ziehen muss, um Verpflichtungen nicht zu anstrengend werden zu lassen. Nachdem man sich in Korea eingelebt hat, muss man jedoch mit Verwunderung feststellen, dass etwas fehlt! Aber im positiven Sinne: „Denn das, was fehlt, fehlt einem wirklich nicht“ - um es einfach mit einem Wortspiel auszudrücken. Manchmal ist es noch richtig unwirklich, ohne dieses Fehlende zu leben. Darum soll es sich nun drehen. Als Bewohner einer Wohnung in den modernen Apartmentkomplexen fällt einem sofort auf, dass die Schlös-

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ser vor den Briefkästen vergessen wurden. Ob Versicherungsunterlagen oder Kreditkartenabrechnungen – aus den Briefkastenschlitzen der losen Klappen quillt diverse Post. Auf den Korridoren werden vor den einzelnen Wohnungstüren häufig Dinge wie Möbelstücke oder unangeschlossene Fahrräder ausgelagert. Der Paketdienst lässt nicht selten die Lieferung einfach vor der Tür liegen, wenn der Empfänger außer Haus ist. Das eigene Auto kann man auch mal aus Versehen unabgeschlossen auf dem Parkplatz oder in der Tiefgarage abstellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Autoradio ausmontiert, Gegenstände entwendet oder gar das Fahrzeug stiehlt, ist gegen Null. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Arbeitsumfeld. Bürozimmer oder Meetingräume werden selbstverständlich nicht abgeschlossen, wenn man diese, z.B. zum Mittagessen, verlässt. Wenn ausländische Kollegen verwundert darauf hinweisen und beanstanden, dass Laptop und Wertsachen noch am Platz liegen, wird ihnen trocken, aber freundlich geantwortet, man sei hier in Korea. Auch auf den vielen Hochzeiten, ersten Kindergeburtstagen und anderen öffentlichen Veranstaltungen, zu denen man zwangsläufig eingeladen wird, kann man beobachten, dass viele Koreaner das Handy, die Brief- oder Handtasche am Platz zurücklassen, wenn sie zum Büffet oder zur Toilette gehen. In den Zügen der Korean Rail gibt es kaum noch Fahrkartenkontrollen. An den Zu- und Ausgangsbereichen der Bahnsteige sind vor einigen Jahren die Kontrollbarrieren abgebaut worden. An deren Stelle erinnert auf dem Boden nur noch eine dicke gelbe Linie mit der Inschrift „We trust you“. Volle Busse und U-Bahnen werden in europäischen Ländern zum Leidwesen der Passagiere häufig von

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Taschendieben heimgesucht. In Korea ist Taschendiebstahl nur ein Randphänomen, es handelt sich quasi um statistische Ausreißer. So werden in U-Bahnen smart phones in einer so großen Vielzahl offen in der Hand getragen, dass im Falle eines Stromausfalls das Hintergrundleuchten der elektronischen Geräte heller wäre als die Notbeleuchtung selbst. Diese einzelnen Beispiele lassen nun auf den großen Zusammenhang schließen. Es besteht ein enormes Maß an öffentlicher Sicherheit in Korea. Jeder, der Korea einmal besuchte, hat mit Erstaunen festgestellt, dass an sieben Tagen der Woche die Straßen bis tief in die Nacht mit Menschen gefüllt sind. Erst mit Einstellen des öffentlichen Nahverkehrs gegen Mitternacht werden die Bürgersteige „hochgeklappt“, wie man in Deutschland so schön sagt. Dabei gibt es kaum einen Ort, an dem man sich nicht aufhalten oder den man aus Sicherheitsgründen meiden sollte, selbst nicht als Frau! Es gibt keine herumlungernden Jugendgangs, die Leute drangsalieren, randalieren oder kriminell aktiv sind. Auch xenophopische Ausbrüche wie ausländerfeindlich oder rassistisch motivierte Übergriffe kommen so gut wie nicht vor. Selbst das organisierte Verbrechen ist schon in den 1980er Jahren weitgehend zerschlagen worden. Grundsätzlich ist der Erwerb und Besitz von Schusswaffen oder Explosivstoffen verboten und dessen Einsatz nur Mitgliedern von Staatsorganen vorbehalten. Verbrechen mit Schusswaffen auf offener Straße, in Bildungsoder Zivileinrichtungen kennt man nur aus Kinofilmen oder ausländischen Nachrichten. Die einzige latente Gefahr stammt von terroristischen oder martialischprovokativen Aktivitäten Nordkoreas. Diese Sicherheit ist selbstverständlich auch außerhalb der Großstädte zu genießen. So kann man die ent-

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ferntesten und verborgensten Winkel Koreas mit allen Sehenswürdigkeiten und Naturreichtümern unbekümmert mit der Familie erkunden. Natürlich ist es sehr spannend, sich den kulturellen, sprachlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen innerhalb der koreanischen Gesellschaft zu stellen. Die gesammelten Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse sind eine Bereicherung für das Leben und werden meine Familie für die Zukunft prägen. Jedoch ist wohl das Faszinierendste die Unbekümmertheit und Unbeschwertheit, mit der die Unversehrtheit des privaten Eigentums, der persönlichen sowie der öffentlichen Sicherheit durch die koreanische Gesellschaft praktiziert wird. Neben allen Annehmlichkeiten des Lebens in Korea ist das für mich der wichtigste Aspekt, der Lebensqualität und Lebensgefühl in Korea definiert. Gerade aus Sicht eines Familienvaters und eines Ausländers! Viele Koreaner verstehen diese Sicherheit als Selbstverständlichkeit. Das ist es aber nicht! In den meisten Ländern der Welt ist ein solches Maß an Sicherheit für die Bürger nicht gewährleistet - ebenfalls nicht in den sog. entwickelten Industriestaaten. Aus meiner Sicht ist gerade das eines der höchsten kulturellen und gesellschaftlichen Güter, welche Korea zu bieten hat. Dass dieses kostbare Element gesellschaftlichen Zusammenlebens bei den dominierenden PR-Kampagnen für Kimchi, Technologie, Kunst und Geschichte niemals zur Sprache gebracht wird, ist für mich einfach unverständlich. Ich wünsche mir, dass Korea sich diese wichtige Errungenschaft weiter bewahrt und die Kraft aufbringt, positiv auf andere Länder einzuwirken. Meiner Familie wird dieses Lebensgefühl nach der Rückkehr in Deutschland jedenfalls fehlen.

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Lifestyle

Für die Busaner gibt es seit drei Jahren keine sieben Wochentage mehr, sondern nur noch drei: Den Tag, an dem die Lotte Giants, die Profi-Baseballmannschaft von Busan, gewinnen, den Tag, an dem die Lotte Giants verlieren, und Montage, wenn keine Spiele stattfinden. Diese Beschreibung charakterisiert treffend die Fan-Kultur der Lotte Giants, die zusammen mit den Kia Tigers (früher: Haitai Tigers) drei Jahrzehnte koreanischer Baseball-Geschichte schrieben. Song Young-man Präsident von Hyohyung Publishing

Die Busaner Seemöwen: Fans des Baseballteams Lotte Giants

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ie Leidenschaft der Busaner für ihr Baseball-Team, die Lotte Giants, kennt keine Grenzen. Wenn das Team eine Gewinnsträhne hat, tobt das Leben in den Märkten Busans. Befinden sich die Giants auf dem absteigenden Ast, herrscht allgemeine Niedergeschlagenheit und die Busaner verlieren Kauf- und Esslust. Eine Statistik belegt, dass der Konsum in Busan plötzlich ein Volumen von mehr als 150 Mrd. Won (ca. 97 Mio. Euro) erreichte, als die Lotte Giants es in die Play-offs schafften. Dieses Phänomen nennt sich „Lotte-Giants-Effekt“. Ein Kulturkritiker stellte einmal die Frage, mit welchen Vergnügungen die Busaner eigentlich den langen Winter, in dem es keine Spiele der Lotte Giants gibt, überleben. Die leidenschaftlichen Fans der Lotte Giants sind nach dem Titel des Liedes, das sie als Schlachtlied angenommen haben, als „Busaner Seemöwen“ bekannt. Selbst bei kaltem Wetter ist das Sajik-Baseballstadion, das Heimstadion der Lotte Giants im Busaner Stadtviertel Dongnae, rammelvoll mit Lotte-Fans mit ihren typischen orangefarbenen Plastikmülltüten auf dem Kopf. Einige sagen sogar, dass das rituelle Fan-Gebrüll - laut und ansteckend - an eine religiöse Kulthandlung erinnere. Bei den Exhibitionsspielen im Frühling erreicht das Team stets einen überwältigenden Sieg, als würde es die leidenschaftliche Liebe seiner Fans erwidern. Das Lamento „Bom-tte“ und „Sibeom-tte“ ist denn auch darin begründet, dass die Giants nur bei den Exhibitionsspielen (Sibeom: Exhibition), die im Frühling (Bom) stattfinden, gut abschneiden, nicht aber in den Play-offs im Herbst.

„Geborene Lotte-Fans“ Wenn es um die Lotte-Fans geht, wird oft der Vergleich mit „geborenen Christen“ (Motae-sinang) herangezogen. Wie ein „geborener Christ“, der als Kind gläubiger Eltern getauft wird und ganz natürlich in die Kirche geht, so pilgern die Busaner Bürger ebenso natürlich ins Baseballstadion. Der Schriftzug „Motae Lotte!“, den die „Lotte-Gläubigen“ im Sajik-Stadion häufig stolz auf ihren Plakaten präsentieren, verbildlicht deutlich die Interpretation dieses Vergleichs. Betrachten wir den Hintergrund der „geborenen Lotte-Fans“ genauer. Die Baseball-Leidenschaft der Busaner hat eine lange Tradition, die sich über „Großvater-Seemöwen“ und „Vater-Seemöwen“ zurückverfolgen lässt. Geographisch liegt Busan an der Südspitze der koreanischen Halbinsel nicht weit entfernt von Japan. Die japanische Tsushima-Insel wiederum liegt näher bei Busan als bei der japanischen Stadt Fukuoka. Aus diesem Grund war es in Busan bis Anfang der

1 Lee Dae-ho, der Schläger der Lotte Giants, hat mit Homeruns in neun Spielen hintereinander einen Weltrekord aufgestellt. 2-3. Die Fans der Lotte Giants verwandeln mit ihrem charakteristischen Kopfschmuck die Zuschauertribüne in ein orangefarbenes Meer: Orangefarbene Plastik-Mülltüten, die zu fantasievollen Gebilden geknotet werden, sind ein Muss fürs Anfeuern der Mannschaft.

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1990er Jahre möglich, japanische terrestrische TV-Signale zu empfangen. Das heißt, dass die Busaner schon sehr früh den japanischen Baseball-Boom und die Techniken der japanischen Baseballspieler kennen lernten. So wurden in der Stadt auf natürliche Weise an einer Oberschule nach der anderen Elite-Baseballteams gebildet. Diese Oberschulen waren aber nicht nur im Baseball gut, sondern galten allgemein als Exzellenzschmieden. Die Kyungnam High School, die Busan High School, die Busan Commercial High School und die Kyungnam Commercial High School gehörten zum Beispiel zu diesen Eliteschulen. Sie waren attraktiv genug, um hochbegabte Schüler aus der Region anzuziehen, und brachten eine ganze Reihe nationaler und regionaler Führungsspitzen hervor. Baseball war der oberste Wert, der die Identität der Stadt entscheidend definierte, es war Symbol und beliebtes Thema für die Handlung von Stücken. Die Hwarangdaegi Oberschulbaseball-Meisterschaft, die von einer Busaner Regionalzeitung in Busan gesponsert wird, stand der Hauptliga in Seoul in nichts nach. Die Bedeutung der Busaner Schulen für die Blütezeit des Oberschulbaseballs in den 1970-80er Jahren war nicht zu unterschätzen. 1982, in einer politisch dunklen Zeit, startete die autoritäre Regierung eine professionelle Baseball-Liga, die als Ventil für die angestauten Emotionen der unterdrückten Bürger fungieren sollte. Das energetische Potential der Stadt Busan wurde im Busaner GudeokBaseballstadion, das von 1982 bis 1985 das Heimstadion der Lotte Giants gewesen war, freigesetzt. Nur drei Jahre zuvor, 1979, waren die Bürger von Busan zusammen mit denen der Nachbarstadt Masan auf die Straßen gegangen, um ihren Widerstand gegen die autoritäre Regierung von Präsident Park Chung-hee zu bekunden, während die Bevölkerung in anderen Landesteilen ruhig blieb. Es gibt auch Stimmen, die die Leidenschaft der Busaner für die Lotte Giants mit der unerschütterlichen Treue der Bürger von Gwangju für die Haitai Tigers erklären wollen, denn die beiden Städte sind die repräsentativen Städte der ausgeprägten traditionellen Rivalität der Provinzen Gyeongsang-do und Jeolla-do. Baseball wird als Pitcher-Spiel bezeichnet. Im Stadion ist es ziemlich lange bis zur Anspannung still wie in einem Tempel, solange die Pitcher das Spiel dominieren. Und dann bricht plötzlich die Hölle auf den Zuschauerrängen los. Nach landläufiger Meinung kommt darin das Seefahrer-Temperament der Menschen von Busan, einer Meeres- und Hafenstadt, zum Ausdruck. Die geographische Lage, der Oberschulbaseball-Boom, die politisch-gesellschaftliche Ventilfunktion des Baseball und das Seefahrer-Umfeld: All das sind Faktoren, die die Busaner ihrem Baseballteam, den Lotte Giants, ihr ganzes Herz schenken ließen. Diese schicksalhafte Konstellation führte dazu, dass die erste Generation der Busaner Seemöwen die Stadt Busan mit den Lotte Giants identifizierte. Im Jahr 1984, in der dritten Spielsaison des Profi-Baseballs in Korea, trat bei den Lotte Giants der legendäre Werfer Choi Dong-won auf die Bühne. Während der regulären Saison erreichte er sage und schreibe 27 Siege (Damals umfasste eine Saison nicht 133 Spiele wie

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heute, sonden nur 100 Spiele.) und verbuchte 4 Siege in der Korean Series, bei der die zwei besten Teams in 7 Spielen um die Meisterschaft konkurrierten. Die Bezeichnung „Lotte-Fanatiker“ geht auf Choi zurück, der die Fans geradezu elektrifizierte. 1992 holten sich die Lotte Giants auch den Sieg in der Korean Series. Der dramatische Play-off-Sieg eines Teams, das es in der regulären Saison nur auf den dritten Platz geschafft hatte, stellte die Stadt Busan im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf. Es wurde der für die damalige Zeit schier unglaubliche Rekord von 1,2 Mio. Zuschauern verzeichnet. Die beiden Giants-Pitcher Yun Hak-gil und Yeom Jong-seok eroberten die Herzen der Busaner Seemöwen im Sturm. Damals wurden die Lotte-Fans erstmals mit religiösen Fanatikern verglichen. Diese Fans stellen die erste Generation der Busaner Seemöwen. Zu dieser Zeit war aber die Anfeuerung der Fans im Stil noch ungeschliffen und monoton, und es fehlte auch an Rücksichtnahme gegenüber den auswärtigen Mannschaften. Doch bis dahin konnte sich Busan noch mit seiner angeborenen „Baseball-Stärke“ behaupten.

Erscheinen eines Retters nach langer Flaute Ein alter Adler ist stärker als eine junge Krähe. Nach einer mehrjährigen Pechsträhne konnten die Lotte Giants in den Jahren 1995 und 1999 jeweils den zweiten Platz belegen. 1999 begegnete das Team in der Play-off-Runde den Samsung Lions. Die Lotte Giants, die mit einem Sieg und drei Niederlagen kaum eine Chance zu haben schienen, versetzten mit drei aufeinander folgenden knappen Siegen von jeweils 6:5 die Stadt Busan in einen Freudentaumel. Der dramatische Triumph erwies sich jedoch als Präludium für einen ebenso dramatischen Abrutsch in die tiefste Verzweiflung: Ab 2001 bildeten die Giants vier Jahre lang das Schlusslicht der acht Profi-Mannschaften und belegten von 2001 bis 2007 folgende Keller-Ränge: 8-8-8-8-5-7-7. Viele Fans kehrten der Mannschaft den Rücken. 2002 wurde sogar ein neues Rekordtief von nur 69 Zuschauern bei einem Spiel verzeichnet. Die Kluft zwischen Desinteresse und Leidenschaft war groß. Auf eine heiße Liebe folgt immer eine kalte Trennung. „Gott gab Busan das schlechteste Team, aber die besten Fans“ – so lautete damals der typische Jammerspruch der Lotte-Fans. Die Busaner Seemöwen gaben dem Team sogar den selbstkritischen Spitznamen: „Kkol-tte (Eine Zusammensetzung aus Kkoljji (der Letzte) und Lotte)“. Da erschien Jeron Kennis (Jerry) Royster, der erste ausländische Trainer in der koreanischen Profi-Baseball-Geschichte, auf der Bildfläche. Zwei Ausländer setzten sich für die Lotte Giants, deren Talfahrt kein Ende zu nehmen schien, ein. Royster war der Messias für das Team, der die in Hoffnungslosigkeit versunkenen Spieler mit dem Motto „No Fear (Keine Angst)“ motivierte und ihnen eine von Selbstbewusstsein geprägte Baseball-Moral einimpfte. Neben dem Amerikaner gab es noch einen Mexikaner, der zum Aufstieg der Lotte Giants beitrug. Es war Karim Garcia, der für die New York Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Ausländische Baseball-Fans unterstützen die Lotte Giants voller Begeisterung.

Yankees gespielt hatte, und beim Strike-Out vor Aufregung seinen Schläger auf dem Knie zu zerbrechen pflegte, was den in Selbstmitleid versunkenen Spielern und den Fans einen erfrischenden Klaps versetzte. Mit seiner Aufnahme schaffte es das Team in die Play-offs. Es war der sog. „Royster-Effekt“. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung genossen die Lotte Giants die Ehre, drei Jahre hintereinander im Play-off zu spielen. Für die Seemöwen wurde die Welt wieder wunderschön. Von da an entwickelte sich auch die Anfeuerungskultur der Busaner Seemöwen auf ein neues Niveau. Im Sajik-Baseballstadion waren mehrere Mittel miteinander verbindende, kreative Anfeuerungsperformances zu sehen. Der Halbfinalsieg der koreanischen NatioNalmannschaft bei der World Baseball Classic (WBC) im Jahr 2009 und die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 heizten das Baseballfieber noch mehr an. Baseball, das zu einer Volksunterhaltung geworden war, zog auch die Frauen ins Stadion. Seitdem erscheinen geniale Anfeuerungsschilder und -sprüche, die das SajikStadion in ein Wunderland umwandeln. Das stereotype, althergebrachte Anfeuerungsrepertoire machte neuen, interaktiven Events Platz. Auch ausländische Zuschauer tragen heute die für die Lotte Giants typischen orangefarbenen Müllplastiktüten zu Schleifen oder albernen Kreationen geformt auf dem Kopf. Die Sprüche im Busaner Dialekt sind zu einer Art Performance geworden: „Mah! (Nein!)“, „Sserira! (Schlag den Ball!)“, „Ah Jurah! (Gib den Homerun-Ball an den nächsten Jungen weiter!)“. Im Sajik-Stadion gibt es mittlerweile sogar „Mah!“s von Fans mit blauen Augen. Diese „Internationalisierung“ findet sich aber nicht nur in Busan, sondern auch im JamsilStadion in Seoul oder im Munhak-Stadion in Incheon. Auch in anderen Stadien außerhalb von Busan kann man die selbstbewusste Entfaltung der Zuschauerwelle der Busaner Seemöwen erleben. Unabhängig vom Spielergebnis herrscht unter den Lotte-Fans immer heitere Stimmung. Die Metamorphose der einseitigen Anfeuerung in eine interaktive Form verbreitete sich von Busan aus in ganz Korea. Auch die Anfeuerungsschilder nahmen ihren Anfang im Sajik-Stadion. Ursprung ist die Baseball-Leidenschaft der Fans, die sich mit den Spielern identifizieren. Man kann es als aktiven Akt der Kommunikation verstehen, der dem totalen Aufgehen im Spielgeschehen dient. Das Lied Die Busaner Seemöwen, die Teamhymne der Lotte Giants, im „weltgrößten Karaoke“, dem Sajik-Stadion, zu singen, ist für die Busaner Existenzgrund und Lebensenergie zugleich.

Die „Lotte-Maniacs“ Wenn die Play-off-Saison im Herbst anfängt, verwandeln sich die Baseball-Fans quasi in Obdachlose: Sie bringen ihre Picknickmatten mit und campen vor dem Sajik-Stadion, um sich Tickets für die Playoff-Spiele zu besorgen. Diese „Lotte-Maniacs“ leben für ein Ticket K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

auf der Straße. Aber die Liebe der Busaner Seemöwen für ihre Lotte Giants hat zwei Seiten: In guten Zeiten wird der Erfolg im Kampf um den Heiligen Gral gefeiert, in schlechten Zeiten gilt es den Schierlingsbecher zu leeren. Als die Lotte Giants 2010 es nicht in die Postseason Play-offs schafften, ging das Gerücht um, dass der Trainer Jerry Royster ausgetauscht werden sollte. Die Busaner Seemöwen, die loyalen Fans der Mannschaft, legten daraufhin zusammen und setzten eine Anzeige in die Zeitung: „Lasst Royster bleiben!“ Das war eine beispiellose Einmischung der Fans in Personalangelegenheiten eines Teams. Es wird auch gesagt: „Lotte-Trainer zu werden ist ein Glück, aber zugleich auch ein Fluch.“ Im heutigen Internet-Zeitalter werden die Taktiken der Trainer und die Fähigkeiten der Spieler von den Fans besonders schonungslos analysiert und bewertet. Die Spiele der Lotte Giants sind sehr offensiv und manchmal auch rücksichtslos. Einige bewerten die Mannschaft sogar als übermäßig grob und ungehobelt. Umgekehrt heißt es aber auch, dass sie nicht mechanisch-kalt, sondern menschlich-hingebungsvoll spielen, worin man gerade den Reiz der Giants sieht. Aber Baseball ohne akkurate Elaboriertheit hat im Wettbewerb kaum Chancen. Mit dem Einstieg ins Play-off drei Jahre in Folge erleben die Busaner Seemöwen eine Renaissance. Um ihre heiterausgelassenen Anfeuerungsaktionen aber weiter genießen zu können, müssen die Giants kontrollierte, feine Spiele liefern. Doch auch dieses Jahr scheint die chronische Krankheit der Giants nicht unter Kontrolle gebracht werden zu können. Schon werden die Busaner Seemöwen lauter. War die Rekordtiefe von 8-8-8-8-5-7-7 zu Millenniumsanfang nur eine unnötige Sorge der Seemöwen oder nicht vielleicht doch ein anhaltendes Trauma? Das Sajik-Stadion ist ein Ort der höchsten Dynamik und Faszination. Die Busaner Seemöwen träumen von einem neuen Weltrekord, wie ihn der Schläger Lee Dae-ho im letzten Jahr aufstellte, als er in neun aufeinander folgenden Spielen jeweils ein Homerun schaffte.

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Reisen in die koreanische Literatur

Wie kann „Ich“ in der Höhle namens Seoul leben? Wie kann „Ich“ mich von der Angst des Eingesperrtseins und Verirrens befreien? Die Erzählung Die Führerin der

Seouler Höhle zeigt den Ausgangspunkt

Rezension

Wegweiserin an einem Ort ohne Weg. Die Erzählwelt von Kim Mi-wol Lee Kwang-ho Literaturkritiker

der Erzählwelt von Kim Mi-wol in aller Deutlichkeit.

Kim Mi-wol

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im Mi-wol (geb. 1977) thematisiert in ihrem ersten Erzählband Die Führerin der Seouler Höhle , der im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, die Einsamkeit der von der Gesellschaft abgeschnittenen Individuen. Im ihrem Roman Das achte Zimmer aus dem Jahr 2008 beschreibt sie anhand des Problemes des Raums „Zimmer“ das Heranreifen und die Verzweiflung der jungen Menschen von heute mit Humor und Wärme. Die Individuen in Kims Erzählungen sind eingesperrte Wesen. Sie sind aber nicht Individuen der 1990er Jahre, die im Alltagsleben in ihrer inneren Sphäre untertauchen, sondern sie gehen mit den Dingen seltsame Beziehungen ein, die die Verständigung mit anderen Menschen ersetzen sollen, erleben ein anderes Leben in ihrem Inneren und bauen sich eigene, virtuelle Paradieswelten auf. Das, was Kim Mi-wol in ihren Erzählungen darstellt, ist nicht die Wiederherstellung des Inneren, sondern „die neuen Individuen“, die in ihren eigenen Paradiesen leben. Kims Erzählungen beleuchten das hartnäckige Festklammern am individuellen Paradies, zeigen jedoch gleichzeitig, dass das kein Ausweg aus der Realität sein kann. In diesem Sinne sind solch paradiesische Räume keine „größtmöglichen Paradiese“, sondern „minimale Eigenbereiche“ der Individuen. Man kann diese Bereiche paradoxerweise als „kleinstmögliche Paradiese“ bezeichnen. Ein kleinstmögliches Paradies ist ein Paradies des Individuums der Generation, der die Möglichkeit, durch soziale Beziehungen zu anderen Menschen eine kollektive Utopie zu realisieren, verwehrt ist. Es ist ein virtueller, paradiesischer Raum, der im Alltag verdeckt ist, der aber gleichzeitig außerhalb des Systems von Gewalt und Täuschung, das dem Alltag innewohnt, liegt. Es ist weder ein Symbol des öffentlichen Glücks noch ein gänzlich dystopischer Raum. Es ist nur ein Raum, in dem in der alltäglichen Zeit die Erinnerungen und der Körper des Individuums wohnen, es ist „das Außen im Inneren“ des Erinnerten und des Gegenwärtigen. Ihm werden die Bedeutungskomponenten des Paradieses zugeschrieben, weil es die mindeste Möglichkeit bietet, individuelle Bedürfnisse zu erfüllen. Es ist jedoch nicht außerhalb vom „Hier und Jetzt“ des Raums, in dem der Körper und die ErinnerunKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


gen wohnen. Die Erzählung Die Führerin der Seouler Höhle zeigt den Ausgangspunkt der Erzählwelt von Kim Mi-wol in aller Deutlichkeit. Dort taucht eine andere Art von virtuellem Raum, nämlich eine Höhle, auf. Die einsame Frau in der Erzählung wohnt in Zimmer Nr. 203 des „Seoul Gosiwon“. [Anm. d. Übers.: Gosiwon ist eine Art Wohnheim in der Nähe von privaten Lerninstituten, die auf die Vorbereitung auf staatliche Prüfungen spezialisiert und für Staatsexamensanwärter gedacht sind; wegen der niedrigen Mieten dienen die Gosiwon aber auch sozial Schwachen als Unterkunft.] Das Gosiwon ist ein beengter Raum, in dem „über vierzig Menschen wie J-Haken lagen“, da „geht es drunter und drüber wie auf einem Markt“. Der dunkle Flur wirkt manchmal wie eine „noch nicht erschlossene Höhle“. Der Arbeitsplatz der Protagonistin „Ich“ ist eine künstliche Höhle. Die Protagonistin, die als Führerin im Seouler Höhlenexpeditionscenter arbeitet, trägt einen Höhlenanzug und führt Grundschüler durch die grob gestaltete, unechte Höhle. Die höhlenähnliche Struktur des Gosiwon, in dem sie wohnt, und die Struktur der „Seouler Höhle“, in der sie arbeitet, ähneln einander. Die physischen Symptome der Protagonistin wie Atem- und Verdauungsbeschwerden sind mit zwei Erinnerungen verknüpft: Zum einen die Erinnerung an eine Frau, die mit einem Mädchen im Arm tot am Sandstrand lag, zum anderen die Erinnerung an „die absolute Finsternis“, die sie bei einer Höhlenexpedition in ihrer Studienzeit erlebte. Aber das, was unterhalb dieser Erinnerungen liegt, ist das Bild ihrer Mutter, die bei dem Versuch, ein anderes Kind zu retten, umkam. Ihre Zimmernachbarin, die Apotheker-Assistentin, die der Protagonistin Verdauungsmittel verkauft, lässt jede Nacht wie „mit Mayonnaise geschmiertes“ Stöhnen hören, aber die Protagonistin erfährt in der kurzen Zeit des Zusammenseins mit ihr einen Teil der Wahrheit über ihr Leben. Sie führt nicht, wie ihre Mitbewohner glauben, ein ausschweifendes Sexualleben, sondern lässt nur einen Videofilm laufen, in dem ein Mann, der jemandem ähnlich sieht, auftritt. Sie wird vom Apotheker entlassen, weil sie Schlaftabletten gestohlen haben soll, und erscheint daher nicht wieder im Gosiwon. Die Räume im Gosiwon liegen zwar sehr eng aneinander und sind nur durch dünne Sperrholzwände voneinander getrennt, aber sie sind im Hinblick auf die zwischenmenschliche Kommunikation trotzdem undurchlässige Räume. Wie kann „Ich“ in der Höhle namens Seoul leben? Wie kann „Ich“ sich von der Angst des Eingesperrtseins und Verirrens befreien? Bei der künstlichen Höhle in der Erzählung sind Ein- und Ausgang idenK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 11

tisch und daher sind auch Ausgangs- und Zielpunkt derselbe. Auch der Ein- und Ausgang des Gosiwon besteht aus ein und derselben Glastür. Ist dann eine Flucht aus einem solchen Raum überhaupt möglich? Am Ende der Erzählung fragt die Protagonistin selbst, was man machen sollte, „wenn sowohl das rote, als auch das grüne Licht aus ist“. Diese Frage korrelliert mit der Frage am Anfang: „Wenn man an einem Zebrastreifen steht und das rote und das grüne Licht der Ampel beide leuchten – was soll man da machen?“ Natürlich kann die Antwort nur eine von den folgenden beiden sein: „1) Einfach die Straße überqueren, 2) Nicht überqueren“. Dass es unabhängig von der Art der Situation nur die zwei Optionen „Überqueren“ oder „Nicht überqueren“ gibt, entspricht der Struktur der Seouler Höhle. In einem Raum, für den der Ausgang gleich der Eingang ist, hat der „Weg“ keine Bedeutung, denn es gibt schließlich nur einen einzigen Weg. Daher ist die Wegsuche in einem solchen geschlossenen Raum bedeutungslos, und die Aufgabe des Wegführers beruht auf Täuschung, so wie die Wegführung der Protagonistin im Höhlenexpeditionscenter eine Täuschung ist. Die Erzählung legt in der Szene, in der die Virtualität des Problembewusstseins über die Wegsuche selbst aufgegriffen wird, die Grenzen des Lebens in einem Raum namens Seoul auf nüchterne Weise offen. Die Höhle ist eigentlich ein Symbol von Andeutung, Eingesperrtsein und Verheimlichung. In dieser Erzählung wird die Höhle jedoch von den Bildern der „virtuellen Welt“ und des „Seoul von heute“ überlagert und so wird das Ganze als ein Bild der Modernität ohne Weg konstruiert. Kim Mi-wol zeichnet die kleinstmöglichen Paradiese der einsamen Individuen, indem sie die „Zimmer“ der modernen, durch die Gesellschaft eingesperrten, verzweifelnden jungen Menschen beschreibt. Diese kleinstmöglichen Paradiese sind keine Orte, an denen die einsamen Individuen Trost finden, sondern Orte, an denen sie die Tatsache annehmen, dass ihre Einsamkeit nie aufgehoben werden kann. Kim baut eine sehr bedeutungsgeladene Existenzästhetik der jungen Menschen auf, während sie zeigt, dass die Einsamkeit keine Lebenshaltung, sondern Lebensrealität ist. Sie stellt keinen Menschentyp vor, der gegen das Unglück kämpft, sondern beschreibt den Kampf des Individuums, mit Teilnahmslosigkeit und Unbekümmertheit ein Mindestmaß an innerer Unabhängigkeit zu sichern. Das Individum ist dabei kein starker Handlungträger, der die Welt beliebig zuschneidet, es schafft jedoch auf eigener Basis einen minimalen Raum der Unabhängigkeit. Kim Mi-wols Erzählungen zeigen aufs Schönste, dass diese „Aktivität der Passivität“ eine weitere Existenzästhetik in der modernen Erzählung ist.

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