HERBST 2014
Koreanische kultur und kunst
SPEZIAL
Koreas Musical-Industrie
Warum reisen Sie denn so oft nach Seoul?; Der Symbolgehalt von „Musical-Dol“ und „Musical-Pyein“; Das koreanische Musical: leidenschaftlicher Drang auf internationale Buhnen; DIMF: „Daegu“ wird zum Synonym fur „Musical“
Koreas MusicalIndustrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
ISSN 1975-0617
JAHRGANG 9, NR.3
KOREANISCHE KULTUR & KUNST 1
2 Koreana Herbst 2014
IMPRESSIONEN
“Smart Relationship-Asynchronous #01” (2012) 53 x 80 cm
Versunkenheit derer mit tief gebeugtem Kopf Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts der Republik Korea Foto Kim Jung-hyo
Der Himmel ist hoch und blau, die Pferde sind fett. Nun dürfen wir die Laterne heranziehen. Wenn der Herbst beginnt, kommen vielen Koreanern, einer Gewohnheit gleich, diese Zeilen eines Dichters aus längst vergangenen Zeiten in den Sinn. Ja, der Herbsthimmel dieses Landes war klar und hoch; die Ernte schenkte auch zu den mageren Zeiten, in denen das Hungern Alltag war, Hoffnung und Freude; die Nächte wurden allmählich länger und tiefer, also gerade die rechte Zeit, um das Dunkel mit dem Schein einer Laterne zu erhellen und bis tief in die Nacht zu lesen, sich in Gedanken zu verlieren - so die Bedeutung dieser Zeilen. Auf diese Weise lernten die Koreaner, dass der Herbst die „Jahreszeit des Lesens“ ist und gewohnheitsgemäß nahmen sie die Zeilen des Dichters in den Mund. Aber das ist jetzt nur noch ein alter Spruch. Die Koreaner von heute leiden keinen Hunger mehr. Sie müssen sich sogar wegen übermäßiger Nährstoffaufnahme um Übergewicht sorgen, sodass die Zahl der an Diäten Interessierten Tag für Tag wächst.
Auch geistig müssen sie keinen Hunger mehr leiden. Bücher sind preiswert, an jeder Ecke gibt es eine Bibliothek und das Internet bietet Informationen im Überfluss. Und dennoch gibt es nur wenige, die jetzt, zu Beginn des Herbstes, auf den Gedanken kommen, dass die Zeit zum Lesen wieder da ist. In den nur vier Jahren, die seit 2010, als in Korea die Massenverbreitung des Smartphones einsetzte, vergangen sind, überschritt die Zahl der Smartphone-Nutzer die 36- Millionen-Marke. Allein die Zahl der LTE-Nutzer beläuft sich bereits auf 33,26 Millionen. Im Herbst mit seinem hohen, blauen Himmel halten alle des Lesens kundigen Menschen in diesem Land, das sich der besten IT-Infrastruktur der Welt rühmt, ein Smartphone statt eines Buchs in der Hand. Mit tief gebeugtem Kopf versinken sie in ihre Smartphones, anstatt den hohen, blauen Himmel, der sich über ihren Köpfen erstreckt, zu betrachten. Statt ihre Flügel auszubreiten und sich in den weiten Raum der Kontemplation zu schwingen, sind sie in die Informationen vertieft, die vor ihren Augen erscheinen. Es ist Herbst, niemand leidet mehr Not, und der blaue Himmel ragt hoch und einsam hinter den gebeugten Rücken der SmartphoneNutzer empor.
KOREANISCHE KULTUR & KUNST 1
Von der Redaktion
Das koreanische Musical: Ein Blick hinter den Boom „Die koreanische Musical-Industrie ist vom Austrocknen bedroht“, konstatierte eine Seouler Tageszeitung in ihrer jüngsten Sonderberichterstattung über die anscheinend florierende Musical-Szene des Landes. Um diese Aussage zu belegen, wurde folgendes vielsagende Fallbeispiel herangezogen: Rebecca, einer der größten Hits unter den rund 200 im letzten Jahr auf die Bühne gebrachten koreanischen Musicals, spielte 7 Mrd. Won (rd. 5,22 Mio.€) ein, die Produktionskosten lagen bei 4,9 Mrd. Won (rd. 3,65 Mio.€), aber das Produktionsunternehmen verdiente daran nicht mehr als 100 Mio. Won (rd. 74.600€). Was bedeutet diese Rechnung für weniger erfolgreiche Produktionen? Oder gar für Reinfälle? Einer der Journalisten des Sonderberichts forderte eine objektive Selbstanalyse der Branche, um langfristige Lösungen vorlegen zu können. Tatsächlich besteht Grund zur Sorge, wenn, wie von Kennern der Branche behauptet wird, im letzten Jahr nur fünf von hundert Produktionsunternehmen Profite einfahren konnten. Andererseits ist die Musical-Branche aufgrund ihres besonderen Charakters seit jeher als Geschäftsbereich bekannt, in dem Erfolg und Misserfolg schwer abwägbar sind. Selbst am Broadway weiß jeder Musical-Regisseur, dass nur rund 25% all seiner Produktionen schwarze Zahlen schreiben werden. Und trotzdem geht die Show weiter, zieht Zuschauer aus aller Welt an und inspiriert Künstler in vielen Ländern. Für junge Künstler, die nach einer Karriere in einem der beliebtesten Genres der Aufführenden Künste streben, ist die Musical-Branche ein fruchtbarer Nährboden. In Korea wird das Musical erst seit einigen Jahrzehnten als vielversprechender Zweig für junge Bühnenkünstler angesehen. Allen Widrigkeiten zum Trotz knieten sie sich in ihr Metier und testeten neue Möglichkeiten aus. Mit der Zeit reagierten dann die Fans und kauften Karten für die Vorstellungen. Und es ist auch erst wenige Jahre her, dass der koreanische Musical-Markt und seine Investoren das Interesse von Broadway-Produzenten auf der Suche nach Projekt-Kooperationspartnern gewann. Der koreanische Musical-Markt ist noch nicht hinreichend entwickelt und sieht sich einigen großen Herausforderungen gegenüber. Zurzeit leidet er wohl noch unter Wachstumsschmerzen, aber irgendwann werden die Blasen platzen und abheilen. Wie der Musical-Kritiker Won Jong-won feststellte, steht die koreanische Musical-Industrie erst am Anfang. Wir laden unsere Leser dazu ein, einen Blick in diese ungewöhnlich dynamische Szene zu werfen, die überquillt von Vitalität und Begeisterung, Freude und Verzweiflung. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
Verleger
Yu Hyun-seok
Redaktionsdirektor Yoon Keum-jin Chefredakteurin
Ahn In-kyoung
Übersetzer Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Myeong Hye-jeong Choi Hye-rim Do Young-in Redaktionsbeirat Bae Bien-u Choi Young-in Emmanuel Pastreich Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse Layout & Design Ahn Graphics Ltd. 2 Pyeongchang 44-gil, Jongno-gu, Seoul 110-848, Korea Tel: 82-2-763-2303 / Fax: 82-2-743-8065 www.ag.co.kr Preis pro Heft in Korea W 6.000 Außerhalb Koreas US$ 9 Detailinfos zu den Subskriptionspreisen finden Sie innen auf der hinteren Einbandseite. The Korea Foundation Berlin Office c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr The Korea Foundation 19F, West Tower, Mirae Asset Center1 Building, 67 Suha-dong, Jung-gu, Seoul 100-210, Korea Tel: 82-2-2151-6546 Fax: 82-2-2151-6592 Gedruckt Herbst 2014 Joongang Moonwha Printing Co. 27 Shinchon 1-ro, Paju-si, Gyeonggi-do 413-170, Korea Tel: 82-31-906-9996 ©The Korea Foundation 2014
Koreanische Kultur und Kunst HERBST 2014
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Tango Lesson (2007) Kim Byung-jong Tinte und Acrylfarbe auf Maulbeerbaum-Papier, 275x265mm
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SPEZIAL
Koreas Musical-Industrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
SPEZIAL 1
04 „Warum reisen Sie denn so oft nach Seoul?“ 10
Aya Hasegawa
SPEZIAL 2
06 Der Symbolgehalt von „Musical-Dol“ und „Musical-Pyein“
Won Jong-won
SPEZIAL 3
10 Das koreanische Musical: leidenschaftlicher Drang auf internationale Bühnen
26
Park Byung-sung
SPEZIAL 4
16
DIMF: „Daegu“ wird zum Synonym für „Musical“ Won Jong-won
INTERVIEW
KUNSTKRITIK
Entertainment
20 Park Chan-kyong: Auf der Suche nach Spuren in der modernen Geschichte
36 Wiederaufblühen der SeidenblumenKunst des Joseon-Hofs
Pessimismus und Trost: 54
Choi Sung-ja
Kim Young-jin
VERLIEBT IN KOREA
BLICK AUS DER FERNE
Darcy Paquet
HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Der Film Han Gong-ju
42 Dana Ramon Kapelians Blick in die Herzen koreanischer Frauen
56 D as „Wir“ entscheidet Gedanken zum Begriff „uri“
entdeckt die exquisiten Weißtöne der Dal-Hangari
Ben Jackson
Doh Jae-kee
DEN EIGENEN WEG GEHEN
Lifestyle
MODERNE WAHRZEICHEN
58 Banner über Banner...
32
undament der religiösen, F historischen Versöhnung: Anglikanische Kirche Ganghwa
46 Jeong Goam graviert Glück ein „Es ist eine Art Kommunikation und Dialog“
Chung Jae-suk
Kim Sang-kyu
Roh Hyung-suk
NEUERSCHEINUNG
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
52 Baekdu Daegan Korea
Mehr als nur schöne Landschaften
62 Lesen wird dich frei machen
Charles La Shure
Gefährliche Lektüre
Kim Kyung-uk
26 Töpfermeister Kwon Dae-sup
100 Thimbles in a Box – The Spirit and 36 Beauty of Korean Handicrafts Chronik einer Suche nach lebendigen Traditionen
Charles La Shure
Bari, abandoned
Mit Pansori über die heutige Gesellschaft reflektieren
Song Hyun-min
Sebastian Ratzer
verkaufen Träume, vermitteln Anliegen
Chang Du-yeong
SPEZIAL 1 Koreas Musical-Industrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
Aya Hasegawa Freiberufliche Journalistin für Vorführende Künste
„Warum reisen Sie denn Ich reise drei, vier Mal im Jahr nach Seoul, um mir koreanische Musicals anzuschauen. Meist fliege ich Freitag Nachmitag von Tokio ab und komme am Montag darauf zurück. Im Schnitt besuche ich fünf Aufführungen an den vier Tagen. Wegen des derzeit für mich ungünstigen Yen-Won-Wechselkurses habe ich zwar schon mal überlegt, weniger oft nach Seoul zu fliegen, aber dann überzeugen mich die jedes Mal aufs Neue interessanten Vorstellungen vom Gegenteil. Nennt man das „Freuden-Qualen“ ?
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chon als Studentin mochtin ich Musicals. In Japan schaue ich mir rund zehn Aufführungen im Monat an, einmal im Jahr gönne ich mir ein Musical am New Yorker Broadway oder im Londoner West End, den beiden Hochburgen des Musicals. Derzeit schreibe ich Vorstellungskritiken für ein japanisches Theatermagazin. Die koreanische Musical-Szene verfolge ich erst seit einigen Jahren mit Interesse. Ich hatte zwar gehört, dass die Musicals sehr gut sein sollten, aber mein Interesse hielt sich zunächst in Grenzen. Es kam mir sinnlos vor, Musicals von Koreanern, die auch aus Asien stammen und deren Sprache ich nicht verstehe, anzuschauen.
Darsteller: Energie des koreanischen Musicals Meine Meinung übers koreanische Musical änderte sich grundlegend, als ich mir im März 2006 in Tokio zum ersten Mal eine koreanische Inszenierung ansah, und zwar Jekyll & Hyde . Neugierig auf das Musical-Niveau und Können der Darsteller schaute ich mir das Stück mal einfach so an und war bass erstaunt, denn die Hauptdarsteller Jo Seung-woo und Ryu Jung-han (Doppelbesetzung) waren sehr jung. In Japan spielte die Hauptrolle damals ein fast Sechzigjähriger, der zwar zweifelsohne äußerst gut und erfahren war, dessen Gesangsvermögen aber seinen Glanz verloren hatte. Während dieser Vorstellung, bei der die koreanischen Darsteller mit hervorragender Gesangskunst und ausgezeichnetem schauspielerischem Können überzeugten, spürte ich hautnah, wie sehr eine Vorführung von den Fähigkeiten der Schauspieler abhängt.
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Das erste Musical, das ich in Korea gesehen habe, war Spring Awakening (2009). Es lief gerade, als ich mit Freunden auf Vergnügungsreise in Seoul war. Und da ich das Stück schon am Broadway und in Japan gesehen hatte, war ich gespannt auf die schauspielerische Leistung der koreanischen Künstler. Auch diese Vorstellung gefiel mir überaus gut. Ich war von der Energie der beiden jungen Hauptdarsteller Kim Moo-yeol und Kim Yoo-yeong überwältigt, was schließlich zu regelmäßigen Kurzreisen nach Seoul führte. „Was ist eigentlich der Grund für deine häufigen Musical-Trips nach Seoul?“, wunderte sich ein Freund von mir, der sich übrigens überhaupt nicht für Musicals interessiert, und bohrte weiter: „Sind die Musicals denn dermaßen gut?“ Auf diese Frage antworte ich folgendermaßen: „Sie bieten Top-Unterhaltung, weil man koreanische TV-Serien und K-Pop gleichzeitig und dazu noch live genießen kann. Wie könnte das nicht interessant sein!?“ Für mich liegt, wie schon erwähnt, der Reiz koreanischer Musicals im Gesangsvermögen der Darsteller. Das dürften die japanischen Fans des koreanischen Musicals wohl generell so sehen. Da nicht nur die Hauptrollen, sondern auch Emsemble-Rollen mit qualifizierten Sängern besetzt werden, weist auch der Chorgesang eine gewisse Tiefe auf. „Das ist doch selbstverständlich, ist ja ein Musical“, meinten meine koreanischen Freunde, aber in Japan ist das leider keine Selbstverständlichkeit. In Japan werden die Rollen – vielleicht nicht bei allen, aber doch bei vielen Musicals – an berühmte TV-Stars vergeben, um mehr
so oft nach Seoul?“
Aya Hasegaya verliebte sich ins koreanische Musical, als sie 2006 in Tokio Jekyll & Hyde sah und von der Stimme des Hauptdarstellers Jo Seung-woo gefesselt wurde.
Zuschauer anzulocken. Manchmal werden die Hauptrollen sogar mit Schauspielern besetzt, denen es dermaßen an Gesangsvermögen mangelt, dass selbst Amateure besser singen würden. Dieses Phänomen ist in gewisser Hinsicht verständlich, weil man mit zwar stimmlich hervorragenden, aber wenig bekannten Darstellern den Saal kaum füllen kann. Aber aus Sicht des Zuschauers fragt man sich natürlich auch erbost, warum man für eine schlechte Gesangsdarbietung zahlen soll. In den letzten Jahren lassen sich ähnliche Tendenzen in Korea beobachten. Aber in koreanischen Musicals kann man selbst von Idol-Stars noch ein gewisses Nivau erwarten.
Reizvoller Gesang und brennende Leidenschaft Die Leidenschaft der koreanischen Darsteller hat ebenfalls ihren Reiz. Hier gibt es wohl Unterschiede im Volkscharakter. Ich habe mehrmals erlebt, dass koreanische Schauspieler bei manchen Szenen wahre Tränenströme vergossen, während dieselben Szenen von japanischen Darstellern trockenen Auges gespielt werden würden. Hier geht es mir nicht um besser oder schlechter, interessant ist nur der Unterschied in der Interpretation. In dieser Hinsicht gibt es einige Werke, die meiner Meinung nach wie für koreanische Musical-Darsteller geschrieben scheinen, nämlich Jekyll & Hyde, Der Graf von Monte Cristo und Bonnie and Clyde des amerikanischen Komponisten Frank Wildhorn. Die dramatischen Nummern dieser Musicals mit ihren hohen und langgezogenen Tönen sind in ihrer Prächtigkeit einzigartig und harmonieren perfekt mit den
Stimmen und der typisch koreanischen Wesensart, wodurch das Reizvolle der Musik lebhaft zum Ausdruck kommt. Meine regelmäßigen Trips nach Korea ließen mich einen weiteren Reiz des koreanischen Musicals entdecken: die original koreanischen Musicals. Das Musical Wäsche (Washing), das ich mir per Zufall im Seouler Kleinbühnenviertel Daehak-ro anschaute, war für mich ein großer Schock, denn es war unglaublich, dass in einem so kleinen Theater ein solch hochqualitatives Werk zu sehen war. Dieses Stück über den Alltag der Bewohner eines Armenviertels in Seoul füllte mit seinen wundervoll sanften, aber gleichzeitig schmerzerfüllten Liedern das ganze Theater. Ebenfalls überraschend war für mich die Tatsache, dass Drehbuch und Musik der meisten original koreanischen Musicals von jungen Autoren und Komponisten in ihren Dreißigern geschrieben werden. Vor Kurzem hat mich das Werk Seopyeonje stark bewegt. Es ist ein Stück, das den traditionellen epischen Sologesang Pansori exzellent mit dem Genre Musical kombiniert und die Welt des „Han“, dieses koreatypischen Gefühls des inneren Grolls aufgrund nicht gesühnten Unrechts, zum Ausdruck bringt. Als Ausländer konnte ich das Konzept von „Han“ nur schwer begreifen und wegen meiner mangelnden Koreanischkenntnisse konnte ich auch den Text nicht richtig verstehen. Nichtsdestoweniger konnte ich das „menschliche Karma“ über all diese externen Faktoren hinweg nachempfinden. Wenn ich an diese Vorstellung zurückdenke, bin ich auch jetzt noch tief berührt.
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SPEZIAL 2 Koreas Musical-Industrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
Der Symbolgehalt von „Musical-Dol“ und „Musical-Pyein“ Won Jong-won
Professor für Medienwissenschaft, Soonchunhyang University; Theaterkritiker
Die Zahl der Musicals, die in Seoul in einem Jahr auf die Bühne gebracht werden, beläuft sich auf etwa zweihundert, Produktionen für Kinder nicht mitgezählt. Nur in Zahlen gerechnet macht diese Aufführungsflut Seoul zu einem Mega-Markt, auf dem nach New York und London die meisten Musicals inszeniert werden. Vor Kurzem widmete die New York Times dem koreanischen Musical-Markt sogar einen umfangreichen Sonderbeitrag. Allein die Tatsache, dass sich das Genre Musical, das bisher als typisches Produkt der britischamerikanischen Kultur galt, sich nun bei Asiaten im Fernen Osten großer Beliebtheit erfreut, scheint als erfrischender Impuls gewirkt zu haben. Und bei einer solch hyperaktiven Musikszene entstehen natürlich auch Trends. Auch Star-Marketing gehört zu den ausgeprägten Phänomenen.
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n letzter Zeit ist es gang und gäbe, dass in der Besetzung berühmter Musicals ein oder zwei Namen von wohlbekannten Prominenten zu finden sind. Höchst populär sind dabei die jungen Stars der Boy und Girl Bands, in Korea „Idols“ genannt, die sich durch die Koreawelle Hallyu national und international einen Namen gemacht haben. Bei Musical-Auftritten solcher Stars sind aus dem Zuschauerraum nicht nur Bravo-Rufe auf Koreanisch zu hören, sondern auch auf Japanisch und Chinesisch. Bei einer Musical-Aufführung mit Idol-Besetzung erlebte ich einmal Folgendes: In der Pause grüßten im Vorbeigehen mehrere japanische Zuschauer freudig ein älteres Paar im Parkett. „Das sind die Eltern des Idol-Stars, der heute mitspielt“, flüsterte mir der PR-Mitarbeiter der Produktionsfirma zu, der meine Verwunderung bemerkt hatte. Die Leidenschaft der Fans, die sogar die Familie ihres Idols erkannte und grüßte, war nur zu bewundern.
Kometen am koreanischen Musical-Himmel: „Musical-Dols“ Es tritt aber nicht unbedingt nur ein einziger gefeierter Star in einem Stück auf. Seit der Zunahme kommerzieller Produktionen, bei denen sich mehrere Darsteller durch Doppel-, Dreifach- oder sogar Vierfachbesetzung eine Hauptrolle teilen, kommen immer mehr Stars auf die Musical-Bühne. Und da deutlich zu spüren ist, dass diese Sänger und Schauspieler nicht allzu viel Musical-Erfahrung haben und es ihnen an Willen und Zeit fehlt, die Bürde einer Alleinbesetzung zu schultern, scheint hier taktisch-merkantiles Kalkül mit im Spiel zu sein. PR-Slogans wie „Treffen Sie den Star Ihrer Wahl!“ sind nichts anderes als attraktive Verpackungen für kommerzielle Absichten. Am gefragtesten sind natürlich Sänger. Für ein Musical ist Gesangsvermögen eine unentbehrliche Voraussetzung und Vertrautheit
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mit Live-Auftritten ist ein weiteres großes Plus. Die nicht wenigen Popsänger, die auch Musical-Karriere gemacht haben, werden als „Musical-Dols“ bezeichnet (Neologismus aus „Musical“ und „I-dol“). Seungri, Mitglied der berühmten Boy Group Big Bang, spielte in dem original koreanischen Musical Sonagi (Regenschauer) die Hauptrolle und das nicht nur in Korea, sondern auch im japanischen Okinawa. Daesung, ebenfalls Mitglied von Big Bang, eroberte die Herzen als Playboy-Kater Rum Tum Tugger in Cats . Jo Kwon, Mitglied der Boy Group 2AM, sorgte als Herodes in Jesus Christ Superstar für Furore und als impertinente Drag Queen Adam in Priscilla - Königin der Wüste. U-Know Yunho von der Popband TVXQ! hatte großen Erfolg in Princess Hours und Gwanghwamun Sonata , die sogar auf JapanTournee gingen. SM Entertainment, die Künstler-Agentur, die erfolgreich verschiedenen Gruppen zu Idol-Ruhm verholfen hat, darunter auch den K-PopAushängeschildern Girls’ Generation, f(x) und Super Junior, versucht nun ins Musical-Geschäft vorzustoßen. Sie hat bereits das Tochterunternehmen SM C&C gegründet, das in eigenen Produktionen Sänger von SM Entertainment auf die Musical-Bühne bringt. In ihrem ersten Versuch Singing in the Rain übernahmen KyuHyun von Super Junior, Baekhyun von EXO und Sunny von Girls’ Generation die wichtigsten Rollen, was für einen schnellen Karten-Ausverkauf sorgte.
Vom Popstar zum Musical-Darsteller Schon früher gab es Fälle, in denen ehemalige Idol-Stars den Sprung zum reifen Musical-Darsteller schafften und zu neuer Beliebtheit kamen. Repräsentative Beispiele sind die einstigen Mädchengruppen-Mitglieder Ok Joo-hyeon von Fin.K.L und Bada von S.E.S. Besonders beeindruckend ist dabei der Erfolg von Ok Joo-hyeon, die mit
Kim Jun-su, Mitglied des singenden Triumvirats JYJ, ließ vor kurzem sein Talent in der Hauptrolle von Dracula glänzen. Kim, einer der großen „Musical-dol“, ist bekannt für seine schöne Stimme und seine teuflische Attraktivität auf der Bühne.
© OD Musical Company
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Der Begriff „Musical-Pyein“ meint wörtlich „Musical-Wrack“ und bezeichnet einen Musical-Maniac, der so verrückt nach einem bestimmten Musical oder Star ist, dass er dieselbe Vorstellung dutzende, ja hunderte Male besucht. In ähnlichem Zusammenhang hat die koreanische Musical-Industrie den Begriff „Drehtür-Zuschauer“ kreiert und bietet für die Fans, die immer wieder kommen, besondere Ermäßigungsprogramme an.
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© Seensee Company
Einstiges Fin.K.LMitglied Ok Joo-hyeon in Chicago. Als einer der großen Popstars, die eine kometenhafte MusicalKarriere gestartet haben, kann sie eine beeindruckende Liste von Hauptrollen aufweisen, darunter in Wicked, Elisabeth und Cats.
ihrer einzigartigen Gesangskunst in zahlreichen wichtigen Rollen brillierte: als alte Katze Grizabella in Cats, als unglückliche HabsburgerKaiserin Elisabeth in Elisabeth, als sexy Mörderin in Chicago und als grüne Hexe in Wicked. Bada eroberte die Herzen der Zuschauer als barfuß tanzende Zigeunerin Esmeralda in Notre Dame de Paris , als tödlich verlockende Carmen und in 200 Pounds Beauty als Schönheit, die von Kopf-bis-Fuß-Produkt der plastischen Chirurgie ist. Ein weiteres Erfolgsbeispiel ist Kim Jun Su von der Boy Group JYJ. Streitigkeiten mit seiner ehemaligen Agentur, die ihn daran hinderten, in den TV-Bereich einzusteigen, brachten ihn zur Musical-Bühne, die ihm neue künstlerische Horizonte eröffnete und ihm letztendlich wesentlich substanzielleren Erfolg als das Fernsehen bescherte. Er macht dadurch von sich reden, dass die Vorstellungen, in denen er auftritt, unabhängig von der Qualität des Stückes immer in kürzerster Zeit ausverkauft sind. Beispiele sind Musicals wie Mozart, Tears of Heaven, Elisabeth und December, ein Jukebox-Musical mit Musik des leider zu früh verstorbenen koreanischen Folksängers Kim Kwang-seok.
„Musical-Maniacs“ oder „Drehtür-Zuschauer“ Manche betrachten die hohe Beliebtheit der „Musical-Dols“ als Resultat der Verschmelzung von koreaspezifischer Fandom-Kultur und Bühne. Diese Analyse basiert darauf, dass die Fans der MusicalDols ihre Idole bei Bühnenauftritten genauso enthusiastisch und vorbehaltlos unterstützen wie das Massenpublikum seine Pop-Stars. Im ähnlichen Kontext ist der mittlerweile schon weit verbreitete Neologismus „Musical-Pyein“, wörtlich „Musical-Wrack“, zu verstehen: Er bezeichnet einen Musical-Maniac, der so verrückt nach einem bestimmten Musical oder Star ist, dass er dieselbe Vorstellung dutzende, ja hunderte Male besucht. Eigentlich meint das Wort „Pyein“ einen Menschen, der geistig bzw. körperlich zum Wrack geworden oder unnütz geworden ist, aber es ist hier humorvoll-ironisch zu verstehen, bedeutet es doch, dass man sich einem Werk oder einem Star mit so viel Enthusiasmus widmet, dass man für alles andere „unnütz“ geworden ist. Eine weitere Neuschöpfung der koreanischen MusicalIndustrie ist der „Drehtür-Zuschauer“, ein Begriff, der in ähnlichem Kontext Verwendung findet. Er bezeichnet Fans, die immer wieder kommen, und für die sogar besondere Ermäßigungsprogramme angeboten werden: Fans, die sich eine bestimmte Vorstellung eine bestimmte Anzahl von Malen angeschaut haben, bekommen Eintrittskarten zu ermäßigten Preisen, was nicht nur ein zugkräftiges Werbemittel der koreanischen Musical-Industrie ist, sondern auch ein belohnender Service für exemplarische Zuschauertreue. Damit das Phänom der Musical-Dols und Musical-Maniacs nachhaltig Bestand haben kann, sind auf lange Sicht gesehen Investitionen und Risikobereitschaft gefragt. Über die simple Herangehensweise hinaus, bestimmte Stars in bestimmten Stücken auftreten zu lassen, sollten kühne Experimente unternommen werden, die den Mehrwert und die Synergie-Effekte des Musicals als kulturellen Industriezweig maximieren.
Stärken und Schwächen des Star-Marketings Star-Auftritte garantieren nicht automatisch eine hochwertige Inszenierung. Vielmehr sieht sich das Publikum manchmal vom mangelnden schauspielerischen Können eines Stars enttäuscht. Sieht man Star-Marketing lediglich als „Anlock-Aktion“, scheitert die Erfolgsformel auf halber Strecke. Denn ausschlaggebend ist nicht der Auftritt des Stars an sich, sondern das, was daraus gemacht wird. Geht die Musical-Industrie nicht über den Punkt hinaus, zu Marketingzwecken die Darstellerliste mit berühmten Namen zu schmücken, könnte der Schaden den Gewinn übertreffen. Kurzfristig mögen die Kartenverkäufe zwar in die Höhe schnellen, aber langfristig wird es sowohl dem betreffenden Stück als auch dem Star selbst schaden. Besonders problematisch wird es, wenn der Star nur ein oder zwei Mal die Woche wie im Vorbeiflug auftritt. Anders als bei Videoinhalten, die mit dem Zweck der reinen „Bild-Wiedergabe“ aufgenommen und ediert werden, geht es auf der Bühne um das Kunstgenre des „Rekonstruierens“ von Szenen. Das erfordert ein harmonisches Zusammenspiel der Darsteller, weshalb ein unregelmäßiger Auftrittsplan den Perfektionsgrad des ganzen Stückes nach unten ziehen kann. Das ist auch der Grund, warum von Popstars, die in Musicals auftreten sollen, erwartet wird, dass sie zeitweilig andere Aktivitäten hintenan stellen und sich voll auf die Bühne konzentrieren. Auf der Musical-Bühne wird ein wahrer Star durch wiederholte Auftritte und harmonisches Zusammenspiel mit der Truppe geboren. Im Großen und Ganzen sind die Aussichten aber gut. Vor allem könnten Musicals gutes Futter für die Koreawelle Hallyu, die koreanische Populärkultur, sein. Wenn in der heutigen Kulturindustrie die Formel zur Schaffung von Mehrwert „one source, multi-use“ lautet, dann lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass die koreanische MusicalIndustrie über unendliches Potential verfügt. Nicht nur Musical-Dols, sondern auch TV-Serien, Filme und Popmusik sind gute Ressourcen zur Generierung neuer Wertschöpfung auf der Bühne. Die Transformation in vertraute und gleichzeitig neuartige Bühnenkunst wird sicherlich die Wettbewerbsfähigkeit von „Musicals made in Korea“ im großen Umfang steigern helfen. Ein weiterer Positivfaktor ist, dass Korea über einen vergleichsweise großen Pool vielversprechender Nachwuchstalente verfügt. Bestand bislang die Mehrheit der Musical-Dols aus Stars, die bereits in anderen Bereichen erfolgreich waren, so wird erwartet, dass in Zukunft Musical-Darsteller erscheinen, die sich zunächst auf der Bühne beweisen und zu Bekanntheit und Ruhm kommen, um sich dann in anderen Bereichen zu versuchen. Musical-Stars wie Oh Man-seok, Jo Jung-suk und Um Ki-joon, die diesen Weg bereits gegangen sind und in den verschiedensten Bereichen Fuß gefasst haben, haben solche Möglichkeiten bereits hinreichend unter Beweis gestellt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Management-Agenturen darauf aufmerksam werden und sich der Trend verbreitet. Die künftigen Entwicklungen dürften jedenfalls interessant zu beobachten sein.
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SPEZIAL 3 Koreas Musical-Industrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
Das koreanische Musical: leidenschaftlicher Drang auf internationale Bühnen Park Byung-sung
Chefredakteur, The Musical
Der koreanische Musical-Markt, der seit Beginn des 21. Jhs ein rasantes Wachstum erlebt, bringt heute durchschnittlich 200 Werke pro Jahr auf die Bühne. In Hinblick auf die Produktionszahlen dürfte er nach dem amerikanischen (New Yorker Broadway) und britischen (Londons West End) Markt zu den größten der Welt gehören. Vom Umfang her mag er verglichen mit diesen beiden Musical-Giganten mit ihrer langen Geschichte noch klein sein, aber in puncto schöpferischer Leidenschaft steht er in keinster Weise zurück. Dieses explosive Schöpfungsfieber kommt in den zahlreichen Versuchen, die Grenzen des heimischen Marktes zu überschreiten, zum Ausdruck. 10 Koreana Herbst 2014
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Nanta, eine nonverbale Performance, die traditionelle koreanische Perkussionsmusik und Slapsticks kombiniert, wurde 2004 im Minetta Lane Theater auf die Bühne gebracht und innerhalb der anderthalbjährigen Laufzeit 632 Mal aufgeführt.
© PMC Production
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er Vorstoß koreanischer Musicals auf den Auslandsmarkt lässt sich unter zwei Aspekten beleuchten: Kulturaustausch und Kulturindustrie. Der Kulturaustausch begann Ende der 1980er Jahre nach den Olympischen Sommerspielen in Seoul (1988). Die meisten dieser Aufführungen zielten darauf ab, die kulturelle Stärke des Landes international bekannt zu machen, und waren hauptsächlich an die koreanische Diaspora gerichtet. Was den Aspekt der Kulturindustrie betrifft, so begann der kommerzielle Vorstoß auf den Auslandsmarkt kurz nach der Millenniumwende, als das Wachstum der koreanischen Musical-Industrie an Fahrt gewann. Um die Beschränkungen des kleinen einheimischen Marktes zu überwinden, richteten die Produktionsunternehmen ihren Blick auf den internationalen Markt und klopften in verschiedenster Form an die Türen ausländischer Bühnen. Während sie anfangs die Theater am Broadway und in West End anvisierten, verlagert sich heute ihr Interesse vor allem in Richtung Japan und China.
UK und USA: Davids Kampf gegen Goliath The Last Empress war das erste Musical, das es als original kore-
anisches Kulturprodukt auf den amerikanischen Musical-Markt schaffte. Nach der Uraufführung 1997 im New Yorker Lincoln Center wurde es im darauf folgenden Jahr im New York State Theater sowie im Shubert Theatre in Los Angeles vorgestellt. Das Stück handelt vom Leben Kaiserin Myeongseongs, der Gemahlin Kaiser Gojongs, die Ende des 19. Jhs, als Japan fest zur Invasion des Joseon-Reichs (1392-1910) entschlossen war, von japanischen Attentätern ermordet wurde. Auch wenn das Musical wegen seiner kurzen Spielzeit und den hohen Produktionskosten keine großen Gewinne einfahren konnte, behält es nach wie vor Bedeutung als erstes original koreanisches Stück, das in New York, einer der Wiegen des Musicals, auf die Bühne gebracht wurde. Nach der Jahrtausendwende erschienen auf den internationalen Markt gerichtete, non-verbale Werke wie Nanta und Jump , da die Sprachbarriere beim Vorstoß nach Übersee das größte Handicap darstellte. Angeregt von den Shows der britischen Perkussion-Band Stomp wurde das non-verbale Musical Nanta produziert, eine gelungene Kombination von koreanischem traditionellen Perkussionsquarett Samulnori und westlicher Slapstick-Komödie. Nach großen Erfolgen in Korea wurde es auf dem Edinburgh International Festival erstmals dem ausländischen Publikum vorgestellt. 2004 feierte es dann unter dem neuen Titel Cooking offiziell Premiere in New York, und zwar im Minetta Lane Theatre, einer Off-Broadway-Bühne mit 400 Sitzplätzen. Mit seinen mitreißenden traditionellen Perkussionsrhythmen und witzigen Slapstick-Einlagen wurde Cooking in seinen eineinhalb Jahren Laufzeit insgesamt 632 Mal auf die Bühne gebracht. Im Gegensatz dazu war Jump, das sich stark am Nanta Format orientierte, nicht so erfolgreich und überlebte nach seiner Off-Broadway-Premiere 2007 nicht einmal ein Jahr. Trotz seines mittelmäßigen Kassenerfolgs wurde Jump, untertitelt mit „Martial Arts Performance“, hoch gelobt wegen seiner bei asiatischen Kampfsportarten wie Taekwondo und Kungfu entlehnten Einlagen mit atemberaubenden Akrobatik- und Kampfkunst-Choreographien, die die Vorzüglichkeit der koreanischen Darstellenden Künste demonstrierten. Danach testeten die koreanischen Musical-Produzenten zur Überwindung der Sprachbarriere die Herangehensweise aus, das Skript von vornherein auf Englisch zu verfassen und dann ins Koreanische zu übersetzen. Da sie bereits mit ausländischen Lizenz-Musicals viel Erfahrung hatten, waren solche Übersetzungsarbeiten nichts Neues für sie. Dahinter stand auch die Absicht, durch Zusammenarbeit mit namhaften ausländischen Künstlern die Produktionen nicht nur in Korea, sondern auch in Übersee auf die Bühne zu bringen. Dancing Shadow von 2007 ist ein repräsentatives Beispiel dafür Dieses Stück, eine Umarbeitung der Komödie Sanbul (Waldbrand) von Cha Bumsuk, behandelt die ideologischen Konflikte, die sich während des Koreakriegs in einem Dorf, in dem nur noch die Frauen übrig geblieben sind, abspielen. Der chilenische Dramatiker Ariel Dorfman, Autor der Komödie Widows , übernahm die Bearbeitung des Skripts. Alle Produktionsbereiche inklusive künstlerische Leitung, Choreo-
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graphie, Bühnenbild und Kostüm unterstanden ausländischen Mitarbeitern, nur Produzent und Originalautor des Stücks waren Koreaner. Das Ergebnis: Das Originalwerk, eins der bedeutendsten realistischen Theaterstücke, verwandelte sich in eine universal gültige Allegorie, die wiederum als internationales Musical Dancing Shadow wiedergeboren wurde. Dieses Werk konnte zwar im Bereich Bühnengestaltung, Tanz und Musik positive Kritiken erhalten, vermochte allerdings nicht die enormen Produktionskosten zu decken. Trotz solcher Fehlschläge werden die Bemühungen, koreanische Musicals an den Broadway zu bringen, fortgesetzt. Acom, die Produktionsfirma von The Last Empress , adaptierte Georg Büchners Theaterstück Woyzeck für die Musical-Bühne. Die Entwicklung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem britischen Greenwich Theatre, die Uraufführung in Korea ist für Herbst 2014 geplant. Sollte das Stück in Korea erfolgreich sein, wird überlegt, es auf dem Broadway oder in West End zur Aufführung zu bringen. Ebenfalls in Bearbeitung für die Musical-Bühne ist der koreanische Kino-Kassenschlager Speed Scandal , wobei die Produktionsfirma hier von Anfang an mit Blick auf den Broadway ein kanadisches Drehbuchautor- und Komponisten-Duo angeheuert hat.
In Japan: vom Rückenwind der Koreawelle getrieben Bis vor 2010 bestand in Japan kaum Interesse an koreanischen Musicals. Aber als 2010 Kim Jun Su, Mitglied der Boygroup JYJ, in Mozart mitspielte, änderte sich die Stimmung schlagartig. Kim Jun Su, der nach seinem Austritt aus seiner alten Band TVXQ! eine Weile kaum aktiv gewesen war, konnte mit seinem Wechsel zum Musical die in- und ausländischen Fans wieder für sich gewinnen. Und da er als einstiges Mitglied von TVXQ! in Japan phänomenale Beliebtheit genoss, reisten nicht wenige seiner Fans extra aus Japan an, um ihn im Musical Mozart zu sehen. Bei Vorstellungen, in denen Kim Jun Su auftrat, bestand das Publikum bis zu 40% aus seinen japanischen Fans. Mit der immer weiter zunehmenden Zahl japanischer Musical-Touristen starteten japanische Produzenten dann vorsichtige Versuche, koreanische Musicals nach Japan zu holen. Das Osaka Shochiku-za
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Theatre, das bisher hauptsächlich traditionelles japanisches Kabuki-Theater auf die Bühne brachte, kaufte die Lizenzen für Princess Hours und 200 Pounds Beauty. Von den K-Pop-Stars waren Kim Sung-je von der Gruppe Choshinsung und Gyuri von KARA mit von der Partie. Bei den Vorstellungen, in denen die koreanischen Stars nicht auftraten, blieb der Zuschauerraum allerdings vergleichsweise leer. Yokichi Osato, Chef des japanischen Entertainment-Unternehmens Amuse Inc., glaubte fest an das Potential koreanischer Musicals. Er eröffnete im Herzen Tokios das Amuse Musical Theatre, eine Exklusivbühne für koreanische Musicals. Das ganze Jahr 2013 über standen nur koreanische Musicals auf dem Spielplan, wobei die Rollen zwar mit koreanischen Musical-Darstellern besetzt wurden, allerdings nicht mit Idol-Stars. Die Eintrittspreise lagen entsprechend niedriger. Das Experiment scheiterte und bestätigte damit die Tatsache, dass koreanische Musicals in Japan ohne die Rückenstärkung durch Koreawelle-Stars noch nicht konkurrenzfähig sind. Das ist aber zum großen Teil auch auf die strukturellen Probleme des japanischen Musical-Markts zurückzuführen, der zu mehr als 80% von den beiden Musical-Produktionsriesen Toho K.K und Shiki Theatre Company beherrscht wird. Für mittlere oder kleine Produktionsfirmen ist es daher schwierig, Lizenzen für Broadway-Musicals zu erwerben. Angesichts dieser Situation setzten einige japanische Produzenten ihre Hoffnung auf den noch nicht erschlossenen Nischenmarkt der koreanischen Musicals. 2011 schafften es zwei und 2012 sieben koreanische Musicals nach Japan. 2013 stieg die Zahl auf 18, pendelt sich 2014 jedoch wieder auf das Niveau von 2012 ein. Nachdem klar geworden ist, dass man mit Werken, die für den Erfolg auf Koreawelle-Stars als Aushängeschilder angewiesen sind, an Grenzen stößt, testen die koreanischen Produktionsunternehmen auf Basis ihrer bisherigen Erfahrungen neue Strategien aus. Das Musical Sherlock Holmes, das im Frühjahr 2014 in Japan Premiere feierte, war nicht zuletzt dank seines reichlichen Vorfeld-Marketings und der Besetzung mit hochkarätigen japanischen Musical-Stars ein Kassenschlager. Das Beispiel beweist, dass Musicals made in Korea flankiert von effektiven PR-Maßnahmen und hervorragender Besetzung auch auf dem japanischen Markt Chancen haben. Ein anderes Beispiel ist On Air, ebenfalls ein original koreanisches Musical, in dem koreanische Idol-Sänger und japanische Darsteller mitspielten. Um die koreanischen Idol-Stars harmonisch in die japanischsprachige Vorstellung zu intergrieren, wurden für sie extra Charaktere geschaffen, die nicht fließend Japanisch sprechen.
China: ein Markt mit unendlichem Potential Es ist noch nicht lange her, dass das kommunistische China dem Musical, das oft als Krönung der kapitalistischen Kunst bezeichnet wurde, grünes Licht gegeben hat. Das erste koreanische Musical, das dem chinesischen Publikum vorgestellt wurde, war Line 1, eine Bearbeitung des deutschen Originals von Volker Ludwig. Es beschreibt das
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1, 2. The Last Empress 4. schaffte als erstes koreanisches Musical den Sprung auf die Auslandsbühne. Das Musical, das die Geschichte der Ermordung von Kaiserin Myeongseong durch japanische Attentäter erzählt, war das erste original koreanische Musical, das im MusicalMekka New York aufgeführt wurde. 3. Die japanische Firma Shochiku-za importierte 200-Pound Beauty und stellte es 2011 dem japanischen Publikum vor. Angesichts der wachsenden Zahl von japanischen MusicalTouristen in Korea haben sich japanische Produzenten vorsichtig an den Import koreanischer Musicals gewagt.
Das Musical Sherlock Holmes, das im Frühjahr 2014 in Japan Premiere feierte, war nicht zuletzt dank seines reichlichen Vorfeld-Marketings und der Besetzung mit hochkarätigen japanischen Musical-Stars ein Kassenschlager.
Das Musical Sherlock Holmes , das im Frühjahr 2014 in Japan Premiere feierte, war nicht zuletzt dank seines reichlichen Vorfeld-Marketings und der Besetzung mit hochkarätigen japanischen Musical-Stars ein Kassenschlager. Das Beispiel beweist, dass Musicals made in Korea flankiert von effektiven PRMaßnahmen und guter Besetzung auch auf dem japanischen Markt Chancen haben. 3
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1. Finding Mr. Destiny, das mit Blick auf die Eigenheiten der chinesischen Kultur in leicht abgewandelter Form auf die Bühne gebracht wurde, erfreute sich großer Publikumsbeliebtheit. 2. Line 1, ein ursprünglich deutsches, von der Theater Company Hakjeon übersetztes und an die koreanischen Verhältnisse adaptiertes Musical, war das erste koreanische Stück, das in China aufgeführt wurde. Der renommierte chinesische Schriftsteller Yu Hua, Autor von Der Mann, der sein Blut verkaufte, sah das Musical in Seoul und empfahl es für eine Aufführung in China. 3. CJ E&M produzierte Feast of the Princess mit einer Besetzung aus koreanischen und chinesischen Schauspielern. Um dem Geschmack des chinesischen Publikums zu entsprechen, fokussierte die Show auf das Thema Kochen und auf eine spektakuläre Präsentation.
Seoul von heute aus der Perspektive der jungen China-Koreanerin Seonnyeo, die gerade aus Yanbian, einer Region mit hohem Anteil an Chinesen koreanischer Abstammung, angekommen ist. Line 1 verdankt dem berühmten chinesischen Schriftsteller Yu Hua seine Aufführung in China. Der Autor von Der Mann, der sein Blut verkaufte schaute sich das Musical bei einem Koreabesuch an und lobte es als „ein Werk, das die dunklen Seiten der Gesellschaft hinter der glänzenden Fassade der Metropole Seoul“ thematisiere und fügte hinzu, dass es „als Glanzstück das hohe Niveau der koreanischen Darstellenden Künste“ zeige. Für viele Vertreter der chinesischen Kulturkreise wirkte die Tatsache als Schock, dass ein Musical, das sie bis dahin als Krönung der kapitalistischen Kunst betrachtet hatten, das Leben des einfachen Mannes dermaßen nackt beleuchten kann. Danach wurden hauptsächlich non-verbale Werke wie Nanta und Jump auf die chinesische Bühne gebracht. Ein regelrechter Austausch zwischen den beiden Ländern im Musical-Bereich kam erst um 2010 auf den Weg. 2009 hatte der chinesische Staatsrat den Plan zur Beförderung der Kulturindustrie verabschiedet, um das Niveau der chinesischen Unterhaltungsindustrie auf Weltspitzenniveau anzuheben. Während der chinesische Filmmarkt weltweit Platz zwei belegt, befindet sich der Live-Entertainment- sowie der Musical-Markt noch in einem unterentwickelten Zustand. Daher wählte die chinesische Regierung die britische Produktionsfirma Cameron Mackintosh Ltd., Produzent von u.a. Cats und Phantom der Oper, als Partner für die Expansion des chinesischen Musical-Marktes. Allerdings betrachteten die Briten den chinesischen Markt nur als einen weiteren Markt wie jeden anderen. Die beiden Vertragsparteien verfolgten jeweils andere Ziele, so dass die Zusammenarbeit nur kurzlebig war. Zum neuen Koopera-
tionspartner für das Projekt wurde das koreanische Produktionsunternehmen CJ E&M bestimmt. Zusammen mit lokalen Unternehmen wurde ein Joint Venture namens United Asia Live Entertainment Co., Ltd gegründet, um dem chinesischen Publikum ausländische Musicals vorzustellen, ein Projekt, das CJ E&M im kleineren Maßstab bereits seit 2004 betrieben hatte. Das Joint Venture stellte auch das original koreanische Musical Finding Kim Jong Wook in China vor. Für die Aufführung wurde das Stück mit Blick auf die chinesische Kultur lokalisiert und erhielt auch einen neuen Titel: Finding Mr. Destiny. Der Vater, der im koreanischen Original als autoritärer Berufssoldat das Prinzip von Gehorsam und Disziplin verfolgt, wurde auf der chinesischen Bühne zu einem warmherzigen Papa mit Schürze und Suppenkelle in der Hand, womit berücksichtigt wurde, dass in China Militärangehörige nicht negativ porträtiert werden sollten. Durch solche Lokalisierungsbemühungen stieß das Stück in China auf gute Resonanz. CJ E&M hat auch Feast of the Princess auf die Bühne gebracht, ein Stück, für das Künstler und Mitarbeiterstab aus beiden Ländern kooperierten. Unter Berücksichtigung der Vorlieben des chinesischen Publikums wurde rund um das Thema Kochen eine spektakuläre Performance mit Gesang, Tanz und Schauspiel kreiert. Die chinesische Regierung fördert - mit dem Kulturministerium als zentraler Schaltstelle - durch den Plan zur Stimulierung des Live-Entertainment-Bereiches aktiv die Produktion von Musicals. Dementsprechend sind die chinesischen Musical-Produzenten eifrig bemüht, von Koreas Erfahrungen und Know-how in diesem Bereich zu lernen. Im September fand in Korea eine koreanisch-chinesische Messe der Darstellenden Künste statt, an der ca. 100 chinesische Theaterunternehmen teilnahmen. 3
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Hauptwerke und historische Momente koreanischer Musicals Sweet, Come to Me Stealthily Die Geschichte des koreanischen Musicals begann mit der Yegrin Musical Company, die 1961 aus der politischen Motivation gegründet wurde, im Kulturbereich eine Kunstorganisation zu etablieren, die sich mit der nordkoreanischen Korea’s Sea of Blood Opera Company messen konnte. Seitdem konzentrierte sich die Yegrin Musical Company auf die Entwicklung des koreanischen Musicals als komplexes Genre der Bühnenkunst. Sweet, Come to Me Stealthily ist ein Resultat dieser Bemühungen. Als Stoff wurde die Geschichte des Bae Bijang verarbeitet, eine Jahrhunderte alte Volkserzählung, die in verschiedenen Versionen und Gattungen tradiert wurde und humorvolle sowie melodramatische Elemente enthält. Das Musical handelt von Bae Bijang, einem kleinen, auf die Insel Jeju-do versetzten Beamten, der nach dem Tode seiner Frau in einem öffentlichen Treuegelöbnis schwört, keiner anderen Frau mehr nahe kommen zu wollen, aber schon bald den Verführungskünsten der schönen Kurtisane Aerang erliegt und sich dadurch vor aller Welt blamiert. Mit der damaligen Bühnendiva Patti Kim in der Hauptrolle der Aerang und dem Komiker Kwak Gyu-seok als Witzfigur startete man erstmals den Versuch einer StarBesetzung. Das Musical wurde vom 26. bis 29. Oktober 1966 insgesamt sieben Mal aufgeführt und war dermaßen beliebt, dass für die letzte Aufführung auf dem Schwarzmarkt sogar Eintrittskarten für das Fünffache des Originalpreises verkauft wurden. 1960er
Padam Padam Padam Das 1976 gegründete Hyundai Theater erklärte Spezialisierung, Professionalisierung und Wissenschaftsbasierung zu seinen Hauptzielen. Zu diesem Zweck führte es als erstes in Korea das neue „Produzenten-System“ ein, nach dem der Produzent für den gesamten Produktionsprozess zuständig ist und der Regisseur nur die künstlerische Regiearbeit leistet. Das war zu einer Zeit, als kommerzielle Kunst noch als negativ angesehen wurde. 1977 brachte das Hyundai Theater Padam Padam Padam auf die Bühne, ein musikalisches Porträt der französischen Chanson-Sängerin Édith Piaf. Die Rolle der Piaf wurde von der beliebten, bis dahin in den USA aktiven Sängerin Yun Bok-hee übernommen und auch viele andere berühmte Stars gehörten zur Besetzung. Obwohl das Stück ein immenser Publikumserfolg war, zeigten sich die Kritiker ablehnend. Der Theaterkritiker Lee Tae-ju beschrieb es sogar als „billiges kommerzielles Machwerk“. Kim Uigyeong, der damalige Direktor des Hyundai Theaters, der für Produktion und Text von Padam Padam Padam zuständig war, brachte daraufhin Gegenargumente hervor. Als sich dann weitere Kritiker zu Wort meldeten, entflammte eine heiße Debatte über „kommerzielle Werke“. Diese Diskussion zeigt beispielhaft, dass die koreanischen Theaterkreise als eiserne Verfechter der hohen 1970er
Künste mit dem plötzlichen Auftreten der „kommerziellen Kunst“ nicht ganz klar kamen. Unter den Kritikern herrschte zwar eine ablehnende Haltung vor, das koreanische Publikum unterstützte jedoch das Hyundai Theater, das sich ernsthaft an die Produktion von Musicals gewagt hatte. Guys and Dolls Das Musical Guys and Dolls , das in den 1950er Jahren in den USA Premiere feierte, wurde 1981 in Form eines Studententheaters erstmals in Korea vorgestellt. Es gewann wegen seiner humorvollen Handlung, den geistreichen Texten und leicht nachzusingenden Melodien schnell an Beliebtheit. Da es in den 1980er Jahren noch an Darstellern mangelte, die gleichermaßen in Gesang, Schauspiel und Tanz versiert waren, schlossen sich 1983 die drei Theatertruppen Minjung, Gwangjang und Daejung zusammen, um das Stück gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Die Zuschauerreaktionen waren dermaßen begeistert, dass Guys and Dolls bis zum Jahr 2000 fast jährlich wenigstens einmal aufgeführt wurde und lange Zeit als Lieblingsstück der Koreaner galt. Es ist auch das Werk, das dem koreanischen Publikum vermittelte, dass das Musical ein erfrischendes und unterhaltsames Genre ist. 1987, als der Pool vielseitig talentierter Darsteller hinreichend gewachsen war, wurde das Stück von den drei Theatergesellschaften separat inszeniert auf die Bühne gebracht. 1980er
The Last Empress 1990er In den 1990er Jahren erlebte die koreanische Populärkultur einen großen Aufschwung, der auch für das koreanische Musical ein bemerkenswertes Wachstum brachte. 1995 erfreute sich The Last Empress, das von Kaiserin Myeongseong und ihrem tragischen Schicksal zu Ende der Joseon-Zeit handelt, großer Beliebtheit. Während die Produktionskosten für ein großes, original koreanisches Musical damals bei etwa 500 Mio. Won (ca. 375.000 Euro) lagen, wurde in dieses Werk mit 1,2 Mrd. Won (ca. 898.000 Euro) mehr als das Doppelte investiert, eine immense Summe, die in Bühnenbild, Kostüm und Choreographie floss. Bereits in der ersten Szene, die vor der Kulisse der Miniaturnachbildung eines Joseon-Königspalastes spielt, war das hervorragende Bühnenbild zu erkennen, das denen früherer Produktionen deutlich überlegen war. In der Schlussszene, in der die Kaiserin den japanischen Meuchelmördern zum Opfer fällt, sorgte eine abgeschrägte Drehbühne für dramatische Spannung. Bei diesem durchgängig gesungenen Werk mit seinen insgesamt 54 Liedern beeindruckte die Zuschauer besonders Rise, People of Joseon , das der Geist von Kaiserin Myeongseong nach deren Tode singt. Das Werk zog nach seinen Aufführungen in New York 1997 und 1998 die Aufmerksamkeit auf sich und gilt seitdem als das repräsentativste original koreanische Musical.
The Phantom of the Opera 2000er The Phantom of the Opera wurde 2001
in Korea uraufgeführt und verursachte wahrhaft tektonische Veränderungen in der Musical-Szene. Man könnte fast sagen, dass sich die koreanischen Musicals in die Ära vor und nach The Phantom of the Opera unterteilen lassen. In der Ära davor war das koreanische Musical noch zu unbedeutend, um als eigener Industriezweig gelten zu können. The Phantom of the Opera war ein phänomenaler Erfolg, der in puncto Produktionskosten, Kartenpreise, Spielzeit und Gewinn alle bisherigen Rekorde brach. Investiert wurden 12 Mrd. Won (ca. 8,98 Mio. Euro), was damals mehr als das Zwanzigfache der durchschnittlichen Produktionskosten eines großräumigen Theaters darstellte, und die Gewinne beliefen sich auf etwa 19 Mrd. Won (ca. 14,2 Mio. Euro). Nach diesem Erfolg zogen die koreanischen Musicals allmählich das Interesse der Investitionsgesellschaften auf sich und auch die Produzenten wurden proaktiver, wenn es um großzügige Investitionen zur Anziehung ausländischer Hit-Musicals nach Korea ging. Der Erfolg von The Phantom of the Opera bewirkte ein rasantes Wachstum des koreanischen Musicals und wirkte auch als Auslöser für die Herausbildung des heutigen Musical-Marktes, bei dem Originalproduktionen aus anderen Ländern im Mittelpunkt stehen.
The Goddess is Watching Das augenfälligste Merkmal der koreanischen Musical-Industrie nach 2010 ist die schnelle Entwicklung von original koreanischen Musicals. The Goddess is Watching wurde von CJ&E im Rahmen seines Inkubationsprogramms CJ Creative Minds produziert und verleiht dieser Tendenz verstärkt Impulse. Das Stück, das vor dem Hintergrund des Koreakriegs spielt, handelt von Soldaten aus Nord und Süd, die als Schiffbrüchige auf einer unbewohnten Insel landen. Die Soldaten helfen einander, um gemeinsam von der Insel entkommen zu können und finden dabei ihre verloren gegangene Bruderliebe wieder. Die ans Herz rührende parabelhafte Darstellung des menschlichen Dilemmas der Soldaten geht jedoch nie soweit, die Realität des Krieges aus dem Auge zu verlieren, und es ist gerade dieses subtile Gespür für Balance, das dem Stück das große Lob der Fans einbrachte. Obwohl in The Goddess is Watching kein IdolSänger mitspielt, erreichte es auch unter den ausländischen Fans große Beliebtheit, sodass für Herbst 2014 auch Aufführungen in Japan geplant sind. Es mag zwar nicht als epochemachendes Werk betrachtet werden können, aber es setzt die kreative Tradition der in den Theatern in Daehakro nach der Millenniumwende präsentierten original koreanischen Musicals wie Finding Kim Jong-wook und Wäsche fort und steht damit für die Möglichkeiten von Musicals made in Korea. 2010er
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SPEZIAL 4 Koreas Musical-Industrie im Aufwind: Einblicke in eine heiße Szene
Won Jong-won Professor für Medienwissenschaft, Soonchuhyang University, Musical-Kritiker
„Daegu“ wird zum Synonym für „Musical“
Jin Yan, der chinesische Filmstar; Mata Hari, die legendäre Spionin im Zweiten Weltkrieg; der Graf von Monte Christo, ein Sinnbild der Rache; Wolfgang Amadeus Mozart, Komponist und Genie – Was haben diese Figuren gemeinsam? Es sind die Protagonisten der Musicals, die den Sommer in Daegu aufgeheizt haben. Jeden Frühsommer wird Daegu vom Musical-Fieber erfasst, denn das ist die Jahreszeit des DIMF, des Daegu International Musical Festival.
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ieses Jahr veranstaltet die Stadt Daegu schon zum achten Mal das Daegu International Musical Festival. Natürlich gibt es viele internationale Festivals der Darstellenden Künste, zwei repräsentative Beispiele wären etwa das Edinburgh Fringe Festival und das Festival von Avignon. In New York, der Stadt des Musicals, findet jeden Sommer das New York Musical Theatre Festival statt. Die Musicals, die im Rahmen all dieser Festivals vorgestellt werden, sind aber meist keine vollendeten Werke, sondern noch in der Weiterentwicklungsphase befindliche Stücke oder bringen lediglich erste Konzeptideen zum Ausdruck. Anders als beim Film sind beim Genre Musical alle einzelnen Gestaltungsschritte von Konzeption über Ausarbeitung bis zur Bühneninszenierung sehr wichtig, ein Prozess, der sehr zeitaufwändig ist. Es ist allgemein üblich, vor der offiziellen Uraufführung einzelne Ideen bei verschiedenen Gelegenheiten noch einmal zu überarbeiten und an der Inszenierung zu feilen. Daher sind Musical-Festivals willkommene Bühnen, um ein Stück auszutesten und zu einem hochkarätigen Werk zu entwickeln.
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Eine Reihe internationaler Kassenhits wurde auf diesem Wege produziert. Ein Beispiel dafür ist das Musical Jerry Springer: The Opera, das mit seinen obszönen Inhalten für Kontroversen sorgte. Dieses auf der umstrittenen amerikanischen Boulevard-Talk-Show Jerry Springer Show mit „Gästen zweifelhaften Niveaus“ basierende Stück wurde dem Publikum erstmals auf dem Edinburgh Fringe Festival vorgestellt. Die hier mitwirkenden Charaktere sind ausnahmslos exzentrische und schräge Typen aus allen Gesellschaftsschichten, aber sie singen die Lieder in klassischer Manier, als ob es Opernarien wären. In den Zeiten, als es weder Radio noch Fernseher gab, war die Bühne der einzige Ort, an dem die Populärkultur Ausdruck fand. Und betrachtet man die Oper, die im Westen auf eine lange Tradition zurückblickt, so stellt man fest, dass dort viele Boulevard-Themen behandelt werden, was Jerry Springer: The Opera zu einem höchst interessanten Fall macht. Das Musical ist Ergebnis des konzeptionellen Umdenkens, das durch die Kühnheit und Experimentierfreudigkeit der Theaterfestivals bewirkt wurde. Dieses Stück wurde in Edinburgh urauf-
Auf dem diesjährigen DIMF-Festival waren Werke aus vielen Ländern zu sehen, darunter Russland, der Slowakei, China und Kasachstan. Das Foto zeigt eine Szene aus Mozart l’Opera Rock von der Kazakhstan National Academy of Arts, das 2014 den Sonderpreis des DIMFOrganisationskomitees gewann.
geführt und von Nicholas Hytner, dem damaligen Intendanten des National Theatre of Great Britain und Regisseur von Miss Saigon, in London auf die Bühne gebracht, wo es sich in West End viele Jahre großer Beliebtheit erfreute.
Das Samenkorn des koreanischen Musicals pflanzen Und so dient auch das DIMF als Nährboden: Natürlich war das Festival als internationales Event bemerkenswert für die Bandbreite internationaler Produktionen, die man sonst nicht zu leicht zu sehen bekommt – in diesem Jahr waren z.B. Stücke aus Russland, der Slowakei, China und Kasachstan vertreten – , aber nicht weniger interessant waren die Werke unter dem Programmpunkt DIMF Musical Seed . Wie der Titel bereits verrät, geht es darum, schon in der Anfangsphase vielversprechende Ideen für ein Stück auszumachen und sie durch Unterstützung zu fördern, so dass daraus ein voll ausgereiftes Bühnenstück werden kann, so wie ein Samenkorn gepflanzt, gedüngt und der Keimling kultiviert wird.
Bislang sind die teilnehmenden Werke meistens original koreanische Stücke. Hier eine Kurzvorstellung der 2014 eingereichten Werke: Wedding Shoes thematisiert die Geschichte der koreanischen Sexsklavinnen, die während des Zweiten Weltkrieges Opfer des japanischen Imperialismus wurden; The Flame of Shanghai beschreibt die Lebensgeschichte des gebürtigen Koreaners Jin Yan, der in China als Schauspieler große Popularität genoss; DEGAJEAN ist die Geschichte eines jungen, naiven Love-Hotel-Besitzers, der mit einer verführerischen Frau eine vertraglich geregelte Liebesbeziehung eingeht („degaja“ meint im Dialekt der Provinz Gyeongsang-do „Gehen wir [ins Love-Hotel] hinein“; der Ausdruck wurde im Titel wie ein französisches Fremdwort verwendet); Fernando, ein Kindermusical, erzählt die Geschichte von zwei Grundschul-Lausbuben, die sich zu einer Reise ins All aufmachen, um dem Mutterelefanten Neuigkeiten von ihrem Sohn Fernando zu erzählen. Das nach Meinung der Jury herausragendste Werk wird nicht nur mit dem Preis für das beste Musical geehrt und offiziell als Gast zum
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1. Monte Cristo, Gewinner des Großen Preises 2014, wurde als makelloses Werk gelobt, das einzigartige russische Musik, überzeugenden Aufbau, frische Choreographie, hervorragende Schauspielkunst und Fantasieanregende Bühneneffekte gekonnt vereint. 2. Der slowakische Beitrag Mata Hari wurde mit dem DIMF-Preis für das beste ausländische Musical gekürt. Das Stück, das das Leben von Mata Hari, die im Ersten Weltkrieg als Doppelagentin für Frankreich und Deutschland aktiv war, thematisiert, wurde zur Eröffnung des Festivals gezeigt. 3. Urine Town vom Team der Myongji University, das den Großen Preis in der Sektion College Musical Festival gewann, wurde für sein hohes, mit professionellen Produktionen durchaus vergleichbares Niveau in puncto Gesang, Choreographie und Schauspielkunst gelobt.
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Das DIMF ist unter den weltweiten Festivals der Darstellenden Künste eine noch relativ junge Veranstaltung. Trotz seiner kurzen Geschichte ist die Vielfalt der Werke aus aller Welt, die bisher auf dem DIMF vorgestellt wurden, nicht zu unterschätzen. Für die Zukunft ist geplant, mehr Stücke mit reichem Inhalt und origineller Handlung aus allen Ecken und Enden der Welt einzuladen, was bedeutet, dass sich die Besucher auf eine Auswahl von originären Werken aus dem globalen Musical-Markt freuen dürfen. 2
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4. Ein Musical-Team von der Keimyung University bei einer Vorführung auf dem Musical Plaza in Dongseong-no. In Daegu wurden hier und da in der Stadt Musical-Bühnen aufgebaut.
nächsten DIMF eingeladen, sondern auch für Aufführungen im Ausland unterstützt. 2014 ging die Ehre an Wedding Shoes . Es gibt bereits einige prämierte Stücke, denen der erfolgreiche Sprung auf den Theatermarkt gelang. Als repräsentativste Werke, die durch DIMF ihr Potential bewiesen haben und mit DIMF gewachsen sind, sind zu nennen: Das Musical Special Letter, das humorvoll den Alltag junger Wehrdienstleistender beschreibt; My Scary Girl , das Remake eines Films über einen Mann, der sich in eine Mörderin verliebt und bei seinen Versuchen, sie zu schützen, in Probleme gerät. Bungee Jumping of Their Own, ein Musical über sexuelle Minderheiten, das ebenfalls auf einem gleichnamigen Film basiert. DIMF besteht aus einer Wettbewerbs- und einer NichtWettbewerbssektion. Die Wettbewerbssektion gliedert sich in Eingeladene Werke, Musical Seed und CollegeMusical-Festival. (Am College-Musical-Festival nahmen 2014 zwanzig Universitäten teil; die Werke von drei koreanischen Studenten und eines kasachstanischen Studenten schafften es ins Finale.) Die Nicht-Wettbewerbssektion umfasst verschiedene Randevents, Aufführungen von freien Teilnehmern, ein Star-Date und Musicalbezogene Ausstellungen. Den krönenden Abschluss bildet die Verleihung des DIMF Award, die vom Lokalfernsehen live übertragen wird.
Globales Fest zur Kommunikation nach innen und außen Von DIMF erwartet man auch positive Effekte für die regionale Wirtschaft. Die Körperschaft Daegu International Musical Festival sucht nach Wegen, wie das Festival mit der lokalen Gemeinschaft verbunden werden kann: In diesen Kontext gehören v.a. Verknüpfungen mit der lokalen Tourismus-, Übernachtungs- und Gastronomieindustrie. Auch bemüht man sich engagiert um die Entwicklung von touristischen Paket-Angeboten, um inund ausländische Touristen nach Daegu zu locken. Ein Beispiel dafür ist ein Paket, das Musical-Eintrittskarten,
Unterkunft und Fahrt mit dem KTX-Hochgeschwindigkeitszug von Seoul nach Daegu mit Preisermäßigungen verknüpft. Dank des Sponsorings einer Brauerei erscheint das DIMF-Logo auch auf Bierdosen- und flaschen. Mit dem Fortschritt des Festivals dürfte sich in Zukunft die Palette von Produkten mit Mehrwert erweitern. Auch setzt man sich unermüdlich dafür ein, durch einen aktiven Austausch mit den Musical-Industrien in anderen Ländern das Niveau und die Einflusskraft von DIMF zu stärken. So ist bereits ein Austauschprogramm mit dem New York Musical Theatre Festival zustande gekommen, in dessen Rahmen kreative, von der jeweiligen Seite entwickelte Musicals in New York bzw. Korea auf die Bühne gebracht werden. Auch mit dem chinesischen Dongguan International Musical Festival wird eine Kooperation angestrebt. Als Ergebnis solcher Bemühungen wurden z.B. prämierte Werke wie My Scary Girl aus dem DIMF Musical Seed Programm in New York aufgeführt, wo sie auf viel Beifall beim Publikum stießen, sodass Darsteller und Produktionsteam die Ehre ihrer Preisauszeichnung genießen konnten. Turandot , die koreanische Musical-Version der gleichnamigen Oper, wurde 2012 auf dem Dongguan Musical Festival in China uraufgeführt und gewann dort den Special Grand Prize. 2014 wurde es zum Shanghai International Arts Festival eingeladen, was dem Vorstoß auf den chinesischen Markt frische Schubkraft verleiht. Das DIMF ist unter den weltweiten Festivals der Darstellenden Künste eine noch relativ junge Veranstaltung. Trotz seiner kurzen Geschichte ist die Vielfalt der Werke aus aller Welt, die bisher auf dem DIMF vorgestellt wurden, nicht zu unterschätzen. Zu nennen sind nicht nur Werke aus Großbritannien und den USA, wo sich das Musical traditionell großer Beliebtheit erfreut, sondern auch aus Australien, Russland, Japan, China, der Slowakei, Frankreich und Kasachstan. Für die Zukunft ist geplant, mehr Stücke mit reichem Inhalt und origineller Handlung aus allen Ecken und Enden der Welt einzuladen, was bedeutet, dass sich die Besucher auf eine Auswahl von originären Werken aus dem globalen MusicalMarkt freuen dürfen. Man scherzt, dass sich die Leute wundern, wie es in Edingburgh in den elf festivallosen Monaten wohl so aussehen mag. Da auch das koreanische Musical-Festival DIMF in Asien immer mehr an Ansehen gewinnt, stelle ich mir den Tag vor, an dem sich die Leute wundern, wie die elf festivallosen Monate in Daegu wohl aussehen mögen. Erfreulicherweise scheint dieser Tag nicht allzu fern zu sein.
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interview
Park Chan-kyong
Auf der Suche nach Spuren in der modernen Geschichte Ich traf Park Chan-kyong in seinem Büro im Seoul Museum of Art, wo er kürzlich die künstlerische Leitung für die Ausstellung Mediacity Seoul 2014 übernommen hat. Wie immer sprach er leise und überlegt, aber seine Ideen und Einsichten sprudelten geradezu aus ihm heraus. Darcy Paquet Filmkolumnist, Korrespondent für Variety und Screen International Fotos Park Jung-hoon
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er Medienkünstler und Filmemacher Park Chan-kyong, dessen kreatives Schaffen verschiedene Kategorien und Genres umspannt, besetzt einen ganz eigenen Platz in der koreanischen Kulturwelt. In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten wurde seine medial basierte Kunst mit Werken wie Sets (2000), Power Passage (2004), Flying (2005), Sindoan (2008), Radiance (2010), Anyang Paradise City (2011) und K.W. Complex (2012) auf international namhaften Veranstaltungsbühnen gezeigt wie z.B. bei der Gwangju Biennale, bei De Appel in Amsterdam, in der REDCAT Gallery in Los Angeles und im Kunstverein in Frankfurt. In den letzten Jahren hat Park stärker im Filmbereich Fuß gefasst, v.a. dank seines vielgepriesenen Dokumentarfilms Manshin (2013) über das Leben der bekannten zeitgenössischen Schamanin Kim Keum-hwa und verschiedener gemeinsamer Projekte mit seinem älteren Bruder Park Chan-wook, dem Regisseur von Oldboy (2003). 2011 wurde der Kurzfilm Night Fishing , mit seinem Bruder unter dem Sobriket PARKing CHANce gedreht, auf der Berliennale mit dem Goldenen Bär für den besten Kurzfilm ausgezeichnet.
Ein Film-Porträt von Seoul Darcy Paquet: Ihr letzter Dokumentarfilm Bitter, Sweet, Seoul (zu sehen auf YouTube) hat mich beeindruckt. Es ist ein faszinierendes Porträt der Stadt. Was war für Sie das Reizvolle bei diesem Projekt? Park Chan-kyong: Es ist ein Film, der nicht von einem Regisseur
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gedreht wurde, sondern aus Videoclips von Bürgern und SeoulBesuchern zusammengeschnitten. Es schien mir eine ziemlich neue Form zu sein, und ich dachte, wir könnten etwas machen, was noch nie da war. Natürlich gibt es den Film Life in a Day (2011) von Scott Free Productions, der einen Tag im Leben der Menschen aus aller Welt porträtiert. Dieser Film ist aber nicht auf einen Ort beschränkt. Ich glaube, Seoul muss aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, wenn man die Stadt wirklich sehen will. In dieser Hinsicht ergänzten sich Inhalt des Films und Art der Produktion gut. Parquet: Wie würden Sie Ihr eigenes Gefühl für Seoul beschreiben? Park: Als Hassliebe. Bin ich hier, fühle ich mich erschöpft, weil überall so viel los ist. Bin ich woanders, vermisse ich es und möchte zurück. Seoul ist eine Stadt, in der eine Unmenge passiert. Sie ist geschäftig, gemischt, voller Probleme und geplagt von allerlei Vorfällen. Eine schwer zu beschreibende Stadt. Parquet: Einige behaupten, Seoul vergesse seine Geschichte. Park: Wir haben viele Kriegsszenen in den Film eingearbeitet. Während des Koreakriegs wurden Seoul und andere Städte niedergebrannt. Dabei ging so viel an wirklich greifbarer Geschichte verloren, dass das Erinnern nicht mehr einfach ist. Natürlich gibt es immer noch die Paläste Deoksu-gung und Gyeongbok-gung und andere traditionelle Bauten, aber deren Zahl ist gering. Nach dem Krieg wurden die zerstörten Stadtteile im Zuge des Wiederaufbaus von der Entwicklung überrollt und viele Relikte der Vergangenheit ver-
Park Chan-kyong hat als Medienkünstler, Fotograf, Filmemacher und Filmkritiker voller Energie und Kreativität eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Genres behandelt. Zu seinen repräsentativsten Werken zählen Sindoan (2008), Night Fishing (2010) und Manshin (2013). Er hat die künstlerische Leitung für Mediacity Seoul 2014 übernommen, einer Medienkunst-Biennale, die vom 2. September bis 23. November läuft.
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schwanden. Seoul ist eine Stadt voller Erinnerungen, aber es gibt nur wenige Orte, an denen man noch ihren greifbaren Spuren folgen kann. Das ist wohl die Tragödie dieser Stadt.
Sich wiederholende Themen: Schamanismus und Kalter Krieg Parquet: Bevor Sie sich dem Filmemachen zuwandten, hatten Sie sich schon einen Namen als Künstler gemacht. Wie sah Ihr Frühwerk aus? Park: Eins meiner Hauptinteressen ist der Kalte Krieg und die Teilung Koreas. Statt diese Themen direkt darzustellen, beschäftigte ich mich damit, wie sie von den Menschen erinnert wurden und analysierte die Medienkommentare zum Kalten Krieg und zur Teilung, die das diesbezügliche Bewusstsein der Menschen schärften. Beispiele sind das Koreanische Kriegsmuseum, Zeitungsartikel, Darstellungen des Kalten Kriegs im Schwarzen Film usw. Meine Generation erhielt seit Kindesbeinen an eine anti-kommunistische Erziehung. Daher schien uns um jede Ecke ein Spion zu lauern. In der Universität brachten uns ältere Kommilitonen dazu, Marx und Lenin zu lesen, was meine ganze Sichtweise auf den Kopf stellte. Es war ein Schlüsselerlebnis und ich begann mit Videokunst, Fotografie und Schreiben zur Thematik des Kalten Kriegs. 2007 und 2008 beschäftigte ich mich mit Volksreligionen und Kults. „Sindoan“, um das es in meiner gleichnamigen Doku geht, ist so eine Art Kult, ein Ort, wo sich die Anhänger sammelten, um ein koreanisches Utopia zu errichten. Utopia ist ein westliches Konzept. Es interessierte mich, welche Vorstellungen davon die Menschen in Asien und Korea haben. Das wiederum brachte mich zur näheren Beschäftigung mit dem Schamanismus. Parquet: Ihre Werke behandeln oft Schamanismus und Koreakrieg gemeinsam. Park: Derjenige, der sich für Geschichte interessiert, kommt gar nicht um diese Verbindung herum. Krieg führt gewissermaßen zu Schamanismus. Ich glaube, Krieg hinterlässt einen so gewaltigen Schock, dass die Nachwirkungen einem zusetzen.
Manshin: Ten Thousand Spirits Parquet: Ich habe gehört, dass Sie die Doku Manshin (Zehntausend Geister) nach der Lektüre von Kim Keum-hwas Autobiographie gedreht haben. Was war es, das sie besonders beeindruckt hat? Park: Was mich am meisten bewegte, war, dass dieses schüchterne junge Mädchen, arm wie eine Kirchenmaus und ständig krank, die Enkelin einer Schamanin und verachtet von der ganzen Gemeinde, als Schamanin plötzlich mit einer respektvollen Verbeugung begrüßt
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wurde. Der Grund liegt darin, dass Schamanen das Schicksal des Menschen lesen können und die Menschen sich auf ihre Prophezeiungen verlassen. Kims Geschichte zeigt, wie es kommt, dass die am niedrigsten stehende Minorität zu Respekt gelangen kann und zum Kern einer Gemeinschaft wird. Das hat mich berührt. Kim ist ein Mensch, der weiß, was Leiden heißt, und der gleichzeitig eine Vorstellungskraft entwickelte, die im Widerspruch zu den akzeptierten Regeln der Welt steht ... und sie ist eine Frau. Normalerweise sprechen wir von Frauen, Arbeitern, Bauern und den städtischen Armen als Minoritäten innerhalb des sozialen Klassensystems, aber wir sprechen nicht über sie als geistige Opfer. Aber keine andere Art von Leiden ist vergleichbar mit der Geistesqual. Gesellschaftliche Probleme manifestieren sich immer im Geist. In diesem Sinne war Kim Keum-hwa für mich eine Figur, die die Kernnatur der koreanischen Kultur und Geschichte enthüllen konnte. Parquet: Für mich war interessant, wie Sie drei verschiedene Schauspielerinnen eingesetzt haben, jede von einer ganz eigenen Präsenz, um ein und dieselbe Frau darzustellen. Es ging dabei wohl um mehr als nur darum, drei unterschiedliche Stadien im Leben von Kim Keum-hwa zu beschreiben. Park: Ich hatte schon von Anfang an die Idee verworfen, einen typischen realistischen Entwicklungsfilm oder eine Filmbiografie machen zu wollen. Es gab einfach viel zu viel zu erzählen. Dafür hätten zwei Stunden nicht gereicht. Es war nicht wichtig, die Perspektive der Hauptfigur realistisch zu zeichnen. Auch wenn es sich um eine persönliche Lebensgeschichte handelte, so sollte doch Geschichte thematisiert werden. Anstatt einen glatten Übergang zwischen den drei Darstellerinnen zu schaffen, wollte ich jede ihre eigene Individualität zum Ausdruck bringen lassen. In gewisser Hinsicht zielte ich darauf ab, dass der Film einem Schamanen gleicht, der den Geist eines anderen aufnimmt. Parquet: Manshin ist keine typische Doku in dem Sinne, dass sie Nachstellungen mit Schauspielern und nachgespielte Szenen enthält. Das Publikum schaut sich eine Dokumentation normalerweise mit speziellen Erwartungen in Bezug auf die Darstellungsweise der Realität an. Wie haben Sie das in diesem Film gehandhabt? Park: Viele Journalisten und Kritiker haben Manshin als ein Werk beschrieben, das „die Grenzen zwischen Dokumentation und Film überschreitet und abbaut“. Aber auch wenn dokumentarische und fiktionale Elemente gemischt auftauchen, bleiben sie getrennt. Ich habe nie Fiktionales als Dokumentarisches verkleidet oder versucht, es realistisch wirken zu lassen. Es stimmt schon, dass ich beide Ele-
2 1. Eine Szene aus Parks erstem Langfilm Anyang Paradise City (2011), einem Episodenfilm, der sich mit Geschichte und Entwicklung der Stadt Anyang beschäftigt. 2. Die Schamanin Kim Keum-hwa bei der Aufführung eines Bittrituals für einen reichen Fischfang. Die Szene wurde von Park für Manshin gefilmt. 3. In der Doku Manshin wurden die drei Abschnitte von Kim Keum-hwas Leben von drei verschiedenen Schauspielerinnen dargestellt, darunter Kim Sae-ron in der Rolle von Kim als junges Mädchen. 4. Eine Szene aus Manshin, die den Moment beschreibt, in dem Kim Keum-hwa vom Geist ergriffen wird. 5. Eine Szene aus Sindoan, einem Media Art Film, der sich mit schamanistischem Glauben in Bezug auf den Berg Gyeryong-san beschäftigt.
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© Tomoko Yoneda
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© Mikhail Karikis
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1. An der Ausstellung Mediacity Seoul 2014 unter der künstlerischen Leitung von Park Chan-kyong nehmen unter dem Thema Asien 42 KünstlerTeams aus 17 Ländern teil. Das Foto zeigt Sea Women (2012) von Mikhail Karikis, ein Video, für das die Pfeifgeräusche aufgezeichnet wurden, die die Haenyo-Taucherinnen von Jeju-do beim Ausatmen von sich geben, wenn sie nach einem Tauchgang an die Oberfläche kommen. 2. Hiroshima Peace Day (2011) 65 x 83 cm, ein chromogener Druck aus der Serie Cumulus von Yoneda Tomoko. 3. Sonic Dances (2013) und Sonic Rotating Ovals (2013) von Haegue Yang; die Exponate bestehen hauptsächlich aus Glocken und sind im ersten und dritten Stock des Seoul Museum of Art installiert.
© Installation view of Ovals and Circles, Galerie Chantal Crousel, 2013
© SeMA Biennale Mediacity Seoul 2014
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4. Text-Animations-Trailer von Young-hae Chang Heavy Industries, einer Media Art Gruppe. 5. Mansudae Master Class (2014), ein 3-Kanal HD-Video, Archiv-Installation von Che Onejoon. 6. From Moon to Moon (2014) 300 x 200 cm, Tintenstrahldruck, von Chung Seoyoung.
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mente vermischt habe. Aber ich habe die Abgrenzung zu verdeutlichen versucht, aus ethischen Gründen. Parquet: Mir hat es gefallen, wie Sie herausgearbeitet haben, auf welche Weise der Schamanismus in den letzten Jahrzehnten vom Wandel der koreanischen Gesellschaft beeinflusst wurde. Wie sehen Sie die Zukunft des Schamanismus in Korea? Park: Das traditionelle Bild des Schamanen ist am Verschwinden. Das ist unvermeidlich, daran kann man nichts ändern. Das bereitet mir so große Sorge, dass ich mich frage, ob man noch von wahrem Schamanismus sprechen kann. Ein Schamane muss die Kunst beherrschen, durch Volksweisheiten, Lieder, Musik, Tanz, Förmlichkeiten, Altare usw. zu beeindrucken. Aber diese traditionelle Kultur kennen heutzutage nur noch wenige Schamanen. Die meisten beginnen einfach zu praktizieren, sobald sie vom Geist erfasst werden. Es wird immer wahrscheinlicher, dass das Abtun des Schamanismus als Aberglaube dazu führt, dass er tatsächlich zum Aberglauben wird. Auf der anderen Seite besitzt der Schamanismus eine schier unglaubliche Lebenskraft: Kim Keum-hwa hat unzählige Anhänger. Darunter auch Personen, die gut geschult und gebildet sind. Wenn es in jeder Region solche Menschen gibt, dann könnte die Tradition lebendig bleiben. Aber die Zukunft sieht nicht rosig aus. Ich denke manchmal, dass der Schamanismus durch Literatur, Film und Kunst am Leben erhalten werden muss.
Mediacity Seoul: Geist, Spion, Großmutter Parquet: Sie haben die künstlerische Leitung von Mediacity Seoul 2014 übernommen. Welche Ziele haben Sie für diese Ausstellung? Park: Es gibt rund 15 Kunst-Biennalen in Asien, aber keine einzige davon hat es sich zum Ziel gesetzt, den Charakter von Asien als Region vorzustellen. Ich glaube, es ist jetzt für internationale Biennalen an der Zeit, sich mit regionalen Themen zu beschäftigen. Ich meine damit nicht die kulturelle Identität, sondern das kollektive Gedächtnis, die gemeinsame Geschichte der Region. Besonders in Asien sind die Erinnerungen an die Kolonialgeschichte und den Kalten Krieg noch sehr präsent. Wenn Sie sich den Dokumentarfilm The Act of Killing über den Genozid 1965 in Indonesien anschauen, wird man an das Jeju-Masaker vom 3. April 1948 erinnert. Ich möchte eine ernste, kollektive Ausstellung auf den Weg bringen. Wichtig wäre mir auch, Künstler zu finden, die in ihrer Arbeit eine andere künstlerische Sprache als die im Westen vorherrschende sprechen. Ich würde z.B. gerne Künstler treffen und einladen, die Buddhismus, Taoismus, östliches Gedankengut usw. in ihre Arbeit einfließen lassen. Mir geht es nicht um die Verfolgung von kultureller Identität, ich möchte andere Methoden... Keine Darstellungen von dem Asien, das wir kennen, weil dieses Asien eine Verinnerlichung westlicher Perspektiven ist.“ Parquet: Die Tagline der Ausstellung ist Ghost, Spy, Grandmother. Park: Diese drei Figuren verbindet die Tatsache, dass sie unsichtbar sind. Wir wissen, dass es Spione gibt, aber wir wissen nicht, wo sie sind. Im Falle der Großmutter ist das zwar anders, aber dann auch wieder nicht. Eine Großmutter ist nicht jemand, der von den Leu-
„Ich würde gerne Künstler treffen und einladen, die Buddhismus, Taoismus, östliches Gedankengut usw. in ihre Arbeit einfließen lassen. Mir geht es nicht um die Verfolgung von kultureller Identität, ich möchte andere Methoden... Keine Darstellungen von dem Asien, das wir kennen, weil dieses Asien eine Verinnerlichung westlicher Perspektiven ist.“
ten wirklich wahrgenommen wird. In einer Hinsicht wird sie von der Gesellschaft ignoriert, obwohl man ihr andererseits auch Respekt bezeugt. Es sind Menschen, die schwer zu definieren sind. Geister stehen im Zusammenhang mit der Geschichte. Rachsüchtige Geister sprechen von Dingen, die die Geschichte nicht erwähnt, die außen vor gelassen wurden. Spione stehen im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg und Kolonialismus. Großmütter sind Zeuginnen der Zeit der Geister und Spione. In diesem Sinne besitzen sie eine Doppelnatur. Sie stehen für Ausdauer und Beharrlichkeit. Aber wenn wir uns die Alten aus dem Dorf Miryang anschauen, die sich aus Protest gegen die Errichtung von Atomstrommasten gegen die Zwangsräumung ihrer Häuser wehren, oder die langjährige Kampagne für Gerechtigkeit, die die von den Japanern als Sexsklavinnen zwangsrekrutierten Trostfrauen durchführen, dann können auch Großmütter leidenschaftlich für ihre Sache kämpfen. Die Künstler wählen ihre eigene Herangehensweise an das Thema, aber jeder kombiniert wenigstens zwei Kategorien: Großmütter und Geister, Spione und Geister usw. Als Ganzes werden sie von der Geschichte Asiens erzählen, von den Dingen, die nicht verbalisiert wurden. Wenn zeitgenössische Künstler sich mit traditionellen Themen oder Asien beschäftigen, wird daraus schnell ein Spiel der kulturellen Identität, und wenn das einmal passiert, kann man dem Orientalismus kaum noch entkommen. Selbst für herausragende Intellektuelle ist es schwierig, zu entscheiden, was orientalistisch ist und was nicht. Dieses Gefahr bleibt also, aber wenn wir nicht wenigstens einen Versuch machen, finden wir auch keinen neuen Weg nach vorn. Parquet: Wie nimmt die koreanische Gesellschaft Künstler und Filmemacher - Sie sind ja beides - wahr? Park: Ich muss leider sagen, dass der Künstler in der koreanischen Gesellschaft nicht wahrgenommen wird ... genau so wenig wie Geister, Spione und Großmütter. Wenn Sie auf der Straße jemanden nach den Namen koreanischer Künstler fragen, kommt keine Antwort, höchstens Nam June Paik wird genannt. Ihre Identität wird nicht registriert, Künstler sind wie Gerüchte. Filmregisseure können zu Ruhm und Ehren kommen. Über den Film kann man das allgemeine Publikum erreichen, kann einen gewissen kulturellen oder erzieherischen Einfluss ausüben. Aber auch Ruhm gleicht einem Gerücht. Faktisch bedeutet es, nicht zu existieren... Das ist die Realität, der sich Filmemacher und Künstler gegenüber sehen.
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Töpfermeister Kwon Dae-sup entdeckt die exquisiten Weißtöne der Dal-Hangari Kwon Dae-sup (geb. 1952) ist als Töpfermeister bekannt, der die DalHangari, die reinweißen „Mond-Töpfe“ der Joseon-Zeit (1392-1910), mit einem subtilen modernen ästhetischen Touch neu erschafft. Er lässt eine graziöse Verfeinerung, Vornehmheit und Eleganz, die dem sinnlichen Empfinden des modernen Menschen entsprechen, in die einzigartige traditionelle Farbskala und Formschönheit des Mond-Topfes fließen. Seit 1978 stellt er Dal-Hangari her, d.h. bereits seit 36 Jahren widmet er sein ganzes künstlerisches Schaffen einer einzigen Keramikart. Doh Jae-kee Journalist, Tageszeitung The Kyunghyang Shinmun Fotos
Kim Kyung-soo
E Während seines Studiums der westlichen Malerei ging Kwon Daesup zufällig in einen Antiquitätenladen im Seouler Viertel Insa-dong und entdeckte dort einen weißen Mond-Topf aus der Joseon-Zeit. Bezaubert von dessen Schönheit beschloss er, Töpfer zu werden.
ines Tages entdeckte Kwon Dae-sup, in Daejeon geboren und damals Student der westlichen Malerei an der Hongik University, in einem Geschäft im Seouler Antiquitätenviertel Insadong zufällig einen bauchigen weißen Keramiktopf aus der JoseonZeit und verfiel der Schönheit der Dal-Hangari. Daraufhin wechselte er von der Malerei zur Töpferei. „Das Gefäß, das extreme Schlichtheit vortäuschte, barg in Wirklichkeit die unterschiedlichsten Facetten in sich. Es war einfach Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sich Kwon. In den 1970er Jahren war es jedoch nicht leicht, die traditionelle DalHangari-Fertigung richtig zu erlernen. Also zog Kwon zum Sammeln und Erforschen von Keramikscherben durchs ganze Land, einschließlich der Stadt Gwangju in der Provinz Gyeonggi-do, wo während der Joseon-Zeit die königlichen Brennöfen standen. Seine Studien führten ihn auch nach Japan, wo er den Spuren der Vorfahren folgte, die die koreanische Keramikkultur im Nachbarland verbreitet hatten. Schließlich landete er in Iseok-ri, Gwangju, wo er sich einen Brennofen und eine Werkstatt einrichtete. Dort widmete er sich im
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„Wer den Mond-Topf als ‚einfach‘ beschreibt, der hat ihn nicht genau betrachtet. Ohne jegliches Dekor mag er fade wirken, aber bei jedem Betrachten sieht er anders aus, je nach Umständen und Gefühlslage. Bei heiterem Wetter wirkt er anders als bei trübem, bei guter Stimmung des Betrachters anders als bei niedergedrückter.“
Alleingang der Dal-Hangari-Herstellung und führte zahlreiche Experimente mit Materialien wie Tonerde, Glasur und Holz durch, die für die Keramik benötigt werden. Seine Forschungen zogen sich über zehn Jahre hin. 1995 fand endlich seine erste Ausstellung statt: Als Meister der Dal-Hangari und gleichzeitig moderner Töpfer hatte er gewartet, bis er in Bezug auf sein Lebenswerk, auf das er alles gesetzt hatte, selbstbewusst genug war, um es der Welt zu präsentieren. Heute sind seine Werke nicht nur im Nationalen Volkskundemuseum in Korea zu sehen, sondern in Dutzenden von Museen weltweit, darunter den Nationalmuseen in Russland und Mexiko. Aus dem In- und Ausland kommt Anfrage auf Anfrage nach Ausstellungen.
Der einsame Weg des Meisters Kwon lebt mit seiner Frau in einem kleinen Haus gleich neben seiner bescheidenen Werkstatt und dem Brennofen am Fuße eines Berges. Vor dem Brennofen stapelt sich Brennholz, in der Werkstatt finden sich Töpferscheiben, unfertige Töpfe und ein Sammelsurium von Dingen wie Holzmöbel. Was ist nach seinem Empfinden ein Dal-Hangari? „Wer den Mond-Topf als ‚einfach‘ beschreibt, der hat ihn nicht genau betrachtet. Ohne jegliches Dekor mag er fade wirken, aber bei jedem Betrachten sieht er anders aus, je nach Umständen und Gefühlslage. Bei heiterem Wetter wirkt er anders als bei trübem, bei guter Stimmung des Betrachters anders als bei niedergedrückter.“ Dal-Hangari bezeichnet eine traditionelle weiße Baekja-Keramik so rund wie der Vollmond. Sie hat eine Höhe von über 40cm, wobei Höhe und Durchmesser an der breitesten Stelle fast identisch sind. Die Außenseite des fast kugeligen Topfes ist frei von Mustern und Dekor und schimmert im weichen Weißton des Mondlichts, was an den am Nachthimmel schwebenden Vollmond erinnert. Der Mond-Topf entwickelte sich aus der Baekja-Weißkeramik, die in der Joseon-Zeit ihren Höhepunkt erreichte. Außergewöhnlich ist dabei, dass der Mond-Topf nur rund 100 Jahre lang, vom späten 17. Jh bis ins 18. Jh, hergestellt wurde und dann spurlos verschwand. Keramikhistoriker forschen nach dem Grund für dieses Phänomen, aber es fehlt noch an einer überzeugenden Erklärung. Genauso unklar ist sein Gebrauch. Einige meinen, dass der Topf als Behälter für Alkoholika, Sojasoße, fermentierten Fisch oder Getreide diente, während andere sagen, dass er für Riten am Königshof verwendet wurde.
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Symbol der koreanischen Ästhetik In der langen Geschichte der koreanischen Keramikkunst ist der DalHangari etwas Besonderes. Derzeit bewegt er mit seiner originären Schönheit die Kunstliebhaber in aller Welt nicht nur als traditionelles koreanisches Kunsthandwerksprodukt, sondern auch als modernes, in der Tradition wurzelndes Kunsterzeugnis. Die Schönheit des Mond-Topfes ist wie die der Natur: rein und ohne künstlichen Dekor. Die Weißkeramik von China, Japan, Europa und auch die von Korea selbst ist elaboriert mit Motiven wie Blumen, Bäumen, Menschen und Tieren verziert, während der Mond-Topf gänzlich weiß ist. Chung Yang-mo, Keramikhistoriker und ehemaliger Direktor des Koreanischen Nationalmuseums, sagt: „Wie die Natur, so sind auch die traditionellen Kunstwerke Koreas frei von gezwungenen Verschönerungen. Sie sind einfach und prägnant, unbeschwert und wagemutig, großzügig, humorvoll und anmutig, sodass es Freude und Wohlgefühl auslöst, sie um sich zu haben. Die Mond-Töpfe bestechen durch ihre Größe, Attraktivität, reiche Fülle und Großzügigkeit. Ich glaube nicht, dass es einen zweiten Keramiktopf von solch schlichter, großzügiger und vortrefflicher Schönheit gibt.“ Auch der Farbton des Dal-Hangari ist außergewöhnlich. Auf den ersten Blick scheint er nur weiß zu sein. Aber die Koreaner, die eine Vorliebe für Weiß haben, erfreuen sich an den subtilen Nuancen. Von Nahem gesehen weist der Mond-Topf eine ganze Weißtonpalette auf: schneeweiß, milchweiß, grauweiß, blauweiß usw. Dieses subtile Farbspiel lässt das Herz des Betrachters schneller schlagen. Mond-Töpfe besitzen keine perfekte Kugelform, sind also nicht vollkommen symmetrisch. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wirken sie daher jeweils anders. In der Mitte, wo der Topf am bauchigsten ist, ist die Nahtstelle sichtbar, wo die obere und die untere Hälfte zusammengesetzt wurden. Seine schiere Größe macht es unmöglich, ihn in einem Stück zu fertigen. Die Nahtstelle wird dabei nicht geglättet und versteckt, sondern wie eine Selbstverständlichkeit belassen. Man mag darin mangelnde Vollkommenheit sehen, aber es ist gerade diese Natürlichkeit, die als Besonderheit der koreanischen Kunst bewertet wird. Nicht die gekünstelte, aufgesetzte Schönheit wird betont, sondern Offenheit und Gelassenheit, was die großzügige Voluminösität des Dal-Hangari noch besser zur Geltung bringt. Michael R. Cunningham, Historiker für asiatische Kunstgeschichte, beschreibt den Mond-Topf wie folgt: „Das Seladon des Goryeo-
Der Mond-Topf hat keine perfekte Kugelform, weshalb er bei Betrachtung aus unterschiedlichen Winkeln jeweils etwas anders wirkt. Ein voluminöser Dal-Hangari (2012). 48×51cm. Weiße Keramik. KOREANISCHE KULTUR & KUNST 29
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Reichs (918-1392) ist gekennzeichnet durch elaborierte Töpfertechnik, Eleganz und Zweckmäßigkeit und weist eindeutige Ähnlichkeiten zur chinesischen Keramik auf. Dagegen gibt der Dal-Hangari Rätsel auf. Tatsächlich gibt es weder in China noch in Japan eine vergleichbare dreidimensionale Gestaltungsform. Trotz der optischen Unvollkommenheit ist dem Betrachter auf den ersten Blick die völlige Reife des Topfes absolut einsichtig. Wer als Westler die ästhetische Welt der weißen Baekja-Keramik verstehen will, muss tief in das Land und seine Kulturgeschichte eintauchen.“ Der britische Töpfermeister Bernard H. Leach (1887-1979), der 1935 einen Mond-Topf in Korea kaufte, sagte anschließend: „Ich nehme das Glück in meinen Armen mit.“ Besagter Topf begrüßt heute im Britischen Museum die Besucher. Das derzeitige Interesse am Dal-Hangari interpretieren einige als Reaktion auf die moderne Zivilisation und die Entwicklung zur hochdigitalisierten Informationsgesellschaft, die von Nebenwirkungen wie soziale Fragmentierung und Verlust der Menschlichkeit begleitet wird: Der Dal-Hangari flößt dem Betrachter ein Gefühl von Ruhe und Frieden ein. Seine Schönheit ist auch reiche Quelle der Inspiration für moderne Künstler. Nicht nur in der Keramik, sondern auch in Male-
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rei und Fotografie entstehen Werke auf Grundlage der Ästhetik der Mond-Töpfe.
Dal-Hangari: ein Werk von Menschenhand und Natur Um einen Mond-Topf herzustellen, muss der Töpfer Herz und Seele in seine Arbeit fließen lassen, sagt Kwon. Weiterhin braucht es höchste Konzentration und Willenskraft plus die verschiedenen Einzelerfahrungen, die der Töpfer im Laufe der Jahrzehnte bei der unendlichen Wiederholung einzelner Arbeitsschritte gemacht hat. Wichtig ist auch die Zufälligkeit, die sich während des Brennens aus natürlichen Elementen wie Feuer und Wind ergibt. Die Arbeit beginnt mit der Vorbereitung des Tons. Er wird in Gegenden wie Yanggu oder Jinju, die seit jeher für ihre gute Tonerde bekannt sind, besorgt und durch Eintauchen in Wasser von Verunreinigungen befreit. Um seine Viskosität und Festigkeit zu erhöhen, wird er getreten oder geschlagen. Die fertige Tonmasse wird per Hand auf der Töpferscheibe geformt. Dabei kann schon die kleinste Konzentrationsschwäche die Form des Lehmkörpers ruinieren, sodass man wieder von vorne anfangen muss. Zuerst wird das Unterteil geformt, auf das dann das separat geformte Oberteil aufgesetzt wird. Der Topf
sollte 10 bis 20 Prozent größer als das gewünschte Endprodukt sein, da beim Brennen die Feuchtigkeit verlorgen geht. Der Topf muss bis zu einem bestimmten Grad trocknen, bis er zum ersten Brennen in den Brennofen geschoben werden kann. Der Rohbrand erfolgt 10 bis 20 Stunden bei einer Temperatur von 850 bis 900°C. Danach wird der Topf aus dem Ofen genommen und glasiert, wobei sich je nach Herstellungsart der von Hand zubereiteten Glasur verschiedene Farbtöne wie schneeweiß, milchweiß oder blauweiß ergeben. Es folgt der Glasurbrand, bei dem die Regulierung des Feuers schwierig, aber sehr wichtig ist. Zunächst wird das Tonstück bei roter Oxidationsflamme gebrannt. Zu diesem Zweck muss der Ofen angemessen gefeuert werden, um den Sauerstoffgehalt konstant zu halten und die in der Glasur enthaltenen Metallstoffe zu oxidieren. Erreicht die Temperatur rd. 900°C, wird der Ofen auf die blaue Reduktionsflamme umgestellt. Es wird stark gefeuert, um den Sauerstoffgehalt zu reduzieren, sodass der von dem brennenden Holz abgegebene Kohlenstoff den in der Glasur enthaltenen Sauerstoff beseitigt. Dabei sollte eine Temperatur von 1.200 bis 1.300°C beibehalten werden. Der Glasurbrand dauert bis zu 24 Stunden. Ist das Feuer erloschen und der Ofen abgekühlt, werden die Töpfe herausgenommen. Das ist der Moment, in dem der Ton - geformt von den Händen des Meisters mit Hilfe von Wasser, Feuer, Wind und Holz schließlich als fertiges Gefäß geboren wird. „Ohne die Hilfe der Natur wäre diese Art von Arbeit kaum möglich. Ich assistiere dabei nur mit Einsatz meines ganzen Wissens und Bemühens“, sagt Meister Kwon. Die Herstellung eines Dal-Hangari verlangt bis zu 15 Arbeitstage. Die Zahl der Töpfe, die das Brennen heil überstehen, ist jedoch gering. Und sie verkleinert sich noch weiter, da Meister Kwon alle Stücke, die seinen hohen Standards nicht gerecht werden, ohne Zögern zerschlägt. „Technisch gesehen sind die meisten Stücke wohl ein Erfolg. Aber künstlerisch gesehen gefallen mir die meisten nicht. Wenn sie mich nicht zu rühren vermögen, zerschlage ich sie.“ Auf die Frage, welche Mond-Töpfe ihm denn eigentlich gefallen, antwortet Kwon: „Das lässt sich schwer mit Worten erklären. Gelungene Töpfe sind solche, die nach der koreanischen Redensart auch Geister zum Weinen bringen können. Ziehe ich einen Topf aus dem Ofen und denke in dem Moment ‚Der hier ist ein wirklich guter!‘ oder ‚Der hat aber Form!‘, dann ist er gelungen. Nach meinen Erfahrungen mögen auch andere Leute das, was mir selbst gefällt.“ Was Materialien und Methoden anbetrifft, hält sich Meister Kwon an die Tradition, in puncto Ästhetik ist das aber anders. Er glaubt fest, dass seine Werke den Menschen des 21. Jhs Rührung und Sinn schenken sollten und nicht denen der Joseon-Zeit. „Ich bemühe mich stets, Werke herzustellen, an die nirgendwo mehr Hand angelegt werden kann oder muss und die an und für sich von beeindruckender Präsenz sind. Stücke, die ungeachtet von Zeit und Ort mit ihrer Umgebung in natürlichem Einklang stehen, die einen gewissen Charme haben, der jedem Betrachter seelische Ruhe schenkt und ein Gefühl der Friedlichkeit und Großzügigkeit vermittelt.“
1 Der Fuß des Topfes ist dermaßen klein - kleiner als die Öffnung - , dass der Topf in der Luft zu schweben scheint. 2 Die Herstellung eines einzigen Topfes beansprucht im Schnitt 15 Arbeitstage. Alle Arbeitsschritte werden von Hand ausgeführt. 3 Der Mond-Topf ist nicht nur ein Produkt aus Ton, Wasser und Feuer. In den zeitaufwändigen Herstellungsprozess fließen auch auch Herz und Seele des Meisters ein. Entspricht das Endprodukt nicht den Standards des Töpfers, zerstört er es ohne zu zögern.
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MODERNE WAHRZEICHEN
Fundament der religiösen, historischen Versöhnung:
Anglikanische Kirche Ganghwa
Roh Hyung-suk Journalist, Tageszeitung The Hankyoreh Fotos
Cho Ji-young
Attribute wie „besonders“ oder „einzigartig“ sind zu abgedroschen, um dieses Gebäude zu beschreiben. Angemessener wäre es, zu sagen, dass es unter den zahlreichen Kirchenbauten in Korea der ungewöhnlichste sein dürfte. Das ist der erste Eindruck, der sich beim Anblick der Anglikanischen Kirche Ganghwa aufdrängt, die gleich einem Schiff auf der Spitze eines Hügels vor Anker liegt, von dem aus man einen weiten Blick über die Insel Ganghwa-do im Westmeer hat.
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bwohl der Kirchenbau schon 114 Jahre hier steht, wirkt er kaum altertümlich oder majestätisch. Und es kommen auch keine Assoziationen zu einem Ort der inbrünstigen Gebete oder intensiven Bekenntnisse des Glaubens auf. Das Innere der Kirche strahlt vielmehr die Atmosphäre eines Dorfplatzes aus, auf dem die Dorfbewohner zusammenkommen, sich hier oder da hinsetzen und freundlich-vertraut miteinander plaudern. Grund dafür dürfte die längliche HanokForm des Gebäudes sein, die dem koreanischen Gemüt entspricht. Einmal im Inneren, ist man einen Moment lang verwirrt, nicht die typische Holzkonstruktion eines Hanok-Hauses vorzufinden, sondern das Innere einer westlichen Basilika mit Seitenschiffen rechts und links des Mittelschiffes, eines Baustils also, wie er im Europa des Mittelalters und der Frühmoderne bei europäischen Kirchen zu finden war. Wie Architekturhistoriker bereits vor langem konstatierten, lässt sich die Anglikanische Kirche Ganghwa als Ganzes nicht einfach durch typische architektonische Stile oder Bautechniken erklären. Das rechteckige, mit einem Doppeldach versehene Gebäude hat eine Breite von 4 Kan (Flächeneinheit der traditionellen koreanischen Architektur, die für den rd. 2m großen Abstand zwischen zwei Holzsäulen steht) und eine Länge von 10 Kan, was eine Gesamtfläche von 216,9 m² ergibt. Damit verkörpert die Kirche eine beispiellos harmonische Verschmelzung von traditioneller koreanischer Architektur und westlicher Kirchenarchitektur. Die Basilika-Struktur, das Herzstück des Innenbereichs, repräsentiert den autoritären Baustil öffentlicher Gebäude im Römischen Reich, bei
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denen rechts und links des Hauptschiffes mit seinen Versammlungs- oder Arbeitsräumen Seitengänge verliefen. Diese Innenstruktur wurde kombiniert mit den horizontal ausgerichteten architektonischen Charakteristika eines Hanok, also Dachsparren, Querbalken, weiblichen und männlichen Ziegeln, und einem Giebelbach mit stark ausgekragter, nach oben strebender Fußwalm zu beiden Seiten. Dadurch wirkt der Kirchenbau nicht autoritär, sondern erscheint vielmehr wie die vergrößerte Ausgabe eines auch als Empfangszimmer dienenden Herrengemachs in einem traditionellen Hanok-Anwesen.
Schiff des Glaubens, Schiff der Mission Als ich am letzten Sonntagnachmittag im Juni die Kirche aufsuchte, um sie zu erkunden, waren nach dem Morgengottesdienst nur noch einige in ihre Gesangsübungen vertiefte Chormitglieder anwesend. In einem der außergewöhnlichen Seitenschiffe probten fünf, sechs Chorsänger und ein Dirigent, die zwischendurch gelegentlich scherzten. Warmes Licht strömte durch die Fenster der Obergaden hinein, das freundliche Geplaudere und der leicht amateurhafte Gesang des Chors erschallte durch den Basilika-Raum. Es war ein Moment voller Wärme, Frieden und Ruhe. Hinter den Holzstuhl-Reihen im Mittelschiff steht ein steinernes Taufbecken, auf dem in chinesischen Zeichen die Worte „Quelle der Wiedergeburt (重生之泉)“ eingraviert sind. Das Becken wird wohl nicht nur den Kirchenmitgliedern, sondern allen Bewohnern der Insel Ganghwa-do Frieden, Ruhe und Glück im Alltag wünschen, womit es auch an die Steinlaternen eines buddhistischen Tempels erinnert. Vielleicht wurde auch der
Die Anglikanische Kirche Ganghwa ist die erste Kathedrale, die in Form eines traditionellen HanokHauses gebaut wurde. Ihre architektonischen Merkmale ähneln denen eines koreanischen buddhistischen Tempels, z.B. die Haupthalle mit dem ziegelgedeckten Fußwalmdach, die Nachahmung der Raumstruktur vom Tempeleingang zu den Haupthallen und der Stil des Glockenpavillons im westlichen Teil des dreiflügeligen Innentors.
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Kirchenbau selbst, der gleich einem Schiff auf dem Hügel vor Anker liegt, dem von Drachen gezogenen Schiff Banyayongseon (Drachenschiff der Weisheit) nachempfunden, das im Buddhismus den Erleuchteten aus der Welt des Leidens ins paradiesische Land der unendlichen Glückseligkeit bringen soll. Ursprünglich ist die Arche des Glaubens, die sich wie die alttestamentarische Arche Noah ihren Weg durch die Drangsale des Lebens bahnt, ein Grundmotiv der Kirchenarchitektur. Als anglikanische Geistliche und Missionare aus Europa Anfang des 20. Jhs auf die abgelegene Insel Ganghwa-do kamen und sich auf diesem Hügel niederließen, haben sie wohl gelobt, das Schiff des Glaubens und der Mission hier vom Stapel laufen zu lassen. Daher rührt wahrscheinlich auch die ungewöhnliche architektonische Kombination von traditionellem HanokHaus und europäischer Basilika, die sonst nirgendwo in Korea zu finden ist.
Erste Hanok-Kirche in Korea 1899 geplant, leitete der Priester Mark Napier Trollope (1862-1930), der damals in der Region Ganghwa-do missionierte, den Bau der Anglikanischen Kirche Ganghwa. Eingeweiht wurde sie 1900 von Charles John Corfe (1843-1921), dem ersten Bischof der Anglikanischen Kirche in Korea. Die eigentlichen Bauarbeiten wurden von einem koreanischen Zimmermannmeister ausgeführt,
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der Erfahrung im Bau von königlichen Palästen hatte. Er soll das Holz im Baekdu-san, dem höchsten und nördlichsten Gebirge der koreanischen Halbinsel, beschafft, zugeschnitten, abgeschmiergelt und aneinander gefügt haben. Dass 1896 auf der Insel Ganghwa-do die ersten koreanischen Anglikaner getauft wurden, gab den äußeren Anstoß dafür, hier die landesweit erste Hanok-Kirche zu errichten. Beachtenswert sind die direkten Anlehungen an den Baustil buddhistischer Tempel und die Nachahmung der Raumstruktur vom Tempeleingang zu den Haupthallen. Ein deutliches Beispiel dafür ist das dreiflügelige Haupttor zum Kirchengelände, das sofort an das Tor Ilju-mun (Einsäulen-Tor) und das Tor Cheonwang-mun (Tor der Vier Himmlischen Wächter) eines Tempels erinnert. Hat man das Haupttor durchschritten, gelangt man zu einem weiteren dreiflügeligen Tor, dem dreiflügeligen Innentor. Der westliche Feil dient als Glockenpavillon, beherbergt allerdings keine westliche Kirchenglocke, sondern eine buddhistische Tempelglocke. Geschlagen wird sie mit einem dicken, an Seilen befestigten Holzbalken. Die Anschlagstelle ist aber nicht wie bei einer Tempelglocke mit einem Lotusblumen-Dekor markiert, sondern mit einem Kreuz, was den Betrachter unwillkürlich lächeln lässt. An der Vorderseite des Kirchenhauptgebäudes mit seinem ziegelgedeckten Fußwalmdach hängt eine Tafel, auf der in chinesischen Schriftzeichen die Worte „Hei-
Als anglikanische Geistliche und Missionare aus Europa Anfang des 20. Jhs auf die abgelegene Insel Ganghwado kamen und sich auf diesem Hügel niederließen, haben sie wohl gelobt, das Schiff des Glaubens und der Mission hier vom Stapel laufen zu lassen. Daher rührt wahrscheinlich auch die ungewöhnliche architektonische Kombination von traditionellem Hanok-Haus und europäischer Basilika, die sonst nirgendwo in Korea zu finden ist.
liges Haus Gottes (天主聖殿)“ stehen. Zusammen mit der Traufe, die mit dem traditionellen fünffarbigen Dancheong-Dekor geschmückt ist, lassen sich keine großen Unterschiede zu einer buddhistischen Tempelanlage ausmachen. Eine Doppelreihe von Dachsparren verläuft unterhalb der Traufe, wobei die Enden der oberen Reihe mit einem Kreuz und die der unteren mit dem Yin-YangSymbol verziert sind, was einen Gesamteindruck außergewöhnlicher Harmonie ergibt. An den Holzsäulen am Eingang des Gebäudes hängen lange Bretter, auf denen in eleganten chinesischen Schriftzeichen Verse über die Dreieinigkeit, die Verbreitung des Evangeliums und das ewige Leben prangen. Auf der Traufe sind anstatt der sonst üblichen ornamentalen Dachfirstfiguren zwölf Drachenköpfe angebracht, die für die zwölf Apostel stehen. Aus diesen ungewöhnlichen Details der HanokKirche ist zu schließen, dass sie das Ergebnis reiflicher Überlegungen sind, um das Misstrauen gegenüber dieser fremden christlichen Kirche, deren Oberhaupt der Monarch des Vereinigten Königreichs ist, zu minimieren.
Harmonie von koreanischer Tradition und westlicher Kultur Die Insel Ganghwa-do war der Korridor für Missionare des katholischen Glaubens, der als erste christliche Religion ins Joseon-Reich (1392-1910) kam, und es heißt, dass nicht wenige katholische Gläubige auf der Insel lebten oder dort verkehrten. Prinz Euneon (1754-1801), der infolge eines Machtkampfs am Königshof auf die Insel Ganghwa-do verbannt wurde, starb eines tragischen Todes, da er auf königlichen Befehl zusammen mit seiner Gemahlin den Schierlingsbecher leeren musste, als herauskam, dass sie Katholikin war. Euneon war der Großvater des 25. Joseon-Königs Cheoljong (reg. 18491863), der unter dem Spitznamen „Ganghwa Doryeong“ (etwa „Ganghwa-Junker“) bekannt war, da er vor seiner Thronbesteigung auf der Insel lebte. Die Invasion der französischen (1886) und der amerika-
1 Mit dem langen Mittelschiff, das an beiden Seiten von Säulengängen flankiert wird, erinnert das Kircheninnere an europäische Kathedralen, wie sie vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit gebaut wurden. Die hohen Decken helfen, eine feierliche Atmosphäre zu schaffen, aber die hölzernen Stühle sind klein und einfach. Am Ende des Mittelschiffs steht ein steinernes Taufbecken, in das chinesische Zeichen eingraviert sind. 2 Der würdevolle Stil des BasilikaInneren wurde mit dem Bescheidenheit ausstrahlenden Äußeren eines Hanok-Hauses kombiniert, was eine anheimelnde und freundliche Atmosphäre schafft.
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nischen (1871) Seestreitkräfte dürfte zu einer starken Abneigung der Inselbewohner gegenüber den Westlern und der westlichen Kultur geführt haben. Im 13. Jh hatte sich dazu noch das Königreich Goryeo (918-1392) gegen den Einfall der Mongolen wehren müssen und der Regierungssitz des Reiches wurde während dieser Zeit provisorisch auf die Insel Ganghwa-do verlegt. Der Platz, auf dem damals der Königspalast stand, zeugt von der langen Geschichte der Aversion gegen ausländische Mächte. Die anglikanische Hanok-Kirche auf Ganghwa-do wurde also auf einem Boden errichtet, auf dem die Geschichte der Konfrontation unsichtbare Spuren hinterlassen haben dürfte. Vor diesem Hintergrund legte sie jedoch das Fundament, auf dem die Antagonisten im Laufe der Zeit Versöhnung erreichen konnten. Als Beweis dafür stehen um das Kirchengebäude der im Buddhismus als heilig betrachtete Bodhibaum, unter dem Siddharta Gautama Erleuchtung erreichte, und der Schnurbaum, der im Konfuzianismus die geistige Selbstkultivierung eines konfuzianischen Gelehrten symbolisiert, nebeneinander. Auch das Eisengeländer der Eingangstreppe der Kirche, das während des Zweiten Weltkriegs von japanischen Truppen erbeutet und 60 Jahre später (2010) von Mitgliedern der anglikanischen Kirche Japans restauriert zurückgegeben wurde, scheint den Odem der Geschichte auszuströmen. Das Geländer still abtastend, verließ ich die Kirche.
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KUNSTKRITIK
Wiederaufblühen der Seidenblumen-Kunst des Joseon-Hofs Choi Sung-ja
Mitglied des Cultural Heritage Committee der Cultural Heritage Administration of Korea
Hwang Su-ro (79), Meisterin der Kunst der Palastseidenblumen-Herstellung, rückte in diesem Frühling plötzlich ins Rampenlicht der Medien. Nach einer Reihe von Interviews, begleitet von Fotos wunderschöner Seidenblumen-Arrangements in Vasen, zog diese wenig bekannte Kunst aus der Joseon-Zeit (1392-1910) die Aufmerksamkeit auf sich. Die Öffentlichkeit begann, dieser Kunstform und der Schönheit der traditionellen Palastkultur neue Wertschätzung
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ie Palast-Seidenblumen Gungjung-Chaehwa wurden bei Banketten und Zeremonien am Joseon-Königshof zur Dekoration benutzt. Für diese Kunstblumen wird zunächst Seide gestärkt, mit Blumen-, Gras- und Fruchtextrakt gefärbt und dann in Blumenblattform zugeschnitten. Anschließend werden mit einem Bügel Rippen und Falten geformt. Danach werden die Blumen- und Blütenblätter mit Bienenwachs überzogen, Staubblätter aus Reh- oder Ramienhaaren mit Kiefernpollen bestreut. Weil nur natürliche Materialien verwendet werden, ziehen die Kunstblumen bei Freiland-Ausstellungen oft Bienen und Schmetterlinge an. Es gibt verschiedene Arten von Palast-Seidenblumen: Eosahwa, die der König denjenigen, die die Beamtenprüfung bestanden, schenkte; Jamhwa, die Männer bei feierlichen Anlässen im Haar trugen; Sanghwa, die Festbankett-Tafeln schmückten, und Uijanghwa, die bei Gesangs- und Tanzveranstaltungen am Hof als Requisiten verwendet wurden. Mit Ausnahme der in historischen Filmen oder TV-Serien zu sehenden Eosahwa, die die erfolgreichen Beamtenprüfungskandidaten beim feierlichen Umzug trugen, sind die anderen Arten heutzutage kaum noch bekannt. Sie sind zwar im Hofzeremonien-Protokollbuch Uigwe zu finden, aber meist nur in Form einfacher Illustrationen.
Meisterin der Herstellung von PalastSeidenblumen Die Hofkultur-Traditionen des Joseon-Reichs starben im Zuge der Annexion durch Japan im frühen 20. Jh fast aus. Nachdem Joseon 1910 seine Souveränität verloren hatte, verschwanden einzelne Bereiche der Hofkul-
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tur wie rituelle Zeremonien und Hofmusik. Inmitten der Unruhen im Lande verlor die Kunst der Herstellung von Seidenblumen, die die Festtafeln am Hof geschmückt hatten, an Boden und wich der japanischen IkebanaSteckkunst mit lebenden Blumen. Glücklicherweise konnte Hwang Su-ro in ihrer Kindheit bei den Großeltern mütterlicherseits noch Seidenblumen sehen. Ihr Großvater Yi Su-chang (1885-1942) diente im Großkoreanischen Kaiserreich (1897-1910) als Beamter bei der Behörde für Angelegenheiten der Königsfamilie und war daher in Hofkultur-Fragen sehr bewandert. Hwang, die bei den Großeltern aufwuchs, sah, dass der Opfertisch für die Ahnenverehrungszeremonie bei ihren Großeltern sich von denen anderer Haushalte unterschied: Er war geschmückt mit Seidenblumen, die ihre Großmutter, Mutter und Tanten angefertigt hatten. Nach ihrem Hochschulabschluss folgte sie ihrem Mann nach Tokio, wo dieser als Professor tätig war. Dort besuchte sie Kurse in Blumensteckkunst und japanischer Teezeremonie. Der Kursleiter behauptete, kunstvolle Blumendekorationen seien eine Tradition, die es nur in Japan gäbe, was bei Hwang auf Unverständnis stieß. Zurück in der Heimat machte sie es sich zur Lebensaufgabe, die Herstellung von Seidenblumen nach Art ihrer Großmutter und Mutter wiederzubeleben und so die Geschichte traditioneller Blumendekorationen in Korea zu bezeugen. Auf der Suche nach den Spuren der verschwundenen koreanischen Seidenblumen-Kunst sammelte sie historische Aufzeichnungen und brachte sich die Herstellungstechniken selbst bei, wobei sie von jedem lernte, der etwas darüber wusste, seien es Schamanen oder
© Suro Cutural Foundation
entgegenzubringen.
Aus Respekt vor allen Lebewesen dekorierten die Könige und Gelehrten der Joseon-Zeit ihre Räumlichkeiten nicht mit lebenden Blumen sondern verwendeten Chaehwa, Kunstblumen aus gestärkter Seide, die mit Extrakten aus Blüten, Gras und Früchten gefärbt wurden.
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buddhistische Mönche. Obwohl die SeidenblumenHandwerkskunst während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) fast verloren gegangen war, fanden sich ihre Spuren noch in den Papierblumen, die bei schamanistischen Ritualen oder in buddhistischen Tempeln verwendet wurden. Hwang veröffentlichte ihre Forschungsergebnisse unter Titeln wie Kulturgeschichte der koreanischen Blumenkunst 1, 2 (Cultural History of Korean Flower Art 1, 2; Samsung Books, 1990) oder Erste Schritte in Suros Blumenkunst (First Steps in Suro‘s Flower Art; Yeungnam Inse, 1980). Zur Ausbildung des Nachwuchses gründete sie in Busan die Suro Flower Art Institution und in Yangsan, Provinz Gyeongsangnam-
do, das Korean Royal Silk Flower Institute, während sie sich weiterhin für die Erforschung und Herstellung von Seidenblumen einsetzte.
Ausstellung im Nationalen Palastmuseum Im Januar 2013 wurde Hwang von der Behörde für Kulturerbeverwaltung (Cultural Heritage Administration) zur Trägerin des Titels Immaterielles Kulturgut Nr. 124 ernannt. 2014 fand in Erinnerung daran eine Ausstellung statt, durch die Hwang Berühmtheit erlangte. Die Ausstellung Schöne Palast-Seidenblumen (Beautiful Royal Silk Flowers), die vom 8. April bis zum 25. Mai im Nationalen Palastmuseum veranstaltet wurde, war überwälti-
Hier ein Teil des Jidangpan, schön geschmückt mit großen Lotusblumen zu beiden Seiten der niedrigen Plattform und sieben mit Päonien gefüllten Vasen. Jidangpan ist eine Art dekoratives Requisit, um das die Tänzer bei Hofbanketten und Zeremonien zu tanzen pflegten.
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gend. Seidenblumen jeder Größe und Sorte schmückten die Sonderausstellungshalle im ersten Stock. Beim Betreten der Ausstellungshalle mit der Nachbildung der Bankett-Tafel anlässlich des 30-jährigen Kronjubiläums von König Sunjo (reg. 1800-1834) wurden die Besucher von zwei großen Vasen mit Pfirsichbäumen begrüßt, einer mit roten, der andere mit weißen Pfirsichblüten. Diese beiden Hwajun genannten Vasen standen bei großen Hofbanketten jeweils rechts und links vom Sitz des Königs. Die Vasen, traditionell weiß mit blauem Drachendekor, wurden mit Reis gefüllt, der einen drei Meter hohen Pfirsichbaum fest verankerte. Die Zweige wurden mit seidenen Pfirsichblüten geschmückt, zwischen die man kunstvoll an die 40 Vögel, Schmetterlinge und aus rohem Bienenhonig modellierte Insekten anbrachte. Für jede Vase kamen gut 2.000 Blüten und Knospen zum Einsatz. Hwang erklärt, dass die PalastSeidenblumen nicht alleine der Dekoration dienten, sondern auch Autorität und Würde des Königs symbolisierten. Vor den Vasen stand eine mit Blumen geschmückte Plattform (Jidangpan), um die herum die Hoftänzer ihre Aufführungen gaben, dahinter war eine originalge-
treue Replik der Hofbankett-Tafel von vor 185 Jahren zu sehen, die den Betrachter in den Bann der Schönheit der Seidenblumen-Kunst zog. Anlässlich des 30. Kronjubiläums von König Sunjo fanden insgesamt vier Bankette statt, von denen zwei in der Ausstellung als Nachbildungen präsentiert wurden: Oejin-chan, das der König und der Kronprinz in Myeongjeong-jeon, der Thronhalle des Palastes Changgyeong-gung, für Hofbeamte veranstalteten, und Naejin-chan, das die Königinwitwe und die Königin in Jagyeong-jeon, der Residenz der Königinwitwe im Changgyeong-gung, für die weiblichen Mitglieder der Königsfamilie gaben. Die Repliken wurden auf Basis des Hofprotokolls vom Bankett von Sunjo im GichukJahr (1829) nachgebaut. Platziert wurden sie jeweils in Nachschöpfungen der oben genannten Palasthallen, entworfen und gebaut von Kim Bong-ryol, einem Experten der traditionellen koreanischen Architektur und Präsident der Korea National University of Arts. Für das Herren-Bankett wurden insgesamt 5.289 Seidenblumen verwendet und für das Bankett der Damen 6.557. Für das Damen-Bankett, das am Abend stattfand, wurde die Tafel mit den Blüten von Pflanzen, die samenreiche Früchte tragen, geschmückt, z.B. Granatapfelbaumblü-
Die Herstellung von Seidenblumen erfordert viel Geduld. Alle Arbeitsschritte werden von Hand ausgeführt, was entsprechend aufwändig ist. Für eine einzige Blume wird die Seide in Blütenblattform zugeschnitten und Blatt für Blatt zu einer Blüte zusammengebunden, was zwei Wochen in Anspruch nimmt. Wichtig ist auch, die Seide durch Schlagen mit einer Holzkeule zu bearbeiten, was ihr einen natürlichen Glanz verleiht und die Blüte plastischer erscheinen lässt.
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ten, Traubenblüten oder Yuzubaumblüten (Citrus Junos). Sie standen für den Wunsch nach reicher Nachkommenschaft und Prosperität der Nation. Bei genauer Betrachtung der einzelnen Blüten überlief einen angesichts der exquisiten Präzision, mit der sie nachgeschaffen wurden, ein ehrfürchtiges Schaudern. Unter den zahlreichen Banketten des Joseon-Hofs wählte Meisterin Hwang die zum Kronjubiläum, weil diese Festlichkeit im Hofprotokoll mit den meisten Illustrationen von Seidenblumen dokumentiert wurde. Auf Grundlage der reichhaltigen historischen Dokumente wollte sie die prächtige Dekorationskultur des Joseon-Hofs nachbilden. Außerdem bot diese Sonderausstellung die unwiderstehliche Gelegenheit, sich die Werke von Bruno Legéron, des Großmeisters der fanzösischen Seidenblumen-Kunst, anzusehen und mit denen von Hwang zu vergleichen. Zu beiden Seiten des Eingangs wurde jeweils die Werkstatt von Hwang und Legéron nachgebaut. Das Atelier Légeron in Paris stellt seit 1880 Seidenblumen her, die einst Kopfbedeckungen und Roben adliger Damen schmückten. Heutzutage fertigt es Corsagen für Luxus-Modehäuser wie Chanel, Dior und Ungaro. Die Wände von Legérons Werkstatt, die in der Ausstellung präsentiert wurde, waren mit prächtigen, handgemachten Blumen geschmückt. Auf dem Tisch und im Regal lagen die über vier Generationen weitergegebenen Handbücher mit Arbeitsanleitungen und Werkzeug für die Arbeit. Sein Werkzeug unterscheidet sich zwar in Form und Größe von dem Hwangs, aber der Nutzungszweck ist ähnlich. Meisterin Hwang, die um die Zukunft des koreanischen Seidenblumen-Kunsthandwerks fürchtet, suchte im Ausland nach Handwerkern aus diesem Bereich. Als ihr Sohn Choi Sung-woo (54), Präsident der Ilmac Kulturstiftung (Ilmac Cultural Foundation) vor drei Jahren Paris besuchte, konnte er mit Bruno Legéron Kontakt aufnehmen. Dieser blieb danach bestehen und führte schließlich zu der gemeinsamen Ausstellung.
Die Seidenblumen beginnen zu blühen Aus Respekt vor allen Lebewesen verbot der JoseonHof, Blumen in der Natur zu pflücken und mit nach
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Chaewha brachten eine idealisierte Schönheit zum Ausdruck, indem Blüten unterschiedlicher Art aus ein und demselben Stengel wuchsen oder – je nach Anlass – Vögel, Bienen und Schmetterlinge hinzugefügt wurden. Die Herstellung einer einzigen kleinen Blüte verlangt zahlreiche Arbeitsschritte, was vom Künstler große Geduld und Sorgfalt verlangt.
Zwei blau-weiße Töpfe mit Seidenblumen, die bei Hofzeremonien rechts und links des Throns platziert wurden. Sie enthalten Pfirsichbäumchen, geschmückt mit jeweils 2.000 roten und weißen Seidenblumen.
Hause zu nehmen. Entsprechend fertigten die Handwerksmeister künstliche Blumen, die zur Dekoration bei Feierlichkeiten am Hof dienten. Diese Kulturtradition war aus der vorausgegangenen Goryeo-Zeit (918-1392) überliefert. Bei Banketten und buddhistischen Zeremonien am Goryeo-Hof wurden prachtvolle Seidenblumen verwendet, aber Genaueres zur Blumenkunst dieser Zeit ist heute nicht mehr erhalten. Die Bankette in den Palästen der Joseon-Zeit werden hingegen im Hofprotokoll Uigwe detailliert erklärt und auch mit Abbildungen veranschaulicht. Hwang Su-ro entdeckte die letzte Aufzeichnung über Seidenblumen für ein Hofbankett im Protokoll vom Bankett von Gojong im Imin-Jahr (1902). Darauf basierend erschuf Hwang die vom Aussterben bedrohte Seidenblumen-Tradition neu. Die Herstellung von Seidenblumen erfordert viel Geduld. Alle Arbeitsschritte werden von Hand ausgeführt, was entsprechend aufwändig ist. Für eine einzige Blume wird die Seide in Blütenblattform zugeschnitten und Blatt für Blatt zu einer Blüte zusammengebunden, was zwei
Wochen in Anspruch nimmt. Wichtig ist auch, die Seide durch Schlagen mit einer Holzkeule zu bearbeiten, was ihr einen natürlichen Glanz verleiht und die Blüte plastischer erscheinen lässt. Je nachdem, für welche Rituale die Seidenblumen verwendet werden, unterscheiden sich die Methoden und Stoffe. Für jede Jahreszeit kommen unterschiedliche Blumenarten zum Einsatz und sie werden in Zwischentönen der fünf traditionellen Grundfarben Koreas (gelb, blau, weiß, rot und schwarz) gefärbt. Hwang sagt: „Der wichtigste Arbeitsschritt bei der Seidenblumenherstellung ist das Stärken. Wenn die Qualität der Stärke schlecht ist, wird die Blume schnell durch Schimmelpilz und Insektenfraß ruiniert. Die Stärke muss mehr als drei Jahre reifen um die Blume effektiv resistent zu machen und ihr einen schönen Glanz zu verleihen.“ Sie erklärt, dass sie 20 Jahre brauchte, um diese Technik eigenhändig zu erlernen. Die Palast-Seidenblumen, denen Hwang mehr als 50 Jahre ihres Lebens widmete, haben gerade erst angefangen, neu aufzublühen.
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VERLIEBT IN KOREA
Dana Ramon Kapelians Blick in die Herzen koreanischer Frauen
Ben Jackson Journalist / Fotos Cho Ji-young
Wie kommt man am besten auf Tuchfühlung mit einer fremden Kultur und Gesellschaft? Die Künstlerin Dana Ramon Kapelian tauchte in ihr neues Leben in Korea ein, indem sie Frauen mit unterschiedlichstem Hintergrund fotografierte und interviewte - mit erstaunlichem Ergebnis! Kapelian, die zur wachsenden Zahl von Expats gehört, die sich gleich nach ihrer Ankunft daran machen, hochwertige und aufschlussreiche Bücher, Blogs usw. über Land und Leute zu veröffentlichen, brachte in diesem Frühjahr My Korean Women heraus. Das Buch ist eine Sammlung von Interviews und Fotoporträts von 60 Frauen, geordnet nach Alter, die älteste Jahrgang 1927, die jüngste 1997 geboren. Die Texte sind in Englisch und Koreanisch.
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1. Soh Jeong-soon, 1927 geboren, ging eine vermittelte Ehe ein. Auf die Frage, ob sie je Bedauern empfinde, antwortete sie: „Ich habe Liebe nie kennen gelernt. Ich habe nie die Rechte gehabt, die andere Frauen hatten.“ 2. Olivia Ih-Prost, 1985 geboren, ist Soh Jeong-soons Enkelin. Auf die Frage bezüglich Scheidung sagte sie: „Scheidung? Das ist das Schlimmste, was einem Ehepaar passieren kann, [aber] wenn keine Liebe da ist, ist es vielleicht notwendig.“
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ana Ramon Kapelian, 1963 in Haifa, Israel, geboren, ging mit 19 nach Europa, wo sie in London und Amsterdam lebte. Es folgten sechs Jahre in den USA, wo sie viel reiste und am San Francisco Art Institute studierte. Später ließ sie sich für 20 Jahre in Frankreich nieder, wo sie ihre Arbeit als Malerin und Installationskünstlerin fortsetzte. 2010 wurde sie erneut vom Fernweh gepackt. Sie und ihr Ehemann meinten, es sei mal wieder Zeit, zusammen mit den beiden Kindern loszuziehen, um ihren Horizont zu erweitern. „Wir dachten, es sei jetzt eine kostbare Zeit im Leben der Kinder auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Wir wollten ihnen etwas anderes zeigen. Es schien uns besser, unser Geld für das gemeinsame Leben mit den Kindern auszugeben, statt es für ihr Erbe zu bewahren. Also verkauften wir unser Haus mit dem Gedanken, dass es toll wäre, irgendwo einen Job zu finden, wenn nicht, würden wir einfach für ein Jahr um die Welt reisen.“ Als das Institut Français Séoul dann einen auf audiovisuelle Dienste spezialisierten Mitarbeiter suchte - ein Posten, der dem CV ihres Mannes genau entsprach -, siedelte die Familie für fünf Jahre nach Korea über. Während das Expat-Leben in einer fremden Kultur für manche Familien stressig sein kann, scheint Kapelian regelrecht aufzublühen. „Ich liebe es, neue Orte und Kulturen zu entdecken“, sagt sie. „Es gefällt mir, an einem Ort eine Fremde zu sein, weil es einem eine gewisse Freiheit gewährt und man die kulturellen Unterschiede wie Nährstoffe aufsaugen kann. Für manche Leute ist ein bestimmter Ort das Zuhause, für mich ist es die ganze Welt. Grenzen sind eine lächerliche, menschengemachte Erfindung.“
Eine kulturelle Odyssee Kurz nach ihrer Reise, die sie um die halbe Welt nach Korea gebracht
hatte, machte sich Kapelian auf eine neue Reise auf, und zwar zur Entdeckung der Kultur des Landes. Dahinter stand zum einen der Mangel an Informationen über Korea, zum anderen aber auch das Bedürfnis, sich künstlerisch mit ihrer neuen Umgebung auseinanderzusetzen. „Vor unserer Übersiedelung bin ich in allen möglichen Reisebüros gewesen, aber es gab keine einzige Broschüre über Korea“, erklärt Kapelian. „Es gab nur etwas über China, Japan, Ostasien. Ich habe Literatur und Geschichte nach Informationen durchforstet, um etwas über die Menschen zu lernen. In meinen Werken habe ich oft Frauenthemen behandelt und beschloss, das auch hier zu machen. Ich wollte aber kein dekoratives Werk für die Wand schaffen, sondern mit Menschen arbeiten. Ich brauchte Interaktion, wollte lernen, wie man den Leuten begegnet, um das Land besser zu verstehen. Sich mit Frauen zu unterhalten hat etwas Faszinierendes, v.a. hier in Korea, weil sie so viel Hartes durchgemacht haben.“ Kapelian nennt auch Das Zimmer im Abseits von Shin Kyung-sook (Autorin des Bestsellers Als Mutter verschwand) als Inspiration. Abwanderung in die Städte, Bildungsfieber und Arbeitskämpfe in den 1970er Jahren waren Themen, die ihr die Augen für die Dynamik der zeitgenössischen Geschichte des Landes öffneten: „Mir wurde klar, wie hart die Bedingungen waren und in mancher Hinsicht immer noch sind.“
Wessen koreanische Frauen? Kapelian stellte für ihr Buch ein Themen-Portfolio zusammen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speiste: aus Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, aus persönlichen Begegnungen und Empfehlungen ihrer Interviewpartnerinnen. Sie sagt, dass viele Leser über-
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1 1. Im Young-me, 1972 geboren, ist Musikerin der klassischen koreanischen Musik. Sie spielt die traditionelle Sanduhrtrommel Janggu mit schnellem Takt. 2. Jean Maloney, 1932 geboren, ist eine Nonne, die nach ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin in New York nach Korea geschickt wurde, als das Land nach dem Ende des Koreakriegs dringend medizinische Hilfe brauchte. 3. Martine Prost, 1951 in Algerien geboren, ist Linguistin. Sie war so fasziniert von den energievollen und ausdrucksstarken Koreanern, dass sie sich in Korea niederließ.
rascht sind, dass einige der Frauen in ihrem Buch auf den ersten Blick keine Koreaninnen zu sein scheinen. „Das erste, was die Leute sagten, war: Sie porträtieren Französinnen, amerikanische Nonnen, eine kanadische Koreanerin, aber das sind doch alles Ausländerinnen. Ich entgegnete, dass sie für mich Koreanerinnen sind. Wie kann man von einer Nonne, die 1953 direkt nach dem Koreakrieg ins Land kam und hier ihr ganzes Leben lang wohltätig gewirkt hat, behaupten, dass sie keine Koreanerin sei? Kann man von einer Französin, die mit einem Koreaner verheiratet ist, mit ihm Kinder hat und seit 30 Jahren hier lebt, sagen, sie ist nicht koreanisch? Der Titel des Buches ist vielleicht nicht der beste, aber er drückt aus, was ich sagen wollte: Das sind meine koreanischen Frauen. Es geht nicht um Nationalität, sondern um Bindung und Hingabe für einen Ort.“ Eine der stärksten Ersteindrücke von Korea waren für Kapelian die Frauen des Landes: „Sie sind Tigerinnen, Kämpferinnen. Sie müssen zu Hause kämpfen, sie müssen draußen kämpfen. Sie müssen Superfrauen sein, wie so viele Frauen in der Welt, aber bis zur japanischen Kolonialzeit war die koreanische Gesellschaft feudalistisch geprägt, mittelalterlich. Der Wandel, der sich im Westen über mehrere Jahrhunderte hinzog, geschah in Korea komprimiert in etwas über einem Jahrhundert. Man kommt hier mit dummen Vorstellungen über asiatische Frauen an, egal, ob Japanerinnen, Koreanerinnen, Vietnamesinnen usw. Wenn man sie nicht kennt, stellt man sich Frauen vor, die anderen dienen, ihren Männern, ihren Familien. Also
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schwache, formbare Frauen. Ich habe sie in den letzten vier Jahren kennen gelernt und kann sagen, sie sind stark. Viele wissen, was sie wollen und kämpfen dafür, es zu erreichen. Sie sind sehr eigensinnig und wenn sie einen Schritt hinter einen Mann zurücktreten, dann nur, weil sie es selber wollen.“
Die Ajumma-Frage Alle Interviews sind nach einem einheitlichen Format aufgebaut: kurze Lebensgeschichte; Fragen nach der persönlichen Meinung, geordnet nach einer Liste von Schlüsselwörtern, von denen viele mit Frauenrechten zu tun haben: Liebe, Ehe, Scheidung, Abtreibung; persönliche Botschaft der Frau. Eins der Schlüsselwörter, mit denen Kapelian die Frauen immer wieder konfrontiert, ist „Ajumma”: Wörtlich eine verheiratete Frau, aber um diese Bezeichnung ranken sich kulturelle Konnotationen, die Kernbestandteil des koreanischen Verständnisses von Frausein sind. Die Ajumma, manchmal als „drittes Geschlecht“ beschrieben, gelten als kämpferisch, unnachgiebig und unattraktiv, dann aber auch als warmherzig und mütterlich. „Das Buch begann mit der Idee der Ajumma, erst später entwickelte sich das größere Konzept von Frauen allgemein. Am Anfang war ich von diesem seltsamen Ajumma-Begriff mit seinen vielen Definitionen fasziniert: Er kann negativ und positiv gebraucht werden und beinhaltet so vieles. Ich spürte, dass er einschränkend war und wollte mehr über Frauen allgemein sprechen. In vielen Interviews habe ich
„Sie sind Tigerinnen, Kämpferinnen. Sie müssen zu Hause kämpfen, sie müssen draußen kämpfen. Sie müssen Superfrauen sein, wie so viele Frauen in der Welt, aber bis zur japanischen Kolonialzeit war die koreanische Gesellschaft feudalistisch geprägt, mittelalterlich. Der Wandel, der sich im Westen über mehrere Jahrhunderte hinzog, geschah in Korea komprimiert in etwas über einem Jahrhundert.“
aber immer wieder ‚Ajumma‘ als Schlüsselwort gebracht, wenn auch nicht so häufig wie Liebe, Ehe oder Scheidung. Ich wollte den AjummaAspekt herausarbeiten, die Unterschiede in Verständnis und Reaktionen darauf. Einige Frauen, die Ajummas sind, lehnten das mit einem ‚Ich? Nie im Leben!‘ ab. Andere meinten: ‚In meiner Familie gibt es keine Ajumma‘. Es war wie eine Beleidigung. Für andere Frauen war das Wort ein Symbol für Liebe, Trost und Mütterlichkeit.“
Eine andere Art des Dialogs My Korean Women zu verfassen, war nicht ohne Herausforderungen: Es galt, die Worte und Porträts von 60 unterschiedlichen Frauen zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Die Übersetzung der Text ist zweisprachig, Englisch und Koreanisch - enthielt auch Fallstricke, da die Interviews von einem Dolmetscher in Koreanisch geführt wurden (ausgenommen, wenn die Interviewpartnerin Englisch oder Französisch beherrschte. Danach wurden sie verschriftlicht und anschließend ins Englische übersetzt. Kapelians größte Freude bei der Arbeit war der Großmut ihrer Interviewpartnerinnen, der zum Teil ihrem Status als Außenseiterin zu verdanken war. „Es war erstaunlich, wie bereitwillig die Frauen ihre Herzen öffneten. Es heißt immer, die Menschen hier sind zurückhaltend, sie sprechen nicht, sie öffnen sich nicht. Ich bin sicher, dass das Buch ganz anders aussehen würde, wenn ich Koreanerin wäre. Aber als Ausländerin war eine ganz andere Art von Unterhaltung möglich. Vielleicht war es etwas unhöflich, Fragen zu stellen, die ein Koreaner kaum vorzubringen wagen würde. Aber die Frauen waren so weitherzig. Ich glaube, jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen, wenn man nur Interesse zeigt, und in jeder Geschichte steckt etwas.“
und meinte: ‚Geschlechterdiskriminierung? Wenn ein Lehrer so was macht, verliert er seine Stelle.‘ Für sie war das eine ganz andere Welt und es war faszinierend zu sehen, dass diese beiden Frauen am gleichen Ort leben.“ Für Kapelian und viele andere Expats, die diese Veränderungen miterleben, stellt sich die Frage nach Tradition, Reform und Kontinuität. „Ich glaube, die Tradition in Korea ist noch sehr stark, zum Schlechten und zum Guten. Sie kann einen ersticken und töten, oder sie kann ein eisernes Fundament sein, das einen trägt. Es kommt ganz darauf an, wie der Einzelne damit umgeht. Für mich stellt sich für die koreanische Gesellschaft die zentrale Frage: Wird sie das Kind mit dem Badewasser ausschütten? Im Westen haben wir das meiner Meinung nach getan. Wir sind vor der Tradition davongelaufen. Ich habe in den Staaten gelebt, wo sich die Familien manchmal drei oder fünf Jahre lang nicht sehen, obwohl sie auf dem selben Kontinent wohnen. Die Menschen fühlen sich verloren, gehen auf spirituelle Suchen. Ich glaube, dass in der koreanischen Gesellschaft die Traditionen immer noch sehr stark sind, da der Wandel noch jüngeren Datums ist. Eine der vielen Fragen, die sich heute stellen, ist: Wie kann man Traditionen erhalten und sich gleichzeitig einerseits frei machen von dem erstickenden, kreativitätstötenden Teil, der vorschreibt, was man zu denken und zu tun hat, und andererseits den bereichernden Teil erhalten, der einen an seine Wurzeln erinnert?“ Vielleicht sind es gerade die koreanischen Frauen, gefangen im Spannungsfeld zwischen ihren traditionellen Rollen und neuen Rollenvorbildern, die von solchen Fragen besonders stark betroffen sind, meint Kapelian. „Am härtesten trifft es Frauen um die Dreißig, da sie noch den Druck der Tradition voll erleben, aber gleichzeitig sehen, was für die freie Frau von heute alles möglich und machbar ist.“
Wandel und Tradition Die Interviews mit Frauen solch unterschiedlicher Altersgruppen brachten deutliche Kontraste zutage, die zeigen, wie schnell sich Korea gewandelt und neu geschaffen hat. „Als wir vor vier Jahren nach Korea kamen, hieß es, dass es hier keinen ordentlichen Kaffee gebe. Heute gibt es keine Straßenecke ohne Café und der Kaffee ist gut. Der Wandel ist erstaunlich. Das gilt auch für die Frauen: Es gibt zwar noch viel, für das sie kämpfen müssen, aber es ist unglaublich, was schon alles erreicht wurde. Die älteste Frau in dem Buch ist 97, die jüngste 14. Die älteste Frau erzählte, dass ihre Ehe vermittelt wurde, Liebe blieb für sie ein Fremdwort, ihr Mann hat kein einziges Mal eine Tasse Tee oder Suppe für sie zubereitet, nicht einmal dann, wenn sie krank war. Als ich die Vierzehnjährige nach Geschlechterdiskriminierung fragte - natürlich handelt es sich hier um persönliche Erfahrung und eine für ihre Generation gültige Tatsache - schaute sie mich nur mit großen Augen an
Eine private Botschaft Mit ihrem Buch hat Kapelian eindeutig einen Beitrag zum wachsenden Bestand an englischsprachigem Material über die koreanische Kultur und Gesellschaft geleistet. Als ich sie nach den Zukunftsplänen ihrer globetrottenden Familie fragte, äußerte sie den Wunsch, das Leben in Ländern wie Vietnam, der Mongolei, Kambodscha, Japan oder Brasilien kennen zu lernen. Abschließend hat Kapelian, eine persönliche Botschaft: „Hören Sie immer zu. Seien Sie tolerant, hören Sie, was die Menschen um Sie herum sagen, um zu erkennen, wer sie sind und was sie brauchen. Wir konzentrieren uns so oft nur auf uns selbst, so dass wir vergessen, anderen gegenüber und auch dem Leben gegenüber offen zu bleiben. Wir sind Menschen, also sind wir gleich. Natürlich gibt es Unterschiede, das macht es doch gerade spannend, und diese Unterschiede sollten unser Interagieren nicht behindern, sondern es bereichern.“
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DEN EIGENEN WEG GEHEN
Jeong Goam graviert Glück ein
„Es ist eine Art Kommunikation und Dialog“ Chung Jae-suk Kulturjournalistin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo Fotos Park Jung-hoon
Er ist Graveur. Er graviert, und zwar in der neuen Sprache, die heutzutage gefragt ist. Er hat die Kunst der Siegelgravur, die über Tausende von Jahren als Juwel der asiatischen Kultur weitergegeben wurde, mit Kalligraphie, Industriedesign und Populärkultur kombiniert und in Form seiner einzigartigen „Saeghim Art“ wiederbelebt.
ich? An der Universität finde ich unter meinen Studenten immer welche, die andere kopieren und das Werk dann als ihr eigenes ausgeben. Ich sage ihnen: Schaff deine eigene Kunst! Das Gravieren an sich ist nur eine Technik. Der Prozess der Aneignung dieser Technik ist der Weg zur Findung des Ichs. Auf diesem Weg werden wir alle zu Schöpfern.“
Gravieren ins Herz
Lachse träumen vom Meer, 2006. Der Künstler versuchte, in einem einzigen Werk Bilder und Schriftzeichen zu kombinieren, wobei Bilder zu Zeichen wurden und Zeichen zu Bildern.
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eong Byung-rye (geb. 1948) bat darum, ihn Jeong Goam zu nennen. „Goam“ ist sein Beiname. Darin steckt die Bedeutung, den Fesseln des von den Eltern gegebenen Namens zu entkommen und sich aus eigenem freien Willen neu zur Welt zu bringen. Dies gilt nicht nur für seinen Namen. Goam hat auch das traditionelle Siegelgravur-Kunsthandwerk durch die von ihm geschaffene „Saeghim Art“ als moderne Kunstform neu kreiert. In der Welt der Siegelgravur-Kunst, bekannt als „Ästhetik des winzigen Quadrats“, da sie in einem 3 cm² messenden Raum präsentiert wird, entdeckte er für sich ein neues Leben und neue Erkenntnisse: „Das ist meine Art zu spielen. Man muss seinen Kopf leer machen. Ein kreativer Künstler darf seinen Kopf nicht voll haben. Gleichzeitig muss er fragen: Wer bin
Goam graviert ohne Ende. Er graviert in Stein und in Holz. Er graviert auch in den Erdboden und in die Wände. Im Eingangsbereich des Cafés, das zu seiner Werkstatt cum Ausstellungsraum in Samcheong-dong in Seoul führt, hat er seine Werke überall verstreut. Sind es Markierungen seines Territoriums ähnlich wie die Höhlenmalereien der Urmenschen? „Ich graviere, also bin ich.“ Das ist Goams Daseinsgrund: „Eingravieren bedeutet Nachsinnen, Dokumentieren und Rezitieren. Es ist eine Art Kommunikation und Dialog. Mit visuellen Schriftzeichen, in denen Sprache und Bild verschmolzen sind, spricht man die Menschen auf der Welt an. Deshalb sage ich, dass ich nicht in Steine, sondern ins Herz graviere. Ich wollte eine neue Sprache für eine bessere Kommunikation schaffen.“ Seit alters her wurde die Siegelgravur als „Gravieren ins Herz“ bezeichnet. Goam hat diese Vorstellung durch seine ganz persönlichen Erfahrungen neu interpretiert. Die Gravur ist die Kunst, mit Hilfe von starken Metallwerkzeugen Inschriften in harten Stein zu treiben. Entsprechend enorm ist der körperliche und geistige Kraftaufwand, den die Steingravur verlangt. Das wiederum lässt den Graveur letztendlich erkennen, dass er in sein eigenes Herz graviert. „Gravieren vereint Geist und Materie, männliches Yin und weibliches Yang. Es bedeutet, Ideen und Abstraktionen auf reale Gegenstände oder Formen zu vereinfachen. Nur wenn man das innerlich völlig verdaut, kann etwas Ordentliches entstehen, an dem sich das normale Publikum erfreuen und das es leicht verstehen kann. Verdaut man das nur halb, weiß der Normalbürger nichts mit dem Kunstwerk anzufangen. Deswegen ist das Lernen
Goam hat den Anwendungsbereich der Gravur von chinesischen Schriftzeichen auf Hangeul-Schriftzeichen und graphische Bilder erweitert. Er modernisierte die Kunst der Siegelgravur, die von vielen als altmodische und Ăźberholte Form des Kunsthandwerks betrachtet wurde, und verlieh ihr eine neue, distinktive SchĂśnheit.
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Goam hat die Motive der Siegelgravur, die auf chinesische Schriftzeichen beschränkt waren, auf Hangeul (koreanisches Alphabet) und graphische Images erweitert. Durch die Verknüpfung der Siegelgravur-Kunst mit Kalligraphie, Industriedesign und Animation hat er Wege für grenzlose Kombinatons- und Verwendungsmöglichkeiten eröffnet. Er hat dieses traditionelle Kunsthandwerk, das für die Allgemeinheit unverständlich geworden war, in modernem Stil neu geschaffen und unter Anwendung von Massenmedien eine einzigartige gestalterische Schönheit entwickelt.
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1. Siegelgravur ist die Kunst, gehaltvolle Wendungen, Bilder oder Muster in einer kreativ-formativen Sprache in ein Stück Holz, Stein, Gold oder Jade einzuritzen. 2. Sejong and Hangeul , 2009, 360 800 110mm. Dieses Werk wurde zur Feier des Hangeul-Tags 2009 geschaffen. In einen großen Agalmatolith wurde das Gesicht König Sejong des Großen eingraviert sowie Ausschnitte aus dem Hunminjeongeum (Die richtigen Laute zur Unterweisung des Volkes), des Dokumentes zur Erläuterung der neuen Schrift Hangeul, und aus einem weiteren Dokument, das den Hintergrund von Hangeul erklärt.
so wichtig. Um eine komplexe Form der Saeghim Art zu entwickeln, muss man sich unablässig mit allen Bereichen befassen, von den Geisteswissenschaften bis hin zu den neuesten Trends der zeitgenössischen Kunst.“ Goam hat die Motive der Siegelgravur, die auf chinesische Schriftzeichen beschränkt waren, auf Hangeul (koreanisches Alphabet) und graphische Images erweitert. Durch die Verknüpfung der Siegelgravur-Kunst mit Kalligraphie, Industriedesign und Animation hat er Wege für grenzlose Kombinations- und Verwendungsmöglichkeiten eröffnet. Er hat das traditionelle Handwerk, das für die Allgemeinheit unverständlich geworden war, in modernem Stil neu geschaffen und unter Anwendung von Massenmedien eine einzigartige gestalterische Ästhetik entwickelt. Wer ihn und seine Geschichte jedoch nicht gut kennt, belächelt ihn als bloßen Designer, der der Tradition abtrünnig geworden ist, um fremde Wege zu beschreiten. „Auch ich habe einmal viele Gravuren chinesischer
Schriftzeichen angefertigt. Ich machte mir auch einen Namen als Siegelgraveur für chinesische Zeichen, wobei meine Arbeiten oft als Namensstempel missverstanden wurden. Eines Tages fragte ich mich dann aber: Wer ist dieses Ich eigentlich, das die chinesischen Zeichen graviert? Ich wollte wissen, wo meine eigene und unsere koreatypische Originalität zu finden ist. Da habe ich beschlossen, Hangeul neu zu interpretieren. Sind die Zeichen des koreanischen Hangeul-Alphabets denn nicht das beste Produkt unseres Intellekts und und unserer Weisheit, mit dem wir uns der Welt stellen können?“
Trittstein zwischen Vergangenheit und Zukunft In der Saeghim Art sah Goam das Potential für Hangeul, zum globalen Alphabet zu avancieren. Kunst ist doch ohnehin der endlose Prozess, die Vergangenheit in die Gegenwart ziehend, in die Zukunft zu springen. Er sah den Weg der Saeghim Art darin, die koreatypische gestalterische Sprache im 21. Jh zu globalisieren und so einen
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Trittstein zwischen Vergangenheit und Zukunft zu legen: „Denken Sie nur an die schamanistischen Gut-Exorzismen oder Ahnenverehrungszeremonien unserer Vorfahren. Da werden überall Fahnen, Stoffe oder Papier mit allerlei bunten Mustern und Motiven aufgehängt. Dahinter steht der Wunsch, mit dem Himmel oder den Göttern kommunizieren zu wollen. Lässt es sich vielleicht besser
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verstehen, wenn ich sage, dass ich durch WirbelwindMotive oder scharf gestochene Kammmuster mit dem einsamen Menschen von heute von Herz zu Herz kommunizieren möchte?“ In Naju in der Provinz Jeollanam-do geboren, musste sich Goam bereits nach dem Abschluss der Mittelschule seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Aus armen
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Wings of Dreams, 2011, 4,700 2,700mm. Dieses Werk verbindet Farben und Muster mit dem Hangeul-Spruch An einem glücklichen Tag, an dem Träume ihre Flügel ausbreiten … das schimmernde Purpur jenseits des Flusses, des Meeres sei Licht … sei Licht.
Glück bin ich wenig gebildet und weiß daher nicht, wo die Grenzen sind. Jeder verschwendet seine Energie kurzsichtig dafür, neidisch und eifersüchtig auf andere zu sein. So bin ich nicht.“ Goam rät seinen Studenten, ihn nicht mit Universitätsabsolventen oder Berühmtheiten zu vergleichen. Seine Denkweise ist, dass derjenige, der seine eigene Welt gefunden hat, nichts und niemanden zu beneiden braucht. Er verachtet diejenigen, die Kunst als Instrument ihrer Macht ausnutzen. Dass er sich sein Kunsthandwerk autodidaktisch angeeignet und die Saeghim Art geschaffen habe, mache ihn zum lebendigen Beweis für diese Auffassung, sagt Goam geradeheraus.
Hangeul: neue Energie für Hallyu
Verhältnissen stammend, weiß er, was es heißt, hungrig und zerlumpt zu leben. Daher sind Prahlerei oder Geldsucht nicht seine Art: „Weil es mir an formaler Bildung mangelt, kenne ich keine Grenzen. Hätte ich an einer renommierten Universität einen Master- und Doktorabschluss gemacht, hätte ich nie mit einer Arbeit wie dieser anfangen können. Zum
„Experten aus China, das in puncto Geschichte der Siegelgravur-Kunst quasi der Großvater Koreas ist, kommen zu mir, um sich meine Werke anzusehen und sind erstaunt. Auch Kritiker für westliche Kunstgeschichte besuchen meine Werkstatt. Nachdem sie meine Werke unter die Lupe genommen haben, fragen sie mich alle nach der Quelle. Sie verdächtigen mich, irgendeinen Prototyp kopiert zu haben. Sie glauben mir nicht, auch wenn ich sage, dass es meine eigene Schöpfung ist. Das beweist, dass Hangeul eine hervorragende Schrift ist. Ich träume davon Hallyu, die Welle der koreanischen Populärkultur, durch meine Saeghim Art auf eine höhere Ebene zu bringen.“ Goam bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, ganz China, die Heimat der Siegelgravur-Kunst, mit seiner Saeghim Art zu begeistern. Als er vor zehn Jahren in China eine Ausstellung eröffnete, erkannte er das Potential dafür. Es gibt nichts, dass er sich umsonst angeeignet hat, daher hat er auch nichts zu verlieren. Für ihn gilt allein, mit dem Geist der grenzenlosen Herausforderung an einer Gravur nach der anderen zu arbeiten. „Meine Wurzeln habe ich in den Petroglyphen gefunden. Mein Herz in der Volksmalerei. Unter dem Aspekt, dass die Menschen in ihrer Geschichte Glück und Freude teilen, bezeichne ich die Volksmalerei als ,Malerei des Glücks‘. Das ist das Ziel der Saeghim Art: Es sind Bilder eingravierter Lettern, deren Anblick Freude macht, und aus denen Geschichten fließen! Genau das ist es!“
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NEUERSCHEINUNG
Charles La Shure Professor, Seoul National University Song Hyun-min Musikkritiker
Mehr als nur schöne Landschaften Baekdu Daegan Korea Roger Shepherd, 147 Seiten, Seoul: Roger Shepherd (2013). $45.00/38.000 KW
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er ehemalige neuseeländische Polizist Roger Shepherd führt die Leser auf einen Pfad, den kaum jemand ganz abgelaufen ist. Baekdu Daegan Korea entführt auf eine Fotoreise durch die ganze koreanische Halbinsel: 1.680 km vom Berg Baekdu-san in Nordkorea bis zum Gebirge Jiri-san in Südkorea, immer entlang des als „Baekdu Daegan” (Weißhaupt-Bergmassiv) bekannten Bergmassivs, das Rückgrat und Wasserscheide für die ganze Halbinsel ist. Wie im Vorwort erläutert, entdeckte Shepherd die Bergkette bei einem Koreabesuch im Jahr 2006. In den Folgejahren kehrte er zwei Mal zum Bergsteigen zurück. Er wollte sich nicht durch die künstlich gezogene innerkoreanische Grenze behindern lassen und plante eine Besteigung auch der im Norden gelegenen Gipfel des Bergmassivs. 2011 und 2012 erkundete Sheperd den nördlichen Teil des Baekdu Daegan. Sheperds Liebe zu den Bergen Koreas wird schon auf den ersten Seiten deutlich, wo er kurz auf die koreanische Berggeist-Kultur und Geomantik eingeht. Es folgen fantastische Farbaufnahmen einzelner Berge: atemberaubende Panorama-Landschaften, Hochplateaus voller Wildblumen, zerklüftete Gipfel, klare und zugezogene Himmel, üppige Wälder, fantastische Sonnenauf- und untergänge. Die Jahreszeiten sind ebenfalls alle vertreten. Die Fotos vom Kratersee Cheonji auf dem Gipfel des Baekdu-san sind ein angemessener Auftakt der Reise. Dieser Kratersee ist oft von oben fotografiert zu sehen, was das Wasser, in dem sich der Himmel spiegelt, tiefblau wirken lässt. Eine Aufnahme aus tieferem Winkel zeigt, wie glasklar das Wasser ist. Der Ullim-Wasserfall, ein dünnes, weißes Band vor schroffen Felsformationen, gekrönt von
Mit Pansori über die heutige Gesellschaft reflektieren Bari, abandoned Han Seung-seok (Gesang), Jung Jae-il (Begleitung/Komposition), Bae Sam-sik (Text), CJ E&M, 75:27 Min. $8,24/18.500 KW
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er mündlich überlieferte epische Sologesang Pansori, der das koreanische Volk seit Jahrhunderten zum Lachen und Weinen gebracht hat, wird derzeit durch die Verknüpfung mit anderen Genres wie Klassik, Jazz, Pop, Rock usw. weiterentwickelt. Der Pansori-Sänger Han Seung-seok, der jugendliche Vitalität ins Pansori bringt,
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und der als Multitalent geltende Musiker Jung Jae-il haben Bari, abandoned kreiert, ein Album, das richtungsweisend für Pansori und die koreanische Musik als solche ist. Pansori ist ein Musikgenre, bei dem ein Solosänger von einem Trommler begleitet wird. Im vorliegenden Album begleitet der Instrumentalist Jung Jae-il den Sänger
leuchtendem Herbstlaub, bietet einen erhabenen Anblick. Die schier unglaublichen Felsspitzen und messergleichen Kämme des Gebirges Geumgang-san beschwören Gebirgsdarstellungen in traditioneller Tuschemalerei herauf. Der Fotoband bietet aber noch mehr: Einleitend schreibt Shepherd über die Menschen, die auf dem Land leben, durch das sich das Bergmassiv Baekdu Daegan zieht. „Zusammen bilden sie eine Familie, die auf der Halbinsel lebt ... Sie sind eins.“ Bei einem flüchtigen Blick auf die Karte, die den Fotos vorangestellt ist, fällt vielleicht nicht auf, dass keine Grenze zwischen Nord- und Südkorea eingezeichnet ist. Gezeigt wird die koreanische Halbinsel, wie sie vor der Teilung aussah - und wie sie, wie viele hoffen, in nicht allzu ferner Zukunft wieder aussehen möge. Die Fotos, mit denen sich der Betrachter langsam vom äußersten Norden Nordkoreas nach Süden bewegt, enthalten keine offenkundigen Hinweise auf die Teilung. Natürlich besitzt jede Region ihre eigenen Charakteristika, aber es ist deutlich, dass sie alle zu derselben massiven geologischen Formation gehören. Seite 82 markiert den Übergang von Nordnach Südkorea. Diese Seite ist leer belassen. Ein stummes Zeugnis für die Teilung eines Bergmassivs und einer Halbinsel, die eins sind in Volk und Geist? Signal der Hoffnung auf eine Zukunft, wenn beide Hälften wieder ein Ganzes werden? Egal, wie man es sieht: Nur wenige Leser dürfte diese Fotoreise unberührt lassen.
anstatt mit der Trommel mit Klavier, Gitarre und Bassgitarre. Diese faszinierende musikalische Zusammenarbeit kann sogar bei denjenigen ankommen, die sich sonst nicht für Pansori interessieren oder kaum etwas darüber wissen. Noch reizvoller wird das Album dadurch, dass zwei männliche Musiker das herzergreifende Schicksal einer Frau besingen. „Bari“ ist der Name einer Prinzessin in einer alten koreanischen Sage. Lang, lang ist es her, da setzte König Ogu aus dem Bulla-Reich Bari, seine jüngste Tochter, am Meer aus, weil sie nicht der ersehnte Sohn war. Als Bari, von Fremden aufgezogen,
Chronik einer Suche nach lebendigen Traditionen 100 Thimbles in a Box – The Spirit and Beauty of Korean Handicrafts Debbi Kent / Joan Suwalsky, 168 Seiten, Seoul: Seoul Selection (2014). $39.00/27.000KW
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Thimbles in a Box ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Werk der Liebe. Es waren die Adoptivkinder, die die beiden Autorinnen nach Korea brachten. Sie entwickelten Interesse an der Heimat ihrer Kinder und verliebten sich nach einem Koreabesuch auch in das Kunsthandwerk des Landes. Mit diesem Buch teilen sie auf ihre Art die Welt der koreanischen Handwerkskunst mit Lesern, denen sie sonst vielleicht sonst unbekannt geblieben wäre. Lebendige Farbfotos schmücken jede einzelne Seite, ergänzt durch informative und gut recherchierte Begleittexte. Das Buch beginnt mit einer Einführung in Handwerkskunst, Traditionen und Geschichte Koreas. Sie ist kurz gehalten, reicht aber aus, um dem Leser als Referenzrahmen für die Lektüre zu dienen. Kapitel 2 ist noch hilfreicher: Es ist ein Glossar der in der koreanischen Kunst und Handwerkskunst verwendeten Symbole. Meist handelt es sich um Pflanzen und Tiere, aber auch Naturphänomene und einige konzeptuelle Symbole sind enthalten. Der Hauptteil des Buches behandelt folgende kunsthandwerkliche Traditionen: Keramik, Textilfasern, Papier, Intarsien, Metall, Holz und Bilddarstellungen. Einige der Kategorien wie Keramik erklären sich von selbst, während andere wie Textilfasern und Holz eine breite Palette von Kunstformen umfassen. Es finden sich auch einige Kleinode wie Hornschnitzerei, eine originär koreanische Kunstform, und Grabfiguren. Bei der Lektüre des Buches werden schnell eine Reihe von Themen
15 ist, erkrankt König Ogu. Einziges Heilmittel ist das Wasser des Lebens aus dem weit entfernten indischen Reich. Die sechs älteren Töchter verweigern die gefahrvolle Reise, aber Bari macht sich bereitwillig auf, obwohl sie von ihrem Vater ausgesetzt wurde. Als es ihr nach langer Odyssee endlich gelingt, mit dem Wasser des Lebens zurückzukehren, ist der König schon verschieden. Sie haucht seinem Fleisch und Knochen Leben ein, ein Akt kindlicher Pietät, für den sie zur Göttin des Totenreichs erhoben wird. Weil Baris Geschichte auf mündlicher Überlieferung beruht, variiert sie in den Details je nach Region, aber die
augenscheinlich. So wird in Kapitel 2 der Bezug zur Natur betont, in der tatsächlich die Mehrheit der Symbole ihre Wurzeln hat. Die Autorinnen erklären, dass diese Symbole dazu dienten, die Harmonie zwischen Mensch und Natur zu befördern, wobei für jede Kunstform konkrete Beispiele angeführt werden. Sie bedauern die Rückentwicklung oder das Verschwinden bestimmter kunsthandwerklicher Formen und Gegenstände, die durch moderne Varianten ersetzt werden. So sind die bestickten Fingerhüte, die im Titel erwähnt werden, im heutigen Zeitalter moderner, unverwüstlicher Fingerhüte fast nur noch Kuriositäten. Aber neu bedeutet nicht immer besser. Das Kapitel über Malerei, in dem der mühsame Prozess der Herstellung traditioneller Tuschsteine beschrieben wird, endet mit der Feststellung: „Die besten Tuschsteine sind immer noch die auf traditionelle Weise hergestellten.“ Einige Seiten weiter heißt es, dass die modernen Farben, die heute für Tempel und Paläste verwendet werden, nicht so lebendig und beständig sind wie traditionelle Farben. Vielleicht ist der glänzendste Faden, der sich durch das Webwerk der verschiedenen Künste zieht, das Konzept der Erhaltung und Wiederbelebung. Überall im Text finden sich Hinweise darauf, wie bestimmte Kunsthandwerksformen in den letzten Jahren wiederbelebt wurden und das letzte Kapitel blickt voller Spannung in die Zukunft. Die koreanische Regierung bemüht sich unablässig um die Bewahrung dieser wertvollen Traditionen, sei es durch die Designation von Künstlern als Träger immaterieller Kulturgüter oder durch die Aufnahme in die entsprechende UNESCO-Welterbeliste. Heutzutage ist es jedoch schwer, Nachwuchs für ein Handwerk zu finden, das nach Meinung vieler längst überholt ist. Aus dem Dilemma herausführen könnten z.B. Bemühungen der Künstler, ihre Kunst für die moderne Gesellschaft bedeutungsvoll zu machen. An einer Stelle im letzten Kapitel verweisen die Autorinnen auf die Etymologie des Wortes „Tradition“: „hinüber-geben“ (lateinisch: „tradere“) oder „Übergabe, Auslieferung, Überlieferung“ („traditio“). Das koreanische Wort „jeontong“ hat eine ähnliche Bedeutung. Die traditionelle koreanische Handwerkskunst strebt auch weiterhin danach, als Brücke zwischen den Generationen zu fungieren und in der modernen Welt zu florieren. 100 Thimbles ist eine Chronik dieses Strebens.
Beschreibung ihrer beschwerlichen Reise und die von einzelnen Sängern im Laufe der Generationen hinzugefügten tröstenden und heilenden Geschichten sind überall ähnlich. Die Sage hat Inspiration und Motive zu zahlreichen Werken wie Romanen, Gedichten, Kinderbüchern, aber auch Musicals und modernen Tänzen geliefer t. Bari, abandoned singt nicht nur von Baris Geschichte, sondern weist hier und da auch auf die globale Diaspora und das Leid der Arbeitsmigranten hin. Damit thematisieren Han Seung-seok und Jung Jae-il durch Pansori nicht nur die heroische Geschich-
te einer Prinzessin, sondern auch gesellschaftliche Probleme von heute. Die Liedtexte von Bühnenschriftsteller Bae Samsik enthalten bei ihrem gewohnt-alltäglichem Klang eine beißende Satire und verströmen v.a. eine warme Menschlichkeit, die im heutigen Zeitalter abhanden kommt. Allein beim Lesen der Liedtexte lässt sich der Charme der koreanischen Literatur entdecken. Kurzum: Das Album Bari, abandoned ist ein meisterhaftes Werk mit berührenden Texten, geschaffen von einem der Tiefen des Pansori kundigen Sänger und einem Musiker mit innovativen Ideen. KOREANISCHE KULTUR & KUNST 53
Entertainment
Pessimismus und Trost: Der Film Han Gong-ju Der Langfilm Han Gong-ju , das Debütwerk von Regisseur Lee Su-jin, zählt zu den koreanischen Filmen, die jüngst auf internationalen Filmfestivals für Furore sorgten. Auf die Premiere 2013 auf dem 18. Internationalen Filmfestival von Busan folgten Auszeichnungen auf dem 13. Internationalen Filmfestival Marrakesch (2013), dem 43. Internationalen Filmfestival Rotterdam (2014) und dem 16. Festival des asiatischen Films von Deauville (2014), bevor er schließlich im April 2014 ins koreanische Kino kam. Nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland wurde er positiv bewertet. Die Mehrzahl der Kritiker war sich darüber einig, dass Hang Gong-ju die kollektive Depression, die in der heutigen koreanischen Gesellschaft vorzuherrschen scheint, subtil zum Ausdruck gebracht hat. Kim Young-jin Filmkritiker
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an Gong-ju, die Protagonistin des gleichnamigen Films (gespielt von Chun Woo-hee), ist eine Siebzehnjährige, die seit dem Selbstmord der Freundin, die zusammen mit ihr vergewaltigt wurde, unter seelischen Schmerzen leidet. Sie wechselt die Schule und wohnt vorübergehend bei der Mutter ihres ehemaligen Klassenlehrers, der ihr beim Schulwechsel geholfen hat. Gong-ju hat kaum Interesse, sich in der neuen Schule einzuleben und zeigt niemals ihre Gefühle. Erst nach geraumer Zeit finden die Zuschauer heraus, wieso sich das Mädchen so verhält. Um Gong-jus Schmerzen nicht spektakulös zur Schau zu stellen, deckt Regisseur Lee Su-jin die Geschichte durch vorsichtig und beharrlich eingestreute Hinweise schrittweise auf. Aufgrund der ungewöhnlichen Herangehensweise, die eine fast klaustrophobische Atmosphäre schafft, wagt der Zuschauer nicht, die Leiden des Mädchens vorschnell zu verstehen zu versuchen. Gong-jus Gesichtsausdruck ändert sich nur, wenn sie ihre Mutter oder ihren Vater trifft, oder auf die Freundlichkeit ihrer neuen Freundin unbeholfen reagiert.
Stumme und ruhige Kontemplation der Kamera Der Film Han Gong-ju distanziert sich von der sonst typischen Storytelling-Methode auf Basis der Dichotomie von Gut versus Böse, Angreifer versus Opfer. Der Fokus liegt nicht auf dem tatsächlichen Ereignis, sondern auf der Reaktion der betroffenen Protagonistin. Wie ein Freund, der, nicht wissend, wie er trösten soll, einfach immer nur still in der Nähe des Opfers bleibt, beobachtet
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die Kamera stumm das Mädchen. Durch Rückblenden wird enthüllt, was Gong-ju widerfahren ist. Die Szenen, kurz und sporadisch eingebaut, enthalten in der Mitte des Films ziemlich schwer verdauliche Schilderungen. Gong-ju und ihre Freundin, die für einen gemobbten Klassenkameraden Mitleid zeigten, werden als Strafe von einer Gruppe Mitschüler vergewaltigt. Das Schockierende dabei ist, dass sich die meisten Menschen in ihrer Umgebung für Gong-jus Schmerz gar nicht interessieren. Ihr Trauma lässt alle unberührt, die Lehrer in ihrer alten Schule, die Ermittler, die sie befragen, auch die Eltern der Angreifer. Die Lehrer sind einzig besorgt, dass der Vorfall an die Öffentlichkeit geraten könnte, die Ermittler nehmen sie in die Zange unter der Vermutung, dass sie ihre Mitschüler zur Vergewaltigung „gereizt“ hätte. Die Eltern der Täter sehen in ihr eine Teufelin, die das Leben ihrer Kinder zerstört. Sogar ihre eigenen, nach der Scheidung getrennt lebenden Eltern, interessieren sich nicht für ihr Schicksal. Die bedachtsame Inszenierung des Regisseurs vermittelt dem Zuschauer nach und nach, dass Gong-jus stets unbewegte Miene nur ein anderer Ausdruck ihrer Angst ist. Der Film beschreibt die beängstigende Welt, der sich eine Jugendliche gegenüber sieht, die sich nicht selbst schützen kann und von der Gesellschaft der Erwachsenen nicht geschützt wird. Durch den Blick des Mädchens, das völlig in sich zurückgeschreckt mit großen, leeren Augen dasteht, wird die scheinbar friedliche Alltagswelt als grausam und bar jeder zwischenmenschlichen Rücksicht entlarvt. Es besteht keine Hoffnung,
Lee Su-jins Debütfilm Han Gong-ju fängt durch die stumme und gelassene Linse der Kamera ein, wie ein sexuell missbrauchtes Mädchen seinen Schmerz erträgt und bewältigt.
dass ihre Lethargie verschwindet. Von Anfang an konzentriert sich die Kamera darauf, wie Gong-ju auf eine solche Welt in ihrer eigenen Art und Weise reagiert. Nach außen hin täuscht sie völlige Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Umgebung vor und bemüht sich in der neuen Schule nicht, neue Freundschaften zu schließen. Sobald sie Anzeichen zeigt, auf freundschaftliche Annäherungsversuche einzugehen, tauchen in Flashbacks Szenen des schrecklichen Ereignisses auf, als käme für sie ein solches Glück nicht in Frage.
Aufrichtige Selbstreflexion der Erwachsenen Das Unerträglichste ist, dass Gong-jus Mitmenschen keinerlei Interesse an ihr zeigen und sogar glücklich zu sein scheinen, während sich die Zuschauer fragen, wie lange das Mädchen noch im Teufelskreis des Unglücks gefangen bleibt. Für die Zuschauer, die dem Opfer eine helfende Hand reichen möchten, ist dieser Kontrast quälend. Die Figur, die dieses Dilemma verkörpert, ist Frau Jo, bei der Gong-ju vorübergehend wohnt. Sie lebt allein und betreibt einen kleinen Lebensmittelladen. Realistisch bis ins Mark, lebt sie in vollen Zügen und erfüllt ihre Gelüste auf ihre Art. Selbst als sie bei ihrer Affäre mit dem Leiter der örtlichen Polizeiwache von dessen Frau erwischt wird und dafür Prügel bezieht, schämt sie sich ihrer Begierden nicht. Als Gong-ju ihre Wunden verarztet, meint sie sogar unbekümmert, dass ein bissen Nervenkitzel und Risiko der Liebe nur gut täten. Die Gegenüberstellung der Qualen, die die minderjährige Gong-ju nach der Vergewaltigung durchlebt, und
der schamlosen Liebschaft von Frau Jo weist auf den Grund hin, warum der Film bewusst die moralisch-ethischen Grenzen verwässert und keine direkte Stellung bezieht: Moral und Ethik sind keine absoluten, sondern in jedem Fall relative Werte. Es zählt einzig und allein, ob man die Kraft hat, sich zu wehren. Wie Gong-jus Vater betrunken lamentiert, nachdem er den Täter-Opfer-Ausgleich unterzeichnet und von den Eltern der Täter die Entschädigungssumme erhalten hat, geht es in dieser Gesellschaft nur darum, wer die Macht hat. Dass Frau Jo im Vergleich zu den anderen Erwachsenen in diesem Film sogar sympathisch herüberkommt, überrascht den Zuschauer. Durch ihre direkt-ehrliche Art unterscheidet sie sich von den anderen heuchlerischen Erwachsenen. Dass sie einzig und allein deshalb nicht abstoßend wirkt, scheint das entsetzlich gelähmte ethische Bewusstsein der heutigen Gesellschaft widerzuspiegeln. Als im April 2014 die Fähre Sewol mit Hunderten von Oberschülern an Bord angeblich wegen Überladung unterging, erlebte die koreanische Gesellschaft durch Live-Berichterstattung in den Medien, wie unzählige junge Leben wegen veralteter Sicherheitssysteme geopfert wurden, und versank daraufhin in eine kollektive Depression. Ohne die Katastrophe richtig aufzuklären, schoben sich die Verantwortlichen gegenseitig die Schuld zu und in den Medien und sozialen Netzwerken hagelte es Kritik an der moralischen Verworfenheit der Gesellschaft. In dieser Situation zeigt der ruhige Blick der Kamera in Han Gong-ju eine ehrlichere innere Einkehr, Selbstprüfung und Trost, als jede noch so eloquente Selbstreflexion. Im Film sind die Erwachsenen gleichgültig und die jungen Opfer zittern vor Angst. Der Blick der Kamera macht deutlich, dass die Zuschauer nicht imstande sind, ja, dass es nicht gestattet ist, den Abgrund der Verzweiflung, der das Innere der Protagonistin füllt, zu ermessen. Die Leinwand, übervoll von Zögern, Zorn, Mitleid und Verlegenheit, evoziert emotionales Pathos. Diese Methode hat der Regisseur voller Pessimismus in Bezug auf die koreanische Gesellschaft gewählt, um den Opfern aufrichtigen Trost zu spenden.
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BLICK AUS DER FERNE
Das „Wir“ entscheidet Gedanken zum Begriff „uri“ Sebastian Ratzer Journalist, KBS World Radio, Seoul
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er im Ausland reist oder lebt, wird unweigerlich früher oder später Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Alltag daheim feststellen. Immer wieder auf eine solche Entdeckungsreise zu gehen, macht sogar den besonderen Reiz einer Auslandsreise oder des Lebens in einem fremden Land wie Südkorea aus. Das Eintauchen in eine zunächst völlig fremde und im Laufe der Zeit vertrauter werdende Kultur ist ein nimmer endender Prozess. Dieses hoffentlich unvoreingenommene Herantasten an die neue Umgebung erfolgt immer anhand eines Vergleichs mit bisherigen Erfahrungen und Erkenntnissen. Am Ende steht eine Bewertung, um für sich festzustellen, was besser und was schlechter ist oder was lediglich anders gehandhabt wird und somit weder besser noch schlechter ist. Dieses rein subjektive Urteil ist in den seltensten Fällen endgültig. Stattdessen wird es zu gegebenem Anlass einer erneuten Prüfung unterzogen und manches Mal auch revidiert. Und doch gibt es noch eine weitere Kategorie: die des Rätselhaften. Rätselhaft deshalb, weil es keine wirkliche Entsprechung hierzu im persönlichen Wissens- und Erfahrungsschatz gibt. Jede Beschäftigung damit bringt neue Facetten hervor und die Frage nach dem Besser oder Schlechter lässt sich nicht eindeutig beantworten. Der Begriff „uri“ ist ein Beispiel hierfür. „Uri“ bedeutet „wir“, „unser“, „unsereiner“ oder „mein“. Auf den ersten Blick wirkt das nicht ungewöhnlich, daher zunächst ein paar Beispiele: Die Südkoreaner sprechen im Alltag von „uri nara“ (unser Land) oder „uri mal“ (unsere Sprache). Eine Mutter prahlt gerne mit den schulischen Erfolgen von „uri
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adeul“ (unser Sohn) oder „uri ttal“ (unsere Tochter). Die selbe Frau wird, wenn sich das Gespräch um ihren Ehemann dreht, von „uri nampyeon“ erzählen. Da sie ihn in seiner Eigenschaft als Ehepartner wohl mit niemandem teilen möchte, lautet die passende Entsprechung im Deutschen „mein Ehemann“. Wenn beispielsweise die Fußball-Nationalmannschaft spielt, berichten sogar die Medien von „uri daepyo team“ (unsere Nationalmannschaft). Es ist außerdem nicht ungewöhnlich, dass ein Sportkommentator „uri Tae-hwan“ anfeuert, wenn das Schwimm-Ass Park Tae-hwan um Medaillen kämpft. Von „unserer Nationalmannschaft“ ist auch in anderen Ländern die Rede, aber nicht unbedingt in den Medien. In Deutschland wird das „wir“ bzw. „unser“ im Zusammenhang mit Sportmannschaften auch manch eingefleischtem Fan nicht so leicht über die Lippen gehen. Immerhin erfreut sich „unser Goldjunge“ einer gewissen Konjunktur und gelegentlich wird auch ein überaus populärer Sportler auf diese Weise vereinnahmt, wie z.B. im Fall von „unser Schumi“. Doch handelt es sich stets um Ausnahmen. Die berühmte „Bild“-Schlagzeile „Wir sind Papst!“ sorgte für viel Diskussionsstoff. Ein „Wir sind Weltmeister!“ ist im Überschwang der Gefühle akzeptiert, doch längst nicht jeder Deutsche fühlte sich in jenen Momenten tatsächlich als Papst oder Fußballweltmeister. Ein Koreaner könnte das wohl. Mir haben Koreaner sowohl zur „gewonnenen Papstwahl“ im Jahr 2005 als auch zum WM-Titel 2014 gratuliert. Als im Jahr 2000 der damalige Staatspräsident Kim Dae-jung den Friedensnobelpreis zuerkannt bekam, wurde landesweit ausgelassen gefeiert - schließlich hatte Korea (!) seinen ersten Nobelpreis gewonnen. Es ist beneidenswert, dass Koreaner sich mit Erfolgen
ihres Landes und von Landsleuten so stark identifizieren, mitfreuen und in jenen Momenten auch ein kleines bisschen als Sieger fühlen können. Doch gibt es auch eine Kehrseite der Medaille: denn der Mechanismus greift bei negativen Ereignissen in gleicher Weise. Hierfür ist das Sewol-Fährunglück im April ein eindrucksvoller Beleg. Der tragische Tod von über 300 Menschen, die meisten von ihnen noch Schüler, stürzte das Land in kollektive Trauer. Viele, die selbst nicht betroffen waren, fühlten sich, als hätten sie den Verlust des eigenen Kindes zu beklagen. Selbst die Binnenkonjunktur erlitt einen Dämpfer, weil den Menschen die Lust am Einkaufen vergangen war. Die starke Betonung, mitunter sogar Übertreibung des Wir und des Nationalen können gerade Ausländer häufig nicht nachvollziehen. Denn das Nationale ist auch mit negativen Konnotationen verbunden und schürt Skepsis. Tatsächlich bedeutet jedes „uri“ auch eine klare Abgrenzung von denjenigen, die nicht dazugehören. Diese Unterscheidung erfolgt jedoch nicht in böser Absicht, sondern auf selbstverständliche Weise. Fragt man einen Koreaner, warum er von seinem Land als „uri nara“ spricht, so weiß er in den meisten Fällen keine Antwort darauf; denn es war von jeher so und wird nicht hinterfragt. Eine positive Sichtweise auf das Konzept des „uri“ ist daher durchaus erlaubt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe stiftet Geborgenheit, schafft Loyalität und stärkt das Verantwortungsbewusstsein. Man kümmert sich und achtet aufeinander. Ein augenfälliges Beispiel hierfür ist, dass Vandalismus in Korea praktisch nicht vorkommt. Die gut ausgebaute Videoüberwachung mag ein Grund hierfür sein. Doch kommt es einem Koreaner
grundsätzlich nicht in den Sinn, das Stadtbild zu verschandeln. Denn was allen und damit auch einem selbst gehört, wird pfleglich behandelt. Ein Koreaner fühlt sich mehreren „uri“-Kreisen zugehörig: Familie, Freunde, Firma, Schule/Universität sind darunter neben dem Staat die wichtigsten. Ihren Mitgliedern fühlt er sich besonders verbunden und ist auch zu Opfern bereit. Die Familie wird zur Schicksalsgemeinschaft und lässt niemanden im Stich. Freunde kennen und helfen einander, die Beziehungen zu den Kollegen sind vergleichsweise eng und sobald nationale Interessen berührt sind, wird das ganze Land in Wallung gebracht. Zu beobachten war dies im Streit um die Felseninsel Dokdo („Dokdo ist unser Land!“) oder um die Einfuhr von möglicherweise problematischem Rindfleisch aus den USA. Und doch wohnt dem Begriff des „uri“ eine Ambivalenz inne. Trotz der Wertschätzung und Hingabe, die damit einhergeht, bleibt Raum für Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer, nämlich denjenigen außerhalb der eigenen „uri“-Kreise. Es gibt ein Streben nach persönlichen Vorteilen, genauso ein Wegschauen und Nicht-Handeln, obwohl doch alle in einem - ihrem - Land leben. Doch auch das ist verzeihbar, denn es bleibt selbst im Moment der Rücksichtslosigkeit die Gewissheit, dass sich irgendwer kümmern wird. Jenes „uri“ mit seinen mitunter intensiven Ausprägungen vermag immer wieder zu überraschen, häufig in positiver, manches Mal aber auch in negativer Hinsicht. Und doch bleibt mir die diesem Konzept zugrunde liegende Denkweise auch nach vielen Jahren immer noch rätselhaft.
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Lifestyle
Banner über Banner... Kim Sang-kyu
Professor für Design, Seoul National University of Science & Technology Fotos Cho Ji-young
verkaufen Träume, vermitteln Anliegen Koreanische Universitäten sind repräsentative Orte, wo Banner aller Art und mit allen möglichen Inhalten zu sehen sind. Beim Wandern durch den Wald der Banner, die hoch und niedrig über allen Straßen und Wegen hängen, kommt es einem so vor, als hätte man eine Internetseite geöffnet, in der ständig Pop-up-Fenster auf- und abtauchen.
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eden Morgen sehen wir Szenen, die kaum anders sind als am Tag davor: Erwachsene eilen schnellen Schrittes zur Arbeit, Schüler hetzen zur Schule. Und wenn sich Ihnen eines Tages plötzlich jemand mit einer roten oder blauen Schärpe über der Schulter in den Weg stellt und Sie überschwänglich grüßt? Dann können Sie sicher sein, dass hinter ihm ein Banner mit passendem roten oder blauen Motiv hängt, mit dem im Wahlkampf für einen bestimmten Kandidaten oder eine bestimmte Politik geworben wird. Immer wenn ein fremdes Banner in einer vertrauten Umgebung erscheint, bedeutet das, dass irgendetwas Neues passiert, sei es in Geschäftswelt oder Politik.
Gratulationsbotschaften mit Eigenwerbezweck Während des Wahlkampfes verwandelt sich das Seouler Stadtzentrum in einen Dschungel von Bannern mit den Slogans der einzelnen Kandidaten. Manche beklagen sich darüber, dass die überdimensionalen Banner, die an allen Gebäuden herunterhängen, das Stadtbild verunzieren, und einige schimpfen gar über „Banner-Umweltverschmutzung“. Ist der Wahlkampf vorbei, sieht es aber nicht viel anders aus, nur die Botschaften sind anders: Wahlkampfslogans weichen Dankesworten. Sie stammen von den Wahlsiegern oder ihren Parteien, die damit den Wählern für ihre Unterstützung danken, sind aber gleichzeitig auch subtile Werbung für die nächste Wahl. Ähnliche Szenen finden sich im schulischen Bereich, wenn die Hochschul-Aufnahmeprüfungssaison vorbei ist: An die Gebäude von Oberschulen und privaten, auf die Vorbereitung dieser Prüfung spezialisierten Lerninstituten werden Banner mit dem Aufdruck „Glück-
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wunsch!“ gehängt. Sie verkünden die Namen der Schüler, die es auf eine der Eliteuniversitäten geschafft haben, und beglückwünschen sie zu ihrem unter großen Anstrengungen erreichten Erfolg. Bei weiterer Überlegung ist jedoch die Absicht der Eigenwerbung erkennbar, implizieren die Banner doch: „Unsere Oberschule ist erstklassig!“, „Unser Institut ist dermaßen ausgezeichnet. Also schreiben Sie sich bei uns ein!“ Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass diese Banner den Wettbewerb bei den Universitätsaufnahmeprüfungen nur noch weiter anheizen und die Oberschulen als öffentliche Bildungseinrichtungen einzig die hohen Punktzahlen ihrer Schüler bei der Universitätsaufnahmeprüfung als Erfolg ihrer Bildung in den Vordergrund stellen. Vor diesem Hintergrund wurden die Oberschulen vor ein paar Jahren dazu aufgerufen, auf solche Banner zu verzichten, und viele Schulen kamen dem nach. Aber einige Eltern, die für ihre Kinder die Top-Universitäten anvisieren, beschweren sich darüber, dass ihnen mit dem Verschwinden der Banner eine wichtige Informationsmöglichkeit zur Bewertung der Qualität einer Oberschule genommen wurde. Hinter den Botschaften des guten Willens mit unverfänglichen Allerweltsgrüßen wie „Danke!“ oder „Glückwunsch!“ steckt die Strategie, indirekt zu werben. Auch den Lesern entgeht das nicht, aber sie scheinen darüber hinwegzusehen.
Banner voller Mitgefühl und Trost Taucht auf der Straße plötzlich ein Banner an einem Zebrastreifen auf, kann man den Inhalt auch ohne es zu lesen sofort erraten: Es wird nach Zeugen einer Unfallflucht gesucht. Wie ungerecht, dass
In vielen Teilen der Seouler Innenstadt konk urriert ein konfuses Gewirr von Bannern um Raum. Kritische Stimmen sprechen gar von „Verschmutzung durch Banner“.
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das Unfallopfer in Lebensgefahr schwebt, während der flüchtige Fahrer nicht ausfindig gemacht werden kann! Das Banner wird in der verzweifelten Hoffnung angebracht worden sein, den Schuldigen mit Hilfe eines Augenzeugen zu finden. Diese Art von Banner wurde auch als Motiv einer künstlerischen Installation genutzt. Auf der GwangjuBiennale 2002 installierte der Künstler Yoon Dong-chun Banner mit dem Aufdruck „Zeugen gesucht“ an verschiedenen Orten der Stadt. Die Installation nutzte Reproduktionen der Banner, die während des Gwangju-Aufstandes für Demokratie (18. Mai. 1980) zur Suche nach Vermissten aufgehängt wurden. Yoons Banner brachten den verzweifelten Wunsch zum Ausdruck, das in Vergessenheit geratene Geschehnis wieder in Erinnerung zu rufen. Der Gwanghwamun Plaza weist eins der höchsten Passantenaufkommen in Seoul auf. Deswegen ist an jedem Gebäude ein elektronischer Mega-Bildschirm installiert, auf dem wie in Konkurrenz zueinander eine Werbung nach der anderen läuft. Zwischen diesen gewaltigen Fassadenwerbungen springt eine ruhige und simple Botschaft ins Auge. Sie steht auf der Gwanghwamun-Schrifttafel am Gebäude des Versicherungsunternehmens Kyobo Life Insurance. Diese Tafel
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wurde 1991 auf Anregung von Sin Yong-ho (1917-2003), des Gründers des Unternehmens, angebracht. In den ersten Jahren zeigte sie meist inspirative, belehrende Inhalte, aber das änderte sich mit der Devisenkrise 1997, als viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren und in der Gesellschaft eine depressive Atmosphäre herrschte. Damals begann man damit, die Tafel mit Worten des Trostes zu füllen. Neben der Gwanghwamun-Schrifttafel sind auch andere Banner zu entdecken, die gesellschaftliche Themen zum Inhalt haben. So finden sich in jüngster Zeit viele Banner zum Sewol-Fährunglück. Über die Schilder von Unternehmen wurden Banner mit Kondolenzund Trauerbekundungen gehängt.
Banner und Zeitgeist Koreanische Universitäten sind repräsentative Orte, wo Banner aller Art und mit allen möglichen Inhalten zu sehen sind. Wenn die Ferien zu Ende sind und ein neues Semester beginnt, strahlt die Kolonnade aus unzähligen im Wind flatternden Bannern eine gewisse Vitalität aus, besonders entlang der Straße, die vom Campus-Eingang zu den Hauptgebäuden führt. Zwar gibt es es auch Schwarze Bretter,
1. Looking for the Witness (2002) von Yoon Dongchun, unterschiedliche Größen, Druck auf Stoff. Das Werk wurde für die 2002 Gwangju Biennale eingereicht. Die zum Motiv eines Kunstwerks gewordenen Banner wurden an verschiedenen Stellen der Stadt installiert.
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2, 3, 4. Die Marke Reblank verwendet ausgediente Banner als Stoff für Podukte mit eigenwilligem Design. Die Taschen, Schreibetuis und anderen ReblankProdukte stoßen bei den Verbrauchern auf positive Resonanz.
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aber Banner werden häufiger benutzt. Sie enthalten verschiedene Inhalte: Mitgliederwerbung von Studentenkreisen, Informationen zu Englisch-Sprachprüfungen wie TOEFL und TOEIC, Ankündigung von Veranstaltungen des Studentenrates, politische Ansichten usw. Beim Wandern durch den Wald der Banner, die hoch und niedrig über allen Straßen und Wegen hängen, kommt es einem so vor, als hätte man eine Internetseite geöffnet, in der ständig Pop-up-Fenster auf- und abtauchen. Früher wurden auf dem Universitätscampus statt Bannern Hängebilder und großformatige Plakate verwendet. Die Hängebilder spielten während der Studentenbewegung gegen die Militärdiktatur in den 1980er Jahren eine Rolle als Wahrzeichen. Wenn sich die Studenten zur Demonstration auf dem Campus versammelten, wurden am Versammlungsort als Hintergrund Transparente aus Stoff aufgehängt, auf denen handgemalte agitatorische Szenen und Slogans zu sehen waren. An den Wänden, an denen viele Studenten vorbeikamen, prangten große, handgeschriebene Plakate, auf denen Studenten ihre Meinung zu wichtigen aktuellen Themen kundgaben. Die Studenten von damals richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Inhalte der Plaka-
te. Aber die jungen Menschen von heute sind an kurze Sätze gewöhnt, weshalb Banner wohl noch wirksamer zur Vermittlung von Botschaften sind als Hängebilder oder handgeschriebene Plakate. Die Allgegenwart von Bannern im koreanischen Alltag bedeutet, dass es auch viele Orte gibt, die sie produzieren. In Geschäftsvierteln ist es nicht schwierig, Läden, die Banner herstellen, zu finden. Man kann sie auch online bestellen. Verglichen mit anderen Ländern dürften sie in Korea billiger und schneller erhältlich sein. Da viele Banner hergestellt werden, müssen entsprechend viele entsorgt werden. Während der Regionalwahlen im Juni 2014 hingen überall Unmengen von Bannern. Aber wo sind sie jetzt? Illegale Banner in den Straßen und Banner, für die die Erlaubnis abgelaufen ist, werden von den Kommunalverwaltungen entfernt und entsorgt. Manche werden im Rahmen von öffentlichen Projekten wiederverwendet. Zum Beispiel werden alte Banner zu Tragetaschen verarbeitet. Es gibt auch Bürgerorganisationen, die diese Taschen herstellen und verkaufen. Einige sehen darin Recycling-Design zum Schutz von Ressourcen und Erde. Diese Taschen sind aber nicht nur von ökologischem Wert, sie sind auch Symbole der Banner-Kultur Koreas.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Als Kim Kyung-uk (geb. 1971) in seinen frühen Zwanzigern mit dem Schreiben begann, war er „ein Schriftsteller, der kein einziges Buch gelesen hatte“. Ihn zeichnete die Frische des „ungeschliffenen Rohen“ aus. Dann aber wurde er zu einem Autor, der für sein Schaffen, REZENSION
Lesen wird dich frei machen
Chang Du-yeong Literaturkritiker
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ims Erzählung Königin in Ewigkeit handelt von einem Mann, der sich Tag und Nacht abplagt, um eine Erzählung zu schreiben. Um seine Karriere als Schriftsteller auf den Weg zu bringen, gibt er seinen Arbeitsplatz auf und verlässt die Stadt, um dann in seinem Schreibatelier in einem entlegenen Bergnest die „Qualen des literarischen Schaffens“ zu erleiden. Als seine Frau die Erzählung liest, meint sie jedoch, dass ihr Konzept und Inhalt bekannt vorkämen. Und als er das Buch, auf das seine Frau hingewiesen hat, liest, findet er dort tatsächlich die von ihr erwähnten Inhalte, was ihn unsäglich frustriert. Als sich seine Frustration wiederholt, werden seine „Qualen des literarischen Schaffens“ zu vergeblichem, unnützen „Leid“. Er formuliert es folgendermaßen: „Um eine originäre Welt zu konstruieren, gibt es zwei Wege: Entweder man liest kein einziges Buch oder man liest alle.“ (Königin in Ewigkeit) Wenn man diese Erzählung als Metafiktion betrachtet, so ist die „Qual des literarischen Schaffens“, die der Protagonist, Widerspiegelung von Freud und Leid, das der Autor Kim Kyung-uk selbst empfunden haben dürfte. Dieser Gedanke ist wohl nicht mehr als eine aus der Luft gegriffene Vermutung, warnt Autor Kim doch in Gefährliche Lektüre vor der dummen Gewohnheit, beim Lesen den fikti-
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„alle Bücher der Welt gelesen haben wollte“. Diese schriftstellerische Gier manifestiert sich in der Erzählung Gefährliche Lektüre in der blendenden Lektürewanderschaft des Protagonisten, der von Beruf Bibliotherapeut ist. Bewaffnet mit den unzähligen Büchern, die er gelesen hat, schaut der Bibliotherapeut zwar auf das „Du“, eine so gut wie unbelesene Frau, herab, wird letztendlich aber von diesem „Du“, das er nicht zu entziffern vermag, in Verunsicherung und Verzweiflung gestürzt.
ven Charakter mit dem realen Autor gleichzusetzen. Ruft man sich aber in Erinnerung, dass Kim in der Erzählung den Menschen als „zu lesendes Buch“ definiert, scheint die Lesart, in dem mit dem Schreiben kämpfenden Jungschriftsteller ein Porträt des Autors zu sehen, nicht so ganz abwegig zu sein. Die Reiseroute, die der Mensch Kim Kyung-uk in den letzten mehr als zwanzig Jahren zurückgelegt hat, könnte sehr wohl eine Endloskette von Freuden und Qualen gewesen sein. Kim selbst äußerte, dass ihm der Prozess des Aufbaus seiner eigenen Welt „Abertausende von Morgen und Abenden“ abverlangte. Als Kim Kyung-uk 1993 in seinen frühen Zwanzigern debütierte, war er ein Novize, der „kein einziges Buch gelesen hatte“. Seine Waffe, die Frische des „ungeschliffenen Rohen“, war machbar, eben weil er kein einziges Buch gelesen hatte. Der Neuling goss das Leben, den kulturellen Geschmack und die zeitbedingten Gefühle seiner Generation in Worte. Er nahm die Schlüsselbegriffe der 1990er Jahre wie „Kinofilm“, „Jazz“, „Café“, „Depression“ und „Überdruss“ allesamt in seinen literarischen Besitz. Um eine eigene, originäre Welt zu schaffen, brauchte ein Schriftsteller zu dieser Zeit nur das eigene innere Ich aufzudecken. Bis kurz nach der Millenniumwende galt das auch als Charakteristikum für die meisten von Kims Werken. Um 2005 war aus Kim dann ein Autor geworden, der „alle Bücher gelesen hatte“ und auf dieser Basis schreiben wollte. Dieser Wan-
© Baik Da-huim
del ist an seinem Versuch zu erkennen, einen historischen Roman zu verfassen. In Tausendjähriges Königreich (2007) beschreibt er vor der Kulisse des Joseon-Reichs im 17. Jh die Sitten und Gebräuche der Zeit sowie Taten und Innenleben des Fremden Weltevree, eines schiffbrüchigen Niederländers, der nach den Gesetzen von Joseon dort leben muss. Ein Schriftsteller muss unzählige Quellen durchforsten, um die Vergangenheit zu rekonstruieren und seine Phantasie zu entfalten. Ein Raum, in dem der Vorstellungskraft Flügel wachsen können, kann erst dadurch entstehen, dass die von anderen aufgebaute Welt aufgenommen und völlig zu seiner eigenen verarbeitet wird. In der Erzählung Gefährliche Lektüre (2008), der Titelerzählung des gleichnamigen Erzählbandes, manifestiert sich die Gier des Autors, fürs Schreiben „alle Bücher gelesen“ haben zu wollen, besonders deutlich. Dem ungewöhnlichen Beruf „Bibliotherapeut“ des Protagonisten entsprechend, werden die Werke vieler Autoren erwähnt: Angefangen bei den Hauptwerken namhafter Autoren der Weltliteratur wie Friedrich Nietzsche, Albert Camus, Vladimir Nabokov, J. D. Salinger, Milan Kundera und Osamu Dazai bis hin zu Dashiell Hammetts Kriminalroman Der Malteser Falke , wird ein Festmenü von Büchern aufgetischt, die man kaum in einem Atemzug aufzählen kann.
Bei Gefährliche Lektüre rufen aber nicht nur die schillernden intellektuellen Liebschaften des Protagonisten Staunen hervor. Die Haltung des Protagonisten, der am Anfang mit seiner Belesenheit protzend auf das zu therapierende „Du“ herabschaut, zerbröckelt im Laufe der Erzählung mehr und mehr und nähert sich zum Schluss dem totalen Zusammenbruch. Der Therapeut, gerüstet mit intellektueller Überlegenheit, verliert - angezogen vom anderen Geschlecht - seine Autorität, und die Wirkung der anspruchsvollen Lektüre, die die Wunden heilen soll, verblasst erbärmlich vor dem einfachen und unverblümten Vergnügen, das TV-Soaps oder das Aufpeppen der persönlichen Internet-Webseite zu bieten vermögen. Die großartigen Listen mit Buchtiteln und Literaturtheorien verkümmern immer mehr, je weiter die Geschichte fortschreitet, und während die zynische Einsicht in die Bedeutung des Lesens vollendete Gestalt annimmt, vollzieht sich eine Wende in der Erzählung. Die metafiktionale Seite, die der Autor präsentiert, beschränkt sich nicht auf Gefährliche Lektüre und Königin in Ewigkeit , sondern erscheint auch in anderen Erzählungen des oben genannten Erzählbandes. In den Erzählungen Operation: McDonald verteidigen; Einsamkeit zum Verleihen; Die Regeln des Spiels; Die Frau, die Riesenrad fährt setzt der Autor alltägliche Gegenstände, Phänomene und Orte auf eine neue Weise zusammen, um die heutige Gesellschaft mit einsichtigem Blick zu durchdringen. Nicht nur das: Mittels gewöhnlicher Alltagsstoffe wie Baseball, Liebesbriefe, Quiz-Shows usw. präsentiert er Zynismus und schlagfertigen Witz. Im Nachwort des Erzählbandes verbindet Kim Kyung-uk seine Gier zu Schreiben mit seiner Gier, alle Bücher lesen zu wollen. „Seit einem gewissen Zeitpunkt erscheint mir alles als Buch.“ „Das Lesen ist gefährlich. Es macht uns auf uns selbst blicken.“ Kims Behauptung, Schreiben sei Lesen und das Lesen eines anderen Menschen bedeute sich selbst zu lesen, ist erst einmal ein Widerspruch. Aber er hat durch sein Werk bewiesen, dass es kein Widerspruch sein muss. Alle Geschichten im Erzählband Gefährliche Lektüre sind Geschichten über andere Personen, die der Autor geschaffen hat, gleichzeitig aber auch Geschichten über ihn selbst, die durch die Fiktionalisierung in Texte umgewandelt wurden. Der Autor, der alle Bücher lesen möchte, schlägt dem Leser ein Spiel vor, bei dem es darum geht, die Texte namens „die anderen“ und „die Welt“ zu lesen. „Jetzt bist du mit Lesen dran. Lies mich!“ Dieser Vorschlag hat seinen Reiz. Ich habe die entschieden besseren Karten, da ich als Leser, wie Roland Gérard Barthes es formulierte, die Spielregeln bestimmen kann und mich an diese Regeln haltend, nur die Freude des Lesens zu genießen brauche. Trotzdem sagt der Autor, dass das Lesen gefährlich ist, da es dich erbarmungslos auf dich selbst blicken macht. Da du aber durch die Lektüre Freiheit erlangst, wirst du, auch wenn du etwas verlierst, nicht viel verlieren. Du gewinnst die Freiheit, die der Freude entspringt, die anderen und die Welt zu beobachten und zu verstehen und dadurch etwas über dich selbst zu lernen!
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