Koreana Summer 2011 (German)

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SO MMER 2011

Koreanische Kultur und Kunst

Spezial SO M M ER 2011

Insel Jeju-do Jahrgang 6, Nr. 2

Jeju-do: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Besänftigung der GÜttin der Winde Auf den Spuren der Pferde von Jeju-do

ISSN 1975-0617

Jahrgang 6, Nr. 2

Aus Lava geboren: Faszination und Tragik der Insel Jeju-do


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Kim Byung-kook

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Andere Gebiete inkl. Korea

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Koreanische Kultur und Kunst SOMMER 2011 IMPRESSUM Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea

Windreiche Küste von Jeju-do brm1a-018h, 2002 © Bae Bien U Kalligraphie © Kang Byung-in

sea1a-051h, 1999 © Bae Bien U

Koreana begrüßt Sie im neuen Gewand! Die Sommerausgabe 2011 von Koreana weist einige Design-Neuerungen auf. Die Veränderungen wurden in dem Bemühen unternommen, die Zeitschrift für die mittlerweile gewachsene Leserschaft noch ansprechender zu gestalten. Das Redaktionsteam hat schon seit längerem eine Reihe von Verbesserungen ins Auge gefasst, die meiner Meinung nach jetzt umgesetzt werden sollten. Seit der ersten englischsprachigen Ausgabe im Jahre 1987 hat sich Koreana in der Weltgemeinschaft zu einer Flaggschiff-Publikation für Kultur und Kunst Koreas entwickelt. Als die Zeitschrift kurz vor den Olympischen Sommerspielen in Seoul 1988 gelauncht wurde, war es für die Korea Foundation und ihr Redaktionsteam eine Freude, der Welt die Fülle der kulturellen und künstlerischen Ressourcen Koreas auf Englisch vorstellen zu dürfen. Im Laufe der Jahre kamen dann sieben weitere Sprachen hinzu

(Deutsch 2006), so dass sich mittlerweile nicht nur der Leserkreis erweitert hat, sondern auch die Interessen der Leser an Vielfalt und Anspruch gewonnen haben. Parallel dazu haben sich auch die Bestrebungen all derer, die mit der Publikation zu tun haben, weiterentwickelt und an Reife gewonnen. Das neue Design ist ein erster Schritt, eine noch größere Bandbreite von Lesern in aller Welt anzusprechen und zufrieden zu stellen. Koreana wird den Prozess der Neugestaltung weiter fortsetzen, um die Zeitschrift in Hinblick auf Inhalte und optische Aufmachung noch attraktiver für das Publikum zu gestalten. Ihre geschätzten Kommentare und Vorschläge sind uns daher jederzeit willkommen. Wir bedanken uns für Ihr anhaltendes Interesse und die Lektüre von Koreana.

Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe


spEZIAL

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Jeju-do: Ein Überblick

04

Aus Lava geboren: Faszination und Tragik der Insel Jeju-do Entwicklung von Jeju-jo

Jeju-do: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Der Yeongdeung Schamanenritus: Besänftigung der Göttin der Winde

Kim Yoo-kyung

Feministisches Erbe

Die legendäre Stärke der Frauen von Jeju-do

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Heo Yeong-seon

Pferdezucht

Auf den Spuren der Pferde von Jeju-do

Kim Yoo-kyung

Gourmetfreuden

Kulinarische Spezialitäten von Jeju-do

Choi Sung-ja

Aus der Sicht eines Fremden

Umzug auf die Insel Jeju-do: ein persönlicher Erfahrungsbericht

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70

Choi Sung-ja

Schamanistische Rituale

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56 60 66

Heo Yeong-seon

Werner Sasse

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Fokus 1

Korea neu entdeckt! Koreanische Kunstschätze in deutschen Museen

Maya Stiller

Fokus 2

Poesie fließt in den Straßen:die Gwanghwamun-Schrifttafel

Koh Mi-seok

kunstkritik

Das Musical Tears of Heaven Aufschwung des koreanischen Musicals zu neuen Höhen

korea entdecken

Meine Reise in die Welt der koreanischen Literatur

Won Jong-won

66

Charles Montgomery

interview

Hwang Doojin und seine Regenbogenreiskuchen-Architektur

Robert J. Fouser

aur der weltbÜhne

Lee Ufan: Marking Infinity Retrospektive im Guggenheim Museum

Jung Hyung-mo

70 76

60

unterwegs

Bukchon: eine herrliche Reise ins Seoul von einst

Kim Yoo-kyung

Neuerscheinung Kim Hak-soon

Alte Porträts: Einblicke in Koreas Geschichte und Kultur

Great Korean Portraits von Cho Sun-mie

„In jedem Baum steckt eine Geschichte “ Kulturwissenschaftliche Baumgeschichten, verfasst von einem Naturwissenschaftler Die Welt der koreanischen Bäume (Band1, 2) von Park Sang-jin Die letzte Essaysammlung, hinterlassen von einer „virtuosen Erzählerin unserer Zeit“

80

Der nicht gegangene Weg ist schöner von Park Wan-suh

78 80 84

blick aus der ferne

Korea – Gestern und Heute

Claudia Dirauf

LIFESTYLE

Marineinfanterie-Begeisterung unter den jungen Koreanern

Kim Dang

Reisen in die Koreanische Literatur

Rezension Leise Harmonie: die Erzählästhetik von Yun Dae-nyeong Bitterorangen von Yun Dae-nyeong

Bok Do-hoon


© The Dong-A Ilbo

SPEZIAL

Koreana Jeju-do: ein Überblick

Aus Lava geboren: Faszination und Tragik

von Jeju-do

Sonnenaufgang vom Gipfel des Halla-san aus gesehen

Steigen Sie einmal auf den Gipfel eines Oreum und blicken Sie auf das weite Meer und den Berg Hallasan! Von dort oben ist die wahre Gestalt von Jeju-do, der Insel der graziösen Linien, zu erkennen: Die gewundenen Kämme, die den Halla-san und die Oreum verbinden, die runden Strohdächer der traditionellen Häuser und die sanften Küstenlinien, die tiefen Täler, die mäandrierenden Steinmauern um die Felder und die runden Grabhügel. Heo Yeong-seon Dicherin | Fotos: Sou Jea-chul

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Kor e a n i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Spiegelung des Halla-san in den Gewässern um Jeju-do

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ie schwarzen Bergkämme scheinen sich zu winden. Grüppchen von Oreum wachen auf, als wollten sie gleich alle irgendwohin stieben. In dieser Weise bricht ein Morgen auf Jeju-do an. Auf dem Yongnuni Oreum leben Wind und Licht zusammen. Er ist von weißen Sumpfherzblättern bedeckt, die im Wind taumeln. Die Felder sind bunt mit Wildblumen bestickt. Die Menschen hier nennen die Hügel der parasitären Vulkankegel, die sich aus den Ebenen erheben, „Oreum“. Die Insel Jeju-do kann mit ihrer weltweit höchsten Ansammlung von Vulkankegeln als „Reich der Oreum“ bezeichnet werden. Selbst wenn man ein Jahr lang jeden Tag einen anderen besteigen würde, blieben noch welche übrig.

Der Berg Halla-san und die Oreum Auf den Oreum befinden K o r e a n a ı S o mme r 2 01 1

sich hier und da traditionelle Grabstätten, die von den steinernen Mauern, den Sandam, eingefasst werden. Es sind Orte der Stille, die einem bewusst machen, dass das Ende eines Lebens zugleich der Beginn eines neuen Lebens ist. Am Grab stehen ein bemooster Steintisch für den Verstorbenen und steinerne Statuen, die Dongjaseok, die freundliche Begleiter der hier Ruhenden sind. Die Skulpturen, deren vergeistigte Gesichtszüge Freude und Trauer des menschlichen Lebens in sich tragen, wurden wohl von namenlosen Bewohnern der Insel gefertigt. Aus weiter Ferne erklingt die Stimme eines Pferdehirten, der die Tiere zusammentreibt. Auf der Weide grasen große Kühe. Die Oreum sind eine Art Küchengarten, in dem Farnkraut, Wild- und Heilkräuter wachsen, und Orte des Trostes für die Trostlosen. Früher waren sie

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© Jeju Special Self-Governing Province

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Baengnokdam, der Vulkansee im Krater des Halla-san, begrüßt den Frühling.

ein wichtiger Stützpunkt der Inselbewohner bei ihrer Widerstandsbewegung und eine letzte Ruhestätte für die, die am Ende der Reise durchs Leben angekommen waren. Der Wind auf den Oreum legt sich nicht so einfach zur Ruhe. Er ist süß-duftend, enthält aber zugleich eine salzige Note von Meer. Steigen Sie einmal auf den Gipfel eines Oreum und blicken Sie auf das weite Meer und den Berg Halla-san! Von dort oben ist die wahre Gestalt von Jeju-do, der Insel der graziösen Linien, zu erkennen: die gewundenen Kämme, die den Halla-san und die Oreum verbinden, die runden Strohdächer der traditionellen Häuser und die sanften Küstenlinien, die tiefen Täler, die mäandrierenden Steinmauern um die Felder und die runden Grabhügel. Die Königinnen unter den zahlreichen Vulkankegeln der Insel sind der

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Yongnuni Oreum und der Darangswi Oreum. Besteigt man sie in einer Vollmondnacht, scheint sich der helle Mond sanft im Krater niederzulassen. Die Oreum — wie milchreiche, schwere Brüste, wie eine auf dem Rücken oder dem Bauch liegende Frau! Der Krater selbst gleicht der Gebärmutter der Erde, die Schöpfung und Zerstörung in sich birgt. Jeju-do ist eine Insel des Lichts. Licht und Wind auf den Oreum erzeugen ein unvorstellbares Farbenspektrum. Der Fotograf Kim Younggap (1957-2005) wurde bei einem Besuch der Insel dermaßen von diesem Licht fasziniert, dass er sich hier niederließ. Eine lange Zeit lang pflegte er das Lichtspiel über dem Yongnuni Oreum und das Licht der Erde zu betrachten. Die Faszination, die der Oreum auf ihn ausübte, fing er mit der Linse ein. Die Fotos sind in der Kim Young-gap gallery

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© Jeju Special Self-Governing Province

Der Abu Oreum ist ein Beispiel für einen der über 360 Oreum (parasitäre Vulkankegel) auf Jeju-do, die der Halla-san hervorgebracht hat.

DUMOAK ausgestellt. Sie spiegeln den Geist eines Fotografen wider, der sein junges Leben dem Märtyrium des Fotografierens und der Natur von Jeju opferte. Der Pfad zum Sara Oreum mit dem Kratersee Sanjeong-hosu führt weiter zum Berg Halla-san. Der Weg zum Gipfel des Halla-san, der am Bergfuß am Oreum Seongpanak beginnt, glitzert im Purpur des Ahorns, im Grün breitblättriger Laubbäume und im leuchtenden Rot der Früchte von Glanzmispeln. Der Halla-san ist die Quelle des Lebens und der Vorstellungskraft der Inselbewohner. Aus der Vogelperspektive ähnelt er einem weichen Teppich. Der Halla-san — ein Berg, von dem aus man mit der Hand die Milchstraße berühren können soll. Legt man sich auf dem Gipfel hin und schaut in den Himmel, scheinen die Sterne auf einen herunter zu regnen. Es ist ein Berg

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zahlreicher Mythen, ein Berg wie eine Mutter. Seine einsame, aber starke Gestalt nimmt jeden tröstend in die Arme. Es ist ein Berg, der Taifunen und dem Ansturm fremder Eindringlinge standhält und alle, die Schutzes bedürfen, schützt. Was ist denn das? Auf dem Halla-san kann man mächtige Felsen sehen, die Bäume umarmen, und Bäume, deren Arme Felsen umschlingen. Orte mit dieser Symbiose aus Baum und Fels werden im Jeju-Dialekt „Gotjawal“ genannt. Es sind Urwälder, wo man die innerste Haut der Insel berühren kann. Nirgends sonst ist der Instinkt der Wildnis dermaßen stark ausgeprägt. Jeju-do ist eine Vulkaninsel, die vor rund zwei Millionen Jahren aus einer emporschießenden Feuersäule entstand. Die Spuren der Lavaströme, die manchmal rasch, manchmal langsamer flossen, sind überall auf

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Yeongsil auf dem Halla-san: Die faszinierenden Klippen und Felsformationen präsentieren sich im Herbstkleid.

der Insel zu sehen. Der Berg Dongbaekdong-san (Kamelienberg) in Seonheulgot trägt die Zeichen dieses Feuerwerks. Auch hier gibt es eine Gotjawal-Landschaft, die das Wasser wie ein Filter reinigt und eine wahre Schatztruhe der Natur ist. Hier entwickelten sich Leben und Geschichte der Inselbewohner. Hier haben sie Kohle hergestellt, Früchte gesammelt, Bäume gefällt und Häuser gebaut. Und hier fanden alle möglichen seltenen Pflanzen, Rehe und andere Lebewesen ein Zuhause. Ähnlich ist es mit dem Weg zum Geomun Oreum. Der Wald, durch den der Weg führt, flüstert: „Mensch! Du bist auch Teil der Natur, also folge den Wegen der Natur.“ Das bedeutet wohl, dass wir bescheiden sein sollten. Auf diesem Weg durch den Wald sollte man noch langsamer und mit gesenktem Haupt gehen.

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Die gesamte Insel - ein geologischer Park Jeju-do, ein Punkt im Meer. Das Meer rund um die Insel schreit aus voller Leibeskraft, was man bei anderen Meeren wie dem Mittelmeer nicht erleben kann. Wie kann das Meer von einem Dorf zum anderen so anders aussehen? Mal ist es himmelblau, dann wieder jadegrün, dann tiefblau, sogar tintenschwarz. An stark nebligen Tagen schweben die traurigen Klänge der Schamanenlieder über dem Meer. Die Lieder sind sogar noch dunkler als die schwarzen Felsen der Insel. Es sind Bittgesänge zum Trost der Seelen derer, die ihr Leben auf dem Meer lassen mussten, und für die sichere Rückkehr derer, die hinaus müssen. Im zweiten Monat nach Lunarkalender besucht Großmutter Yeongdeung-halmang, die Göttin der Winde, die Insel. Jeju-do ist ein Zuhause für rund achtzehntauKor e a n i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


© Jeju Special Self-Governing Province

Die Höhle Yongcheon-gul, eine der neun Höhlen des Lavaröhrensystems Geomun Oreum, ist eine weltweit anerkannte Höhle, die sowohl die Charakteristika einer Kalksteinhöhle als auch die einer Lavaröhre aufweist. (UNESCO Weltnaturerbe und Weltgeopark)

send Gottheiten. Jede Ecke der Insel, sei es der Halla-san, das Meer, die Höhlen oder die Dörfer, ist von Mythen durchdrungen. Jedes Dorf besitzt einen Bonhyangdang, einen Schrein, wo die Dorfbewohner durch ein kleines Gut-Ritual die Götter anbeten, was zeigt, dass die Insel ein Reich der Götter ist. Die Schönheit der Insel wurde von Wellen und Wind geschaffen. Sie haben die Flussmündung Soesokkak, die Küste vor der Stadt Seogwipo mit dem Felsen Oedolgae, die Küste Daepo-ri mit ihren wunderschönen Klippen und das Kliff Gaetkkak in Yerae-dong geformt, die jeden in Staunen versetzen. Es sind wunderbare Schöpfungen der vulkanischen Aktivitäten der Insel: An diesen Stellen kamen die Lavaströme zum Stillstand. Jeju-do ist eine Vulkaninsel, eine Insel des Feuers. Sie wurde vom Wind geschliffen und in stufenartige Fels-

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formationen geschnitten. Die Felsen und Kliffe sind Kunstwerke der Götter, die sie mit Wellen und Wind geschaffen haben. Beim Anblick der Felsen, die wie Steinsäulen aus dem Meer herausragen und sich senkrecht gen Himmel strecken, überkommt einen ein Schaudern. Es sind Basaltsäulen. Vor ewiger Zeit, als der Vulkan ausbrach, spuckte er glühend heiße Lava, die sich als feuriger Strom ins Meer ergoss, das diese heißen Tränen der Insel erstarren ließ. Die Kraft der Lava hat Weltnaturerben hervorgebracht wie den Berg Halla-san, die Lavaröhren des Geomun Oreum und den Sonnenaufgangsgipfel Seongsan Ilchulbong. Die gesamte Insel ist ein geologischer Park. Die Schutztürme vor dem Bösen (Bangsa-tap) und die Steinmauern entlang der Felder (Batdam) und um die Grabstätten (Sandam), die man überall auf der Insel

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Jusangjeollidae (Basaltsäulen) ist eine der erstaunlichen Küstenformationen, die die vulkanischen Aktivitäten der Insel hervorgebracht haben.

findet, sind aus Basalt. Der löchrige Basalt von Jeju-do enthält in jeder Pore Wind. Die Inselbewohner haben seit frühesten Zeiten dieses Gestein bearbeitet und daraus Gebrauchsgegenstände des Alltags hergestellt. Wer die verschiedenen natürlichen vulkanischen Formationen erleben möchte, die Tierskulpturen, die Steine mit menschlichen Gesichtszügen und die uralte Folklore der Insel, der sollte den Jeju Stone Park besuchen. Es ist ein Park der Mythen, der von Großmutter Seolmundae, der Riesin, die die Insel erschuf, erzählt, oder von ihrem Sohn General Obaek. Hier vergeht die Zeit langsamer als anderswo. Wer also nicht die nötige Zeit und Muße mitbringen kann, der sollte lieber von einem Besuch des Parks absehen.

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Sonnenaufgangsgipfel und Sonnenuntergangsgipfel Der Seongsan Ilchulbong bietet ein derart prächtiges Sonnenaufgangsspektakel, dass jeder vor Ehrfurcht ergriffen den Atem anhält. Der Berg schoss durch einen Vulkanausbruch quasi einfach aus dem Wasser heraus in die Höhe! Die Schönheit des Seongsan Ilchulbong ist aus der Ferne noch deutlicher zu erkennen, als wenn man ihn besteigt. Seine prachtvolle Majestät kommt aber erst aus der Vogelperspektive wahrhaft zur Geltung. Warum blicken dann traurige Augen auf die Küste am Fuße dieses herrlichen Berges? Wer das wahre Wesen von Jeju-do erkennen möchte, der muss auch die Wunden der Insel kennen. Erst dann kann er verstehen, warum die Insel an sonnigen Frühlingstagen im leuchtend gelben Rapskleid so überaus hinreißend ist und warum das Rot Kor e a n i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Seopjikoji am Berg Seong-san, eine Landspitze, die ins offene Meer hinausragt, bietet einen der beeindruckendsten Anblicke an der Küste von Jeju-do.

der Kamelien das Rot der Lava an Tiefe und Kraft übertrifft. Die Insel Jeju-do hat zahlreichen Stürmen der Geschichte widerstanden. Für eine Insel, die genau im Mittelpunkt Nordostasiens liegt, mag ein solches Schicksal wohl zu erwarten sein. In den Felsenklippen vor der Küste des Seongsan Ilchulbong befinden sich eine Reihe von Höhlen. Diese Jinji-Höhlen stammen aus der Zeit der japanischen Besatzung (1910-1945). Die Menschen, die diese Höhlen graben mussten, waren die hilflosen Inselbewohner, die von den Japanern zur Zwangsarbeit mobilisiert wurden. Vor 62 Jahren wurde die Insel noch einmal in den Malstrom der Geschichte gerissen: Sie wurde Schauplatz einer großen Tragödie in der modernen koreanischen Geschichte, die mit dem Massaker von Jeju-do am 3. April 1948 ausbrach und erst 1954 zu Ende ging. Das

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Massaker vom 3. April wurzelte in den scharfen ideologischen Kämpfen, die sich nach der Unabhängigkeit Koreas von den Japanern zwischen rechten und linken Kräften entwickelten und schließlich eskalierten. Die größten Verluste und die meisten Opfer waren zwischen April 1948 und Winter 1949 zu beklagen. Einmal suchten unzählige Flüchtlinge Zuflucht auf dem Halla-san. Es gibt auf der Insel so gut wie keine Naturschönheit, die nicht mit dem Blut dieser Tragödie, bei der drei Viertel der Dörfer auf Jeju-do zerstört und Zehntausende umkamen, getränkt wäre. Der Jeju April 3rd Peace Park wurde zum Gedenken an die Opfer errichtet. Auch über den Weg zum Berg Songak-san weht der traurige Wind der Geschichte. Auf den Feldern am Berg befinden sich zahlreiche Hangar aus der Zeit der japanischen Besatzung, die mit offenem Maul am

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© Jeju Special Self-Governing Province

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Der Sanbang-san, der sich hoch über einem breiten Plateau erhebt, ist ein Vulkan ohne Krater. (UNESCO Weltgeopark)

Boden kauern. Der Seodal Oreum ist ebenso voller Narben, die das Massaker vom 3. April hinterlassen hat. Wenn man einen Moment innehält, den Kopf zur Erde neigt und lauscht, erscheint aus der trockenen Vulkanaschenerde das Lied Ieodo Hara zu erklingen, das die Arbeiter, die ein hartes Leben zu ertragen hatten, bei ihrer Fron zu singen pflegten. Nun stehen wir endlich auf dem Gipfel des Berges Songak-san, des Berges der Winde. Von hier aus, wo nicht einmal die Grashalme Ruhe finden können, sind die Bruderinseln von Jeju-do zu sehen: Gapado und Mara-do. Wer Inseln von größerer Ursprünglichkeit erleben möchte, der sollte sich auf die kleineren Inseln, die zu Jeju-do gehören, begeben: Biyang-do, Mara-do, Gapa-do, Chuja-do und U-do. Die schmerzhafte Geschichte der Insel begann bereits, als Jeju-do zur

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Zeit der Drei Königreiche (57 v.Chr.-668 n.Chr.) noch ein unabhängiger Staat namens Tamna war, und setzte sich bis in die Joseon-Zeit fort. In alter Zeit war die Insel für ihre Bewohner nur ein Stück raue und unfruchtbare Erde. Es war eine einsame Insel, die von Zeit zu Zeit den Plünderungen japanischer Piraten zum Opfer fiel, die die Bewohner noch des wenigen, das sie besaßen, beraubten. Die Könige von Joseon nutzten die Insel sogar als Ort der Verbannung und des Exils. Die Höchststrafe für Gesetzesverstöße, die nicht mit dem Tod bestraft wurden, war Verbannung auf die Insel Jeju-do. Allerdings sublimierten gelehrte Exilanten ihre absolute Einsamkeit dank der wunderschönen Natur in Kunst. Der Gelehrte Kim Jeong-hui (1786-1856; großer Kalligraph, der für seinen Chusache-Stil bekannt ist), der Ende der Joseon-Zeit Opfer der Machtkämpfe am Königshof wurde und

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Der Seongsan Ilchubong. Die Luftaufnahme des Sonnenaufgangsgipfels zeigt, dass der flache Krater die ganze Insel einnimmt. In Wissenschaftskreisen gilt dieser Gipfel als ein Lehrbuch-Beispiel von Weltklasse für die Untersuchung von Unterwasser-Vulkanen. (UNESCO Weltnaturerbe und Weltgeopark)

neun Jahre auf Jeju-do im Exil lebte, ist ein gutes Beispiel dafür. Mit der Abenddämmerung wird es für die Oreum wieder Zeit, in der Dunkelheit zu versinken und sich in schwarze Bergkämme zu verwandeln. Nun verlassen wir den Berg Songak-san und begeben uns auf die Insel Chagwi-do. Das Glühen des Sonnenuntergangs ist hier besonders bezaubernd. Auf dem Gipfel Suwolbong in Gosan-ri, dem letzten Gipfel am westlichen Ende der Insel, zeigt sich die untergehende Sonne in einer Pracht, die den Betrachter sich fragen lässt, wie er sein Leben bisher gelebt hat, wie er es in Zukunft zu leben gedenkt und was er verloren hat. Ich rate daher allen, die es nach Heilung verlangt, die neue Inspiration für ihr Leben suchen, alles hinter sich zu lassen und auf diese Insel zu kommen. Hier ist vibrierende Energie zu spüren. Auf der

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Insel Jeju-do sieht man, egal in welche Richtung man blickt, den Horizont, den Berg Halla-san und die Oreum. Nur diejenigen, die einmal die vielen Wege der Insel wie die sich windenden Olle-Trails, die Spazierwege des Saryeoni-sup (Heiliger Wald), die Wasserwege und Steinwege erlebt haben, können verstehen: verstehen nämlich, welch großer Segen es für Korea ist, eine solche Insel zu haben. Ein Ort, der nicht von sich aus um Aufmerksamkeit wirbt, aber alle Schönheiten in sich vereinigt. Die Insel Jeju-do, eine Symphonie des Südens, ein Ort der Faszination und des Schmerzes, der den schlimmsten Regengüssen und Sturmwinden getrotzt hat. Ein verstecktes, aber glänzendes Juwel aus schwarzem Stein, dem Wertschätzung und Schutz gebührt.

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SPEZIAL Entwicklung von Jeju-jo

Jeju-do: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Jeju-do, die am südlichsten gelegene Insel Koreas, ist nur eine

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© Jeju Special Self-Governing Province

Flugstunde von der Hauptstadt Seoul entfernt. Diese Vulkaninsel weist noch eine in ihrer Ursprünglichkeit bewahrte natürliche

1. Jeju Artpark 2. Ausstellungshalle für Medienkunst im Untergeschoss von Tadao Andos Genius Loci 3. Tadao Andos Glass House ist so konzipiert, dass der Besucher auf einen Blick den Sonnenaufgangsgipfel, das Meer in der Umgebung und weitläufige Wiesen sehen kann.

Umgebung auf, aber auch Züge einer freien internationalen Stadt. Choi Sung-ja Journalistin | Fotos: Suh Heun-gang

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ie Insel Jeju-do empfängt ihre Gäste in jeder Jahreszeit in einem anderen Gewand und mit einem anderen Meeresduft. Der 1.950 Meter hohe Gipfel des Halla-san ist von überall zu sehen und der Wind schmeckt überall nach Meer. Die aus dem Vulkan strömende Lava schuf die Oreum, parasitäre Vulkankegel, die Felder und die Küstenlinien. Seltsam geformte Steine wecken die Vorstellungskraft des Betrachters. Die Inselbewohner haben diese Kunstwerke der Natur gesammelt und im rund 300 Hektar großen Jeju Stone Park ausgestellt. Wer die Mythen und Legenden über die Steine von Jeju-do kennen lernen möchte, der sollte diesen Park mit seinen seltenen Steinen und Volkskunsterzeugnissen aus Stein besuchen. Sie präsentieren eine andere Art von Reiz der heimischen Stein-basierten Kultur als die traditionellen Steinmauern, die überall auf der Insel zu finden sind. Jeju-do, die größte Insel Koreas, besitzt eine ovale Form, die sich 75 km in Ost-West- und 41 km in Nord-Süd-Richtung erstreckt. Die Insel liegt vor dem südlichsten Zipfel Koreas zwischen China und Japan. Sie weist vier deutlich unterschiedliche Jahreszeiten auf, aber abgesehen vom Gipfelbereich des Bergs Halla-san herrscht ein Schonklima vor und selbst im Winter fällt die Temperatur fast nie unter null Grad. Der Halla-san ist ein Paradies für Flora und Fauna, in dem Pflanzen subtropischer, gemäßigter und polarischer Klimazonen koexistieren und zahlreiche Insektenarten, v.a. Schmetterlinge, zu finden sind. Der Berg ist ein Zuhause von etwa 8.000 Tier- und Pflanzenarten, denn die Kuroshio-Meeresströmung und die warme Meeresströmung von Taiwan tragen die verschiedensten Samenarten zur Insel. Am Strand von Jeju-do wachsen daher sogar afrikanische Busch-Hakenlilien.

Wandern auf den Olle-Trails Derzeit ist das Wandern auf den Olle-gil ein heißer Trend. „Olle-gil“ kommt aus dem Dialekt von Jeju-do und bezeichnet ursprünglich einen Pfad, der ent-

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穢 Phoenix Island

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lang den als Windschutz dienenden Basaltmauern von der Hauptstraße zum Haustor führt. Vor jedem traditionellen strohgedeckten Haus erstreckte sich ein Olle-gil. Diese Pfade verbanden einst Nachbar und Nachbar im eigentlichen, wie im übertragenen Sinne, aber heute dienen sie mehr der Verbindung zwischen Dörfern und Städten und mäandrieren durch Reisfelder und Äcker zum Meer. Auf diesen Olle-gil kann der moderne Mensch von heute die Geschäftigkeit des komplizierten Alltags vergessen und in die Natur der Insel eintauchen. „Auf Jejudo ist es besonders schön, weil Luft und Wasser so rein sind,“ so der von einem strahlenden Lächeln begleitete Kommentar eines Olle-gil-Liebhabers. Die OlleTrails sind Wege, die die aus der Stadt Jeju stammende Journalistin Seo Myeong­ -suk nach dem Vorbild der spanischen Jakobswege (Camino de Santiago) schuf. Derzeit gibt es 18 Olle-Trails mit einer durchschnittlichen Länge von 15 km, was einer Wanderung von fünf bis sechs Stunden entspricht. Das Wegenetz verbindet Küstenpfade, Gassen und Pfade über Berge, Felder und Oreum und führt auch um eine kleine Insel. Im November dieses Jahres wird das Jeju Olle Walking Festival stattfinden.

Erholung und Öko-Tourismus Jeju-do ist aufgrund seiner wunderschönen Natur ein weltweit bekanntes Touristen- und Urlaubsziel. Die zwei wichtigsten Wirtschaftssektoren der Insel sind der Tourismus und umweltfreundliche Industriebranchen, die durch Wasser und Wind grünes Wachstum erzielen. 2010 haben rund 7,5 Millionen Touristen aus dem In- und Ausland Jeju-do besucht. Das entspricht dem Fünfzehnfachen der Einwohnherzahl der Insel, die rund 500.000 beträgt. Derzeit können Touristen aus rund 180 Ländern die Insel ohne Visum besuchen. Unter den ausländischen Gästen gibt es zwar auch Amerikaner und Europäer, aber die meisten kommen aus dem benachbarten China und Japan. Derzeit wimmelt es von chinesischen Touristen, die von Beijing oder Shanghai nur eineinhalb Stunden zu fliegen brauchen. Es gibt sogar Chinesen, die sich Ferienhäuser oder Grundstücke auf der Insel kaufen. Park Yung-soo, Leiter der Jeju Tourismusorganisation, erklärt zu den Vorlieben der Jeju-Besucher aus den verschiedenen Ländern: „Die meisten Inselbesucher aus den USA genießen die Natur und nehmen gern am Strand ein Sonnenbad, während Deutsche und Franzosen sich eher für die geologischen Besonderheiten einer Vulkaninsel interessieren und auf Erkundungsreisen oder Öko-Touren gehen. Koreanische, chinesische und japanische Touristen wiederum ziehen ohne Pause von einer Naturattraktion zur nächsten.“ Die kleine Insel besitzt vergleichsweise viele größere und kleinere Museen, die helfen, Geschichte und Kultur von Jeju-do besser zu verstehen. So gibt es das Museum für Volkskunde und Naturgeschichte (Jeju Folklore and Natural History Museum ), das Jeju Nationalmuseum und das Haenyeo Museum. Wenn man sich nach einem Besuch des Haenyeo Museums, das Geschichte und Kultur der Haenyeo, der Taucherinnen von Jeju-do, gewidmet ist, zum Strand begibt, kann man diese legendären Meerfrauen noch beim Tauchen und Sammeln von Meeresfrüchten beobachten. Kernexponat des Kriegsmuseums (War History Museum) ist ein zwei Kilometer langer Tunnel, den die Japaner während der Besatzungszeit gegraben haben. Zu nennen ist auch die Hendrick Hamel Gedenkhalle, die in einem Schiff eingerichtet wurde. Hendrick Hamel (1630-1692) war ein Seefahrer der niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC), der 1653 mit 36 Mann Besatzung Schiffbruch auf der Insel Jeju-do erlitt

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1. Mario Bottas Club House Agora hat die Form einer Glaspyramide. 2. Itami Juns Church of Sky soll die Vorstellung des Architekten von der Arche Noah verkörpern. 3. Itami Juns Podo Hotel , inspiriert von den Oreum und den traditionellen strohgedeckten Häusern der Insel, weist gekurvte Dachlinien auf.

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”Die meisten Inselbesucher aus den USA genießen gern am Strand ein Sonnenbad, wäh rend Deutsche und Franzosen eher auf Erkundungsreisen oder Öko-Touren gehen. Koreanische, chinesische und japanische Touristen wiederum ziehen ohne Pause von einer Naturattraktion zur nächsten.“

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und 1668 in seine Heimat zurückkehrte. Der von ihm verfasste Bericht war das erste Buch, das den Europäern Geografie, Sitten, Handelsverkehr usw. von Korea vorstellte.

Geomun Oreum: Geburtsstätte der Lavahöhlen

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1. Itami Juns Duson Art Museum 2. Das Innere von Itami Juns Water Museum 3. Woo Keun-min, der Gouverneur von Jeju-do, bei einer Wandertour mit Kathleen Stephens, der amerikanischen Botschafterin in Korea. 4. Die Pferde, die auf den Grashügeln von Jeju-do weiden, sind unwiderstehliche Foto-Motive für die Besucher der Insel.

Heutzutage bevorzugen viele Reisende Öko-Tourismus und Besichtigung von Naturerben. Ich hatte mich für die Erkundung des Geomun Oreum entschieden. Der Geomun Oreum ist ein parasitärer Vulkan, der bei einem Vulkanausbruch entstand und von so dichtem Wald bedeckt ist, dass er schwarz wirkt, daher der Name (geomun: schwarz). Hong Seong-pyo, der unter der Woche als Kurator des Kriegsmuseums arbeitet und sich am Wochenende als freiwilliger Touristenführer engagiert, erklärt: „Die Lava, die aus dem Krater des Geomun Oreum herausquoll, floss bis zu 14 km die Talschluchten hinab. Sie schuf die Höhlen Manjang-gul, Gimnyeong-gul und Yongcheon-gul. Der Geomun Oreum ist also die Geburtsstätte der Lavahöhlen von Jeju-do.“ Das Vulkangestein, das die Lava in den Tälern hinterlassen hat, enthält viel Wasser. Daher schlugen die Bäume hier nicht im Boden Wurzeln, sondern im Gestein. Die Höhle Manjang-gul, die als „von der Lava geschaffenes Kunstwerk“ bezeichnet wird, ist mit 7,6 km die weltweit längste Höhle. 2005 wurde eine weitere interessante Höhle entdeckt. Das Verschwinden eines Telefonleitungsmastes in der Erde führte zur Entdeckung der Höhle Yongcheon-gul. In dieser Höhle befindet sich ein etwa 800 m langer See mit Fischen, deren in der ewigen Dunkelheit funktionslos gewordene Augen sich in die Haut zurückbildeten. Außerdem fand man in der Höhle rund 1.400 Jahre alte Kohle und Töpferscherben, was ein Beweis für menschliche Besiedlung ist. Die Geologen aus verschiedenen Ländern, die die Höhle 2007 für die Eintragung in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO untersuchten, waren von ihr fasziniert.

Wasserindustrie Auf der Insel Jeju-do, die aus porösem Basaltgestein besteht, ist Wasser immer knapp. Die traditionellen Wasserkrüge Heobeok, die im Volkskundemuseum zu sehen sind, sind von schlichter Schönheit. Sie stehen aber auch für das harte Leben der Frauen von Jeju-do, die tagtäglich die Krüge, die sie an der Wasserquelle mit Trinkwasser füllten, nach Hause schleppen mussten. Das Trinkwasser im Untergrund, wegen dem sich die Frauen einst so sehr zu plagen hatten, ist heute eine wichtige Ressource für die aufstrebende Wasserindustrie der Insel. In Korea ist die Grundwassermarke Samdasu aus Jeju-do genau so beliebt wie in der Welt die Marke Evian. Woo Keun-min, der Gouverneur von Jeju-do, bietet seinen Gästen statt Kaffee oder Tee Samdasu an. „Das Samdasu wird aus 420 m Tiefe gepumpt. Bis das Regenwasser, das auf den Berg Halla-san fällt, durch die unzähligen Basaltschichten gesickert ist und diese Tiefe erreicht, dauert es mehr als 18 Jahre.“ Die Samdasu -Produktionsanlage in der Stadt Jeju hat eine Kapazität von rund 2.100 Tonnen pro Tag. Das Wasser hat die Qualitätskontrollen der USZulassungsbehörde für Lebensmittel und Medikamente FDA und des japanischen Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales bestanden. Es wird in die USA sowie nach China, Japan und Indonesien exportiert. Das erfrischend 4

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schmeckende Wasser ist leicht alkalisch und enthält natürliche Mineralien. Gouverneur Woo betont, dass er Samdasu zu einer internationalen Marke fördern wolle: „Das Grundwasser von Jeju-do ist von Weltspitzenqualität. Wir planen, ein Wasserindustrie-Cluster zu schaffen, das zum Beispiel Hydrotherapie-Zentren, Herstellung von speziellen alkoholischen Getränken, Gesundheitsgetränken und Kosmetikartikeln umfasst, und relevante Unternehmen anzulocken. Nächstes Jahr wollen wir „Jeju-Bier“, eine neue Premium-Biersorte aus Jeju-Gerste und Samdasu auf den Markt bringen.”

Freie internationale Stadt Jeju-do befindet sich in einem lautlosen Wandel. Entlang der 258 km langen Küste entstehen ständig neue Kunstwerke wie aufblühende Knopsen. Es sind Bauten weltweit bekannter Architekten, die sich in die Natur der Insel einfügen. Zum Beispiel gibt es in dem Resort Phoenix Island bei Seogwipo das Club House Agora, entworfen von Mario Botta, dem Großmeister der geometrischen Architektur, sowie die Bauwerke Genius Loci und Glass House von Tadao Ando, der auf minimalistische, zurückhaltende Ästhetik setzt. Auch das Steinmuseum, das Windmuseum, die Kirche Ark Community Church und das Podo Hotel des Architekten Itami Jun in Andeok-myeon sind weitere architektonische Meisterwerke. Itami Jun ist auch für den Bau der North London Collegiate School Jeju in der Jeju Global Education City, zuständig, die im September eröffnet wird. Die Einrichtung dieser Sonderzone für auf Englisch vermittelte Bildung ist neben dem Ausbau der medizinischen Gesundheitspflege ein wichtiges Projekt, das die Regierung der autonomen Provinz Jeju-do mit voller Kraft vorantreibt. Im Rahmen dieses Projekts sollen bis 2015 in Daejeong-eup, Seogwiposi zwölf internationale Schulen sowie Sprachzentren für Englisch mit angegliederten Wohnheimen fertiggestellt werden. Man hofft, an die 23.000 Menschen anzulocken. In die Zone werden drei ausländische Bildungseinrichtungen einziehen, darunter die North London Collegiate School Jeju (Großbritannien) und die Branksome Hall Asia (Kanada). Jeju-do bemüht sich zudem um die Förderung der MICE-Industrie (MICE: Meeting, Incentive, Convention und Exhibition), um sich unter die weltweit 25 Top-Konferenzorte einzureihen. „Auf Jeju-do wurden bereits über zehn international hochrangige Treffen wie der ASEAN-Gipfel 2009 und das trilaterale Gipfeltreffen von Korea, China und Japan im Jahr 2010 veranstaltet. 2010 wurden außerdem 147 internationale Konferenzen abgehalten“, so Gouverneur Woo Keun-min. 2012 wird der Welt-Naturschutzkongress (World Conservation Congress, WCC) auf der Insel stattfinden, auf dem rund 10.000 Teilnehmer, darunter Umweltschutzexperten und führende Politiker aus aller Welt, über Fragen der globalen Umwelt diskutieren werden. Gouverneur Woo fügt noch hinzu: „Der Grand Canyon bietet ausschließlich eine prächtige und überwältigende Landschaft, und die Schönheit des Kilimandscharo in Tansania entdeckt sich nur den wenigen, die den Berg zu erklimmen vermögen. Aber auf Jeju-do kann jeder inmitten der wunderschönen Natur die Kultur und Menschen von Jeju-do erleben und inmitten des Alltagslebens der Inselbewohner die Schönheit der Natur empfinden.“ Der Slogan der Provinzregierung lautet „Die Welt kommt nach Jeju-do und Jeju-do geht in die Welt“. Jeju-do ist offen für die Welt. Und das macht die Insel so attraktiv.

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Die Sage von Xu Fu und „Gehirn-Kunstmeditation“ Auf der Insel Jeju-do gibt es eine Sage über den chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi (259-210 v. Chr.). Danach hatte dieser dem Hofmagier Xu Fu befohlen, das Kraut der Unsterblichkeit zu suchen. Xu Fu begab sich also auf den Berg Yeongju (Halla-san), der als einer der drei heiligen Berge galt. Im Buch Shiji wird berichtet, dass Xu Fu, der 2

auf Geheiß des Kaisers von einem Gefolge aus Tausenden von Jünglingen und Jungfrauen begleitet wurde, auf dem Berg Yeongju tatsächlich das Kraut der Unsterblichkeit fand. Außerdem soll er von der

1. Der Jeju Stone Park erzählt von der Geschichte der Entstehung der Insel und von ihrer Steinkultur. 2. Der Wasserfall Jeongbang, wo die Legende von Xu Fu ihren Ursprung hat. 3. Steinerne Großväter (Dol Harubang), einzigartige Kennzeichen der Volkskultur der Insel, ziehen die Aufmerksamkeit der Besucher des Jeju Stone Park an.

Schönheit des Jeongbang-Wasserfalls so fasziniert gewesen sein, dass er in einen Felsen die Schriftzeichen „Seobulgwaji” (Hier ging Xu Fu vorbei) einritzte und dann weiter nach Westen zog. Es heißt, dass die Stadt Seogwipo daher ihren Namen hat. Die Xu Fu Ausstellungshalle, die 2003 auf einem Felsen westlich des Wasserfalls eingerichtet wurde, basiert auf dieser Sage. Am Eingang steht ein Steinmonument vom Berg Tai Shan in China, auf das die von Wen Jiabao, dem Premier des Staatsrates der Volksrepublik China, handgeschriebenen Schriftzeichen „Xu Fu Park (徐福公園)” eingraviert sind. Die Sage von der Unsterblichkeit lebt bis heute auf Jeju-do weiter, und zwar in Form der sog. „Gehirn-Kunstmeditation“. Am Meditationsprogramm, das der Gründer des Korea Institute of Brain Science (KIBS ) Lee Seung-heon im Park der Gesundheit und Langlebigkeit des Geschichts- und Kulturparks von Jeju-do schon seit zehn Jahren durchführt, nehmen jährlich rund 3.000 Interessierte aus den USA, Kanada, Japan, Deutschland, Russland, Hongkong usw. teil. Die Gehirn-Kunstmeditation nutzt traditionelle koreanische Meditations- und Trainingsmethoden wie Gi(氣)-Gymnastik und hypogastrische Atemübungen sowie Mentalmeditation. Ziel dieses Programms ist, sich selbst zu finden und eine innere, geistige Heilung zu erreichen. Lee Seung-heon ist überzeugt, dass die Sage von Xu Fu auf wahren Begebenheiten beruht und das Kraut der Unsterblichkeit, das Xu Fu auf Jeju-do gefunden haben soll, in ursächlichem Zusammenhang mit den „drei Unvorhandenheiten“ steht, für die die Insel berühmt ist: keine Diebe, keine Haustore und keine Bettler. Woo Keun-min, der Gouverneur von Jeju-do, glaubt, dass das Kraut der Unsterblichkeit die auf der Insel wachsende Strauchart Dendropa-

nax (Dendropanax morbifera ) sei, die einen Wirkstoff enthalten soll, der dem Alterungsprozess vorbeugt. Es wurde beschlossen in der zweiten Hälfte 2011 mit Aufzeichnungsgeräten wie 3D-Kameras den 23 Meter hohen und rund 10 Meter breiten Felsen am Wasserfall zu untersuchen, wo Xu Fu seine Inschrift hinterlassen haben soll.

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SPEZIAL Schamanistische Rituale

1. Der Schamane Kim Yun-su tanzt mit rituellen Schwertern in beiden Händen. 2. Haenyeo verbrennen Opfergaben aus Papier, um den Drachenkönig zu besänftigen, und beten für die Sicherheit der seefahrenden Dorfbewohner.

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Der Yeongdeung Schamanenritus: Besänftigung der Göttin der Winde

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Die Göttin der Winde ritt auf dem Westwind herbei und kehrte auf der Insel Jeju-do ein. Die Inselbewohner, deren Lebensunterhalt vom Meer abhängt, versammelten sich zum Gebet: „Bitte säe reiche Samen in die Felder des Meeres.“ Kim Yoo-kyung freiberufliche Journalistin | Fotos: Ahn Hong-beom

Im zweiten Monat nach Lunarkalender, der meist zwischen Ende Februar und Mitte März fällt, wird die Insel Jeju-do von starken Winden und plötzlichen Kälteeinbrüchen gebeutelt. Die Inselbewohner bezeichnen daher diesen Monat nach Yeongdeung-halmang (Großmutter Yeongdeung), der Göttin der Winde, als „Yeongdeung-Monat“. Während dieser Zeit ruhen traditionell alle normalen Aktivitäten: Die Fischer fahren nicht zum Fang aufs Meer hinaus, die Haenyeo tauchen nicht nach Meeresfrüchten, niemand zieht um, renoviert sein Haus oder verreist, ja, es wird nicht einmal neu tapeziert.

Immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO An den Hängen des Gipfels Sarabong im Osten der Stadt Jeju steht der Schrein Chilmeoridang, einer der zahlreichen Schreine zur Verehrung der vielen schamanistischen Gottheiten von Jeju-do. Der Schrein diente der Aufbewahrung von sechs „Geister-Steinen“ (Sinjudol), auf denen jeweils die Namen von sechs Gottheiten wie z.B. des Yeongdeung-daewang, des Schutzgottes der Ortschaft Geonip-dong, geschrieben standen. Er stand eigentlich am Kai dieses Dorfes, wurde allerdings im Zuge des Baus neuer Straßen an seinen heutigen Standort verlegt. Dabei gingen alle zum Schrein gehörenden Objekte verloren, außer drei Geister-Steinen mit den Namen der zu verehrenden Gottheiten, die heute Seite an Seite im Sarabong-Park zu sehen sind. Da für die Inselbewohner, deren Lebensgrundlage das Meer ist, der Wind über Leben und Ernteerträge entscheidet, finden in den Küstendörfern oft Gut, schamanistische Rituale, statt, bei denen um Sicherheit und reiche Erträge gebetet wird. Das repräsentativste dieser Rituale ist der Yeongdeung-gut im Chilmeoridang-Schrein, der 1980 von der koreanischen Regierung als Wichtiges Immaterielles Kulturgut gelistet und 2009 in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Das Ritual besteht aus einem Willkommensritual, einem Abschiedsdsritual und einem Gut auf der Insel

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U-do, der „Kuh-Insel“, auf der Großmutter Yeongdeung noch einen Tag verweilen soll, bevor sie sich wieder auf den Heimweg macht. Das Willkommensritual, das am ersten Tag des zweiten Monats nach Lunarkalender zelebriert wird, also am Einkehrtag der Windgöttin Yeongdeung-halmang, ist eher bescheiden und findet meist im Gebäude des Fischmarkts der Fischerei-Genossenschaft statt. Der Yeongdeung-gut am Chilmeoridang-Schrein, der zur Verabschiedung am 14. Tag desselben Monats abgehalten wird, ist der feierliche Höhepunkt der drei Riten. Viele Menschen nehmen daran teil wie die Haenyeo, die Taucherinnen von Jeju-do, Schiffsbesitzer und die Bewohner der Gegend. Der letzte Akt des Gut, der auf der Kuh-Insel stattfindet, wird oft von den dortigen Einheimischen durchgeführt, weil die Fahrt mit dem Schiff zur Insel zu der Zeit problematisch sein kann.

Gut: Koexistenz von Sakralem und Säkularem Um neun Uhr am Morgen des 18. März 2011 begann auf einem von Schwarzkiefern umstandenen Platz im Freien am Schrein Chilmeoridang das Abschiesdsritual. Im Winde flatterten die über dem Hof gespannten bunten Bänder, die Fahne des Schreins und der Schmuck des Woldeokgi (ein etwa zehn Meter hoher Bambusstamm, geschmückt mit Kamelienbaum- und Bambusblättern, der bei wichtigen schamanistischen Ritualen zum Empfang der Geister aufgestellt wird), Fahnen, die die Himmelsrichtung anweisen, der bunte Papierschmuck des Altars usw. Das Ritual begann mit dem gleichzeitigen Erklingen von Gongs, der Sanduhrtrommel Janggu und des Jejudo Seolsoe, des traditionellen Handgongs der Insel, der auf ein Sieb gestellt und mit zwei Stöckchen gespielt wird. Der Schamane und Yeongdeunggut-Meister Kim Yun-su, gekleidet in ein rotes traditionelles Gewand und einen schwarzen, traditionellen Pferdehaarhut mit Pfauenfederschmuck, begann das Ritual

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mit einem Tanz im Rhythmus der Schmanenmusik und einleitenden Schamanenliedern. Das Ritual wurde von Kim und 22 Mitgliedern des Verbandes zur Wahrung des Yeongdeung-gut, darunter auch Lee Yong-ok, geleitet und musikalisch begleitet. Einige von ihnen waren Erbschamanen, die die schamanistische Profession in Familientradition weiterführen. Vor dem faltbaren Wandschirm, der hinter den Steinen mit den Namen der Götter aufgestellt war, befanden sich rund 30 große und kleine Altartische, die von den Haenyo, den Schiffsbesitzern und Dorfbewohnern reich mit Opferspeisen gedeckt worden waren. Die Altartische sahen wie übliche Opfertische aus, enthielten aber 2 einige Gaben, die für den Yeongdeung-gut typisch und unerlässlich sind: den runden und flachen Reiskuchen Dolbae-tteok, gekochte Eier, in weißes Papier eingeschlagenen Reis als Gabe für den Drachenkönig, den Herrscher der Unterwasserwelt, und Meeresfrüchte aus den Gewässern der Insel wie Seeohren, Turbanschnecken und ganze Kraken. Die wichtigsten Teilnehmer wie die Haenyo in weißer, traditioneller Tracht und die Familien der Schiffsbesitzer brachten den Geistern jeweils ein Glas Reiswein dar und ehrten sie mit einem Kotau. Jemand flüsterte: „Schaut mal, das Kerzenlicht geht trotz des Windes nicht aus.“ Ein hoher Stapel weißer Papiere enthielt die Namensliste der „Stammkunden“, für die der Schamane um Wohlergehen bitten sollte, darunter Firmennamen wie z.B. von einer Zementmischer-Firma und die Namen von Mitgliedern einzelner Familien. Über den Hof gespannte Schnüre mit Zetteln, die die Namen verschiedener Götter trugen, symbolisierte deren Anwesenheit bei der Zeremonie. Daneben hingen Zettel mit den Namen derjeniger, die das Ritual durch Spenden unterstützt hatten, darunter die koreanische Kulturerbeverwaltung, der Gouverneur von Jeju-do und Regierungsbeamte und die Fischerei-Genossenschaft. Vertreten waren aber auch Schiffsnamen wie Goryeo-ho und Namhae-ho, Haenyo, Meeresfrüchtefirmen, Dorfbewohner, Unternehmer, Kneipen- und Bar-

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besitzer, Tanzgruppen, Verlage, traditionelle Musikgruppen, Theatergruppen u.a. An jedem Namenszettel waren ein paar Zehntausend-Won-Scheine befestigt. Das Ritual war eine wunderbare Mischung aus Sakralem und Säkularem, bei dem himmlische Götter und irdisches Geld, Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit ineinander flossen. Unter den Zuschauern gab es auch einige Japaner, die Sitzkissen aus Stoff mitgebracht hatten und das Ritual lange mit großem Ernst verfolgten. Einer von ihnen sagte mit dem Gedanken an das große Erdbeben vom 11. März: „Ich bitte darum, dass Japan nicht untergeht.“

Ablauf und Bedeutung des Gut „Ein Gut beginnt, indem man die Truhe mit den Wipae, den Namenstafeln der Götter, öffnet. Die Tür muss schließlich offen sein, damit sie kommen und gehen können. Es gibt einen Tanz zum Öffnen der Truhe sowie einen zum Nachschauen, ob die Tür richtig offen ist. Die Geister werden gebeten, am Gut teilzunehmen, und es wird genau geprüft, ob nicht vielleicht ein Geist fehlt. Dann helfe ich dabei, die Geister an ihre Plätze zu führen. Ich berichte über Geschichte und Verlauf des Rituals und begrüße den Ehrengast, die Göttin der Winde Yeongdeunghalmang, die ich mit Opfergaben sowie Tanz und Gesang aus ganzem Herzen und mit bestem Können bewirte. Ich bitte sie, die Sicherheit aller zu garantieren, einen reichlichen Fang zu gewähren und alles Unglück mit sich zu nehmen.“ So erklärte es der Schamane Kim Yunsu, Träger des Titels „Immaterielles Kulturgut Yeongdeung-gut“. „Es ist eine Zeremonie, die man mit einem der heutzutage üblichen diplomatischen Empfänge zur Ehrung hoher Staatsgäste vergleichen kann. Es gibt auch Verhandlungsrunden, in denen Geben und Nehmen vereinbart wird.“ Beim Tanz, einem Kernelement des Gut, sprang der Schamane mit verschiedenen Gegenständen in den Händen herum wie dem „Schwert der Geister“, einem mit weißen Papierstreifen verzierten Stahlstock, einem Bambusstab, einem Räuchergefäß und einem

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1. Ein Dokkaebi-Alter tanzt mit einer Fackel in der Hand, um Unglück abzuwehren. 2. Ritualbanner flattern im Wind. 3. Eine Szene aus dem „Spiel der Alten“, dem Schluss des Yeongdeung-Ritus.

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Weinbecher. Als das Tempo atemberaubend schnell wurde, gewann auch die Fußarbeit des Schamanen entsprechend an Geschwindigkeit. Kim Jeong-ja, eine Zuschauerin, die solch einen Gut-Tanz anscheinend schon öfters gesehen hatte, erklärte: „Die Bewegungen des Kim-Simbang (Simbang: Bezeichnungn für einen Schamanen auf Jeju-Dialekt) sind nicht großartig, aber seine Füße bewegen sich so schnell, dass er federleicht wirkt. Auch hat er eine wunderschöne Stimme.“ Kim Yun-su ist in der Tat ein besonderer Schamane, der beim landesweiten Folklorewettbewerb im Jahre 1990 mit dem traditionellen Gesang Seoujet-sori von Jeju-do mit dem Preis des Staatspräsidenten geehrt wurde. Er hatte mit 250 Künstlern eine umfangreiche Gesangs- und Tanzdarbietung präsentiert. Auf der Insel Jeju-do gibt es 76 Arten von Gut und Kim Yun-su beherrscht

schaft und Aggressivität geladen. Auf die Frage, wie er den Hauptgott des Schreins empfange, antwortete Kim Yun-su: „Ich werfe die Flasche mit Alkohol den 3.000 Soldaten zu, die Dowonsu folgen, und rufe ihnen zu, dass sie sich damit zufrieden geben mögen und mich durchlassen sollen. Das ist der Moment, in dem die Gottheit auf den Platz herabsteigt und ich mich voll und ganz konzentrieren muss. Ich frage ihn ,Gibst du uns in diesem Jahr eine reiche Ernte?‘ und er antwortet ,In diesem Jahr wird euch das Meer mehr Früchte als im letzten geben‘. Er fügt hinzu, dass das Wetter warm sei und er sich daher leicht gekleidet habe. Es heißt, dass das Wetter immer warm ist, wenn die Göttin des Windes ihre Tochter mitbringt.“ Kim erzählt weiter: „In einem anderen Teil des Ritus wird symbolisch Fischsamen ins Meer gestreut, damit die Fische sich reich vermehren „Die Göttin der Winde bewirte ich mit Opfergaben sowie Tanz und Gesang und der Weg, der zum Drachenkönig, dem Herrscher der Unterwasserwelt, aus ganzem Herzen und mit bestem Können. Es ist eine Zeremonie, die führt, sorgfältig gepflegt wird. Daraufhin wird der Hauptgott des Schreins man mit einem der heutzutage üblichen diplomatischen Empfänge zur gebeten, die Insel auf diesem Wege zu verlassen. Das Lied Seoujet-sori Ehrung hoher Staatsgäste vergleichen kann. Es gibt auch Verhandlungswird zweimal gesungen. Es ist ein runden, in denen Geben und Nehmen vereinbart wird.“ Lied, das die Menschen der Insel singen, wenn sie arbeiten, wenn sie sich sie alle in Tanz, Gesang und Ritus. Er führt auch den Naerim-gut aus, vergnügen, aber auch, wenn sie erschöpft sind. Der Ritus endet mit das Initiationsritual für neue Schamanen, das bis zu 14 Tagen dauern dem Spiel der Alten, einem Spiel mit säkularem Charakter, das alles Unglück mit sich nehmen soll.“ kann. Die Schamanenlieder von Jeju-do, die 30 bis 40 Minuten lang sind, Zum Empfangsritual für Dowonsu (kommandierender General), den beginnen mit der Entstehung des Universums und erzählen dann die Hauptgott des Schreins Chilmeoridang, gehört eine Jagdszene mit Geschichte Koreas von den Anfängen bis zur modernen Geschichte der einer Bogenschieß-Pantomime zur Ehrung der Tapferkeit dieser GottInsel. Die Lieder stellen mythologische Figuren wie die Könige Daebyeol heit. Als der Schamane, der einen imaginären Bogen und Köcher mit und Sobyeol und legendäre Personen wie den General Kim Tong-jeong Tüchern an Armen und Rücken festgebunden hatte, mit einer Flasche vor und erzählen von wichtigen Ereignissen der modernen Geschichte Alkohol in der Hand tanzte, war die Atmosphäre spürbar mit Leiden-

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1. Mit verschiedenen Opfergaben gefüllte Strohboote werden aufs Meer gesetzt, um Unglück wegzutragen. 2. Bambusblätter werden in Alkohol getaucht, der zur Reinigung auf den Weg gesprenkelt wird, auf dem die Gottheiten zum Ritualplatz kommen. 3. Um den kommandierenden General zu begrüßen, befestigt der Schamane für die Bogenschieß-Pantomime einen imaginären Köcher mit Bändern am Körper. Er schleudert eine Flasche Alkohol als Gabe für die Gefolgssoldaten der Gottheit von sich, damit sie ihn durchlassen.

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wie dem Koreakrieg oder dem Untergang des Passagierschiffs Namnyeong-ho im Jahr 1970, was sie zu einer Art der epischen, erzählenden Literatur macht. Sie werden im Jeju-Dialekt gesungen und sind daher schwer zu verstehen, aber die innige Bitte, alle auf und im Meer arbeitenden Menschen zu beschützen, ist jedem verständlich: „Bitte halte deine Hand über uns, deine Nachfahren!“ Das Ritual besteht nicht nur aus mystischer Ernsthaftigkeit, sondern auch aus Humor. Als die Taucherinnen und die Schiffsbesitzer das Papier mit den Bitten verbrannten, rief der Schamane laut: „Passt nur auf, dass ihr nicht auch noch eure Haare verbrennt!” Es ist eine Besonderheit des koreanischen Schamanismus, dass während der Rituale nicht nur die Kommunikation mit den Geistern aufgenommen wird, sondern auch die direkte Verbindung zur realen Welt erhalten bleibt. Lee Yong-ok fügte noch hinzu: „Wir wissen, dass uns die Götter von vorne und von der Seite zuschauen. Und wenn wir beim Kotau volle Konzentration und Höflichkeit aufbringen, spüren wir das Gewicht der Götter auf unseren Schultern wiegen. Während des Rituals werden alte Münzen und Becher auf den Boden geworfen und aus ihrer Konfiguration auf der Erde wird gelesen, welches Glück uns bei der Arbeit auf dem Meer erwartet.“ Die Teilnehmer des Gut waren gespannt auf das Ergebnis der Divination: Welche Fischart würde einen guten Fang versprechen? Würde man zur Vorsicht gemahnt? Es war ein Moment, in dem versucht wurde, die Kräfte der Natur, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen, durch die Kraft von Literatur, Kunst und Religion zu ehren und zu versuchen, sie zu beeinflussen. Allerdings werden immer weniger Gut-Rituale abgehalten: „Früher stammten alle Schiffsbesitzer aus Jeju-do und es gab auch mehr Haenyeo, so dass es auch entsprechend mehr Altartische gab. Aber jetzt gibt es weniger Haenyeo und die meisten Schiffsbesitzer kommen vom Festland. Zum Glück wurde der Gut zum immateriellen Kulturgut bestimmt und die Leute scheinen dieses traditionelle Ritual gut anzunehmen. Wir werden unser Bestes tun, um diese Tradition weiterhin zu bewahren.“

Das Unglück wegschicken Während des Gut wurden auch Gaben in Form von Geld eingesammelt.

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Dafür wurde von den Teilnehmern eine Art nominelle Eintrittsgebühr verlangt, die in einem Korb gesammelt wurde. Spannend war dabei, von wem der Schamane mit welchen Worten Geld verlangte und wie die Person darauf reagierte. „Ach, du bist ja noch Schüler. 1.000 Won reichen. Aber der Herr mit der Kamera, wenn Sie keine Gaben geben, kommen alle Ihre Fotos schwarz 2 raus.“ Bei Besuchern aus dem Ausland reichte schon ein „Hallo! Ok?“ des Schamanen, um sie zu Spenden zu bewegen. Darauf folgte der Ritus zur Vertreibung von Unglück, eine Art traditionelles Freilufttheater (Madanggeuk). In diesem Spiel erschienen die sieben Söhne eines hochrangigen, in Seoul lebenden Beamten als alte Dokkaebi (ein gehörnter, menschenähnlicher Kobold aus der koreanischen Märchen- und Mythenwelt). Der jüngste von ihnen ist ein Schurke, der auf dem Halla-san lebt und die Menschen mit Krankheit und Unwetter quält. Er wird von seinen älteren Brüdern abgeholt und muss die Insel für immer verlassen. „Dabei werden kleine Schiffe aus Stroh mit verschiedenen Opfergaben beladen, die mit den Alten, also den sieben Dokkaebi, aufs Meer hinaus geschickt werden. Ihre Lieblingsspeisen, Schweinefleisch und Alkohol, dürfen keinesfalls fehlen.“ Diesmal wurden zwei Schweineköpfe auf den Altartisch gestellt und mit dem gekochten Fleisch wurden Nudeln in Fleischbrühe zubereitet, die an die Zuschauer verteilt wurden. Die Alten, die die Insel verlassen sollten, trugen weiße Masken, abgerissene Bambushüte und schwarze, traditionelle Gewänder. Sie sprangen aus allen Richtungen auf den Vorführplatz, wobei sie Fackeln und Tabakspfeifen in den Händen hielten, und führten zum Gesang Seoujet-sori einen lebenslustigen Tanz auf. Dann wurden die Opfergaben auf die Strohschiffe geladen: Weißer Reis, Roter Schnapper, Reiskuchen, Seetang, Energiegetränke, Bonbons und die Schweineköpfe, die beim Ritual verwendet werden. Um 18.00 Uhr fuhren die Teilnehmer des Gut mit drei Schiffen vom West-Hafen auf das Meer. An einer bestimmten Stelle, die etwas von der Küste entfernt lag, wurden die Strohschiffe auf das offene Meer gesetzt. Die mit bunten Bändern geschmückten Schiffe kippten nicht um und wurden von den Wellen weggetragen. Auf diese Weise wurde die Insel von den gierigen Dokkaebi und allem Unglück befreit.

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SPEZIAL Feministisches Erbe

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inter den leuchtend gelben Wogen der Rapsblüten erstreckt sich das tiefblaue Meer. Alte und junge Haenyeo (wörtl.: Meerfrauen), die als einzige Schwimmhilfe Kürbisse bei sich tragen, tauchen frei in die Tiefen und erscheinen dann wieder. Es sind Heldinnen, die das Meer tief in ihren Herzen tragen. Ihr Leben und auch ihr Tod finden sich in diesem Meer. „Wenn wir in tiefen Gewässern die Tiefe abschätzen und ein oder zwei Körperlängen hinuntertauchen, ist es, als ob man die Grenze zwischen Leben und Tod hin und her überquert.“ Sind diese Frauen nicht die lebenden Göttinnen der Insel?

Die Frauen von Jeju-do in den Mythen Viele Mythen und traditionelle Schamanenlieder handeln von großher-

zigen und aktiven Frauen. Es sind Wesen, die als vermittelndes Medium zwischen der Außenwelt und dem Inselland fungieren. Sie setzen ihren Körper für produktive Aktivitäten ein und erschließen ohne Vorbehalte souverän und unabhängig ihr eigenes Leben. Diese Frauen mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein ihrer selbst sind stark und unternehmungslustig und ziehen auch vor Männern nicht verschämt den Kopf ein, sondern wählen sich selbstbestimmt einen Lebensgefährten. Es sind Frauen, die in blitzschneller Reaktion und mit Mut und Weisheit die Gemeinschaft, der sie angehören, vor Gefahren retten. Laut dem Gründungsmythos von Jeju-do hat Großmutter Seolmundae die Insel geschaffen, weshalb diese Schöpfungsgöttin als Mutter der Insel gilt. Sie besitzt einen voluminösen Körper und ein unvor-

Die legendäre Stärke der Frauen von Jeju-do Die silbernen Haare des alten Schilfgrases, das der salzige Wind ausgelaugt hat, wehen in der Brise. Plötzlich tauchen im Meer schwarze Schwimmflossen auf, um dann gleich wieder im Wasser zu verschwinden. „Ho-i, ho-i“ – das ist das typische Geräusch, das die Meerfrauen von Jeju-do beim Schnappen nach Luft erzeugen. Es wird vom Wind fortgetragen und verliert sich schließlich darin. Heo Yeong-seon Dichterin | Fotos: Brenda Paik Sunoo, Sou Jea-chul

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stellbar großzügiges Herz, mit dem sie die Türen zum Pazifischen Ozean öffnete. Diese Göttin war so gigantisch, dass, wenn sie sich mit dem Berg Halla-san als Kopfkissen hinlegte, ihre Beine bis zur Insel Gwantal vor der Küste von Jeju-do reichten. Sie war von einer hingebungsvollen Mutterliebe erfüllt und starb, als sie beim Breikochen für ihre fünfhundert Söhne in den Kessel fiel. Sie war eine Urmutter von solch unerschrockener Vorstellungskraft, dass sie sogar die Insel mit dem Festland zu verbinden versuchte. Es heißt, dass sie ihren Rock schürzte und mit Erde füllte, um eine Brücke zu bauen. Aber die Erde purzelte heraus und wurde zu den mehr als 360 Oreum von Jeju-do.

praktizierte danach einen Geist des Teilens und des Spendens. Auf Jeju-do hört jeder, der auf der Insel geboren ist, von jüngster Kindheit an, dass „ihr Überleben Großmutter Man-deok zu verdanken sei“. Sie hatte nämlich 1794, als die Insel von Missernten heimgesucht wurde, ihr ganzes Vermögen dazu verwendet, Reis für die Inselbewohner zu kaufen, und rettete rund 1.100 Menschen vor dem Hungertod. Als König Jeongjo von dieser guten Tat erfuhr und ihr als Zeichen der Anerkennung einen Wunsch zu erfüllen versprach, antwortete sie, dass sie gerne das Gebirge Geumgang-san (das Diamantgebirge im heutigen Nordkorea) besichtigen würde. So wurde sie damals die erste unter den Inselbewohnern, die aufs Festland reiste und das Diamantgebirge besichtigte, womit sie das fast 200 Jahre alte Gesetz, dass den Menschen von Jeju-do das Betreten des Festlandes verbot, mit offizieller Genehmigung brach. Zu diesem Verbot war es auf folgende Weise gekommen: Bereits seit Anfang der Joseon-Zeit (1392-1910) mussten die Männer ihr Heim

Die wohlhabende Händlerin Kim Man-deok Wie die Göttinnen der Insel besitzen auch die Frauen von Jeju-do ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer eigenen Identität und eine innere Kraft, die sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen lässt. Auf der unfruchtbaren Insel, die ständig unter der Ausbeutung des Königshofes in Seoul litt, mussten sie wie Superfrauen leben. Kim Man-deok (1739-1812), die allererste Händlerin von Jeju-do, war eine Frau, die nicht nur die Souveränität und Unabhängigkeit der Göttinnen besaß, sondern auch noch Altruismus. Sie verlor ihre Eltern, als sie zwölf war, und musste frühzeitig lernen, alleine im Leben zurechtzukommen. Kim Man-deok befreite sich aus ihrem gesellschaftlichen Status als Gisaeng (professionelle Unterhalterin und Kurtisane) und entwickelte ein Gespür fürs Geschäftliche. Sie ließ sich auch von den widrigsten Umständen nicht unterkriegen, war schließlich im Handelsgeschäft erfolgreich und gelangte zu Reichtum. Sie

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1. Eine Arbeit aus der Sammlung Mond-Gezeiten — die Großmütter der Meere von Jeju-do von der koreanisch-amerikanischen Fotojournalistin Brenda Paik Sunoo hält den Alltag der Taucherinnen von Jeju-do fest. 2. Haenyeo auf dem Weg zur Ernte der Reichtümer des Meeres 3. Die Haenyeo tauchen ohne Sauerstoffgeräte tief ins Meer. Einzige Hilfsmittel sind Kürbisse, die ihnen helfen, sich über Wasser zu halten, und eine Netztasche für die Früchte ihrer harten Arbeit.

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verlassen, um ihre militärbezogenen Pflichten fürs Reich zu erfüllen und den Tributleistungen an den Königshof nachzukommen. Sie hatten stark zu leiden, wenn sie für die Bemannung der Verteidigungsanlagen der Insel mobilisiert wurden und auch noch die vorgegebene Tributmenge (z.B. Mandarinen, Pferde, Seeohren usw.) aufbringen mussten. Schließlich zogen immer mehr von der Insel aufs Festland, um dieser Bürde zu entgehen. Der König verkündete daraufhin das Festland-Betretverbot (1629) und begann sogar Frauen für die Leistung der militärischen Abgaben zu mobilisieren. So kam es, dass ab Ende des 17. Jahrhunderts das Sammeln von Seeohren am Meeresboden, das ursprünglich Männerarbeit gewesen war, von den Hae­ nyeo ausgeübt wurde. Die Seeohren, die diese Taucherinnen aus dem Meer holten, wurden entweder als Tribut an den Königshof oder als Steuern an die Reichsbehörden vor Ort gezahlt. Seitdem bedeutet das Meer für die Frauen von Jeju-do Quelle des Überlebens, Gegenstand des Träumens, ihr alles. Bis sie sich von „Baby-Taucherinnen“, eine Bezeichnung für gute, junge Taucherinnen, zu Taucherinnen obersten Grades entwickeln, arbeiten sie im Meer. Manchmal setzten sie ihr Leben aufs Spiel, um in gefährlichen Tiefen den Lebensunterhalt zu verdienen. Selbst nach der Geburt eines Kindes, stiegen sie schon am vierten Tag wieder ins Wasser.

Die Haenyeo Frau Yang Die „Baby-Taucherinnen“, die im Meer vor ihrem Heimatort das Tau-

chen gelernt hatten, verließen als Erwachsene oft das Elternhaus, um ihren Lebensunterhalt in der Fremde zu verdienen. Die Haenyeo von Jeju-do wagten sich über sämtliche Meere Ostasiens wie z.B. vor die Küste von Guryongpo, zum Hafen Cheongjin und auf die japanische Insel Daema-do (Tsushima), nach Taiwan, ins chinesische Qingdao und russische Wladiwostok. Die Frauen, die in den 1920er Jahren zum Tauchen nach Japan gingen, ließen sich dort nieder und bauten ein lokales Haenyeo-Netzwerk auf. Ihr Leben spiegelt die moderne Geschichte Koreas wider. Das wird im Dokumentarfilm Mrs. Ryan (Yang), The AMA Diver des japanischen Regisseurs Haramura Masaki deutlich. Er handelt von der Taucherin Yang Ui-heon aus Jeju-do, die in ihren zwanziger Jahren vor der Küste von Japan tauchte, schließlich einen Japaner heiratete und sich in Japan niederließ. Diese Frau, die durch Tauchen in den rauen Gewässern eines fremden Landes ihre Familie unterstützte, ist heute 96 Jahre alt und lebt in Ikuno-ku, Osaka. Sie hat sieben Kinder, darunter auch Söhne, die in den 1960er Jahren nach Nordkorea gezogen sind. Um die Kinder zu sehen, war sie selbst schon über zwanzig Mal in Nordkorea. Kurze Wiedersehen, lange Trennungen. Diese „Mutter des Meeres“, die den Schmerz der Trennung von ihren Lieben tief in ihrem Herzen verbirgt, wünscht sich nichts sehnlicher als die Wiedervereinigung der beiden Koreas. Großmutter Yang, die bis zu ihrem 80. Lebensjahr tauchte, erkennt unter Wasser sofort, wo sich Seeohren, Turbanmuscheln und See-

1. Die berühmten Taucherinnen von Jeju-do sind nicht nur geschickt beim Sammeln von Meeresfrüchten, sondern bauen auch landwirtschaftliche Produkte an, wenn sie nicht draußen im Meer sind. 2. Der Seongsan Ilchubong bildet die Kulisse für diese Haenyeo, die nach Hause aufbrechen.

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tang befinden. Denn schließlich ist sie eine Taucherin ersten Ranges, die ihr Leben lang im Meer gearbeitet hat, zunächst in den Gewässern vor Dongbok-ri auf Jeju-do, später in den japanischen Gewässern von Kagoshima, Tsushima, Ehime und Mie. Es gibt auch Jeju-Haenyeo, die seit 1952 im Meer um die Insel Dokdo tauchen. „Seehunde, fast so groß wie Kühe, lagen auf den Felsen, glitten dann aber wieder ins Wasser.“ Die Meerfrauen von Jeju-do, die dort mit jungen Seehunden spielten, die so viele Seemöweneier verschlangen, dass sie sich sogar um den Möwenbestand sorgten, die Tag und Nacht Seeohren aßen, weil es überall nur so davon wimmelte. Zu der Zeit brachte nur Seetang Geld, weshalb sich die Haenyeo für mehrere Monate nach Dok-do aufmachten, um dort Seetang zu sammeln. Dok-do und die Gewässer darum herum waren seit frühester Zeit die Erntegründe dieser Frauen und gehören ohne Zweifel zu Korea, weshalb die Taucherinnen die japanischen Territorialansprüche auf Dok-do nicht verstehen können.

Widerstandsgeist Die innere Stärke der Taucherinnen von Jeju-do entfaltete sich während der Zeit der japanischen Besatzung (1910-1945). Sie konnten nicht einfach zusehen, wie die Japaner ab 1931 über zwei Jahre hinweg in der Region Gujwa-eup des Kreises Bukjeju-gun die Inselbewohner als Zwangsarbeiter ausbeuteten, so dass sie mit ihren Messern, die sie bei der Arbeit benutzten, auf die Straße zogen. Auch wenn es ums Recht auf

Überleben ging, wie hätten sie ohne entschlossenen Widerstandsgeist einen so langen Kampf führen können? Aus ganz Jeju-do versammelten sich rund 17.000 Haenyeo zu diesem in der 36-jährigen Geschichte der japanischen Besatzung einzigen Widerstandskampf, der von Frauen initiiert und durchgeführt wurde. Es war auch die größte Widerstandsbewegung der Bewohner der Fischerdörfer. Im Jeju Haenyeo Museum kann man den Spuren und der Geschichte dieser Frauen folgen. In all den größeren und kleineren Revolten, die über die Insel fegten, hatten die Frauen von Jeju-do viel Leid über sich ergehen zu lassen. Der Höhepunkt war der Aufstand linksgerichteter Partisanen, der am 3. April ausbrach (Massaker von Jeju-do; 1948-1954), und in seiner blutigen Gewalt in kürzester Zeit zahlreiche Gemeinwesen auf der Insel zerstörte. Die Frauen erlebten das unfassbare Leid, ihre Söhne und Töchter sterben sehen zu müssen. Doch selbst da, als ihnen alles im Leben genommen wurde, überlebten sie wie Wildblumen mit der Überzeugung „Trotzdem geht das Leben weiter“. Es sind Frauen, die durch den rauen Wind der Insel gegangen sind, der sie gesund und selbstbewusst hat werden lassen. Sie, die sie Hölle und Hochwasser überlebt haben, sind heute Großmütter, die die würdevolle Eleganz von alten Zürgelbäumen ausstrahlen. Auf den traditionellen Wochenmärkten, am Straßenrand, wo sie Esswaren feilbieten, im Meer und auf den Feldern kann man diese großherzigen Frauen treffen. Sie besitzen dieselbe Erhabenheit wie die Göttinnen in den Mythen der Insel.

Seolmundae-halmang, Großmutter Seolmundae, ist laut dem Gründungsmythos von Jeju-do die Schöpferin der Insel. Sie war eine Urmutter von solch unerschrockener Vorstellungskraft, dass sie sogar die Insel mit dem Festland zu verbinden versuchte. Es heißt, dass sie ihren Rock schürzte und mit Erde füllte, um eine Brücke zu bauen. Aber die Erde purzelte heraus und wurde zu den mehr als 360 Oreum von Jeju-do.

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SPEZIAL Pferdezucht

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uf Jeju-do gibt es drei Pferderassen: die kleinen, aber kräftigen, ponyähnlichen Jeju-Pferde (auch „Jorang-mal“ genannt), die speziell für den internationalen Galopprennsport gezüchteten Vollblüter und die Halla-ma, eine Kreuzung zwischen den beiden. Die Pferde werden heutzutage nicht mehr für militärische Zwecke, zum Transport oder für landwirtschaftliche Arbeiten genutzt, sondern als Rennpferde, Reitpferde oder Schlachttiere gezüchtet. Laut Dr. Lee Jong-eon vom Nationalen Institut für Nutztierzucht (National Institute of Animal Science) stammen 90% der insgesamt 27.000 - 28.000 Pferde in Korea von der Insel Jeju-do und 70% der koreanischen Pferdezuchtindustrie befindet sich auf dieser Insel.

Historische Hintergründe Während die edlen Rösser der Königreiche Buyeo (ca. 200 v. Chr.–494 n. Chr.) und Goguryeo (37 v. Chr.–668 n. Chr.) bereits seit alter Zeit bekannt waren, finden die Jeju-Pferde erst im Jahr 1073 Erwähnung mit der Notiz: „Man sandte König Munjong von Goryeo edle Rösser“. Nachdem die Goryeo-Sondertruppe Sambyeolcho den Mongolen Widerstand geleistet, aber schließlich besiegt worden war, richtete das chinesische Yuan-Reich auf Jeju-do einen Pferdehof zur Zucht von Kriegspferden ein und lenkte damit die Geschichte in andere Bahnen. „Die Ankunft von 160 Ferghana-Pferden und mongolischen Pferdezuchtexperten im Jahr 1276 schuf die Grundlage für die Pferdezucht des Joseon-Reichs. Die seit den Zeiten des Gründungsmythos, als die drei Clans der Insel aus einem Erdloch hervorkamen, auf der Insel heimischen Pferde sind allesamt ausgestorben. Aus den FerghanaPferden, die sich an die raue Natur von Jeju-do anpassten, wurden die heutigen Jeju-Pferde, eine kleine, aber zähe, ponyartige Rasse. Wir beschäftigen uns derzeit damit, wie wir spezielle Reitpferde, die über

die Stärken der Jeju-Pferde verfügen, züchten können.“ Die Ferghana, eine edle Pferderasse aus dem zentralasiatischen Reich Dayuan (im heutigen Turkmenistan) sollen pro Tag Strecken von 1.000 Ri (etwa 400 km) zurücklegen können und dabei einen blutähnlichen Schweiß ausschwitzen. Als Kaiser Wu der chinesischen Han-Dynastie (202 v. Chr.-220 n. Chr.) in vorchristlicher Zeit von diesen Pferden hörte, griff er das Dayuan-Reich an und brachte nach einer grauenvollen Schlacht einige Ferghana nach China, wo er eine Ferghana-Zucht aufbaute. Die auf Jeju-do gezüchteten Pferde wurden ab 1276 einhundert Jahre lang ins chinesische Yuan-Reich geschickt. Ende der Goryeo-Zeit (918-1392), unter der Regierung von König Gongmin, ging die Insel Jeju-do mit der Ablösung der Yuan-Dynastie durch die Ming-Dynastie in China wieder in koreanischen Besitz über und das Goryeo-Reich übernahm die Aufsicht über die Pferdezucht auf der Insel. Als jedoch das Ming-Reich Pferde anforderte, weigerten sich die auf Jeju-do sesshaft gewordenen Pferdezüchter der einstigen Yuan-Dynastie ihre Pferde dem Feind zu übergeben. Sie lösten einen Aufstand aus, bei dem Hunderte von Regierungsbeamten umkamen. 1374 brauchte General Choe Yeong ein großes Heer, um die Rebellen niederzuschlagen. Als ich das Felsenriff Oedolgae in der Nähe der Stadt Seogwipo sah, erinnerte ich mich daran, dass General Choe dieses Riff für eine Kriegslist genutzt hatte, die ihm den Sieg über die Aufständischen ermöglichte. Auf einem der Olle-Trails der Insel Jeju-do entdeckte ich in der Nähe des Oedolgae die Spuren, die mit dieser Pferde-Geschichte und General Choe Yeong in Zusammenhang stehen, der von den Anhängern des späteren Gründers des Joseon-Reiches, Yi Seonggye, ermordet wurde. Unter den acht Pferden, die Yi Seong-gye geritten hat, soll es auch ein Jeju-Pferd gegeben haben. Nach historischen Dokumenten soll der Gründer des Joseon-Reiches ein so geschickter

Auf den Spuren der Pferde von Jeju-do Die weidenden Pferde, die man auf den Grasebenen der 200 - 600 Meter hohen Mittelgebirge von Jeju-do sehen kann, sind ein Symbol der Insel. Die weitläufigen Ebenen aus fruchtbarer Vulkanerde, die für einen reichen Grasbestand sorgt, prädestinieren diese Insel mit ihrem milden Klima und ohne Raubtiere für die Zucht von Pferden und Vieh. Kim Yoo-kyung Freiberufliche Journalistin | Fotos: Sou Jea-chul, Ahn Hong-beom

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Koreana

„90% der insgesamt 27.000 - 28.000 Pferde in Korea stammen von der Insel Jeju-do und 70% der koreanischen Pferdezuchtindustrie befindet sich auf dieser Insel.“

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© Jeju Special Self-Governing Province

1. Jeju-Pferde tollen an den Hängen des Halla-san herum. 2. Jeju-Pferd (Acryl auf Leinwand) des Malers Yi Myeong-bok 3. Pferdepfleger Kim Wan-bo beim Einreiten eines Pferdes

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Reiter gewesen sein, dass er sogar Steilabhänge hinunterritt.

Wichtige Aufzeichnungen über Pferde Zur Zeit des Joseon-Reiches (1392-1910) gab es zehn große Gestüte auf Jeju-do. In der Regierungszeit von König Sejong dem Großen (reg. 1418-1450) wurde um den Berg Halla-san eine 200 km lange Steinmauer, „Jat-seong“ genannt, gebaut, um die Pferde am Weglaufen zu hindern. Um den Pferdebestand zu sichern, wurde auch der Verzehr von Pferdefleisch verboten. Jeju-do hatte jedes Jahr 300 Pferde als Tribut an den Königshof in

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Seoul zu liefern und alle drei Jahre an den Magistraten der Insel. Wenn man am Königshof nicht mit der Qualität dieser Pferde zufrieden war, wurden die zuständigen Beamten entlassen. Daher bemühten sich die nach Jeju-do entsandte Beamten mit allen Mitteln, hochwertige Pferde zu züchten. Ein Pferd zu besitzen muss zu dieser Zeit ein großes Privileg gewesen sein. Die Nachfahren der Familie Hong erzählen von einem ihrer Vorfahren, „dass er in seinem ganzen Leben nie Bestechungsgelder annahm, aber dann der Versuchung, ein Pferd anzunehmen, nicht widerstehen konnte und seines Amtes enthoben wurde“.

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Die Pferdezucht auf Jeju-do blühte vom Ende des Goryeo-Reiches bis Anfang des Joseon-Reiches, als es etwa 20.000 Pferde auf der Insel gab. Lee Hyeong-sang, der 1702 als Magistrat nach Jeju-do gesandt wurde, schrieb in seinem Buch Inspektionsreise nach Jeju-do (Tamna-sullyeokdo ), dass allein die Zahl der Pferde in Staatsbesitz 9.372 betrug, die der Kühe lediglich 703. Die Bevölkerungszahl der Insel lag bei 43.515.

Die Vulkansteinmauer Jat-seong Mit Beginn des Automobilzeitalters verloren die Pferde ihre traditionellen Funktionen. 1984 gab es nicht einmal mehr 1.000 reinrassige Jeju-Pferde, 1986 wurden einige Dutzend mit ordentlichem Stammbaum zu Naturdenkmälern bestimmt. Heute gibt es nach offiziellen Statistiken der Provinzregierung insgesamt 22.223 Pferde auf der Insel, darunter 1.392 Jeju-Pferde (davon 200 reinrassige mit Stammbaum), 4.179 Vollblüter und 16.692 Halla-ma (auch Jejusanma genannt), eine Mischung aus Jeju-Pferden und Vollblütern. Sie werden auf 1.157 Gestüten gezüchtet. Pro Jahr werden 1.000 Pferde geschlachtet. Die Pferdeindustrie umfasst heute die Bereiche Pferderennen und Reiten, sowie Ernährung und Verarbeitung wie die Herstellung von Seifen aus Pferdeöl. Die Pferderennbahnen haben besonders stark zum Comeback der Jeju-Pferde beigetragen. Heute werden jährlich 80-90 Jeju-Pferde speziell als Rennpferde gezüchtet und trainiert. Diese Pferde mit registriertem Stammbaum tragen alle einen implantierten Chip. Die Spuren der traditionsreichen Pferdezuchtkultur von Jeju-do lassen sich an der Steinmauer Jat-seong erkennen, die sich über die Hügel zieht. Diese doppelschichtige Mauer aus Vulkansteinen ist einen Meter breit und 1,5 Meter hoch und markierte die Grenzen der Pferdehöfe. Da jedes Viertel eine eigene Bauweise hatte, weisen die einzelnen Mauerabschnitte jeweils eine andere Struktur und Form auf. Einige Teile erstreckten sich bis tief in die Bergwälder. Der Reiseleiter erklärte, dass die Steinreste auf dem als UNESCO-Weltnaturerbe registrierten Geomun Oreum Überbleibsel dieser Steinmauer seien. Aus den mongolischen Pferdepflegern wurden im Laufe der Zeit Bürger von Joseon. Jwa Dong-ryeol, die die „Gepflogenheiten der Viehzucht auf Jeju-do“ erforscht, sagte, dass einer ihrer Vorfahren Pferdepfleger und -arzt aus dem Yuan-Reich war. Sie empfahl mir, die Stätte Majodan zu besuchen, einen Altar für Verehrungszeremonien für den Schutzgott der Pferde, der sich in der Nähe der Kreuzung am Jeju KAL Hotel in der Stadt Jeju befindet. An der Stelle des einstigen Altars, an dem früher in Zeremonien für eine reiche Vermehrung der Pferde gebetet wurde, steht heute nur noch eine Steintafel auf einem malerischen Hügel.

Der letzte Malteuri Die Pferdepfleger, die die traditionellen Zuchtmethoden lernten, ihr Leben an der Seite und auf dem Rücken von Pferden verbringen, werden „Malteuri“ genannt. Das Kinderbuch Der letzte Malteuri, das Bak

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Jae-hyeong vom Bildungsamt Jeju-do schrieb, erzählt die Geschichte des heute 82 Jahre alten Malteuri Go Tae-o, der sein ganzes Leben mit Pferden verbrachte. „Früher züchtete fast jeder Haushalt ein Pferd und die Haushalte waren reihum dafür zuständig, die Pferde des Dorfes auf die Bergweiden zu treiben, wo das Gras besonders gut war. Diejenigen, die das berufsmäßig machten, hießen Malteuri, die anderen kümmerten sich nur um die Pferde, wenn sie an der Reihe waren.“ Der Gesang des alten Herrn Go Tae-o, oder besser, die Töne aus seinem Mund, sind eine Art spirituelle Melodie, mit der er mit seinen Pferden kommuniziert. Im Dorf Jeoji-ri, das zu Hangyeong-myeon gehört, unterhielt ich mich mit den beiden Pferdehofbesitzern Go Gyeong-hyeon (55) und Gim Wan-bo (59), die erzählten: „Die traditionellen Jeju-Pferde und die eingeführten Vollblüter unterscheiden sich in Zucht und Haltung. Die Jeju-Pferde sind kräftig und man kann sie selbst im Schnee auf den Ebenen lassen, sie wissen sich schon zu ernähren. Aber sie sind nicht einmal halb so schnell wie die Vollblüter. Die Vollblüter sind zwar schnell, aber nicht so intelligent und müssen dreimal am Tag gefüttert werden. Sie verlangen viel Pflege, da sie schwache Hufe haben und auch keine so starke Konstitution. Wir züchten sie mit Blick auf die Gewinne aus der Pferderennindustrie.“ Früher trieb man die Pferde überallhin auf die Weideplätze, doch heutzutage transportiert man Wasser und Futter mit Fahrzeugen zu seinem Pferdestall in den Bergwäldern. In Gotjawal, wo zahlreiche unter Naturschutz stehende Wildpflanzen auf dem Lavagestein wachsen, ist es verboten, Tiere weiden zu lassen. Die Pferde bleiben auf den Höfen und warten auf ihren Herrn. Sie recken freudig die Köpfe, wenn sie das Geräusch des Fahrzeugs ihres Besitzers hören. Gim Wan-bo sagt: „Ich reite sehr gut und meine Familie züchtet schon über Generationen hervorragende Reitpferde. Ich bin stolz darauf, eine Rasse zu züchten, die aus dem vollen Galopp sofort wieder in den Schritt zurückfallen kann. Es sind gemischtrassige Pferde, die die jeweiligen Vorteile der Jeju-Pferde und der Vollblüter in sich vereinen. Pferde sind klüger als Kühe. Bei Gewitter bleiben Pferde nicht unter Bäumen stehen, sondern laufen aufs Flachland hinaus. Wenn Regen droht, suchen sie Unterschlupf im Wald. Anhand der Pferde lässt sich das Wetter voraussagen “ Auch im Regen blieben die Pferde ruhig und trotteten im schlammigen Hof herum. Das Gleiche galt für die beiden Besitzer, die die Tiere streichelten und checkten, ob alle an ihrem Platz waren. „Es gibt nur noch wenige Malterui auf ganz Jeju-do. Wir sind wahre Malteuri mit einer tiefen Liebe für die Pferde.“ Beim Pferderennen reizt die Zuschauer die Geschwindigkeit der Pferde, die mit wild flatternden Mähnen wie ein Blitz vorbeirennen. Ein Rennpferd braucht nach einem Rennen zwei Wochen Ruhe. Heutzutage sind wieder Mongolen mit Pferden auf Jeju-do zu sehen, diesmal aber in einem Freilufttheater, wo sie mit rund 50 Pferden ihre Reitkünste präsentieren. Es sind aber keine Ferghana-Pferde, sondern die gemischtrassigen Halla-ma von Jeju-do.

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SPEZIAL Gourmetfreuden 1. Das fleischreichste Stück des Dageumbari (Riesenzackenbarsch) wird als Sashimi serviert (rechts); die schmackhaftesten Stückchen von den Wangen, von unter den Flossen, von Rückgrat und Bauch werden zusammen mit den Fischlippen und inneren Organen auf einem Extrateller als spezielles Gericht serviert (links). 2. Gegrillter Okdom (rosafarbener Barsch) 3. Gedünstete Seeohren sind ein Grundnahrungsmittel der Insel. 4. Gewürztes und gegrilltes Pferdefleisch. Pferdefleischgerichte sind ein Nebenprodukt der Pferdezuchtindustrie von Jeju-do.

Kulinarische Spezialitäten von Jeju-do

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Kernbestandteil der Küche von Jeju-do sind Meeresfrüchte. Aber Sashimi und Seeohren sind längst nicht die einzigen Delikatessen dieses Inselparadieses. Da Jeju-do die am weitesten südlich gelegene Insel Koreas ist, ist sie reich an vom subtropischen Klima gesegneter landwirtschaftlicher Nutzfläche, die für eine große Varietät an Produkten aus Landwirtschaft und Viehzucht auf dem Esstisch sorgt. Choi Sung-ja Journalistin | Fotos: Ahn Hong-beom

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uf Jeju-do gibt es zahlreiche Gerichte aus Meeresfrüchten: Sashimi aus frisch gefangenem Fisch, Obunjagi (kleine Seeohren) Haemul-ttukbaegi (Meeresfrüchte-Eintopf in einer traditionellen koreanischen Tonschüssel), gebratener Okdom (Okdom: rosafarbener Barsch aus den tropischen Gewässern des Westpazifik), gegrillter Degenfisch, Degenfisch-Suppe, Mom-guk (Algensuppe), Seongge-guk (Seeigelsuppe) und Mulhoe (gewürzter Rohfisch mit verschiedenen Gemüsen in kalter Brühe) aus Jari (Chromis notata) und Hanchi (MiniKalamare), um nur einige zu nennen. Ich suchte einige berühmte Restaurants der Insel auf, um diese Spezialitäten zu probieren.

Obunjagi-ttukbaegi Bei Obunjagi-ttukbaegi handelt es sich um einen Eintopf, bei dem Obunjagi (kleine Seeohren), Garnelen und Muscheln in der irdenen Schüssel Ttukbaegi gekocht und mit Doenjang (Sojabohnenpaste) und Gochujang (Chilipaste) abgeschmeckt werden. Das Gericht schmeckt pikant und erfrischend zugleich. Obunjagi ist ein Weichtier aus der Familie der Seeohren, das auf Felsen in einer Meerestiefe von etwa 20 Metern lebt. 70 Prozent der landesweiten Erträge stammen aus Jeju-do. Das Restaurant Yurine in Yeon-dong in der Stadt Jeju ist auf Obunjagi-ttukbaegi, Seeigel-Algensuppe, gegrillten Degenfisch und Mulhoe spezialisiert und seit langem für seine wohlschmeckenden Gerichte berühmt. Wände und Decke sind voll von Autogrammen, was darauf hinweist, dass viele berühmte Persönlichkeiten wie ehemalige Präsidenten und der amtierende Präsident hier speisten. Reichliche und vielfältige Beilagen kommen auf den Tisch, darunter Bing-tteok (Pfannkuchenröllchen), von denen für jeden Gast ein Stück serviert wird. Bing-tteok ist eine lokale Spezialität, für die dünnflüssiger Teig

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aus Buchweizenmehl zu Pfannküchlein gebraten wird, die dann mit fein geschnittenen, blanchierten und gewürzten Rettichstreifen gefüllt und zu langen Flöten gerollt werden.

Schwarze Gerstennudeln In jüngster Zeit bieten immer mehr Restaurants „Hausmannskost nach „Großmutterart“ an, die bei den Gästen nostalgische Erinnerungen an die Kindheit weckt. Das Restaurant „Schwarze Gerstennudeln“ in Ildo-2-dong in der Stadt Jeju ist eins davon. Kim Jeong-ja, die Inhaberin, konnte den Geschmack von Pfannkuchen aus schwarzer Gerste, die ihre Großmutter zuzubereiten pflegte, nicht vergessen. Daher kreierte sie im Jahr 2008 Gerichte mit schwarzer Gerste als Hauptzutat wie Pajeon (Lauchpfannkuchen), Sujebi (klare Brühe mit Mehlknödeln) und Nudeln. Sie sagt: „Schwarze Gerste wird im Vergleich zu normaler Gerste nur in geringen Mengen angebaut, aber sie besitzt dieses herrliche Eigenaroma. Darüber hinaus ist der Ballaststoffgehalt mehr als fünf Mal höher als bei normaler Gerste und sie ist reich an Mineralien wie Eisen, Phosphor und Kalzium, was Erwachsenenkrankheiten vorbeugen hilft.“ Um dem Gerstenteig Elastizität zu verleihen, gibt sie gemahlene Kartoffeln, Yamswurzeln und Pilze in Wasser und macht daraus einen Teig. Die Suppenbrühe wird nur mit Anschovis, Dasima (Kombu-Seetang) und Salz gekocht, was ihr einen leichten Geschmack verleiht. Sujebi mit Bomal (Dialekt von Jeju für Omphalius rusticus, eine Meeresschneckenart) schmeckt erfrischend und klar.

Pferdefleischgerichte Jeju-do ist auch berühmt für seine Fleischspezialitäten. Fleischge-

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Der Gedanke, dass ein Zusammenhang zwischen der Küche der Insel und der Langlebigkeit ihrer Bewohner bestehen könnte, zieht in letzter Zeit das Interesse auf den gesundheitsfördernden Aspekt der lokalen Gerichte und ihrer speziellen Zubereitungsmethoden.

richte vom Pferd, schwarzen Schwein und Fasan sind lokale Delikatessen. Früher gab es hier eine staatliche Pferdefarm, was zur Entwicklung von verschiedenen Kochrezepten führte. In der Joseon-Zeit soll neben Seeohren und Mandarinen auch Pferdefleisch als Tributgeschenk an den Königshof geschickt worden sein, was bedeutet, dass das Fleisch wahrscheinlich auch auf die Haupttafel des Königs kam. Aber auch einfache Leute aßen Pferdefleisch. Es wurde nach dem Oktober nach Lunarkalendar gegessen, da es zu dieser Zeit einen weniger strengen Eigengeschmack nach Gras hat. Da Pferdefleisch fettarm ist, wurde es als Tatar, Galbijjim (geschmorte marinierte Rippchen) oder marinierter Grillbraten serviert. Die Knochen wurden ausgekocht und für Suppenbrühen verwendet oder gemahlen und als Arzneimittel eingesetzt, das bei Neuralgien heilend wirken sollte. Seit den 1980er Jahren werden Pferdefleischgerichte auch auf der Speisekarte normaler Restaurants angeboten, weil immer mehr Touristen vom Festland diese lokale Spezialität einmal probieren wollen. Zurzeit stehen in rund 40 Restaurants Pferdefleischgerichte auf der Speisekarte. Ich aß im Restaurant Mawon, das sich im Jungmun Resort in der Stadt Seogwipo befindet. Es handelt sich um ein großes, traditionelles koreanisches Hanok-Haus, das auf Pferdefleischgerichte spezialisiert ist. Das marinierte Fleisch wird leicht gegrillt und in einen Dipp aus Sojasoße und Wasabi (Japanischer Meerrettich) getunkt. Das Fleisch war weich und schmackhaft. Wenn Pferdefleisch

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zu lange gekocht wird, wird es zäh. Der Küchenchef sagte: „Die Japaner bevorzugen Pferdefleisch als Tatar, während Chinesen meistens ein Menü bestellen, das aus Knochenmark-Extrakt, Tatar und Naengchae (hier: salatartiges Gericht aus Tartar vom Pferd und Gemüse) besteht.“

Zitrus-Kaffee und Zitrus-Schokolade Gamgyul, eine kernlose Mandarinensorte, ist die repräsentativste Obstsorte der Insel Jeju-do. Die Früchte haben einen hohen Zuckergehalt und einen reichen Geschmack. Auf Jeju-do finden sich überall Gamgyul-Plantagen. Zurzeit gibt es mehr als 20 Gamgyul-Kreuzungen wie die berühmten Hallabong und Cheonhyehyang, erlesene Früchte, die landesweit in den Supermärkten angeboten werden. In letzter Zeit erscheinen auf dem Markt auch Kosmetika mit JejuGamgyul-Extrakt wie Duftsprays. Darüber hinaus wird ihr Saft zur Aromatisierung von Kaffee, Schokolade und Makgeolli (trüber Reiswein) verwendet. Die Schalen sind medizinisch wirksam. Wenn man Jinpi, die Schalen von Jingyul (Citrus sunki, Sauermandarinen), in Wasser auskocht und das Wasser trinkt, können Magen und Darm gestärkt werden; Cheongpi, die Schalen von Cheonggyul (Citrus nippokoreana Tanaka; unreife, grüne Mandarinen) wirken bei Bakterienkrankheiten wie Malaria heilend.

1. Hallabong ist eine Premium-Mandarinensorte, die auf Jeju-do entwickelt wurde.

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2. Bing-tteok, gerollte Buchweizen-Pfannkuchen mit Rettichfüllung

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Dageumbari-Meisterkoch Kang Chang-geon 1

„Wie kann Rohfisch nur so fantastisch schmecken?!“ Es ist schwierig, jemandem, der noch nie Dageumbari (Riesenzackenbarsch)-Sashimi probier t hat, dieses Geschmackerlebnis nachvollziehbar zu schildern. Das Restaurant Jinmimyeongga, das sich

Esskultur von Jeju-do Das Museum für Volkskunde und Naturgeschichte (Jeju Folklore and Natural History Museum) vermittelt den Besuchern einen Einblick in die traditionelle Küche der Insel. Ein Rundgang durchs Museum lässt ahnen, in welch großer Armut die einfachen Bürger der Insel in der Vergangenheit lebten, was einem das Herz schwer macht. Weil es auf Jeju-do an Nahrungsmitteln mangelte, wurde Essen nur in existentiell notwendigen Mengen zubereitet. Darüber hinaus hatte die Zubereitung einfach zu sein, weil die meisten Frauen als Taucherinnen im Meer arbeiteten und deshalb wenig Zeit für den Haushalt hatten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine Vielfalt von rohen Gerichten im Gegensatz zu Gerichten, die aufwändig geschmort, gedämpft oder gekocht werden mussten. Daher kommt der natürliche Eigengeschmack der Zutaten stärker zur Geltung als der von Gewürzen, was charakteristisch für die Küche von Jeju-do ist. Jeju-do ist bekannt als Insel der Langlebigkeit. Laut der im September 2010 in den 8 Provinzen, 7 autonomen Städten und der Hauptstadt Seoul durchgeführten Volkszählung sind auf Jeju-do 53 Menschen über 100 Jahre alt, d.h. die Insel hat den größten Anteil an über Hundertjährigen, zweimal mehr als der landesweite Durchschnitt. Ob hier nicht ein Zusammenhang mit der lokalen Küche besteht? In jüngster Zeit ziehen die Gerichte von Jeju-do, für die frische Zutaten aus den sauberen Gewässern der Insel und aus eigenem Anbau in kurzer Zeit zubereitet werden, das Interesse auf sich. Da der Nährstoffverlust bei der Zubereitung gering ist, findet die Küche der Insel als Wellness-Küche Ankerkennung. Hyeon Hak-su, Mitarbeiter der PR-Abteilung der Provinzregierung Jeju-do, sagt: „Wir planen, mehr als 470 lokale Gerichte, die Gesundheit und Langlebigkeit fördern, zu promoten.“

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in Sagye-ri, Andeok-myeon, Seogwipo-si direkt am Meer befindet, bietet einzigartige Dageumbari-Sashimi an. Als 1991 auf Jeju-do ein Gipfeltreffen zwischen Südkorea und der damaligen Sowjetunion stattfand, servierte Inhaber und Küchenchef Kang Chang-geon (57) beim Bankett zu Ehren von Michail Gorbatschow 27 Arten von Dageumbari-Sashimi, wodurch er sich einen Namen machte. Im Oktober 2006 wurde er zum Treffen von Terra Madre , dem offenen Netzwerk des 2004 gegründeten Vereins Slow Food , eingeladen und mit seiner Dageumbari-Delikatesse unter rund 1.000 Köchen aus 150 Ländern unter die „100 Spitzenköche“, die ihr Können dem Publikum präsentierten, gewählt. Dass er im Bereich der Dageumbari-Zubereitung zum Meisterkoch wurde, ist seiner Leidenschaft und seinem Forschungsdrang zu verdanken. Er kreierte mit diesem Fisch rund 30 Gerichte und im Jahr 2002 erwarb er für seine einzigartige „Methode zur Komposition von filetiertem Dageumbari-Fleisch und Zubereitung von Sashimi“ ein Patent. Das Geheimrezept für seine Delikatessen nannte er „seine eigene Methode zum Umgang mit dem Fisch und zur unterschiedlichen Handhabung des Messers je nach Körperteil“. Er sagt: „Es ist wichtig, den gefangenen Fisch im Aquarium frisch zu halten. Dafür führe ich Sauerstoff zu, reguliere die Wassertemperatur und lasse Musik laufen. Wenn der Daegeumbari reglos im Wasser bleibt, verschlechtert sich die Fleischqualität. Durch künstlich erzeugten Wellengang halte ich ihn in Bewegung.“ Darüber hinaus verlangt jeder Teil des Fisches eine besondere Filetiermethode, um den jeweils spezifischen Geschmack zur Geltung zu bringen. Beim Filetieren sollte man sich in einem 45-Grad-Winkel über das Schneidbrett beugen und in einem 135-Grad-Winkel zum Schneidbrett schneiden.

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SPEZIAL Aus der Sicht eines Fremden

Umzug auf die Insel Jeju-do : ein persönlicher Erfahrungsbericht Sich auf einem Felsen niederzulassen und sich die Zeit zu nehmen, die Farben des Meeres genauer zu betrachten: Der in Strandnähe leichte Ockerton mit den grünen Flecken lose treibenden Seetangs verwandelt sich mit zunehmender Entfernung in Türkis- oder Smaragdtöne und danach in verschiedene Blau-Schattierungen, um schließlich in einer dunklen, stahlfarbenen Linie am Horizont zu enden. Wenn dunkle Regenwolken aufziehen, ist dasselbe Meer schwarz, wenn die Wolken hoch und weiß am Himmel stehen, wird es silbern, ganz zu schweigen vom Gold bei Sonnenaufgang und Rot bei Sonnenuntergang. Werner Sasse Maler und Koreanist | Fotos: Bae Bien-u, Sou Jea-chul

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s kommt uns so vor, als ob wir schon immer hier gelebt hätten. Das sich ständig in Bewegung befindliche Meer mit seinem weiten Horizont hat eine belebende Wirkung. Die felsige Landschaft mit den für die Insel charakteristischen Steinmauern – Resultat Jahrtausende alter menschlicher Anstrengungen, aus der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche das Meiste herauszuholen – bietet einen einzigartigen Anblick. Die kleinen, von Mauern umgebenen Felder werden hin und wieder von einzelnen Flecken wuchernden Buschwerks unterbrochen, die sich meist versteckt an den Stellen befinden, wo die Regengüsse der Monsunzeit tiefe und enge Wasserläufe in die Erde geschnitten haben, die die meiste Zeit des Jahres so gut wie trocken sind. Über all dem erhebt sich der Berg Halla-san, dem diese paradiesische Insel ihre Entstehung verdankt.

„Sugarmoon“ und Hochzeit Der Entschluss, die Insel Jeju-do zu unserem künftigen Zuhause zu machen, entstand auf unserer „Sugarmoon“-Reise. Die Koreaner haben eine wunderbare Art, mit Wörtern zu spielen, und haben „Su­garmoon“ (Zuckermond) eine spezielle Bedeutung gegeben: Während „Honeymoon“ (Honigmond) die gemeinsame Reise nach

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der Hochzeit bezeichnet, ist „Sugarmoon“ eine Reise, die man unternimmt, bevor man den Bund fürs Leben schließt. Schon bald nach unserer Ankunft – wir hatten die Insel erst für einige Tage bereist – beschlossen wir, unser jeweiliges Heim auf dem Festland aufzugeben: ihrs, ein ruhig gelegenes Haus in der Provinz Gyeonggi-do, und meins, ein traditionelles Hanok-Haus in den Ebenen der Provinz Jeollanam-do. Nachdem wir uns für Jeju-do als Ort unseres gemeinsamen Lebens entschieden hatten, wollten wir auch hier heiraten. Ein Freund schlug dafür den herrlichen Jeju Stone Park vor, dessen atemberaubende Landschaft mit natürlichen und menschengemachten Steinskulpturen gesprenkelt ist. In weißen Hanboks (traditionelle koreanische Tracht) im modernisierten Stil, die aus speziellem Hanji, dem korea-typischen Papier aus der Rinde des Maulbeerbaums, gefertigt waren, leiteten wir die Hochzeitszeremonie mit der Darstellung eines Treffens auf einer Bühne auf dem Sky Pond, dem Dach des unterirdischen Steinmuseums, ein. Danach wechselten wir in Zeremonialkleidung im Pjöngjanger-Stil und wurden in einer verkürzten Hochzeitszeremonie nach nordkoreanischer Art getraut: Eine Braut aus dem Osten und ein Bräutigam aus dem Westen, die den Bund fürs Leben nach einer Zeremonie im Stile des Nordens auf der am weites-

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1. Malerischer Anblick des Seongsan Ilchubong bei Sonnenaufgang 2. Werner Sasse, ein emeritierter Koreanistik-Professor, der auf Jeju-do seiner Karriere als Künstler nachgeht

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ten im Süden gelegenen Insel Koreas schließen!

Regierungsstellen geführte Projekte zur Gestaltung der Zukunft der Insel. Die Zeitungen sind gefüllt mit Diskussionen über Pläne, eine gesellschaftlich und ökologisch gesunde Umwelt zu schaffen, und auch bei vielen Treffen geht es um diese Themen. Bei diesen Projekten versuchen die Inselbewohner, nationalen und internationalen Tourismus sowie nachhaltige Wirtschaft und Lebensstil in ein Gleichgewicht zu bringen. Kernpunkte sind dabei Bildung, Entwicklung von natürlichen, biologischen Produkten, Schaffung von Erholungseinrichtungen von medizinischem Heilwert statt Vergnügungsparks als Orten der Zerstreuung, sowie Förderung der Künste. Jeju-do mit seiner klaren Luft, dem sauberen Wasser und milden Klima ist mit allen Voraussetzungen gesegnet, die einen alternativen Lebensstil ermöglichen, der sich von dem hektischem Treiben in Seoul und anderen großen Städten abhebt. Jeju ist eine „slow“ Insel, die sich nicht an ihre romantisch verbrämte Vergangenheit klammert, sondern voller Erwartung in die Zukunft blickt.

Eine ruhige und doch dynamische Insel Wenn ich danach gefragt werde, was uns nach Jeju-do gezogen hat, kann ich nur ein paar Gründe nennen, die mir willkürlich in den Sinn kommen, denn an diesem wunderbaren Ort zu leben ist eine zu komplexe Erfahrung, als dass sie leicht erklärt werden könnte. Zunächst einmal haben wir auf Jeju-do einige der grundlegenden Bedingungen für das Leben, wie wir es uns vorstellen, gefunden, wobei die allgemeine Atmosphäre die wichtigste Voraussetzung ist. Da meine Frau eine avantgardistische Tänzerin und Meditationsmeisterin ist und ich Maler und Koreanist bin, brauchen wir beide einerseits Ruhe und Frieden, andererseits aber auch ein aktives, zukunftsorientiertes Klima. Kultur und Lebensstil auf Jeju-do kommen auf wundervolle Weise diesen scheinbar widersprüchlichen Grundbedürfnissen entgegen. Die Menschen von Jeju-do haben bis heute einen starken Sinn für Tradition und ein Überzeugtsein von ihrer kulturell-innovativen Originität, die sich vom Festland unterscheidet, bewahrt, was zu einer herrlich entspannten „Gangart“ des Lebens geführt hat. Gleichzeitig und fast an allen Ecken und Enden laufen von Privatpersonen oder

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Das Licht von Jeju-do Jeju-do hat zwei Gesichter. Der Besucher gelangt auf dem Luft- oder Seeweg zur Insel, und zwar normalerweise durch das nördliche Tor, die Stadt Jeju, die Sitz der Provinzregierung ist. Von hier ist es eine Stunde Fahrt bis zur im Süden gelegenen Küstenstadt Seogwipo und dem Jungmun Resort. Die Straße – alle Straßen der Insel sind in gutem Zustand – führt über ein 800 bis 1000 Meter über dem Meeresspiegel gelegenes Terrain, von wo aus man je nach Wetterlage zwei krass unterschiedliche, aber nichtsdestoweniger gleichermaßen faszinierende Landschaften erleben kann. An klaren Tagen sind die zahlreichen Vulkankegel, die von den Einheimischen in der Mundart der Insel mit einem liebevollen Beigeschmack „Oreum“ genannt werden, und einige kleinere Inseln in weiter Ferne zu sehen. An nebligen Tagen wirken die schemenhaften Konturen der Wälder auf den in Wolken gehüllten Bergen geradezu wie aus einer anderen Welt. Hat man einmal den Berg überquert, verlässt man die etwas rauere, windigere und leicht kühlere nördliche Region und findet sich plötzlich in

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einer milden, subtropischen Umgebung wieder, deren üppige Vegetation mit ihrem Blütenreichtum einen leicht süßen Duft verströmt. Es gibt jedoch ein Element, dass die beiden Regionen gemeinsam haben: das Licht. Auf Jeju-do ist das Licht wesentlich heller als auf dem Festland, was für mich als Maler eine mehr als kostbare Erscheinung ist. In Europa ziehen viele Künstler auf der Suche nach Inspiration ins glänzende Licht an der Mittelmeerküste. Auf Jeju-do ist man an jedem Ort der Insel in strahlendes Licht gehüllt. Kein Wunder also, dass viele Künstler und Handwerker Jeju-do zu ihrem permanenten oder vorübergehenden Domizil machen, um in diesem fantastischen Licht zu arbeiten: in den Studios des Jeoji Künstlerdorfes, in privaten Studios versteckt in den Tälern, oder auch auf den weitläufigen Ebenen in der zentralen Region der Insel, wo man dem Himmel näher ist. Man braucht nicht extra zu erwähnen, dass das Licht mehr als ein Medium für künstlerische Inspiration ist. Es ist die beste Medizin für Körper und Seele. Diejenigen, die sich nur zu einem Kurzbesuch auf der Insel aufhalten und hier und dort ein Foto nach dem anderen schießen, um die Insel nach ein oder zwei Nächten schon wieder zu verlassen, sind eigentlich gar nicht richtig hier gewesen. Sie haben nur die Oberfläche gesehen und berührt. Jeju-do gibt seine Schönheit nicht so leicht auf den ersten Blick preis. Der Besucher muss zunächst zur Ruhe kommen, sich an die Gangart der Insel gewöhnen und sich die Zeit nehmen, sie mit Geduld zu betrachten. Das Meer zum Beispiel bietet immer ein fesselndes Schauspiel mit seinen schaumgekrönten Wellen, die ständig heranrollen und sich an den Felsen oder Sandstränden brechen, sich wieder zurückziehen,

Frühsommermorgens zu einem Spaziergang auf den als „Olle-Trails“ bekannten Wanderwegen aufmacht, der tut gut daran, Regenmantel und Badesachen einzupacken. Je nachdem, wie sich das Wetter entwickelt, kann man das eine oder das andere brauchen, oder auch beides zusammen an einem einzigen Tag.

Wind, Steine und Frauen Der Wind gehört zu den drei Dingen, mit denen Jeju-do — neben Steinen und Frauen — in Überfluss gesegnet ist. Da kann ich nur zustimmen: Es gibt viel Wind auf der Insel und manchmal sogar brüllende Stürme, so dass die Wellen einen wütenden Tanz aufführen, bevor sie gegen die felsige Küste branden. Aber vielleicht bin ich der einzige auf der Insel, der sich unwohl fühlt, wenn ein Sturm aufkommt. Wenn man richtig dafür angezogen ist, kann ein Spaziergang im Sturm sogar erfrischend sein, da alle unangenehmen Gedanken und Gefühle einfach vom Winde verweht werden. Ja, es stimmt, dass es auf Jeju-do Wind und Steine in rauen Mengen gibt und sie die natürliche Umgebung der Insel prägen, was wohl ein schon seit ewigen Zeiten bestehendes Phänomen ist. Aber der „Reichtum an Frauen“ hat sozio-ökonomische Gründe, die sich im Laufe der Zeit auch ändern können. Die Einheimischen erklären, dass viele Fischer auf dem Meer ums Leben kamen, so dass die Frauen alleine zurückblieben und die Familie ernähren mussten. Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als Stärke zu entwickeln. Nach einer anderen, ebenfalls verbreiteten Ansicht unter den Einheimischen gewannen die Frauen, die an der Küste lebten, an Macht, da sie die Brotverdiener der Familie waren. Auf Jeju-do wurden viele traditionelle Frauenaufgaben

„Jeju! Das ist der Ort! Die Insel soll unser Zuhause werden.“ Dieser Entschluss war recht spontan und ist auch erst wenige Monate alt. Aber trotzdem sind wir bereits sicher, dass es die beste Entscheidung war, die wir machen konnten. nur um dann von der nächsten Welle überrollt zu werden. Das einzig Beständige ist der Wandel – ein Symbol für das Leben an sich. Man muss sich einfach auf einem Felsen niederlassen und sich die Zeit nehmen, die Farben des Meeres genauer zu betrachten: der in Strandnähe leichte Ockerton mit den grünen Flecken lose treibenden Seetangs verwandelt sich mit zunehmender Entfernung in Türkisoder Smaragdtöne und danach in verschiedene Blau-Schattierungen, um schließlich in einer dunklen, stahlfarbenen Linie am Horizont zu enden. Wenn dunkle Regenwolken aufziehen, ist dasselbe Meer schwarz, wenn die Wolken hoch und weiß am Himmel stehen, wird es silbern, ganz zu schweigen vom Gold bei Sonnenaufgang und Rot bei Sonnenuntergang. Die Gewässer um Jeju-do sind eine einzigartige Widerspiegelung des sich stets wandelnden Himmels. Wegen des Windes ändert sich hier der Himmel so schnell wie das Wetter. Wer sich daher im Nebel eines

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von den Männern erledigt: Die Männer waren für den Haushalt zuständig, zogen die Kinder groß und kümmerten sich um den Gemüsegarten, während die Frauen im Meer Seegurken, Krabben, Algen, Tintenfische, Schalentiere, oder was sonst noch essbar ist, sammelten. Die weltbekannten Taucherinnen von Jeju-do, die Haenyeo (Meerfrauen), wurden dazu trainiert, ohne Sauerstoffflaschen bis zu 20 Meter tief zu tauchen und dort für mehrere Minuten zu bleiben. Obwohl es heißt, dass ihre Zahl am Zurückgehen ist, kann ich immer noch einige sehen, wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, und wenn ich an der Küste entlang spaziere, ist ihr Pfeifen zu hören, wenn sie ihren Atem ausstoßen. Einige sagen, dass auf Jeju-do ursprünglich matriarchalische Strukturen herrschten. Ob man dem nun zustimmt oder nicht – man kann auf jeden Fall sagen, dass die Frauen an der vordersten Front der Entwicklungen stehen, die die koreanische Gesellschaft heutzuta-

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Die wunderbaren Farben und das herrliche Licht des Meeres um Jeju-do haben schon seit langem Künstler aus dem In- und Ausland inspiriert.

brm1a-049hc, C-print, 260×135cm 2002 © Bae Bien U

ge erlebt. Eine immer größere Zahl koreanischer Frauen ist wirtschaftlich aktiv und gesellschaftlich unabhängiger. Ein solcher Maß an Aktiv- und Unabhängigsein hat es seit der Gründung des JoseonReiches (1392) noch nicht gegeben. Und der Wandel der Rolle der Frau in der koreanischen Gesellschaft gewinnt weiter an Schwung. So frage ich mich manchmal beim Anblick von, sagen wir, 20 Schülern in einem Internet-Café, von denen 17 Jungs und 3 Mädchen sind, wer später erfolgreicher sein wird; denn die Jungs sind meistens in irgendwelche Spiele vertieft, während die Mädchen inhaltsreiche Seiten lesen oder Mails schreiben.

Der Berg Halla-san und die Olle-Trails Die Wohnung, in der wir leben, bevor wir ein endgültiges Zuhause auf der Insel finden, liegt auf einem Felsen an der Küste, so dass das Geräusch des Meeres direkt unter unserem Balkon zu hören ist. Die Küste ist aber nicht die einzige Option für diejenigen, die ein Leben auf Jeju-do ins Auge fassen. Der Halla-san, ein 1.950 Meter hoher Schildvulkan, erhebt sich in der Mitte der 41km langen Nord-Süd- und der 73km langen Ost-WestAchse der Insel. Nur einige Kilometer landeinwärts von der Küste ändern sich Klima und Vegetation. Steigt man nur vier, fünf Kilometer in Richtung Berg, weichen die subtropischen Pflanzen bald dichten Wäldern und dann weitläufigen Hochebenen, wo Pferde und Kühe auf der Weide grasen. Die Olle-Trails an der Küste sind mittlerwei-

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le bekannt genug, um viele Touristen anzuziehen, aber auch in der Umgebung des Halla-san finden sich viele solche Wanderpfade. In beiden Regionen sind die Trails gut ausgeschildert und unerfahrene Trekker wie ich können nur dankbar sein für die zahlreichen Brücken und erhöhten Holzabschnitte an den Stellen der Wanderpfade, die über raues Terrain führen. Was mir ebenfalls noch bei der Anlage der Trails gefällt, ist, dass die Pfade an der Küste immer mal wieder die Möglichkeit bieten, eine kleine Rast zum Essen und Trinken einzulegen. Das Essen auf Jeju-do ist einfach wunderbar. Natürlich bieten hier viele Restaurants wie auf anderen Inseln auch eine reiche Auswahl an Fisch oder Meeresfrüchten, seien sie nun gekocht oder roh. Aber viele dieser Fische gibt es nur in den Gewässern von Jeju-do und dann auch nur, wenn Saison ist. Weitere lokale Spezialitäten sind Gerichte auf Basis des Fleisches der berühmten schwarzen Schweine von Jeju-do, der Pferde oder Fasane. Diese Gerichte werden selbst im Winter mit viel frischem Gemüse serviert. Zu empfehlen ist Jeju-do schließlich auch noch für all diejenigen, die auf der Suche nach guten Golfplätzen, Kasinos, Themenparks, Museen und Galerien sind oder sich für Sporttauchen und Reiten interessieren, auch wenn das nicht gerade zu meinen Interessensbereichen gehört. Zum Schluss möchte ich aber auch noch die Gastfreundschaft und generelle Freundlichkeit der Inselbewohner betonen, deren Art manchmal vielleicht etwas einfach und direkt erscheinen mag, aber immer von Herzen kommt.

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Korea neu entdeckt!

Koreanische Kunstschätze in deutschen Museen

Entdeckung Korea! Schätze aus deutschen Museen , eine von der Korea Foundation initiierte und mit dem Linden-Museum Stuttgart gemeinsam organisierte Wanderausstellung, an der insgesamt zehn deutsche Museen teilnahmen, wurde am 25. März 2011 im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln eröffnet. Diese Ausstellung markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Präsentation koreanischer Kunst in Europa, da alle Exponate Leihgaben führender Museen in verschiedenen Regionen Deutschlands sind. Maya Stiller Forscherin für Koreanische Kunstgeschichte und Religion, University of California at Los Angeles

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ntdeckung Korea! Schätze aus deutschen Museen ist eine Wanderausstellung, die koreanische Kunstwerke aus deutschen Museen zeigt. Sie wurde am 25. März 2011 im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln mit einer eindrucksvollen Eröffnungszeremonie gestartet. Museumskuratorin Adele Schlombs bemerkte in ihrer Eröffnungsrede vor 400 Gästen aus den Kreisen der Kultur und Diplomatie der Region: „In den letzten 30 Jahren wurden in Europa nur sechs Ausstellungen koreanischer Kunst und Kultur veranstaltet. Ich muss gestehen, dass sich unser Interesse an asiatischer Kunst bislang hauptsächlich auf China oder Japan konzentrierte. Ich hoffe, dass sich durch die diesmalige Ausstellung unsere einseitige Perspektive erweitert.“ Diese Ausstellung, die von der Korea Foundation und dem Linden Museum Stuttgart organisiert und durch die Zusammenarbeit von zehn deutschen Museen zustande gekommen ist, hat 1 bewiesen, dass Korea dem europäischen Publikum noch mehr zu bieten hat außer Samsung-Handys, Hyundai-Autos und den Roten Teufeln, den koreanischen Fußballfans. Zum ersten Mal in der Geschichte der koreanischen Kunstausstellungen in Europa werden 116 repräsentative Artefakte aus dem Besitz von bedeutenden Museen in Deutschland gezeigt. Die Exponate wurden von einem Ausschuss aus Kuratoren für asiatische Kunst ausgewählt, die die zehn Museen vertraten, in deren Besitz sich insgesamt rund 8.000 Kunstobjekte befinden.

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Zusammenarbeit von zehn deutschen Museen Die meisten Kunstwerke wurden Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Diplomaten, Händlern und Missionaren, die Korea besuchten, erworben. Darunter befinden sich religiöse Bilder, Genrebilder, Keramiken, Lackarbeiten mit Perlmutteinlagen, Paravents, Skulpturen und Bücher, die mit beweglichen Lettern gedruckt wurden. Nach der Eröffnungsausstellung in Köln, die noch bis zum 17. Juli läuft, sind folgende Stationen vorgesehen: GRASSI Museum für Völkerkunde, Leipzig (27. Februar - 27. Mai 2012), Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt (28. Juni - 9. September 2012) und Linden-Museum, Staatliches Museum für Völkerkunde, Stuttgart (17. November 2012 - 17. Februar 2013). Siegmar Nasher, Kurator für asiatische Kunst am Ethnologischen Museum, Staatliche Museen zu Berlin, sagte: „Diese Ausstellung wird die einzigartige Gelegenheit bieten, koreanische Kunstwerke, die in den wichtigsten deutschen Museen aufbewahrt werden, an einem Ort zu sehen. Die Besucher werden kulturelle oder stilistische Verbindungen zwischen den einzelnen Kunstwerken entdecken können.“ Siegmar Nasher ist einer der zehn Kuratoren, die im Sommer 2008 zum ersten Meeting für die Planung der Wanderausstellung von Min Young-joon, der Direktorin des Berliner Büros der Korea Foundation, eingeladen wurden. Die anschließenden Recherchen ergaben, dass rund 10.000

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1. Ohrschmuck aus dem Königreich Silla (5.-6. Jhdt., Länge: 10cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Schenkung Ryun Nam-koong 1986) 2. Kanne aus der Goryeo-Zeit (12. Jhdt., Höhe: 26cm, Museum für Ostasiatische Kunst Köln, Erwerbung durch Adolf Fischer 1905) K o r e a n a ı S o mme r 2 01 1 K o r e a n a ı S u mme r 2 011

3. Blau-weißer Schultertopf mit Drachendekor aus der Joseon-Zeit (18. Jhdt., Höhe: 45cm, Durchmesser: 32,5cm, GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, aus der Sammlung H. Sänger, erworben 1902) 4. Wasser-Mond Avalokitesvara aus der Goryeo-Zeit: (14. Jhdt., Hängerolle, Höhe: 98cm, Breite: 55cm, Museum

für Ostasiatische Kunst Köln, Erwerbung durch Adolf Fischer 1909) 5. Junge mit Phönix aus der Joseon-Zeit (17.-18. Jhdt., Museum für Ostasiatische Kunst Köln, Erwerbung durch Adolf Fischer 1910)

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koreanische Kunstwerke in den Lagern von deutschen Museen aufbewahrt werden, von denen die meisten fast ein ganzes Jahrhundert nach ihrem Erwerb unberührt blieben. Jedes Museum hatte zudem eine eigene Hintergrundgeschichte in Bezug auf die Entstehung der Verbindung mit Korea. Die Kuratoren erforschten, auf welchen Wegen die einzelnen Kunstwerke in den Besitz des jeweiligen Museums gekommen waren. Ergebnis dieser Arbeiten ist ein 410-seitiger, auf Deutsch und Englisch verfasster Ausstellungskatalog mit Essays und Farbfotos der Exponate. Die einzelnen Ausstellungsstücke werden näher erklärt und man kann auch nachlesen, wie sie in den Besitz der deutschen Museen kamen und wie die diplomatischen und kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Korea zu Anbruch des 20. Jahrhunderts aussahen. Wärend der Vorbereitungen für die Ausstellung machten die Kuratoren einige erstaunliche Entdeckungen. So erzählte Dieter Grundmann vom GRASSI Museum für Völkerkunde in Leipzig: „Bei einem Treffen stellten die einzelnen Kuratoren die Stücke ihrer jeweiligen Sammlung vor. Dabei wurde klar, dass die Sammlung jedes Museums eine andere Seite der koreanischen Kultur zeigt. In vielen Fällen lernten wir zum ersten Mal etwas über die Stücke der anderen Museen.“ Adele Schlombs kommentierte begeistert: „Das GRASSI Museum war für mich z.B. eine Offenbarung. Die Gefäße und Vasen aus weißem Porzellan, die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen, sind wahrhaftig fantastische Kunstwerke.“

Erstaunliche Entdeckungen Etwa die Hälfte der ausgestellten Artefakte stammen aus dem Besitz des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln, dessen Sammlung über 400 Objekte umfasst. Der Gründer dieses Museums, Adolf Fischer (1856-1914), war ein großer Bewunderer der buddhistischen Malereien und Keramiken der GoryeoZeit (918-1392). Als Fischer 1910 mit seiner Frau Korea besuchte, kaufte er von japanischen Kunsthändlern Werke von hohem Niveau. Viele der Stücke, die die Fischers auf diese Weise sam-

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melten, sind heute in der Ausstellung in Köln zu sehen. Das Gemälde Wasser-Mond-Avalokitesvara aus dem 14. Jahrhundert lässt erkennen, dass Fischer ein Kunstkenner war. Trotz des dunklen Seidenhintergrundes ist die in feinster Pinselarbeit ausgeführte, erhabene Gestalt des beliebten Bodhisattva, der in prachtvolle Gewänder gehüllt und reich geschmückt ist, deutlich zu erkennen. Das Kleidungsensemble aus dem Besitz Paul Georg von Möllendorfs (1847-1901) — er diente in den frühen 1880er Jahren als außenpolitischer Berater von König Gojong — , das vom Ethnologischen Museum Berlin ausgeliehen wurde, zeugt von den kooperativen Beziehungen zwischen Deutschland und Korea in einer unruhigen Wendezeit der modernen Geschichte. Auch zeigen die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Genremalereien von Kim Jun-geun (Künstlername: Kisan), die sich im Besitz des Ethnologischen Museums Berlin befinden, dass die ersten Deutschen, die Korea besuchten, sich für die koreanischen Traditionen und den Lebensstil der Menschen interessierten. Ein weiteres Werk, das bei der Kölner Ausstellung ins Auge fällt, ist die Videocollage Global Groove von Nam June Paik, eine Leihgabe des Museum Ludwig. Dieses Exponat ist eine Hommage an Nam June Paik, den Begründer der Videokunst, der als Schüler des Komponisten Karl-Heinz Stockhausen in Köln Musik studierte und seine ersten künstlerischen Gehversuche in Deutschland unternahm. Nam June Paiks Werk bildet als Brücke zwischen Ost und West den Abschluss dieser Ausstellung, die mit schamanistischen Ritualmalereien, die mythische Figuren wie Berggeister und Tiger darstellen, ihren Anfang nimmt. Die Ausstellung zeigt zwar nur 116 repräsentative koreanische Kunstwerke, aber ihre Bedeutung geht weit über die Zahl der Exponate hinaus. Nach zwei Jahren harter Arbeit ist den Kuratoren bewusst geworden, wie viel in Bezug auf die Auflistung und Erforschung koreanischer Kunstwerke noch zu tun ist. Daher ist diese Ausstellung Auftakt einer neuen Ära von Bemühungen, dem deutschen Publikum das koreanische Kulturerbe noch näher zu bringen. Susanne Knödel, Kuratorin für koreanische Kunst am Museum für Völkerkunde in Hamburg, erzählt über die Zukunftspläne des Museums: „Durch diese Ausstellung ist unser Interesse an Korea stark gewachsen und hat unseren Plan, die koreanische Sammlung unseres Museums zu dokumentieren, angetrieben. Wir wurden von dieser Ausstellung inspiriert und planen, 2013 eine Auswahl der rund 2.600 Artefakte in unserem Besitz der Öffentlichkeit zu präsentieren.“

1. Gäste bei der Eröffnungszeremonie der Wanderausstellung Entdeckung Korea! Schätze aus deutschen Museen betrachten die im Museum für Ostasiatische Kunst Köln ausgestellten Exponate; 25. März 2011.

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Die Ausstellung zeigt zwar nur 116 repräsentative koreanische Kunstwerke, aber ihre Bedeutung geht weit über die Zahl der Exponate hinaus. Nach zwei Jahren harter Arbeit ist den Kuratoren bewusst geworden, wie viel in Bezug auf die Auflistung und Erforschung koreanischer Kunstwerke noch zu tun ist.

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2. Sansin mit Tiger (Anfang 20. Jhdt., Hängerolle, Höhe: 61,5cm, Breite: 46,5cm, Museum für Völkerkunde Hamburg, erworben mit Mitteln des Förderkreises des Museums für Völkerkunde Hamburg 1980) 3. Adolf Fischer (1856-1914), Gründer des Museums für Ostasiatische Kunst Köln, und seine Frau Frieda. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 1

Das Ehepaar erwarb auf seinen Reisen nach Korea im ersten Jahrzehnt des 20. Jhdts. eine große Anzahl von koreanischen Kunstgegenständen. 4. Kleidungsensemble aus der Joseon-Zeit aus dem Besitz Paul Georg von Möllendorfs (19. Jhdt., Länge (Mantel) 140cm, Ethnologisches Museum, Staatliche

Museen zu Berlin 5. Kosmetikkasten, Holz mit schwarzem Lack, Perlmutteinlagen und Schildpatt aus der Joseon-Zeit (18. Jhdt., Höhe: 20,5cm, Länge: 19cm, Breite: 32cm, Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Schenkung Barbara und Wolfgang Rabi 2008)

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Poesie fließt in den Straßen. Die Gwanghwamun -Schrifttafel: 20 Jahre Kultursymbol Seouls

Der Frühling flüstert: Erblühe, hoffe und liebe. Habe keine Furcht vor dem Leben.

Verzieh nicht dein Gesicht, du Eule. Ist es nicht ein Frühlingsregen?

In den letzten 20 Jahren hat die Gwanghwamun-Schrifttafel, die das Versicherungsunternehmen Kyobo Life Insurance am Gwanghwamun, mitten im Zentrum der Zehn-Millionenstadt Seoul, auf der Fassade ihres Gebäudes angebracht hat, das Herz der Passanten erfreut. Wer im Vorbeigehen einen Blick auf die Tafel wirft und die kurzen Zeilen liest, der fühlt sich für einen Moment erfrischt, getröstet und kann vielleicht sogar neue Hoffnung schöpfen. Koh Mi-seok Journalist für Kunst, The Dong-a Ilbo | Fotos: Ahn Hong-beom

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s war an einem Tag Anfang März in der Straße Sejongno im Seo­ uler Stadtzentrum. Wie immer kurz nach 18 Uhr füllte sich die Straße mit Menschen, die von der Arbeit nach Hause eilten. So auch die Angestellte Ha Ji-yeong, die wie gewöhnlich auf dem Weg nach Hause den Gwanghwamun-Platz überquerte, als sie plötzlich die Outdoor-Werbung an der Fassade des Versicherungsunternehmens Kyobo Life bemerkte. Ihr ausdrucksloses Gesicht erhellte sich mit einem Male und sie ging geradewegs zu einem Blumenladen in der Nähe, um einen Strauß Freesien zu kaufen. Sie erzählt: „Als ich auf dem Weg nach Hause den Duft der Blumen roch, war es in meinem Herzen schon Frühling. Auch das Gesicht meiner Mutter erblühte wie der Frühling, als ich ihr den Blumenstrauß überreichte.“ Der plötzliche Drang, den Frühlingsduft an der Nase kitzeln spüren zu wollen, wurde von folgenden Gedichtzeilen auf der Werbetafel der Kyobo Life Insurance hervorgerufen: Urplötzlich habe ich Lust, Blumen zu kaufen. Was sonst als Blumen sollte ich denn kaufen? Es ist ein Auszug aus dem Gedicht Verdammt, warum kaufe ich auf diese Weise Blumen? von Lee Jin-myeong. Eine einzige Gedichtzeile bläst Frühlingsstimmung in die Herzen der Städter, die in der Hektik des Alltags vergessen haben, was Muße ist. Das ist die Kraft, die eine Anzeigetafel von 20m Breite und 8m Höhe hat.

Botschaften der Aufklärung und des Trostes Die Gwanghwamun-Schrifttafel wurde im Januar 1991 auf Anregung von Sin Yong-ho, des mittlerweile verstorbenen Gründers der Kyobo

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Life Insurance, angebracht. Die Gedichtzeilen sollten etwa 30 Silben enthalten, so dass die Passanten sie im Vorbeigehen leicht lesen und ihre Bedeutung verstehen können. Die poetischen Botschaften wurden dann alle drei Monate im Rhythmus der Jahreszeiten im März, Juni, September und Dezember ausgewechselt. In den ersten Jahren erschienen hauptsächlich Zeilen mit aufklärerischen oder belehrenden Inhalten, aber mit der Asienkrise (1997-1998) wurde eine andere Richtung eingeschlagen. Es wurden literarische Inhalte, hier insbesondere solche, die Hoffnung und Trost spenden sollten, auf die Tafel gebracht, was dazu führte, dass die Schrifttafel als eine Art kulturelle Einrichtung sich bei den Bürgern von Seoul immer größerer Beliebtheit erfreute. Die Schriftstellerin Eun Hee-kyung, die 2009 Mitglied des Auswahlkommitees für die Inhalte der Schrifttafel war, sagt, „dass die Botschaften keine Allerwelts-Maximen und Sprüche seien, sondern Zitate aus der Literatur, die Mut und Hoffnung geben, zum Nachdenken anregen und manchmal auch verspielt sind. Deshalb mögen die Leute die Tafel.” Die Schrifttafel ist heute weit mehr als ein Projekt zur Hebung des Markenimages eines Unternehmens: Sie steht symbolisch für Seoul als eine Stadt, durch die die Poesie fließt.

Auswahl der Inhalte Nach der Anbringung der Tafel wählte Kyobo Life Insurance die Verse zunächst intern aus, doch seit der Gründung des Auswahlkommitees für die Gwanghwamun-Schrifftafel im Dezember 2000 entscheiden die sieben Komiteemitglieder, darunter Schriftsteller, Professoren

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Die Schrifttafel der Poesie auf der Fassade des Gebäudes der Versicherung Kyobo Life Insurance am Gwanghwamun ist zu einem kulturellen Wahrzeichen geworden, das den Alltag der Passanten mit Worten der Hoffnung und der Ermutigung erhellt.

und Pressevertreter, darüber. Sie sondieren die Vorschläge, die von Bürgern auf der Webseite der Firma oder von Komiteemitgliedern gemacht wurden, und fällen dann nach mehreren Diskussionsrunden und Abstimmungen die endgültige Entscheidung. Danach arbeitet ein Team von sechs bis zehn Designern an der visuellen Präsentation, wobei in Bezug auf die Schriftform auf leichte Lesbarkeit und künstlerischen Gehalt zu achten ist. Wenn eine Design ausgewählt ist, wird die neue Schrifttafel für drei Monate am Gwanghwamun ausgehängt. Gwak Hyo-hwan, Dichter und Direktor der Daesan Stiftung, die zur Kyobo Life Insurance gehört, hat schon von Anfang an an der Auswahl der Inhalte teilgenommen. Er sagt: „Es ist bedeutsam, dass man in der Hauptstadt eines Landes, darüber hinaus noch im Herzen der Stadt, auf Poesie trifft. Die Menschen, die die Zeilen lesen, können einen kurzen Moment der Kontemplation genießen, und für die Dichter ist diese kostbare Möglichkeit, ihr Werk einem breiten Publikum vorzustellen, ein großes Glück.“ Bei der Auswahl der Inhalte wird unter anderem berücksichtigt, inwieweit die Zeilen den aktuellen Interessen der Zeit entsprechen, ob sie zur Jahreszeit passen und die Bedeutung gut vermittelt wird. Bis jetzt wurden Zeilen aus den Werken von etwa 40 großen Denkern und Schriftstellern aus Ost und West wie Konfuzius, Hermann Hesse, Alfred Tennyson, Pablo Neruda, Seo Jeong-ju, Ko Un oder Do Jonghwan zitiert, aber es waren auch Auszüge aus den Aesop Fabeln zu lesen, den heiligen Schriften des Buddhismus oder sogar aus einem Lied des Hiphop-Sängers Kebee: Du und ich, wir wurden in getrennte Töpfe gepflanzt, doch wir werden von der gleichen Sonne beschienen. Da metaphorische Wendungen bevorzugt werden, werden vor allem Gedichte zitiert, darunter mit sieben Mal am häufigsten die Werke des koreanischen Dichters Ko Un, der wiederholt als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen wurde.

„100 Personen, die die Welt erhellt haben“ Die kurzen Botschaften auf der Werbefläche eines Gebäudes, die nicht durch Neonlichter angestrahlt wird, hat sich in den letzten 20 Jahren zunehmenden gesellschaftlichen und kulturellen Interesses erfreut. Sobald ein neues Zitat erscheint, verbreitet es sich rasant über die Blogs der Netizens und wird nicht selten in den Kolumnen der Zeitun-

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gen behandelt. Die Korea Green Foundation hat im Dezember 2007 die Gwanghwamun-Schrifttafel sogar in die Liste der „100 Personen, die die Welt erhellt haben“ aufgenommen. Es war das erste Mal, dass ein Objekt auf diese Liste kam. Im März 2008 hat die Cultural Union for Hangeul, eine Bürgervereinigung zur Beförderung der koreanischen Schrift Hangeul, die Schrifttafel mit einem Preis ausgezeichnet, der an Personen oder Gruppen vergeben wird, die sich besonders um die koreanische Sprache und Schrift verdient gemacht haben. Im Oktober 2010 wurde das Buch In Gwanghwamun lesen, schlendern und fühlen herausgegeben, das Zitate und Herstellungsschritte der Schrifttafel vorstellt, und vor kurzem erschien eine kostenlose Smartphone-Applikation, mit der man die Sätze herunterladen kann. Auch machen immer wieder öffentliche und private Unternehmen, die eine Schrifttafel wie die Benchmark-Tafel am Gwanghwamun einführen wollen, bei Kyobo Life diesbezügliche Anfragen. Angespornt von diesem positiven Echo hat Kyobo Life neben der Schrifttafel am Gwanghwamun an anderen Gebäuden des Unternehmens im ganzen Land ähnliche Tafeln anbringen lassen, so in Gangnam (Seoul), Cheonan, Daejeon, Busan, Gwangju, Daegu und Jeju.

Die Kraft der Empathie und der Methapher Die Gwanghwamun-Schrifttafel dient als Fenster zum Zeitalter, da sie die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Realitäten erfasst und widerspiegelt. Schaut man sich die Botschaften der Schrifttafel an, lassen sich Wandel und Trends der koreanischen Gesellschaft erkennen. Das Forschungsteam um Professor Yi Myeong-cheon von der ChungAng Universität hat eine Studie über Themen und rhetorischen Gehalt der Botschaften veröffentlicht. Laut Yi ist die Schrifttafel ein bislang nie da gewesenes Beispiel von effektiver Fassadenwerbung in dem Sinne, dass sie an ihrem spezifischen Standort als Landmarke wahrgenommen wird, in der Größe andere Outdoor-Werbungen übertrifft, täglich von rund einer Million Passanten und den Insassen von 250.000 vorbeifahrenden Fahrzeugen gesehen wird und bereits seit 20 Jahren existiert. Weiter heißt es, dass der Grund für ihre fortwährende Popularität in der „Empathie“ und „Metaphorik“ der Zeilen zu finden sei. Nicht durch direkte Botschaften, sondern durch Appelle an das Gefühl kann Empathie erzeugt werden und die Metaphern, in denen sich eine reiche Vorstellungskraft verbirgt, berühren eine Saite in den Herzen der Menschen.

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Laut Kyobo Life Insurance wurden alle der bislang 65 auf der Schrifttafel erschienenen Gedichtzeilen gut aufgenommen, am beliebtesten waren jedoch folgende des Dichters Ko Un: Zusammengesammelt, wird es

zum Wald und Wenn es keinen Weg gibt, dann schaffen wir einen und gehen. Ab hier beginnt die Hoffnung Auch Zeilen der Herausforderung und Hoffnung fanden viel Anklang: Wo gibt es eine Blume, die blüht, ohne

dass sie geschüttelt wird? (Frühling 2004; Do Jong-hwan) und Am Morgen gibt es nicht so etwas wie ein Schicksal. Es gibt nur einen neuen Tag . (Winter 2008: Jeong Hyeon-jong) Auf der ersten Schrifttafel von 1991 stand: Lasst uns unsere Kräfte bündeln und einen neuen Wirtschaftsaufschwung erreichen. Weitere Slogans im Kampagnenstil waren: Es ist nicht zu spät. Setzen wir zu einem neuen Sprung für Wirtschaftswachstum an und Gute Leistungen sind Ergebnis eines guten Starts. Ende 1997, als über Korea die asiatische Devisenkrise hereinbrach und viele Menschen in Not und Verzweiflung stürzte, setzte ein Wandel ein. Sin Yong-ho, der Gründer von Kyobo Life Insurance und Initiator des Schrifttafel-Projekts, rief zu einem neuen Kurs auf: „Vergesst die Werbung für die Firma. Benutzt die Schrifttafel voll und ganz dafür, den Bürgern Trost zu spenden.“ Im Februar 1998 wurde mit den folgenden Zeilen aus dem Gedicht In die Fremde von Ko Un ein weiterer Neubeginn eingeläutet: Brich in die Fremde auf, heraus aus der ewigen Tretmühle des Alltags. Danach enthielt die Schrifttafel beständig Inhalte, die den Koreanern, die Tag für Tag mit den Folgen der Rezession zu kämpfen hatten, Leid und Sorgen von den Schultern nehmen sollten. Und ab da geriet sie in aller Munde. Während der Devisenkrise waren die großen Themen „Trost und Hoffnung“ sowie „Selbstbetrachtung und Anstrengung“. Die Botschaft von Winter 1998 stieß dabei auf besonders große Resonanz, weil sie von Koexistenz und gemeinsamer Prosperität sprach und so die Bevölkerung aufrichtete: Zusammengesammelt, wird es zum Wald. Kein einziger Baum wird getötet, es wird zum Wald. Ins Zeitalter des Waldes gehen wir. Nachdem die schwierige Lage überwunden worden war und die Gesellschaft sich wieder stabilisiert hatte, tauchte auch das Thema „Liebe“ immer wieder mal auf. Wie ich dein Herz innigst liebe, so liebe ich auch die Welt, in der wir leben (Sommer 2008). Durch Eis und Schnee schießt die Wildblume als Allererste hervor – es wäre schön, wenn du sie wärst (Herbst 2010). Mit der zunehmenden Bekanntheit der Schrifttafel kam es auch zu einigen denkwürdigen Episoden. Anfang 1998 gab zum Beispiel ein Beamter, der im Blauen Haus arbeitete und die Zeile Brich in die Fremde auf … gelesen hatte, seine Stelle im Präsidentensitz auf, um das zu machen, wovon er schon sein Leben lang geträumt hatte. Und 2004 bedankte sich ein junger Mann, der gerade seinen Militärdienst absolviert hatte und sich über seine Zukunft Sorgen machte, bei Kyobo Life für die Erleuchtung, die ihm folgende Zeilen gebracht hatte: Wo gibt es eine Blume, die blüht, ohne dass sie geschüttelt wird? Jede schöne Blume wurde geschüttelt, als sie blühte. Der junge Mann über-

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wand sein geistiges Tief und nahm sein Leben fest in die Hand. Im Frühling 2008, als es einen Regierungswechsel gab, interpretierten viele folgende, aus dem Gedicht Was geschieht nicht alles an einem Tag des chilenischen Dichters Pablo Neruda stammenden Zeilen aus politischer Perspektive: Gegrüßt, Liebe, gegrüßt sei alles, was abstirbt und was erblüht. Die Bürger diskutierten heftig darüber, wie „Absterben“ und „Erblühen“ zu interpretieren seien und wofür es stehen. Auch die Schrifttafel vom Frühling 2009 hat eine besondere Geschichte. Gerade am 1. März, dem Tag zum Gedenken der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die japanischen Besatzer, erschien auf der Schrifttafel ein Auszug aus einem Haiku (traditionelle japanische Gedichtform) des japanischen Dichters Kobayashi Issa: Verzieh nicht dein Gesicht, du Eule. Ist es nicht ein Frühlingsregen? Kyobo Life machte sich Sorgen darüber, wie die Bürger reagieren würden. Aber zum Glück wurde der Spruch für den Frühling positiv aufgenommen, was auch ein Beweis dafür ist, dass sich die kulturelle Toleranz der koreanischen Gesellschaft erhöht hat.

„Ein besonderes Geschenk nur für mich“ Laut Kyobo Life Insurance wurden alle der bislang 65 auf der Schrifttafel erschienenen Gedichtzeilen gut aufgenommen, am beliebtesten waren jedoch folgende des Dichters Ko Un: Zusammengesammelt, wird es zum Wald und Wenn es keinen Weg gibt, dann schaffen wir einen und gehen. Ab hier beginnt die Hoffnung. Auch Zeilen der Herausforderung und Hoffnung fanden viel Anklang: Wo gibt es eine Blume, die blüht, ohne dass sie geschüttelt wird? (Frühling 2004; Do Jong-hwan) und Am Morgen gibt es nicht so etwas wie ein Schicksal. Es gibt nur einen neuen Tag. (Winter 2008: Jeong Hyeon-jong) In Literaturkreisen hofft man, dass die Gwanghwamun-Schrifttafel, ein Kultur-Content, der auf der Welt seinesgleichen suchen dürfte, als beständige Einrichtung erhalten bleibt. „Ich dachte, so wie diese kurzen Zeilen mein Herz zu erleichtern vermögen, so können sie auch alle von Misserfolg und Verzweifelung Gequälten umarmen, ihre Schmerzen und Sorgen lindern, und die offenen Wunden und Narben der Seele heilen.“ (Dichter Jang Seok-ju) „Die Gwanghwamun-Schrifttafel ist der blaue Himmel über Seoul. Sie ist eine erfrischende Brise in der Ödheit des Alltags, ein blauer Fluss, der schon über 20 Jahre durch die Straßen am Gwanghwamun fließt.“ (Dichter Kim Yongtaek)

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kunstkritik

Das Musical Tears of Heaven Aufschwung des koreanischen Musicals zu neuen Höhen Dank der Besetzung mit Idol-Stars und des vor der Aufführung erschienenen Konzeptalbums war die Erstaufführung des Musicals Tears of Heaven (Tränen des Him-

mels ) in Korea erfolgreich. Bis zur Präsentation am Broadway bleiben aber noch einige Probleme zu lösen. Won Jong-won Professor für Medienwissenschaft, Soonchunhyang University

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ie viele Musicals werden in Korea pro Jahr inszensiert? Die Antwort ist erstaunlich: mehr als 180. Diese Zahl schließt nicht die Musicals für Kinder oder Musicals mit erzieherischem Inhalt ein. Das heißt, es wird eine enorme Anzahl von Stücken auf die Bühne gebracht. Betrachtet man nur die Zahl der Stücke, könnte man vielleicht darauf schließen, dass viele an den Produktionen Beteiligte hohe Gewinne einstreichen, aber die Marktrealität gehorcht anderen Gesetzen. Wie bei fast allen Kulturindustriezweigen besteht auch in der Musical-Branche eine Kluft zwischen Arm und Reich. Die meisten Musical-Produzenten beklagen sich da­rüber, dass in Hinblick auf eine gewinnbringende Kommerzialisierung die koreanischen Musicals im Vergleich zu ausländischen Produktionen nicht wettbewerbsfähig sind. Die meisten Kassenhits sind ins Koreanische übersetzte ausländische Stücke oder Gastspiele ausländischer Musical-Truppen, wohingegen „Musicals made in Korea“, die auf koreanischer Kultur und koreanischen Geschichten basieren und unter Einsatz von koreanischem Kapital von koreanischen Truppen und Produktionsteams dargeboten werden, dem Wettbewerb mit den Import-Musicals kaum gewachsen sind. Die hohe Anzahl von aufgeführten Musicals bedeutet mit anderen Worten, dass die Stücke nur eine kurze Spielzeit haben. Die koreanischen Musicals vermögen in vielen Fällen beim Wettbewerb mit ausländischen Werken, die auf dem riesigen Auslandsmarkt bereits eine harte Testphase hinter sich gebracht und dadurch ihren Erfolg unter Beweis gestellt haben, nicht mitzuhalten. Aber bei koreanischen Musicals ist das Massenpublikum kaum bereit, in die Tasche zu greifen. Vor allem für große Bühnen mit 1.000 oder mehr Sitzen ist das Risiko eines Fehlschlags besonders hoch. Das ist der Grund, weshalb man in der koreanischen Musical-Welt verzweifelt auf eine einheimische konkurrenzfähige Produktion hofft.

Koreanische Geschichte, internationales Produktionsteam Das Stück Tears of Heaven, das vom 1. Februar bis 19. März 2011 auf der Bühne des

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In Tears of Heaven wird die Hauptfigur Joon (der koreanische Soldat links) in den Vietnamkrieg geschickt. Der Popsänger Kim Jun-su zog Legionen seiner Fans an und bewies damit seine Boxoffice-Anziehungskraft.

Nationaltheaters in Seoul debütierte, ist insofern von Bedeutung, als sich darin das Kopfzerbrechen der Produzenten (Creative Production und Seol & Company ) über die Lösung der Probleme des koreanischen Musical-Marktes widerspiegelt. Mit einer Lovestory koreanischer Prägung und durch die Besetzung mit koreanischen Idol-Stars wie Kim Jun-soo, einem ehemaligen Mitglied der Boy Group TVXQ (Dongbangsingi), wollten die Produzenten einen Kassenschlager schaffen und durch die Zusammenarbeit mit einem internationalen Produzententeam zielten sie auf den Weltmarkt ab. Dadurch wollten sie zeigen, dass Korea nicht nur ein Absatzmarkt für Lizenzen berühmter ausländischer Musicals ist, sondern auch ein neuer Produktionsstandort für kreative Musical-Contents werden kann. Manche weisen zwar darauf hin, dass Tears of Heaven ein „multinationales“ Kulturprodukt sei, weil das Stück eine Verbindung von koreanischem Kapital und Projektplanung mit ausländischen Produktionsmitarbeitern ist, aber der Versuch der koreanischen Produzenten, sich auf den weltweiten Musical-Markt einzustellen und ihn darüber hinaus herauszufordern, ist mit Sicherheit von Bedeutung.

Eine Nachahmung von Miss Saigon? Tears of Heaven spielt vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges. Da Miss Saigon als herausragendes Werk schon den Vietnamkrieg thematisierte und zu einem internationalen Boxoffice-Hit wurde, kann man sich die Frage stellen, weshalb ausgerechnet ein weiteres Musical über den Vietnamkrieg gemacht wurde. Bei genauer Betrachtung sind die Absichten der Produzenten aber leicht zu erkennen. Auch wenn es fast schon allzu selbstverständlich klingen mag: In diesem Werk wurde der Stoff des Vietnamkriegs aus der Sicht Koreas rekonstruiert. Korea entsandte über 300.000 Soldaten in diesen Krieg und stand damit in punkto Involvierung an zweiter Stelle gleich hinter den USA. Entsprechend hoch waren die Verluste und tief die Wunden, die dieser Krieg in die Herzen der Koreaner riss. Auf die Frage, ob Tears of Heaven aus dem Schatten von Miss Saigon heraustreten könne, gab Schauspieler Brad Little, der die Rolle von US-Oberst James Grayson spielte, eine kluge Antwort: „Warum sollte das Genre Musical nur eine einzige Geschichte über den Vietnamkrieg erzählen?“ Tears of Heaven wurde vom Musikvideo Asinayo (Weißt du davon?) des Sängers Jo Seong-mo inspiriert und thematisiert die Liebesgeschichte zwischen dem koreanischen Soldaten Joon und dem vietnamesischen Showgirl Linh vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs. Oberst Grayson, der ebenfalls in Linh verliebt ist, will sie mit in die USA nehmen, aber Linh, die mit Joon nach Korea gehen

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Die Musik des Stücks trug dazu bei, die einzelnen Musical-Szenen noch ergreifender zu machen: Raining Fire (Es regnet Feuer ), bei dem die Menschen, befangen im Malstrom des Krieges, im Granatenhagel umfallend vom Tod singen, und das letzte Lied des ersten Akts Can

you hear me ? (Kannst du mich hören ?), gemeinsam gesungen von dem an die Front ziehenden Protagonisten und von den Nebenfiguren, riefen beim Publikum tiefe innere Bewegung hervor.

möchte, lehnt den Vorschlag ab. Grayson fädelt daraufhin in seiner Eifersucht eine Intrige ein, um den Rivalen Joon aus dem Weg zu räumen: Er soll auf einen lebensgefährlichen Posten der Grenze geschickt werden. Linh entdeckt den Plan, trennt sich von Joon, um ihn zu retten, und geht mit Grayson in die USA. Dort bringt sie Joons Tochter zur Welt. Grayson verlässt sie daraufhin, begeht später aber aus Gewissensbissen Selbstmord. Joon entkommt mit Hilfe von Linhs Bruder knapp dem Tod und wird Bestseller-Autor. Später trifft er in einem Theater in den USA zufällig auf seine inzwischen erwachsene Tochter, die eine berühmte Opernsängerin geworden ist.

Aufführung auf dem Broadway Das raffinierte Bühnenbild sorgte für ein fesselndes optisches Erlebnis. Die von am Bühnenboden installierten LED-Panelen abgestrahlten Farben verschiedenster Art schufen Räume und Stimmungen, während auf der Bühne durch eine gelungene Mischung von Beleuchtung und Bewegtbildern ein asiatisches Schattenspiel präsentiert wurde. Darüber hinaus kreierte eine weiße „Tür“, die hierhin und dahin verlegt wurde, verschiedene Räume, was den Reiz der Aufführung erhöhte. Die raffinierte und fantasievolle Bühnengestaltung von David Gallo, der die Bühnenbilder von The Drowsy Chaperone und Throughly Modern Millie entwarf und sich dadurch derzeit in der MusicalBranche weltweit großer Beliebtheit erfreut, faszinierte das Publikum. Anfang

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Szenen aus Tears of Heaven . (Links) Brad Little, der Oberst Grayson spielte, wurde für seine dramatische Präsenz auf der Bühne gelobt. (Rechts) Die Hauptcharaktere Linh (Lee Hae-Ri) und Joon (Kim Jun-su).

2011 kamen in Seoul Jekyll & Hyde, Der Graf von Monte Christo und Tears of Heaven, deren Musik aus der Feder des weltweit berühmten Komponisten Frank Wildhorn stammt, gleichzeitig auf die Bühne. Die Musik von Tears of Heaven bewies dabei wie die der anderen genannten Werke ihre ganz eigene Stärke, das Publikum in den Bann zu schlagen. Raining Fire (Es regnet Feuer), bei dem die Menschen, befangen im Malstrom des Krieges, im Granatenhagel umfallend vom Tod singen, und das letzte Lied des ersten Akts Can you hear me? (Kannst du mich hören?), gemeinsam gesungen von dem an die Front ziehenden Protagonisten und von den Nebenfiguren, riefen beim Publikum tiefe innere Bewegung hervor. Es war ein interessanter und für die koreanische Musical-Branche recht ungewöhnlicher Marketing-Versuch, das Konzeptalbum vor der Uraufführung zu produzieren. Wenn man das Gewicht der Musik in Musicals berücksichtigt, so geht dieser Versuch in eine wünschenswerte Richtung. Auf diese Weise kommt man dem Publikum entgegen, da es sich die Lieder vor der Aufführung anhören kann, so z.B. Can you hear me? von der koreanischen Sängerin Yangpa und Tears of Heaven von Lee Hae-Ri, die Mitglied der Mädchengruppe Davichi ist und die Rolle der Protagonistin Linh spielte. Da die koreanische Musik dank der Koreawelle Hallyu im Ausland immer mehr Fans gewinnt, könnte das Album als wirksames Marketing-Instrument eingesetzt werden. Tears of Heaven war zwar als neuartige und originäre Musical-Produktion ein voller Erfolg, aber gleichzeitig bestehen noch viele zu lösende Probleme, wenn dieser Erfolg fortgesetzt werden soll. So entfaltete sich die Handlung auf der Bühne etwas zu emotional oder banal und wirkte durch wiederholte, realitätsferne Zufälle zu konstruiert. Diese Punkte bedürfen in Zukunft einer verbessernden Bearbeitung. Wenn man das Musical in den Details ergänzt und die Gesamtdarbietung qualitativ erhöht, dann kann sich das Debüt in Seoul als wertvolle Erfahrung erweisen. Und dann kann man auch darauf hoffen, dass der Sprung auf den Broadway zu schaffen ist.

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korea entdecken

Meine Reise in die Welt der koreanischen Literatur Ich begann meine Reise in die Welt der koreanischen Literatur im Alter von 45 Jahren, also erst vor sechs Jahren. Jede Ecke verspricht eine Neuentdeckung und jedes Buch, auf das ich stoße, hält neue Einsichten für mich bereit. Einmal in der Woche besuche ich die Buchhandlungen in Seoul, die fremdsprachige Bücher in ihrem Angebot haben. Ich befinde mich auf einer ganz persönlichen Mission, deren Ziel es ist, eine Privatbibliothek aufzubauen, die alle Übersetzungen der modernen koreanischen Literatur, die je veröffentlicht wurden, enthält. Charles Montgomery Professor für English Interpretation and Translation, Dongguk University | Fotos: Ahn Hong-beom

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or nun fast 15 Jahren kam in einem Sprachlabor im kalifornischen Hayward ein junger koreanischer Tutor namens Ed Park zu mir und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm etwas essen zu gehen und über Literatur zu diskutieren. So begann unter den Leuchtstofflampen und dem Computergesumme des Sprachlabors mein Bildungsweg in Bezug auf Korea. Ed wurde mein bester Freund. Wir arbeiteten bei Übersetzungen zusammen, diskutierten nächtelang über Literatur. Später wurde ich auch der Pate seines Sohnes. Neun Jahre nach unserer ersten Begegnung flog ich anlässlich Eds Hochzeit, die in Gwangju stattfand, zum ersten Mal nach Korea. Vom Augenblick meiner Landung auf dem Internationalen Flughafen Incheon an spürte ich, dass etwas ganz Besonderes seinen Anfang zu nehmen begann. Vielleicht war es teilweise, weil der Incheoner Flughafen Weltklasseniveau hat, vielleicht war es auch nur Jetlag, aber dieses Gefühl ließ mich die ganze Zeit über nie los. Während ich Korea als Tourist bereiste, wuchs in mir die Gewissheit, dass ich eines Tages zurückkommen würde, um meinem wachsenden Interesse an der Kultur nachzukommen.

Die Entdeckung der Literatur Nach meiner Rückkehr in die USA begann ich mit meinem Masterstudium in englischer Literatur. Glücklicherweise fiel mir der Roman They Won’t Crack it Open (Sie werden es nicht aufbrechen) von Kim Yong-ik (1920-1995) in die Hände. Ich hatte bis dahin noch nie etwas von dem Autor gehört, aber der Roman bot eine erstaunliche Darstellung von Leben und Lügen, die sich über Kulturgrenzen und Meere hinweg spannen. Im Internet suchte ich nach genaueren Informationen zu Kims Leben und Werk. Seine Geschichte war erstaunlich: ein in Südkorea geborener Schriftsteller, der mit 28 in die USA kam und versiert genug in der englischen Sprache war, um sein literarisches Werk auf Englisch zu verfassen. Und was für ein Werk! Die meisten seiner Veröffentlichungen waren vergriffen, aber durch fleißige Internet-Recherchen konnte ich dann doch noch viele Ausgaben finden und stellte mir so schnell eine private Sammlung von Kims Werk zusammen. Eins der beeindruckendsten Merkmale von Kims literarischem Werk war für mich, dass es darin um reale Probleme realer Menschen geht. Es ist Literatur für den Durchschnittsleser und nicht nur für akademisch Gebildete. Kim Yong-ik wurde schließlich nicht nur zum Thema meiner Masterarbeit, sondern weckte in mir auch das Interesse für die koreanische Literatur allgemein. Kurz darauf besuchte ich Ed und bat ihn, mir einige Übersetzungen koreanischer Werke zu empfehlen. Er gab mir Our Twisted Hero (dt. Übers.: Der entstellte Held) von Yi Mun-yol (geb. 1948). Ich verschlang das Buch in einem Zuge und war erstaunt, welche Relevanz Yis Werk selbst über die Kulturgrenzen hinweg zu haben schien und wie gut es sich lesen ließ, obwohl es eine Übersetzung war. Langsam begann ich damit, Werke der koreanischen Literatur zu lesen. Da ich mittlerweile meinen Masterabschluss in

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der Tasche hatte und den Wunsch verspürte, mich der Quelle dieser Literatur zu nähern, richtete sich mein Blick auch beruflich in Richtung Korea, wo ich eine Stelle zu finden hoffte. So landete ich im März 2008 wieder auf dem Internationalen Flughafen Incheon. Ich hatte meine Stelle als Leiter der Marketing-Abteilung des San José/Evergreen Community College District (SJECCD) aufgegeben und befand mich auf dem Weg nach Daejeon, wo ich an der Woosong Universität und an der Solbridge International School of Business unterrichten sollte. Nachdem ich mich in Daejeon eingewöhnt hatte, machte ich Ausflüge nach Seoul, um mich nach Büchern umzuschauen. In Buchläden zu stöbern war schon immer einer meiner Lieblingszeitvertreibe gewesen und einige Monate später, als meine Frau, ebenfalls eine Bücherliebhaberin, mir nach Korea folgte, wurde die Suche nach Büchern zu einem festen Bestandteil unseres Alltags. Eines Tages fiel mir ein Band der Portable Library of Korean Literature (Sammlung Koreanischer Literatur) in die Hände, eine Serie von Novellen und Erzählungen, die das Institut für die Übersetzung Koreanischer Literatur (Korea Literature Translation Institute) förderte und vom Verlag Jimoondang veröffentlicht wurde. Bei dem fraglichen Werk handelte es sich um einen Band mit Kim Younghas (geb. 1968) Erzählungen Photo Shop Murder (Mord im Fotostudio) und Whatever Happened to the Guy in the Elevator (Was immer mit dem Mann im Aufzug passiert sein mag). Beide Erzählungen waren hervorragend und Kims lakonischer Stil fesselte mich sofort. Dieser Erzählband führte mich zu dem Entschluss, alle Werke der Jimoondang-Serie zu lesen und auf meinem Blog zu rezensieren. Dahinter stand anfangs weniger das Bestreben, die literarischen Werke mit der Netizen-Gemeinde teilen zu wollen, als vielmehr das Empfinden, dass Lektüre und Renzension mir selbst dabei helfen würden, die Werke besser zu verstehen. Im Laufe der Zeit wurde daraus ein auf die moderne koreanische Literatur spezialisierter Blog. Auf KTLIT (Korean Modern Literature in Translation ; www.ktlit.com) bloggen Ed Park und ich über alles, was mit den englischen Übersetzungen moderner koreanischer Werke zu tun hat. Bei dieser ersten, auf persönlichem Interesse basierten Reise durch die Welt der koreanischen Literatur kam dann der innere Drang auf, diese Literatur mit anderen teilen zu wollen. Am Ende meines ersten Jahres in Korea winkte mir dann das Glück: Meine Bewerbung für eine Stelle in der Abteilung für Dolmetschen und Übersetzen an der Dongguk Universität in Seoul wurde angenommen. Hier traf ich auf geistesverwandte Kollegen und hervorra-

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gende Studenten. Jeder, mit dem ich zusammenarbeite, ist ein Spezialist in einem Bereich der koreanischen Literatur oder des Übersetzens und alle sind gerne bereit, mich an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Darüber hinaus kam mir das Privileg zu, als Lektor am Forschungsinstitut für Translation (Translation Studies Research Institute; TSRI) der Dongguk Universität arbeiten zu dürfen. Durch diese Tätigkeit lernte ich noch weitere Werke der koreanischen Literatur kennen und gewann Einblick darin, wie die Koreaner selbst die Literatur ihres Landes sehen. Meine Lektüre der koreanischen Literatur ließ mich auch Neues über die koreanische Kultur erfahren. Jedes einzelne Werk öffnete eine Tür zum Verstehen von Koreas Geschichte, seiner Kultur und seiner Menschen. Und jede Lektüre lässt mich neue Entdeckungen machen. Der halb halluzinatorische Schleier, der über Yi Sangs (1910-1937) Werk Wings (Flügel ) liegt, brachte mir die erstickende Atmosphäre, die durch die japanische Kolonialherrschaft hervorgerufen wurde, näher. Das Lesen von Werken der so genannten Teilungsliteratur ließ mich zudem in bis dahin nie da gewesener Weise die Folgen des koreanischen Bruderkriegs verstehen. The Heartless (Herzlos) von Yi Kwang-su (1882-1950), der als erster moderner Schriftsteller Koreas gilt, und Three Generations (Drei Generationen) von Yeom Sang-seop (1897-1963) machten mir klar, mit welch ungeheurer Geschwindigkeit sich die koreanische Kultur im 20. und 21. Jahrhundert verändert hat. Doch ich muss gestehen, dass sich manches meinem Verständnis nach wie vor verschließt. So habe ich die Erzählung Buckwheat Season (dt. Übers.: Wenn der Buchweizen blüht) von Yi Hyo-seok (1907-1942) zwar viele Male und in verschiedenen Übersetzungen gelesen, kann aber immer noch nicht völlig den besonderen Reiz, den sie auf die koreanischen Leser ausübt, nachempfinden. Dasselbe gilt für Hwang Sun-weons (1915-2000) Erzählung The Shower (Der Regenschauer ), die von den Koreanern vorbehaltlos geliebt wird, deren Aufbau auf mich aber einfach und vohersehbar wirkt. Es sind aber auch gerade diese Unterschiede in Geschmack und Beliebtheit, die die koreanische Literatur nach wie vor halb geheimnisvoll und damit interessant für mich machen. Diese Unterschiede, aber auch die Parallelen zwischen den einzelnen Kulturen und das Wo und Wie ihrer Interaktion, sind es, die die

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koreanische Literatur einmal für ein größeres internationales Publikum interessant machen werden. Während ich mich so durch die koreanische Literatur las, begann ich auch damit, das Land selbst zu bereisen, um die koreanische Kultur noch umfassender zu erleben. Eine Reise nach Gyeongju machte mich mit dem Königreich Silla bekannt. Ich kann mich immer noch an die Taxifahrt zur Seokguram-Grotte und zum Kim Dong-ni/Park Mok-wol Literatur-Museum erinnern: Auf dem Rückweg von der Grotte überzeugte ich meine Familie davon (und auch den Taxifahrer, der normalerweise keinen Halt hier macht), dass wir das Museum unbedingt besichtigen müssten. Ich hatte Kim Dong-nis (1913-1955) The Shaman Sorceress (dt. Übers.: Ulhwa, die Schamanin ) und The Cry of the Magpies (Der Schrei der Elstern ) gelesen, aber die Originale in Augenschein zu nehmen, während mir ein freundlicher Museumsangestellter folgte und Schnappschüsse machte, war ein unbezahlbares Erlebnis. Auf einer Reise nach Chuncheon kam ich am Kim Yu-jeong Haus der Literatur vorbei. Das war ein glücklicher Zufall, denn aus der Sammlung Koreanischer Literatur hatte ich auch The Camellias (Die Kamelien) von Kim Yu-jeong (1908-1937) gelesen. Im Kim Yujeong Haus der Literatur machte ich einige Dutzend Aufnahmen und übte mein gebrochenes Koreanisch mit dem äußerst geduldigen Dozenten der Literaturstätte. Ich setzte meine Reisen fort. Im Mai 2010 besuchte ich die Provinz Gangwon-do, wo ich auch das Kim Satgat Kulturzentrum besichtigte. Erst einige Monate zuvor hatte ich Yi Mun-yols ausgezeichneten Roman The Poet (dt.: Übers.: Der Dichter) gelesen. Es war für mich daher eine ganz besondere Ehre, einmal die Region zu besuchen, durch die Kim Satgat (1807-1863), der berühmte Dichter des Joseon-Reichs, den Yi Mun-yol zur Hauptfigur seines Romans machte, streifte. Im Kulturzentrum konnte ich zudem anhand von Manuskripten, Kunst, historischen Gebäuden und der Grabstätte Kims im wahrsten Sinne des Wortes erleben, wie Geschichte lebendig wird. Die Zahl der Übersetzungen koreanischer Literaturwerke wächst weiter. Who Ate Up All the Shinga (Wer hat all die Singa gegessen?) von Park Wan-seo (1931-2010) ist ein reizender Mutter-TochterRoman, der geschickt eine schwierige Familiengeschichte mit der modernen Geschichte Koreas verwebt. Und im Herbst 2010 wurde Kim Young-has Your Republic is Calling You (dt. Übers.: Im Reich der Lichte ) bei Harcourt Brace veröffentlicht. Jetzt, wo sich neue Stilrichtungen und Genres ihren Weg in die Welt des Englisch lesenden Publikums bahnen, ist es eine besondere Freude, ein Anhänger der koreanischen Literatur zu sein.

Das Wikipedia-Projekt Mit meinem zunehmenden Wissen über die koreanische Literatur ist mir auch zunehmend bewusst geworden, dass sie international noch nicht so bekannt ist, wie sie es verdient. Bester Beweis dafür Korean Culture Kor e a n i s ch e Ku l tu r u n d &KuArts nst


Ich setzte meine Reisen fort. Im Mai 2010 besuchte ich die Provinz Gangwon-do, wo ich auch das Kim Satgat Kulturzentrum besichtigte. Erst einige Monate zuvor hatte ich Yi Mun-yols ausgezeichneten Roman The Poet (dt.: Übers.: Der Dichter ) gelesen. Es war für mich daher eine ganz besondere Ehre, einmal die Region zu besuchen, durch die Kim Satgat (1807-1863), der berühmte Dichter des Joseon-Reichs, den Yi Mun-yol zur Hauptfigur seines Romans machte, streifte. Im Kulturzentrum konnte ich zudem anhand von Manuskripten, Kunst, historischen Gebäuden und der Grabstätte Kims im wahrsten Sinne des Wortes erleben, wie Geschichte lebendig wird.

sind meine literaturbegeisterten Freunde in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Als ich ihnen erzählte, dass ich koreanische Literatur lese und studiere, gaben sie mir höfliche Antworten, aber es war deutlich, dass sie noch nie von den Büchern oder Autoren, die ich erwähnte, gehört hatten. Keiner von ihnen konnte etwas mit „Sijo“ (koreanische Gedichtform mit meist drei Zeilen von je 14 bis 16 Silben) oder „Pansori“ (koreanischer epischer Sologesang) anfangen, wohl aber mit „Haiku“ (japanische Gedichtform mit 17 Silben) und „Kabuki“ (traditionelle Form des japanischen Theaters). Ich fragte mich nach dem Grund dafür. Bei meinen Internet-Recherchen stellte ich fest, dass koreanische Literatur selten bei internationalen Literatur-Wettbewerben Erwähnung findet und auch auf Webseiten mit Rezensionen zur internationalen Literatur oder Übersetzungen kaum vertreten ist. Mir kam dabei der Gedanke, dass die koreanische Literatur den ihr gebührenden Platz auf der Weltbühne vielleicht einnehmen könnte, wenn nur diesem internationalen Mangel an Bewusstsein abzuhelfen wäre. Ich begann daher mit dem Wikipedia-Projekt, einem ganz persönlichen Versuch, das Informationsangebot über koreanische Literatur im englischsprachigen Web zu erhöhen. Fast 80% der Netizens, die Websuchen in Englisch starten, nutzen die Internet-Suchmaschine Google, und für den Suchbegriff „Koreanische Literatur“ dürfte genau wie für alle anderen Sucheingaben die Wikipedia-Seite das erste Suchergebnis sein. Leider finden sich in der Wikipedia nur lückenhafte Informationen über koreanische Literatur und Schriftsteller. Ich begann also damit, die bestehenden Seiten zu ergänzen und neue hinzuzufügen. Bald schon wurde meine Kollegin Kim Soonyoung von der Dongguk Universät auf meine Bemühungen aufmerksam und machte sie den zuständigen Stellen der Universität bekannt. Die Dongguk Universität ist im Moment dabei, ein spezielles Programm zu entwickeln, mit dem sich die Präsenz der koreanischen Literatur im englischsprachigen Web im großen Maßstab erweitern lässt. Es bleibt aber noch mehr zu tun: Erstens: Das Image von Korea als

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„Marke“ muss noch einheitlicher definiert, für Ausländer leicht verständlich entwickelt und kontinuierlich in der ganzen Welt verbreitet werden. Zweitens: Meiner Ansicht nach sollte man noch stärkere Bemühungen unternehmen, koreanische Literatur zu übersetzen. Mit „stärkeren Bemühungen“ meine ich die Auswahl der „richtigen“ Werke, sprich, Werke, die für das Englisch lesende Publikum interessant sind. Weiterhin verstehe ich unter „stärkeren Bemühungen“ vermehrte Anstrengungen bei der Auswahl geeigneter Übersetzer, die auch in der Lage sind, englische Übersetzungen anzufertigen, die sich flüssig lesen lassen und dem landläufigem Sprachgebrauch entsprechen. Und nicht zuletzt meine ich mit „stärkeren Bemühungen“, dass die Übersetzungen, die Autoren und die breite Palette der koreanischen Literatur für jeden intere­ ssierten Leser leicht zugänglich gemacht werden sollte.

Aufbau einer Bibliothek Meine Suche nach der koreanischen Literatur geht weiter und hält immer wieder neue Überraschungen für mich bereit. Einmal in der Woche suche ich die Buchhandlungen in Seoul auf, die fremdsprachige Bücher in ihrem Angebot haben. Ich befinde mich auf einer ganz persönlichen Mission, deren Ziel es ist, eine Privatbibliothek aufzubauen, die alle Übersetzungen der modernen koreanischen Literatur, die je veröffentlicht wurden, enthält. Ob das jemals möglich sein wird?

Blick nach vorne Ich begann meine Reise in die Welt der koreanischen Literatur im Alter von 45 Jahren, also erst vor sechs Jahren. Jeder Tag war und ist ein Abenteuer. Jede Ecke verspricht eine Neuentdeckung und jedes Buch, auf das ich stoße, hält neue Einsichten für mich bereit. Das ist das Geschenk, das die koreanische Literatur der englischsprachigen Welt machen kann.

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interview

Gahoeheon, ein italienisches Restaurant in Bukchon, ist eine einzigartige Kombination von westlichen und koreanischen Räumen.

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n den letzten 100 Jahren haben zahlreiche renommierte Architekten die städtische Umgebung, die ihre baulichen Schöpfungen einrahmt, kritisch unter die Lupe genommen. Diese visionären Kommentatoren haben stark zur Entwicklung einer neuen Sensibilität beigetragen, die half, Stadtlandschaften und Stadtleben zu gestalten und in den darauf folgenden Jahrzehnten neu zu schaffen. Anfang und Mitte des 20. Jhdts. hatten Architekten ein negatives Bild von der Stadt und versuchten, Ordnung ins Chaos der Städte zu bringen. Le Corbusier, einer der Pioniere des Internationalen Stils, wollte die Städte durch den Bau durchgeplanter, funktionaler Siedlungseinheiten aus Stahl, Glas und Betonstrukturen säubern. Auf der anderen Seite des Atlantiks hatte Frank Lloyd Wright, der wahrscheinlich herausragendste Architekt in der amerikanischen Geschichte, ein ebenso düsteres Bild von der Stadt. Er plädierte für Dezentralisierung durch die Schaffung von großen Grünflächen, die die

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Stadt lebenswerter machen sollten. Die Sichtweise änderte sich im späten 20. Jhdt., als der modernistische Internationale Stil dem eklektischen Postmodernismus weichen musste. Die Architekten interessierten sich jetzt für das Potential einer Stadt als Quelle der Entdeckung und Stimulation. Bei der Diskussion von New York betonte der namhafte niederländische Architekt Rem Koolhaas z.B. die sich durch den Zufall ergebende Spontaneität des Stadtlebens. Die postmoderne Wende in der urbanen Philosophie hat zur Entstehung einer Reihe verwandter Bewegungen im Städtebau geführt wie Neuer Urbanismus und dessen Variante des New Pedestrianism (NP, „Neue Fußgängerkultur“) sowie Cittaslow (Slow Cities), bei denen es um die Entwicklung von dynamischen städtischen Räumen inmitten von blühenden lokalen Wirtschaftsräumen und einem starken Gefühl der Gemeinschaft geht. Wie es bei fast allem in Korea der Fall ist, bewirkt das Tempo des Wandels eine Koexistenz von Alt und Neu in Harmonie, aber auch in Spannung. Obwohl der urbane Modernismus bereits während der japanischen Besatzungszeit (19101945) erste Wurzeln schlug, ruhte er weitgehend bis in die 1970er Jahre, als neue Plansiedlungen in den Seouler Stadtteilen Yeouido und Gangnam entwickelt wurden. Das damals entstandene Paradigma von breiten Straßen und groß angeleg-

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Hwang Doojin

und seine RegenbogenreiskuchenArchitektur Hwang Doojin, einer der führenden zeitgenössischen Architekten Koreas, ist völlig darin vertieft, den früheren Stadtkern von Seoul für die kommenden Generationen neu zu gestalten. Seine architektonischen Projekte konzentrieren sich darauf, wie man die verschlafenen alten Stadtteile im Herzen der geschäftigen Metropole neu beleben kann, damit sie als lebendige Kulturräume, in denen Tradition und Moderne koexistieren, wiedergeboren werden können. Robert J. Fouser Associate Professor, Koreanische Pädagogische Abteilung, Seoul National University

ten Wohnhochhaus-Komplexen dominiert bis heute die Stadtplanung in Korea. Da erschien Hwang Doojin auf der Bildfläche, einer der Führer einer neuen Generation von Architekten, die Alternativen zum modernistischen Hochhaus-ApartmentParadigma aufzeigten. Bereits Ende des Millenniums, als dieses Paradigma die ganze Stadtlandschaft beherrschte, regten sich kritische Stimmen, aber kaum jemand konnte mit praktikablen Alternativen aufwarten. Im März 2011 traf ich Hwang in seinem Studio in Tongeui-dong im Seouler Stadtviertel Seochon, um mit ihm über verschiedene Alternativen zu diskutieren und mehr über einen von Koreas visionsreichsten Architekten zu erfahren. Fouser: Ich habe in der Tageszeitung JoongAng Ilbo gelesen, dass Sie Seochon (West-Dorf) wirklich mögen und deshalb hierher gezogen sind. Wann haben Sie sich dazu entschlossen und warum?

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Hwang: Das war im Jahr 2002. Damals habe ich im benachbarten Hyoja-dong an einem Gebäude gearbeitet und war deshalb häufig in diesem Gebiet. Mir hat die Gegend wirklich gut gefallen und daher habe ich beschlossen, mich hier niederzulassen. Ich mag die Mischung aus Geschichte und Natur – der Berg Inwang-san ist nur einen Steinwurf entfernt – und diese Atmosphäre der gemischten Nutzung des Raums. Hier spürt man verschiedene Zeitschichten.

Neuentwicklung traditioneller Wohngegenden Fouser: 2009 habe ich in Nuha-dong, das ganz in der Nähe ist, gewohnt, und ich kann mich noch gut an die bittere Kontroverse über „Neuentwicklung versus Erhalt“ des Viertels erinnern. Mittlerweile hat die Stadt einen Plan zur Bewahrung der traditionellen koreanischen Hanok-Häuser in dem Gebiet vorgelegt. Wie ist Ihre Meinung zu dieser Thematik? Hwang: Ich denke, die Atmosphäre ist wirklich wichtig. Wir müssen uns überlegen, was Seochon so besonders macht, und darüber nachdenken, was erhalten und was entwickelt werden sollte. Ich glaube z.B., dass weitgehend allgemeine Einigkeit darüber herrscht, dass die Hanok, die Gassen, historische Landmarken und selbstverständlich auch die natürliche Umgebung erhalten werden müssen.

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„Sie kennen doch Regenbogen-Reiskuchen, oder? Es ist ein schön anzusehender Reiskuchen mit Schichten in verschiedenen Farben wie bei einem Regenbogen. Ich habe dieses Konzept auf die Architektur angewandt, und zwar auf die Designs von zwei- oder dreistöckigen MehrzweckGebäuden. Solche Strukturen entsprechen den derzeit vorherrschenden Bautrends und lassen sich meiner Meinung nach gut in Seochon anwenden, einem kommerziell bereits recht regen Viertel. Es ist ein Modell, das sich auch gut auf andere ältere Stadtteile in Korea, die für eine Mischung verschiedener Nutzungswecke entwickelt werden sollen, übertragen lässt.“ Jipunhyeon in Gahoe-dong. Hwang Doojin integriert zur Bequemlichkeit der Bewohner moderne Elemente in traditionelle Hanok-Häuser.

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Auf der anderen Seite gibt es aber auch Dinge, die entwickelt werden müssen. Die Infrastruktur – die Kanalisierung usw. – ist alt und muss überholt werden. Wichtiger ist für meine Begriffe aber noch, dass die Gegend von mehr Dichte profitieren würde. Wenn man bedenkt, dass das Viertel zentral liegt – bis zum Gwanghwamun sind es weniger als zehn Minuten – dann ist die Siedlungsdichte hier im Vergleich zu anderen wichtigen Städten der Welt vergleichsweise gering. Mehr Dichte bedeutet mehr Aktivitäten und eine stärkere lokale Wirtschaft, d.h. es ist ein wichtiges Thema. Die Gegend liegt zwar nahe an der Natur, aber es gibt nicht genügend leicht zugängliche grüne Räume in dem Gebiet. Fouser: Traditionelle koreanische Hanok-Häuser sind alle einstöckig und um einen zentralen Innenhof herum gebaut. Wie kann man die Siedlungsdichte erhöhen und die Hanok gleichzeitig bewahren? Hwang: Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber es gibt Gegenden in Seochon, die derzeit nicht besonders gut genutzt werden. Man kann die Hanok erhalten und die Siedlungsdichte in den Gebieten ohne Hanok erhöhen. Sie kennen doch Regenbogen-Reiskuchen, oder? Es ist ein schön anzusehender Reiskuchen mit Schichten in verschiedenen Farben wie bei einem Regenbogen. Ich habe dieses Konzept auf die Architektur angewandt, und zwar auf die Designs von zwei- oder dreistöckigen MehrzweckGebäuden. Im Erdgeschoss kann es z.B. einen Laden geben, ein Büro oder eine Werkstatt – also irgend eine Art von Geschäft – während der zweite und dritte Stock als Wohnraum genutzt werden. Solche Strukturen entsprechen den derzeit vorherrschenden Bautrends und lassen sich meiner Meinung nach gut in Seochon anwenden, einem kommerziell bereits recht regen Viertel. Es ist ein Modell, das sich auch gut auf andere ältere Stadtteile in Korea, die für eine Mischung verschiedener Nutzungszwecke entwickelt werden sollen, übertragen lässt Fouser: Interessant. Springen wir kurz zum Palast Gyeong­bok-gung und nach Bukchon (Nord-Dorf). Was halten Sie von den Bemühungen, die Hanok in diesen Vierteln zu erhalten? Hwang: Diese Bemühungen wurden recht spät auf den Weg gebracht – wir hätten Bukchon fast verloren – , aber ich denke, sie waren erfolgreich. Ein Großteil der traditionellen Stadtlandschaft von Bukchon konnte gerettet werden und viele alte Häuser in der Gegend wurden in attraktiven Wohnraum ungewandelt. Die engen Richtlinien zum Erhalt der Gebäude, die in der Frühphase galten, wurden etwas gelockert, um mehr Spielraum für Kreativität zu lassen. Ich finde das gut, denn viele der restaurierten Häuser ähneln einander.

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Fouser: Ich lebe jetzt in Gye-dong im Herzen von Bukchon, und auch mir ist das aufgefallen. Haben Sie auch in Bukchon gearbeitet? Wie viele Hanok-Designs haben Sie gemacht? Hwang: Ich habe Designs für acht traditionelle Wohnhäuser in Bukchon und für zwei Nicht-Wohngebäude in der Provinz Gyeonggi-do angefertigt. In Seochon habe ich noch nicht gearbeitet. Am Anfang habe ich mich eng an traditionelle DesignPrinzipien gehalten, aber nachdem ich etwas Erfahrung gesammelt hatte, habe ich andere Elemente integriert, um etwas Originelleres zu schaffen. Zum Beispiel habe ich in einigen der Hanok-Häuser im Souterrain sehr moderne Inneneinrichtungen geschaffen, die man kaum als zur traditionellen koreanischen Architektur gehörig bezeichnen könnte. Fouser: Einige beschweren sich darüber, dass die bisherigen Anstrengungen zum Erhalt alter Bausubstanz nicht ausreichend wirksam sind. Wie stehen Sie dazu? Hwang: Das Problem ist, dass viele dieser Kritiker Erhalt aus europäischer Perspektive definieren, aber dabei die einfache Tatsache übersehen, dass europäische Städte schon seit hunderten von Jahren eine hohe Siedlungsdichte aufweisen. Dasselbe gilt für die älteren Städte an der amerikanischen Ostküste. Im Gegensatz dazu war das Seoul der Joseon-Zeit eine Stadt mit hauptsächlich einstöckigen Gebäuden und vergleichsweise geringer Siedlungsdichte. Es war zwar alles eng an eng vollgepackt, aber die Einwohnerdichte war im Vergleich zu europäischen Städten gering. Der Schutz historischer Bausubstanz muss den Forderungen der Zeit nach höherer Siedlungsdichte nachkommen. Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass im Falle Bukchons der Erhalt der traditionellen Stadtlandschaft – auch auf Kosten der Siedlungsdichte – wegen der einzigartigen Atmosphäre dieses Gebiets das einzig Richtige war.

Seochon, Bukchon und Gangnam Fouser: Ich habe sowohl in Seochon als auch in Bukchon gelebt und habe immer noch Schwierigkeiten, die Unterschiede in der Atmosphäre zwischen beiden Vierteln zu beschreiben. Was denken Sie darüber? Hwang: Auch für mich ist das schwierig. Ich mag beide Viertel. Ich bin oft in Bukchon und es gefällt mir. Ein Unterschied ist: Bukchon ist hügelig, aber Seochon ist eben. Die unterschiedliche Topograpie lässt die beiden Gebiete auch schon ganz unterschiedlich wirken. Bukchon hat insgesamt eine gewichtigere, nachdenklichere Atmosphäre. Man fühlt dort die Schwere der Geschichte. Seochon bietet mehr Diversität und fühlt sich gewissermaßen lebendiger an. Es ist städtischer. In Seochon bin ich zu Hause und ich fühle mich als Teil der Gemeinschaft hier. Fouser: Ich würde unsere Diskussion noch gerne auf die Stadt Seoul ausweiten. Was halten Sie von Seoul? Hwang: Es mag zwar keine einzige Kategorie geben, in der Seoul auf Platz 1 stünde, aber es rangiert hoch, wenn man mehrere Kategorien zusammengesetzt betrachtet. Es ist eine sehr große Stadt, die Altes und Neues vereint. In Seoul gibt es auch viel Natur, was die Leute oft übersehen. Vor allen Dingen aber gewinnt Seoul Energie vom Tempo des Lebens und der interessanten Dynamik der Offlineund der Online-Welten. Es gibt eine ganze „digitale Stadt Seoul“, die parallel zur physischen Offline-Stadt existiert und die Interaktion zwischen beiden ist faszinierend. Fouser: Was denken Sie über das Viertel Gangnam? Hwang: Gangnam wurde als Wohngebiet konzipiert, um der akuten Übervölkerung der Stadt in den 1960er Jahren abzuhelfen. In Relation zur Infrastruktur ist das

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1. Die Choonwondang Klinik für traditionelle koreanische Medizin. Durch die Fenster an der Vorderseite hat man einen Blick auf die Herstellung traditioneller Heilkräutertrunks. 2. Der Korea-Raum im Ostasien Museum in Stockholm gehört zu den Übersee-Projekten von Hwang Doojin.

Viertel völlig überbaut und es fehlt an Natur. In gewisser Hinsicht sind Gangnam im Süden des Han-Flusses und Gangbuk, die älteren Viertel im Norden des Han, zwei völlig unterschiedliche Städte. Es ist daher schwierig, an diese beiden Hälften der Stadt denselben stadtplanerischen Maßstab anzulegen und sich ihnen auf dieselbe Weise zu nähern.

Landmarken-Gebäude Fouser: Ich weiß, dass es eine schwierige Frage sein kann, aber welche Architekten haben Ihre Ideen und Ihre Arbeit beeinflusst? Hwang: Ludwig Mies van der Rohe dürfte mich am meisten beeinflusst haben. Seine Bauwerke, die meist ganz aus Glas und Stahl bestehen, sind minimalistisch. Sie gehen auf die Bauhaus-Tradition des Minimalismus zurück, die Idee, dass die Form der Funktion folgt. Meine Arbeiten sind nicht minimalistisch, aber ich füge auch nicht gerne unnötige Elemente hinzu. Ich mag auch Louis Kahn. Und Frank Lloyd Wright gefällt mir, weil seine

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Werke seine tiefe Verwurzelung an einem bestimmten Ort, dem amerikanischen mittleren Westen, widerspiegeln. Letzten Endes, denke ich, ist jede Art von großer Architektur lokal verwurzelt. Fouser: Interessante Einflüsse. Würden Sie bitte etwas über Ihr Leben und Ihren Hintergrund erzählen? Hwang: Nun, meine Eltern sind im Koreakrieg aus Nordkorea geflohen, daher gehöre ich zur nordkoreanischen Diaspora in Südkorea. Wir konnten die Gräber unserer Vorfahren nie besuchen, weil sie in Nordkorea liegen, deshalb hatte ich immer das Gefühl, etwas anders als die meisten Leute um mich herum zu sein. Ich bin in einer Mittelschicht-Familie aufgewachsen, die viel Wert auf Bildung legte. Ich habe die Seoul National University (B.S. und M.S.) abgeschlossen und noch ein Masterstudium in Architektur an der Yale Universität absolviert. In Yale habe ich begonnen, mich für Lokalismus zu interessieren, da die Universität sich aktiv um die Stadt New Haven bemühte, in der es damals viele Probleme gab. Yale ist eine globale Bildungsstätte, die Leute kommen wirklich von überall her, aber es hat sich sehr der Lokalität und ihrer Belange, also New Haven, angenommen. Das hat mich stark beeindruckt. Fouser: Ich habe noch gar nicht nach Ihrer derzeitigen Arbeit gefragt. Würden Sie dazu etwas sagen? Hwang: Ich habe ja schon über die Wichtigkeit von Lokalität in der Architektur

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gesprochen und meine Lokalität ist Korea, genauer, Seochon in Seoul. Ich denke, die zeitgenössischen Gebäude, die ich entwerfe, sollten den lokalen Hintergrund reflektieren. Hier ein Beispiel: 2008 habe ich das GebäudeDesign für die Choonwondang Oriental Medicine Clinic und das Museum in Jongno 3-ga gemacht. Choonwondang wurde 1847 gegründet und ist die älteste Klinik der traditionellen koreanischen Medizin in Seoul. Schon seit Generationen befindet sie sich in der Hand einer einzigen Familie. Die traditionelle koreanische Medizin verwendet natürliche medizinisch wirksame Zutaten, die zu Heiltränken gebraut werden. Dieses Gewicht der Geschichte und die traditionelle, handwerkliche Art der Zubereitung der Medizin haben mich dazu inspiriert, den Arbeitsbereich, wo die Zutaten gekocht werden, hinter Glaswände auf die Vorderseite des Gebäudes zu bringen. Normalerweise befindet sich dieser Bereich vor den Blicken verborgen im hinteren Teil einer traditionellen Klinik. Ich wollte die Tradition betonen und sie ins Blickfeld rücken. Ein anderes Projekt (2009) ist eine Serie von fünf erhöhten Cafés, die sich an den Zufahrten zu drei Brücken über dem Fluss Han-gang in den dortigen Parkanlagen befinden. Die Cafés bieten eine neue Möglichkeit, den Menschen in Berührung mit dem Fluss zu bringen, der das bedeutendste natürliche Aushängeschild der Stadt Seoul ist. In der angenehmen Atmosphäre der Cafés blicken die Menschen mit ganz anderen Augen auf den Fluss hinaus.

Schwedischer Ausblick, koreanischer Raum Fouser: Wir haben jetzt schon eine ganze Themenbreite behandelt. Ich möchte noch die Brücke von Korea zur Welt schlagen. Waren Sie auch in Übersee aktiv? Hwang: Ja. Ich habe an einer Ausstellung in Frankfurt teilgenommen und eine Vorlesungsreise über Architektur zu verschiedenen Universitäten in den USA gemacht. Mein erstes Werk im Ausland ist das Innendesign des Korea-Raums, des Ausstellungsraums für koreanische

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Kunst im Ostasien Museum (Östasiatiska museet) in Stockholm. Die Eröffnung ist für Oktober 2011 geplant. Der Korea-Raum befindet sich an einem Ende des Gebäudes und ist ein anziehender Ort der Entspannung. Fokus des Innendesigns ist eine lange Bank, von der aus man durch ein Fenster in Augenhöhe einen Blick auf den Hafen und die Stadtlandschaft hat. Der Ausblick ist gewissermaßen sehr schwedisch und ich wollte die Lokalität in den Raum für koreanische Kunst integrieren. Ich wollte die „Koreanischheit“ der Ausstellung mit der „Schwedischheit“ des Ausblicks harmonieren. Die ruhige Gesamtatmosphäre evoziert die Note der Bescheidenheit in der traditionellen koreanischen Innenarchitektur. Fouser: Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? Hwang: Bislang war ich ein sehr „lokaler“ Architekt, der in seiner Gemeinschaft verwurzelt ist. Ich würde gerne meine Gemeinschaft erweitern und mehr mit unterschiedlichen Gemeinschaften in Übersee interagieren. Ich möchte das, was meine Gemeinschaft bieten kann, mit anderen teilen und umgekehrt über andere Gemeinschaften lernen. Das Projekt in Stockholm ist mein erster richtiger Vorstoß in eine andere Gemeinschaft und ich bin schon gespannt auf die Reaktion. Fouser: Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben. Mein Herz ist immer noch in Seochon und ich glaube, wir sind heute engere Nachbarn geworden. Bei meinem Gespräch mit Hwang Doojin wurde ich an die Stadt- und Architekturkritikerin Jane Jacobs erinnert. In ihrem Hauptwerk Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1961) kritisierte sie die modernistischen Stadtplanungsansätze, die auf den Bau von Schnellstraßen fokussierten und vorhandene Strukturen zerstörten, um „moderne“ zu errichten. Damit Städte lebendig bleiben, brauchen sie ihrer Argumentation nach „vier Generatoren der Diversität“: Siedlungsdichte, gemischte Nutzung, kurze Blöcke und Gebäude unterschiedlichen Alters und Instandhaltungsgrads. Ihre Arbeit weckte neues Interesse an der Frage, inwieweit Dichte und „Chaos“ zur Vitalität des städtischen Raums beitragen. Jacobs war nie in Seochon, aber das Viertel entspricht völlig ihren „vier Generatoren der Diversität“, was auch erklärt, warum Hwang und andere es so ansprechend finden. Durch Gebäude, die von traditionellen Hanok-Häusern bis hin zu „Regenbogen-Reiskuchen-Gebäuden“ mit unterschiedlicher Nutzung reichen, bietet Hwang Doojin praktikable Lösungen, die die Vitalität der alternden Viertel in den koreansichen Städten fördern. Damit bietet er anderen Lokalismus-Architekten in der ganzen Welt Inspiration zur Anwendung von dichtebasierten GemischtNutzungs-Lösungen für ihre jeweilige lokale Situation im urbanen Raum.

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aur der weltbÜhne

Lee Ufan: Marking Infinity

Retrospektive im Guggenheim Museum Der koreanische Künstler Lee Ufan (Yi U-hwan), dessen Bühne bislang hauptsächlich Japan und Europa war, eröffnete im Guggenheim Museum in New York eine umfangreiche Retrospektive (24. Juni – 28. Sept. 2011). Bei dieser Ausstellung mit dem Untertitel „Marking Infinity“ sind ca. 90 seiner Werke wie Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen usw. aus den frühen 1960ern bis heute zu sehen. Jung Hyung-mo Editor für Kultur, JoongAng SUNDAY | Fotos: The Guggenheim Museum

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ee Ufan ist ein großer Künstler und Philosoph. Seine Kunstwerke und Schriften suchen im Minimalismus und Post-Minimalismus ihresgleichen. Da er hauptsächlich in Japan und Europa aktiv war, gab es fast keine Gelegenheit, ihn in Amerika vorzustellen. Eine Präsentation seiner Werke in Amerika war schon längst überfällig.“ - so Alexandra Munroe, Samsung Senior Curator für Asiatische Kunst im Solomon R. Guggenheim Museum. Dieser Kommentar der Kuratorin, die schon vor vier Jahren mit den Vorbereitungen für die Retrospektive von Lee Ufan (75) begonnen hatte, gibt Antwort auf die Frage, warum das Museum den Künstler gewählt hat. 2

Gegen Kunstgriffe Jedes Jahr veranstaltet das Guggenheim Museum Ausstellungen von ein bis zwei ausgewählten zeitgenössischen Künstlern. Es wurden schon Großmeister der avantgardistischen Kunst wie Joseph Beuys, Matthew Barney, Claes Oldenburg usw. vorgestellt. Lee Ufan ist nach dem koreanischen Künstler Nam June Paik (2000) und dem chinesischen Künstler Cai Guo-Qiang (2008) der dritte ostasiatische Künstler, dessen Werke in einer groß angelegten Retrospektive gezeigt werden. Der Untertitel der Ausstellung lautet „Marking Infinity“. Lee ist als Künstler bekannt, der die Mono-ha Bewegung in der japanischen Kunst anführte. Was ist Mono-ha? Lee erzählt zuerst über den Hintergrund dieser Bewegung: „Ende der 1960er Jahre verbreitete sich die sog. Kinetische Kunst in Japan. Es war eine Art Trick, der optische Illusionen erzeugte. Die einzigartige Realitätskritik dieser Kunstbewegung versetzte dem Publikum einen Schock: Es ging um Dinge, die existieren und nicht existieren, bei denen ein Urteil über Richtigkeit oder Falschheit nicht möglich war, bei denen man dachte, man sehe sie vor Augen, aber könne es trotzdem nicht glauben, und einem daher die Realität verschwommen vorkam. Das Jahr 1968 war weltweit ein sehr wichtiges Jahr. In Italien erschien die Arte Povera (Arme Kunst), eine Bewegung von avantgardistischen Installationskünstlern, die Objekte und Materialien des Alltagslebens in ihre Kunst inkorporierten und durch die Art ihrer Zurschaustellung oder den Ort der Präsentation die Perspektive des Kunstwerks erweiterten. In diesem Gesamtkontext kritisierte die Mono-ha Bewegung die kommerzielle Produktion und propagierte eine Verneinung jeglicher Kunstgriffe.“ Was meint man mit „Verneinung von Kunstgriffen“? Lee erklärt, dass Kunst seit Beginn der Moderne in den meisten Fällen „reproduziert“ wurde. Damit meint er, dass die Künstler zuerst ein „Original“ in ihren Köpfen visualisieren und dann diese imaginäre Form für das

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1. Relatum — a signal (2005) zeigt einen Stein und eine Stahlplatte. 2. Um Steine für seine Arbeiten wie die zum Thema des intensiven Dialogs zwischen Stein und Stahl zu finden, reist Lee Ufan durch die ganze Welt.

physische Auge sichtbar „kopieren“. Mono-ha setzt bei der grundsätzlichen Infragestellung dieses Prozesses an. Lee sagt: „Für Mono-ha Künstler ist ein Motiv nur ein einfacher Anlass zum Kreieren eines Werkes. Entscheidend ist, dass auf das, was materiell hergestellt wird, Zeit und Ort im hohen Maße einwirken und im Werk widerspiegelt werden.“ Mit anderen Worten: „Es sind Versuche, den Anteil der eigenen Gedanken in einem Werk auf die Hälfte zu begrenzen, und die andere Hälfte durch die Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, des Äußeren mit dem Inneren, entstehen zu lassen.“

Installationen In diesem Sinne kommt es bei allen Arbeiten von Lee Ufan, die mit Punkten, Linien und raffinierten Arrangements von Steinen und Stahlplatten geschaffen werden, auf den „leeren Raum“ an. Er erklärt „den leeren Raum“ in seinem Buch Die Kunst des leeren Raums wie folgt: „Meine Kunst besteht darin, den Anteil des von mir Geschaffenen zu begrenzen und den Teil, den ich nicht geschaffen habe, zu akzeptieren, so dass ein Teil in den anderen eindringt oder ihn auch ablehnt, was eine dynamische Beziehung herstellt. Ich hoffe, dass sich dadurch ein poetischer, Kritik ausübender und transzendentaler Raum öffnet. Das nenne ich ,Kunst des leeren Raumes‘. Das bedeutet aber nicht, dass eine einfache, unbearbeitete Fläche bereits ein leerer Raum wäre. Da fehlt noch etwas an Realität. Zum Beispiel: Wenn eine große Trommel geschlagen wird, hallt der Klang im umgebenden Raum wider. Ich bezeichne diesen mit Vibrationen erfüllten Raum zusammen mit der Trommel an sich als leeren Raum.“ Alexandra Munroe interpretiert das als „Kunst der Beziehungen“: „Sehen wir uns seine Installation Relatum – dialogue b (2009) an. Der Stahl symbolisiert Industriealisierung, Stadt und Wolkenkratzer. Im Gegensatz dazu stehen die Steine für die Natur. Lee Ufan konzentriert sich auf die Beziehung zwischen diesen Elementen. Er zeigt uns den Dialog zwischen beiden, was sehr konzeptionell und dynamisch ist. Die Exponate werden das Ego vieler amerikanischer Besucher erschüttern. Sie werden spüren, dass etwas von Außen in ihr Inneres eindringt. Ziel dieser Ausstellung ist, dass die Betrachter bei den einzelnen Kunstwerken mehr wahrnehmen, als sich dem physischen Auge bietet.“

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„Ich finde, dass Kunstwerke den Betrachter eine noch höhere, fernere und größere Welt wahrnehmen lassen sollten. Ich möchte Impulse geben, über das Sehen hinaus bereichernd einen Raum zu öffnen und über das Bild hinaus eine andere große Welt zu erleben.“

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„Meine Werke sollten anders sein“ Warum wollte er ausdrücken, was nicht zu sehen ist? Lee, der 1936 in Haman in der Provinz Gyeongsangnamdo geboren wurde, lernte in seiner Kindheit von einem Gelehrten der chinesischen Klassiker das Malen und Schreiben. Sein Lehrer lobte ihn zwar als guten Maler, riet aber von der Malerei ab: „Ein Mann sollte kein Maler werden, sondern ein Wissenschaftler oder Politiker.“ Der junge Lee Ufan war verwirrt und kam zu dem Schluss, dass das Malen, also das Abbilden der Dinge, so wie sie sind, eine niedrige Beschäftigung von geringem Status sei. Allerdings hielt er Musik für eine gehobenere Kunst, da man sie nicht sehen konnte. 1956 begann Lee sein Kunststudium an der Seoul National­ universität. Im Sommer desselben Jahres ging er nach Japan, um auf Bitte seines Vaters seinem Onkel traditionelle koreanische Medizin zu bringen. Aber sein Onkel wollte ihn bei sich in Japan behalten. Da Lee Ufan sein Kunststudium nicht besonders interessant gefunden hatte, wollte er etwas Neues studieren: Literatur. Dafür musste er aber zunächst einmal Philosophie als Grundlage studieren. Das war der Grund, warum er ein Studium an der Philosophischen Fakultät der Nihon Universität in

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Tokio aufnahm. Es war nicht leicht, in einer Sprache, die er erst erlernen musste, Literatur zu studieren. „Ich hatte auch Interesse an Politik und schaute kurz da hinein, gab es aber schließlich auf. Es entsprach nicht meinem Charakter, nur um der Opposition willen zu opponieren. Ich freundete mich mit einigen Malern an und machte Gehversuche in der Malerei. Aber meine Malereien sollten anders sein. Es reichte mir nicht, die Dinge so zu malen, wie ich sie vor Augen sah. Kunstwerke sollten den Betrachter eine noch höhere, fernere und größere Welt wahrnehmen lassen. Ich wollte Impulse geben, über das Sehen hinaus bereichernd einen Raum zu öffnen und über das Bild hinaus eine andere große Welt zu erleben. Natürlich habe ich diesen Gedanken erst im Laufe der Zeit ausgearbeitet.“

Globaler Nomade Lee Ufan ist einer der repräsentativsten Künstler Koreas. Bei der internationalen Kunstauktion 2009 wurden seine Kunstwerke unter den koreanischen zu den höchsten Preisen verkauft. Laut dem Jahresbericht 2009 von Artprice (www.artprice.com), einer Online-Seite, die den internationalen Kunstmarkt analysiert, wurden in dem genannten Jahr insgesamt 4,16 Mio. US-Dollar für Lees Werke gezahlt, was ihn auf Platz 164 im Gesamtranking brachte. Er nahm Platz 30 unter den noch lebenden Künstlern und Platz 13 unter den noch lebenden asiatischen Künstlern ein. Seine Werke wurden auf 65 Auktionen versteigert und der dabei erzielte Höchstpreis für ein Werk betrug 696.600 US-Dollar. Lee Ufan lehrte von 1973 bis 2007 an der Kunsthochschule Tama in Tokio und

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1. Relatum — silence b (2008) 2. Das einzigartige Design des Guggenheim Museums errinnert an eine Spirale aus Stahl. 3. From Line (1977) 4. Dialogue (2010)

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arbeitete als Gastprofessor an der École des Beaux-Arts in Paris. Der Künstler wurde auch mehmals ausgezeichnet. Das Lee Ufan Museum in Naoshima, Japan, wurde von dem Architekten Ando Tadao entworfen und 2010 eröffnet. Es zieht pro Tag rund 1.700 Besucher an und ist eine Attraktion für Freunde von Kunstreisen. Heutzutage gilt Lee längst als prominenter Künstler und globaler Nomade, der zwischen Japan und Europa pendelt, aber er hat auch einen einsamen Kampf mit der Welt um die Anerkennung seiner Kunst hinter sich. „Ich habe keine Kunsthochschule besucht, daher hatte ich auch niemanden, der mir Rat und Unterstützung gegeben hätte. Ich musste offensiv vorgehen, um zu überleben. Am Anfang wurde ich immer nett aufgenommen, aber dann oft auch gleich kritisiert und ausgeschlossen, sobald ich mich etwas abhob. Ich musste kämpfen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Außerdem war ich in Korea ein Japaner, in Japan ein Koreaner und in Europa ein Asiate, so dass ich letztendlich immer ausschied, auch wenn ich empfohlen wurde. Ich stand immer im Abseits und alleine. Trotzdem habe ich mir kein einziges Mal gesagt: Ich kann nicht mehr wegen all diesen Diskriminierungen. Denn in dem Moment, in dem ich das sage, werde ich ein Loser.“

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Die Ausstellung im Guggenheim Museum ist für Lee eine neue Herausforderung. Das Guggenheim Museum ist ein einzigartiger Ort: Der weiße Bau, der von Frank Lloyd Wright entworfen wurde, sieht wie eine zusammengedrückte Stahlspirale aus. Der Besucher kann die kreisförmigen Flure nach unten oder nach oben laufen und sich dabei die Exponate ansehen. Sogar Museumsdirektor Richard Amstrong sagt: „Unsere Räume sind so einzigartig, dass es sogar für Künstler schwer ist, sie richtig in den Griff zu bekommen. Das erfordert eine äußerst starke Persönlichkeit. Für einen Künstler ist das eine große Herausforderung.“ Für Lee, dessen Werke mit dem Raum eine Harmonie schaffen müssen, waren diese Räume, die Schaufenstern von Kaufhausarkaden ähneln, fremd. Deswegen bat er darum, die weißen, würfelartigen Räume der Annex-Galerie für seine Ausstellung nutzen zu dürfen. Der Direktor meinte jedoch, dann solle er Annex- und Hauptgebäude nutzen und hat damit den Umfang der Ausstellung noch vergrößert. Lee erzählt: „Nachdem ich die Räume mehrmals gecheckt hatte, fiel mir auf, dass man auch vom gegenüber liegendem Flur aus die Exponate sehen konnte und das schien mir ein durchaus interessanter Ansatz zu sein. Ich bekam Lust, nicht nur die weißen Annex-Würfel zu nutzen, sondern auch die Haupt-Räumlichkeiten mit ihrer so ganz anderen Note. Es sind ca. 90 Kunstwerke wie Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen usw. ausgestellt. Ich bin schon gespannt, welch neue Geschichten meine Arbeiten in diesem andersartigen Raum erzählen werden.“ Die Ausstellung läuft vom 24. Juni bis zum 28. September 2011 und wird von Samsung, The Korea Foundation, The Japan Foundation und The E. Rhodes and Leona B. Carpenter Foundation unterstützt.

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unterwegs

Bukchon, wörtlich „Nord-Dorf“, ist ein Stadtviertel in Seoul, in dem die traditionellen ziegelgedeckten Hanok-Häuser wie in längst vergangenen Zeiten die alten Staßen und Gassen säumen. Im Norden der Seouler Innenstadt mit dem Gwanghwamun-Plaza und der Bosingak-Glocke befinden sich im Hochhäusermeer zehn Gegenden, die zusammengefasst als „Bukchon“ bekannt sind. Verwaltungstechnisch gesehen umfassen sie Samcheong-dong und Gahoe-dong, die zum Bezirk Jongno-gu gehören und zwischen den Königspalästen Gyeongbok-gung und Changdeok-gung liegen. Kim Yoo-kyung Freiberufliche Journalistin | Fotos: Ha Ji-kwon

Bukchon

Eine herrliche Reise ins Seoul von einst

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Ko re a n Cu l tu re & A rts


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n einem tieferen und umfassenderen Sinne handelt es sich bei Bukchon um Gebiete, die das geistige Erbe und die Alltagskultur der Seouler, die im Zentrum der Geschichte der Joseon-Zeit (1392-1910) lebten, bewahren. Administrativ gesehen umfasst Bukchon die Gebiete inner- und außerhalb der vier Haupttore der Stadt (Sungnye-mun, Sukjeong-mun, Dongdae-mun und Donui-mun), aber auf kultureller Ebene sind es Gebiete, die die Spuren von Konfuzianismus, Buddhismus, Schamanismus und Wissenschaft der Joseon-Zeit in Form von Räumlichkeiten und Zeremonien erhalten haben. Mit dem Bekanntwerden des Hanok-Viertel von Bukchon als Touristenattraktion kommen immer mehr Menschen hierher und erkunden die Wege, die sich über Anguk-dong bis Samcheong-dong erstrecken, um einen Blick auf die Essenz der Traditionen Seouls zu werfen. Aber bis vor zehn Jahren noch galt Bukchon als rückständiges Stadtviertel mit verkommenen Hanok-Häusern, geschlossenen Palästen und vergessenen Relikten längst vergangener Tage, während das Viertel Gangnam südlich des Flusses Han-gang mit der Einführung der westlichen Kultur als wohlhabendes Wohn- und Geschäftsviertel prosperierte. Es gab auch eine Zeit, in der das Niederreißen der Hanok und der Bau hochmoderner westlicher Wohn-

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Diese Hanok-Straße im Inneren von Gahoe-dong bietet eins der Highlights der malerischen Szenerie von Bukchon.

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1. Moderne Lampen, die von den Deckenbalken eines traditionellen koreanischen Wohngebäudes hängen, zeigen die Anpassung traditionellen Wohnraums an das Leben der modernen Koreaner. 2. Heutzutage sind die Straßen von Samcheong-dong in Bukchon fast immer von geschäftigem Treiben und Verkehr geprägt.

komplexe als die einzig machbare Sanierungsmaßnahme für Bukchon angesehen wurde. Mehrfamilienwohnhäuser und in geraden Linien erweiterte Straßen sind die Ergebnisse von den in den 1990er Jahren unternommenen Entwicklungsmaßnahmen für Bukchon. In der Zwischenzeit verschwanden viele Hanok-Häuser einfach unter dem Druck der Modernisierung. Die Menschen, die früher in Bukchon gelebt haben, beklagen sich darüber, dass das Bukchon von heute „zu oberflächlich und nicht mehr wie früher“ sei. Diese Klage ist verständlich, weil Residenzen für Mitglieder der Königsfamilie wie das Andong-Palais am Eingang des Viertels und große traditionelle Anwesen der Modernisierung zum Opfer fielen. Dieses Verschwinden von traditionellen Häusern und Wegen veränderte auch Geist und Flair des Viertels entsprechend.

Wiederbelebung von Bukchon Gerade in diesem entscheidenden Moment fanden die Koreaner ihr Selbstbewusstsein in Bezug auf das traditionelle Erbe wieder und Bukchons Wert als repräsentatives Viertel mit historischen Wurzeln wurde anerkannt. Dies ist z.B. auch daran

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zu sehen, dass das Haus des Unternehmers Bak Heung-sik (1903~1994) heutzutage zu den von den Wohlhabenden am meisten begehrten Immobilien gehört. Bukchon, das nicht nur in Bezug auf die Tradition, sondern auch in puncto Modernisierung und Reform in Korea eine zentrale Rolle spielte, ist ein Ort, der den Geist Koreas repräsentiert. Hier werden noch warme Beziehungen zu den Nachbarn unterhalten. Ein berühmter Musiker erinnert sich daran, wie herzlich er nach seinem Einzug von den Bewohnern aufgenommen und bei seinem ersten Spaziergang durchs Viertel mit einem „Ah, wie schön, dass Sie hierher gezogen sind!“ begrüßt wurde. Hier ist es noch üblich, dass man dem Nachbarn mal eine Schüssel Kimchi vorbeibringt oder zu besonderen Anlässen Reiskuchen schenkt. Auch geografisch gesehen gilt Bukchon als ideales Wohngebiet: Es liegt auf einem nach Süden gerichteten sonnigen Hügel, eingebettet in eine landschaftlich schöne Umgebung mit frischer Luft. Zudem ist es nicht weit bis zum Stadtzentrum. Wenn der Besucher an der U-Bahn-Station Anguk in eine der vier oder fünf Gassen, die von der Hauptstraße nach Norden ins Viertel Bukchon führen, geht findet er genügend Gelegenheiten zum Flanieren und auch Plätze zum entspannenden Ausruhen. Den direktesten und bequemsten Zugang bietet die geschäftigere Straße, die entlang der Mauer des Gyeongbok-gung nach Samcheong-dong führt und sich 1,5 Kilomter lang den Maeng­ hyeon-Hügel entlang auf und ab bis zum Samcheong-Tunnel windet. Aus den Wohnhäusern, die rechts und links dieser Stra-

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Mehr als 900 Hanok-Häuser drängen sich dicht an dicht. Allein schon die Ziegeldächer mit den verblichenen alten Dachziegeln, ihrem eleganten Linienschwung und den Dachrippen lassen das Viertel freundlich wirken. Die Gassen werden beidseitig von Hanok-Häusern gesäumt, was nur hier in Bukchon noch zu sehen ist. ße standen, wurden in den letzten Jahren Geschäfte der unterschiedlichsten Art, so dass es hier stets von Autos und Fußgängern wimmelt. Heute führt diese Straße durch das lebendigste Viertel von Bukchon. Hier drängen sich Cafés und Restaurants aus aller Herren Länder sowie Galerien. Aber man kann auch in der beschaulichen, im Freien gelegenen Predigthalle des Tempels Beomnyeon-sa innere Ruhe finden und in Meditation versinken. Hier finden sich viele mit professioneller Hand gepflegte schöne Topfblumen, die ein Gläubiger seit Jahren als Opfergabe für Buddha spendet. In den Hintergassen liegen Werkstätten und Galerien, in denen junge Künstler mit ihrer ganzen, in eine ungewisse Zukunft gerichteten Kraft ihrer Kreativität in ihren Werken Gestalt verleihen. Menschen schlendern den Weg entlang und lassen ihre Blicke hierhin und dahin schweifen. Obwohl der Fußgängerweg eng ist und in etwas unbequemer Weise auf und ab führt, gilt dies gerade als Zeichen der Vitalität von Samcheong-dong. Während man durch die Gassen des Viertels streift und den Maenghyeon-

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Hügel hinauf- und heruntersteigt, begegnet man auf Schritt und Tritt der Tradition. Das Gute ist zudem, dass man die Windungen dieses Spazierwegs leicht verlassen und in nur wenigen Minuten in die Seouler Innenstadt mit dem Gwanghwamun-Plaza zurückkehren kann. Der Maenghyeon, der „Hügel des Maeng-Clans“, der sich an der Samcheongdong-Straße erhebt, ist nach dem Hofbeamten Maeng Sa-seong (1360~1438) benannt, von dem erzählt wird, dass er Flöte spielend auf einem Ochsen den Hügel hoch und runter geritten sei. Heutzutage überquert man den Hügel eher im Auto als auf dem Rücken eines Ochsen. Entlang der Hauptstraße finden sich große Kunstgalerien und glitzernde Trend-Shops, die monetäre Lebensader der Kulturbranche. Designerin Lee Rhee-za, die hier schon seit 40 Jahren eine Hanbok (traditionelle Tracht)-Boutique betreibt, sagt: „Hier in Bukchon gibt es etwas, das den Menschen geistig wach hält. Hätte ich meine Boutique nach Gangnam verlegt, hätte ich mehr Geld verdienen können. Aber in Bukchon gibt es viele elitäre Einrichtungen, die es mir gut ermöglichen, den Modetrend

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Die gemütlichen, klassischen Gassen Bukchons, die von Hanok-Häusern gesäumt werden, ziehen das ganze Jahr über Besucherströme an.

von Frauen mit hohem Status wie der First Lady zu verfolgen. Sie wissen aus Erfahrung, dass sie ein Kleid, egal wie teuer, modisch oder prächtig es auch sein mag, nicht tragen können, wenn es nicht dem Protokoll oder der Etikette entspricht.

Die einzigartige Atmosphäre von Bukchon Wandert man die Straßen von Samcheong-dong entlang, kann man auch auf reizvolle Kunstwerke stoßen, wie z.B. auf eine Seladonkanne mit Lotusblatt-Dekor im Schaufenster eines kleinen Ladens. Es gibt auch eine Reihe Antiquitätenläden. Das starke Verkehrsaufkommen ist leider ein großes Manko dieses sonst für gemütliche Spaziergänge so idealen Viertels. Darüber hinaus herrscht am Wochenende geradezu Gedränge, so dass man sich manchmal mühsam seinen Weg durch die Menschenmenge bahnen muss. Die Gegend tief in den Gassen von Gahoe-dong weist eine hohe Konzentration an Hanok-Häusern auf und stellt damit die Quintessenz des Reizes von Bukchon dar. Durch Gassen mit ziegelgedeckten alten Häusern zu wandern ist schon ein grundsätzlich anderes Erlebnis, als an Wohnhochhaus-Komplexen vorbeizugehen. Auch wenn die Bewohner einander nicht persönlich kennen, verbindet sie in Bukchon ein Gefühl der Gemeinschaft miteinander. Und diejenigen, die einander gut

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kennen, bewahren eine gewisse höfliche Distanz, was für die Seouler typisch ist. Diese Haltung ist vielleicht ein letztes Überbleibsel des ruhigen, selbstbewussten Lebensstils der langjährigen Bewohner von Seoul. Mehr als 900 Hanok-Häuser drängen sich hier dicht an dicht. Allein schon die Ziegeldächer mit den verblichenen alten Dachziegeln, ihrem eleganten Linienschwung und den Dachrippen lassen das Viertel freundlich wirken. Die Gassen werden beidseitig von Hanok-Häusern gesäumt, was nur hier in Bukchon noch zu sehen ist. Die Gegend gibt dem Besucher einen Einblick in die 600-jährige Geschichte Seouls und die Alltagskultur ihrer Bewohner. Die Gassen, die wie Scheitel zwischen den Hanok-Häusern verlaufen, erweitern sich plötzlich und verengen sich wieder fort und fort. Der wahre Reiz von Bukchon liegt gerade darin, diesen alten Gassen zu folgen. Da es keine hohen Gebäude gibt, die die Sonne abhalten, ist die ganze Gegend in Sonnenschein gebadet, was im Besucher ein Wohlgefühl hervorruft. In einer Gasse ruft ein Junge „Nureong, warum versteckst du dich?“ und sucht nach seinem vierbeinigen Freund, während woanders eine schicke Dame einen großen Rassehund Gassi führt.

Gemütliche Gassen Die Hanok-Häuser, die an einem steilen Hang in Gahoe-dong stehen, variieren in der Größe von rund 36 Quadratmetern (11 Pyeong) bis rund 3.300 Quadratmeter (1.000 Pyeong). Sie konnten die Modernisierungswelle paradoxerweise deshalb

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überleben, weil die Gassen zu eng für Baufahrzeuge waren. In den letzten 600 Jahren haben in diesem Gebiet unzählige Persönlichkeiten gelebt und gearbeitet. Auf dem Gelände, auf dem jetzt das Verfassungsgericht steht, befand sich früher das Elternhaus von Königin Sinjeong-wanghu (1808-1890), der Adoptivmutter von Kaiser Gojong (reg. 18631907). Danach lebte dort Park Gyu-su (1807-1876), der bei der Verbreitung der Aufklärung in Joseon eine Pionierrolle spielte und die Reformer, die den Gapsin-Putsch (1884) herbeiführten, beeinflusste. Nach dem Scheitern des Putsches und der Hinrichtung der Reformer wegen Hochverrats wurde das Gelände vom Staat beschlagnahmt. Auf dem Gelände des Elternhauses von Kaiserin Yun, der Gemahlin des letzten Joseon-Herrschers, Kaiser Sunjong (reg. 1907-1910), wurden Dienstwohnungen für die Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft errichtet. Heute befindet sich dort nur noch ein leeres Gelände im Besitz der Samsung Gruppe. Das Haus, in dem zwei Konkubinen von Kaiser Gojong (reg. 1863-1907) nach dem Auszug aus dem Palast wohnten, ist jetzt ein buddhistischer Tempel. Von vielen residenzartigen Hanok-Häusern sind heute nur noch die Dächer und Grundstrukturen intakt. In den einstigen Quartieren der Bediensteten befinden sich jetzt kleine Läden der unterschiedlichsten Art. In Tongui-dong, westlich des Gyeongbok-gung, standen einst viele Häuser von Palast-Eunuchen. Es heißt, dass es dort geheime Räume gab und labyrinthartige Passagen zum Hauptraum führten, was den Häusern einen geheimnisvollen Hauch verlieh. Die Hanok-Häuser der reichen Bewohner von Insa-dong fielen ebenfalls der Entwicklung zum Opfer. Die Besitzer teilten die aus mehreren, um einen großen Innenhof angeordneten Gebäude auf, verkauften sie einzeln und zogen aus, womit diese Hanok ihren originären traditionellen Charme verloren. In Chebudong, wo nur noch die Grundstrukturen von normalen HanokHäusern zu sehen sind, stehen heute noch Schilder mit der Aufschrift: „Gegen die Erhaltung der Hanok“. Eine Frau, die jeden Morgen in aller Frühe durch die Gassen von Bukchon joggt, meint: „Die Gegend hier ist sehr freundlich. Der Blick auf den Gyeongbok-gung bei Sonnenaufgang hat mir bewusst gemacht, wie schön die Stadtlandschaft von Seoul ist.“ Der Essayist Na Seong-gyun, der sehr von Bukchon angetan ist, lebt schon seit über 50 Jahren hier. Er sagt: „Wenn ich mir morgens im Reiskuchenladen Bohnenreiskuchen fürs Frühstück kaufe und durch die Gässchen zwischen den Hanok zu meinem Haus in Samcheong-dong zurücklaufe, dann ist das einfach schön und gemütlich.“ Einen noch tieferen Eindruck vom geistigen Erbe Koreas, den

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ein einfacher Spaziergang durch die Hanok-Gassen nicht vermitteln kann, geben die altehrwürdigen traditionellen Rituale, die jedes Jahr in Seoul abgehalten werden. Jongmyodaeje ein repräsentatives konfuzianisches Ritual, ist eine Verehrungszeremonie für die Könige und Königinnen des Joseon-Reichs, deren Ahnentafeln im Königsschrein Jongmyo aufbewahrt werden. Die Zeremonie wird am ersten Sonntag im Mai abgehalten und bietet einen spektakulären Anblick. Wenn die Einrichtungen der nationalen konfuzianistischen Akademie Seonggyungwan im März und September der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, können die Besucher den Fuß quasi in den Haupttempel der konfuzianistischen Gelehrsamkeit der Joseon-Zeit setzen. Das Sajik-Ritual für Tosin, den Gott der Erde, und Goksin, den Gott des Getreides, das schon seit Tausenden von Jahren, noch vor der Einführung des Buddhismus und des Konfuzianismus in Korea, gepflegt und jedes Jahr im September abgehalten wird, umhüllt die Besucher mit einem Hauch frühgeschichtlicher Mystik. Darüber hinaus finden das ganze Jahr über auf den Bergen Inwang-san und Samgak-san schamanistische GutZeremonien und Rituale zur Verehrung der Berggottheit Sansin statt. All diese Veranstaltungen in und um Bukchon machen dieses Gebiet ideal für einen Spaziergang in die Welt der traditionellen koreanischen Kultur.

Es war einmal in Bukchon Wenn ich an Bukchon denke, erinnere ich mich immer an eine Szene im Haus der verstorbenen Meister-Sängerin des Pansori (traditioneller epischer Sologesang) Kim Sohui (1917-1995), die manchmal Künstler und Journalisten in ihr Hanok einlud. Bei einer solchen Gelegenheit veranstalteten die Gäste ein Stehgreif-Konzert, bei dem auf der 12-saitigen Zither Gayageum und der 6-saitigen Zither Geomungo gespielt und ein Salpurichum, ein schamanistischer Tanz zur Abwehr böser Geister, aufgeführt wurde. Die Tänzerin Yi Mae-bang (geb. 1927) tanzte zum Rhythmus der Eieruhrtrommel Seoljanggo. Eine heitere Stimmung verbreitete sich im Haus. Kim So-hui sang Ave Maria von Schubert, was mir gut gefiel. An diesem Tag regnete es. Da brachte uns jemand frisch zubereitete Hobakjeon (Zu­cchini-Pfannküchlein) aus der Küche.

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Great Korean Portraits Von Cho Sun-mie, Dolbegae Verlag, 352 Seiten, 50.000 Won ($45)

Neuerscheinung

Alte Porträts: Einblicke in Koreas Geschichte und Kultur

Die Künstler der Joseon-Zeit (1392-1910) malten Porträts mit der Auffassung: „Auch wenn nur ein einziges Haar anders aussieht, ist es nicht mehr dieselbe Person.“ Sie glaubten, dass man nur mit einer solchen Hingabe zum Detail das Äußere und Innere des Porträtierten „so, wie er ist“ ausdrücken könne. Für die Koreaner dieser Zeit waren Porträts nicht einfach Kunstwerke, sondern physische Manifestationen ihrer Ahnen oder der Weisen an sich. Aus diesem Grund packten sie bei Kriegen oder Naturkata­ strophen als erstes die Porträts ihrer Ahnen und die Ahnentafeln ein. In den Porträts der Joseon-Zeit kommen allerdings Emotionen oder persönliche Veranlagungen, wie sie bei den Selbstporträts von Rembrandt und Van Gogh oder dem Porträt des japanischen Shogun Tokugawa Ieyasu zu erkennen sind, nicht zum Ausdruck. Dieses Buch, das von Cho Sun-mie, Professorin für Kunst an der Sungkyunkwan Universität und Direktorin des Museums der Sungkyunkwan Universität verfasst wurde, beschreibt die Besonderheiten koreanischenr Porträts von der Goguryeo-Zeit (37 v.Chr.-668 n.Chr), die für ihre Grab-Wandmalerein bekannt ist, bis zur Joseon-Zeit. Die englische Ausgabe, deren Untertitel Immortal Images of the Noble and the Brave lau-

tet, ist eine für die allgemeine Leserschaft in englischsprachigen Regionen als auch für Koreanisten edierte Version von Koreanische Porträtmalerei: eine Kunst der Formen und Bilder (2009). In diesem koreanischen Original werden 74 Porträts historischer Figuren – darunter Könige, Gelehrte, Frauen und Mönche – vorgestellt und aus historischer und künstlerischer Perspektive mit Porträts aus China und Japan verglichen. Dabei werden Stil, Ausdruckstechniken und sogar das Leben der Porträtierten ausführlich vorgestellt. Für die englische Ausgabe wurden davon 50 aus historischer und künstlerischer Sicht bedeutende Porträts ausgewählt. Das Original wurde so bearbeitet, dass der Leser anhand der Porträts und der damit verbundenen Geschichten einen Einblick in die koreanische Geschichte und Kultur erhält. Die Autorin, die als erste in Korea in koreanischer Kunstgeschichte promovierte, hat sich fast 40 Jahre lang der Erforschung von Porträts gewidmet und gilt als Kapazität in Sachen Porträtmalerei. Die Expertin erklärt: „Chinesische Porträts betonen die gesellschaftliche Position und den Status einer Person, während die japanischen versuchen, die persönlichen Charakteristika einzufangen, die dann betont oder verzerrt werden. Die koreanischen Porträts hingegen übertreffen die der beiden Nachbarländer in der Realitätsnähe der Darstellung.“ Ihrer Analyse zufolge ist ein weiteres Merkmal der Porträts der Joseon-Zeit, dass sie die Personen vor einem leeren Hintergrund darstellen. Anders als in den Porträtmalereien aus China und Japan, in denen im Hintergrund junge Diener und Dienerinnen zu sehen sind, die Reichtum, Macht und Ansehen des Porträtierten unterstreichen, finden sich in den Porträts der Joseon-Zeit kaum solche Hinweise zur Heraushebung des sozialen Stands, der Bildung oder der Vorlieben der dargestellten Person. Durch Übertreibungen oder Veränderungen den individuellen Charakter oder die Ästhetik des Porträtierten zum Ausdruck zu bringen, ist nicht nur ein Merkmal der Proträtmalerei Chinas oder Japans, sondern findet sich in ähnlicher Weise auch in Europa. In der JoseonZeit wurden solche Mittel hingegen überhaupt nicht eingesetzt. Great Korean Portraits wurde von Lee Kyong-hee, der ehemaligen Chefredakteurin des The Korea Herald ediert und ins Englische übersetzt. Dank ihrer genauen Übersetzung und guten Bearbeitung ist das Buch nicht nur für Experten, sondern auch für den Durchschnittsleser ein Genuss.

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Great Korean Portraits

Die Welt der koreanischen Bäume (Band1,2)

Kim Hak-soon Kolumnist

Der nicht gegangene Weg ist schöner

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„In jedem Baum steckt eine Geschichte “ Kulturwissenschaftliche Baumgeschichten, verfasst von einem Naturwissenschaftler

Die letzte Essaysammlung, hinterlassen von einer „virtuosen Erzählerin unserer Zeit“

Die Welt der koreanischen Bäume (Band 1, 2)

Der nicht gegangene Weg ist schöner

Von Park Sang-jin, Gimmyoung Verlag, 608 Seiten (Bd. 1), 572 Seiten (Bd. 2), 30.000 Won

Von Park Wan-seo, Hyundae Munhak Verlag, 268 Seiten, 12.000 Won

In einem Baum leben Geschichte und Kultur eines Landes. In einem Baum stecken auch Freude und Trauer der Menschen. Bäume, die über Hunderte, ja manchmal sogar Tausende von Jahren leben, werden selbst zu Protagonisten von Volkserzählungen. In diesem Buch wird nicht nur ökologisches Wissen über die Bäume Koreas vermittelt. Das ausgezeichnete Storytelling, das den Rahmen bildet, macht es vielmehr zu einer hervorragenden kulturwissenschaftlichen Lektüre. Das war möglich, weil der Autor Park Sang-jin, Prof. em. der Kyungpook National University, der als Forstwissenschaftler seine Karriere begann, sich zu einem Experten für „ Baumforschung als Kulturgut“ entwickelte. Der Autor wählte 242 der über 1.000 in Korea heimischen Bäume aus, ordnete sie nach Kategorien wie „Bäume mit schönen Blüten“, „Bäume mit Früchten“, „Bäume mit Heilkraft“, „Bäume für den Garten“, „Bäume für Straßen“ und erzählt interessante Geschichten dazu. Zu diesem Zweck hat er in mühsamer Kleinarbeit alle relevanten Informationen aus den vier wichtigsten historischen Kompilationen – dem Samguksagi (Geschichte der Drei

Park Wan-seo, eine Virtuosin der koreanischen zeitgenössischen Literatur, ist unter mehreren Spitznamen bekannt: Einer ist „ewig unermüdliche Autorin“, passend für eine Schriftstellerin, die ohne Pause bis zu ihrem Tod am 22. Januar 2010 im Alter von 80 Jahren schrieb. Park war 40 Jahre alt, als sie 1970 mit einiger Verspätung als Schriftstellerin debütierte. Die folgenden 40 Jahre schrieb sie ununterbrochen heilende und tröstende Werke. Park wird auch als „Mutter der literarischen Szene“ bezeichnet, da sie für Nachwuchsschriftsteller eine Art Muse ist, die sich ungeachtet des Alters stets mit leidenschaftlicher Kreativität dem Schreiben widmete. Der Beiname „virtuose Erzählerin unserer Zeit“ wurde ihr gegeben, weil sie die innersten Gedanken der Menschen wie ihre eigene Hosentasche kannte und das Talent besaß, diese deutlich und ungeschmückt darzustellen. Park Wan-seo wurde in der Nähe von Gaeseong, das heute zu Nordkorea gehört, geboren. Sie verinnerlichte die Tragik der modernen koreanischen Geschichte durch ihre eigenen Erfahrungen des Verlustes der Heimat und des Todes von Familienmitgliedern und hob sie zu einer Epik von Liebe, Versöhnung und Vergebung auf. In ihrer letzten Essaysammlung Der nicht gegangene Weg ist

Königreiche ), Samgukyusa (Memorabilia der Drei Königreiche ), Goryeosa (Geschichte des Goryeo-Reiches), Joseonwangjosillok (Annalen des JoseonReiches ) –, klassischen Romanen, Anthologien, Gedichtsammlungen der modernen und zeitgenössischen Literatur usw. zusammengetragen, geordnet und analysiert. Der konfuzianistische Gelehrte Yi Hwang (1501-1570) liebte die Pflaumenblüten so sehr, dass er von seinen Gedichten über Pflaumen 91 auswählte und zur Pflaumenblüten-Anthologie kompilierte. Seine Liebe zur Gisaeng (professionelle Unterhalterin) Duhyang rankt sich auch um einen Pflaumenbaum. Diese Liebesgeschichte spielte sich in Danyang ab, als Yi Hwang sich dort als Magistrat aufhielt. Duhyang, die sich in ihn verliebte, wusste, dass Yi eine große Liebe zu Pflaumenblüten hegte und schenkte ihm einen der seltenen Pflaumenbäume mit weiß-bläulichen Blüten. Yi Hwang war so bewegt davon, dass er Duhyang sein Herz öffnete. Später wurde der Baum in die Dosanseowon Akademie umgepflanzt, einer konfuzianistischen Schule, die dem Andenken Yis gewidmet war. Yi Hwang letzte Worte waren: „Gieß den Pflaumenbaum!“ Auf dem koreanischen 1.000-Won-Schein ist das Porträt von Yi Hwang zu sehen und mit ihm der Pflaumenbaum in der Dosan-seowon Akademie. Es werden auch Bäume vorgestellt, die berühmte Maler der Jo­seon-Zeit wie Kim Hong-do, Sin Yun-bok und Jeong Seon inspirierten, oder Bäume, die als Motive in den Werken von Kim Sowol und Yu Chi-hwan erscheinen, Dichter, die als Nationaldichter des 20. Jhdts bezeichnet werden können. Es gibt auch reichhaltiges Bildmaterial wie über 700 Fotos und mehr als 50 alte BaumMalereien. Weiter führende Lektüre: Park Sang-jin: Das Geheimnis der hölzernen Druckstöcke der Tripitaka Koreana; Bäume, in die Geschichte eingeritzt wurde; Ein Baum erzählt über tausend Jahre Leben; Bäume in koreanischen Palästen; Bäume als kulturelles Erbe.

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schöner , die im Sommer 2010 veröffentlicht wurde, spart die Autorin persönliche tragische Erlebnisse nicht aus. Sie gestand: „Ich habe schon so viel aus dem Koreakrieg geschöpft, dass ich manchmal denke, dass ich keine Schriftstellerin geworden wäre, wenn ich ihn nicht erlebt hätte. Und mir kommt es oft so vor, als wäre in mir noch so viel darüber zu erzählen übrig.“ An der Stelle, an der sie sagt, dass sie ohne die Kriegserfahrung wahrscheinlich akademische Pfade beschritten hätte, wird der Sinn des Buchtitels angedeutet. Das ist vielleicht auch der Grund, warum beim Lesen Assoziationen zu Robert Frosts Gedicht The road not taken aufkommen. Park offenbart dem Leser in ihrem Buch ihren letzten Wunsch: „Ich hoffe, dass ich nie die Flexibilität meines Geistes verliere bis zu dem Tag, an dem Gott mich zu sich ruft, denn ich will bis zu diesem Tag hier auf Erden geliebt und gebraucht werden und Gutes schreiben.“ Parks letztes Buch zog so großes Interesse auf sich, dass es von der Tageszeitung Hankyoreh sogar unter die zehn besten des Jahres 2010 gewählt wurde. Nach Parks Debüt mit dem Roman Der nackte Baum hinterließ sie viele Erzählungen wie Ein schwankender Nachmittag; Ein sehr alter Witz; Du, zu einsam, du; Wer hat all die Singa (Alpenknöterich) gegessen?; Nette Bok-hee und Essaysammlungen wie Applaus für den Letzten?; Warum machen mich nur Kleinigkeiten rasend?; Die Hacke etc.

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blick aus der ferne

Korea – Gestern und Heute Claudia Dirauf

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ein erster Eindruck von Korea war ernüchternd. Als ich 1984, vier Tage nach meiner Hochzeit und im Alter von 21 Jahren, mit der Fähre aus Busan kommend, nach einer Stunde Fahrt in Jangseungpo ankam, sah ich nur kleine Häuser und viel Abfall. Gleich neben dem Anlegesteg lief das Abwasser der Stadt ins Meer und genau dort spielten ein paar Kinder. Trotz dieser ersten Eindrücke war ich sehr neugierig, was mich in den nächsten 18 Monaten erwarten würde. Mein Mann und ich wohnten in einer Apartmentsiedlung etwas oberhalb von Okpo, einer kleinen Stadt auf der Insel Geoje-do. Etwa zwei Kilometer entfernt befand sich eine große Schiffswerft, auf der mein Mann arbeitete. Unsere möblierte Wohnung war im ersten Stock eines Wohnblocks, in dem Koreaner und einige Ausländer wohnten. Zu diesem Viertel gehörte auch ein kleiner Supermarkt und ein Hotel für die Gäste der Werft. Fast jeden Tag ging ich auf den ungeteerten staubigen Straßen ins Dorf hinunter, um an den Marktständen frisches Obst und Gemüse einzukaufen. Es gab nur wenige kleine Geschäfte und ich vermisste einen Bäcker und Metzger. Da Schweine- und Rindfleisch sehr teuer waren, aßen wir viel Fisch und Hühnchen. Wenn ich die Dorfstraße entlang lief, folgten mir immer viele Kinder, die gerne ihr „Hello, hello!“ ausprobieren wollten. Viele Mütter trugen ihre Babys in einem Tragetuch auf dem Rücken und nahmen sie überall mit hin. Meine wenigen Koreanischkenntnisse reichten nur zum Handeln und ich war immer ganz stolz, wenn ein Händler mir einen Preisnachlass gewährte. An den Wochenenden erkundeten wir mit unserem Auto Südkorea. Wir fuhren kreuz und quer durchs Land und besichtigten viele Nationalparks und buddhistische Tempel. Manchmal waren die Straßen so schlecht, dass wir mit dem Bus weiterfahren mussten, um unser Auto nicht völlig zu demolieren.

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Natürlich waren die bedeutenden Sehenswürdigkeiten leicht erreichbar, aber uns zog es oft zu den weniger bekannten Stellen. Da die Tempelanlagen in landschaftlich sehr reizvollen Gegenden liegen, konnte man dort auch sehr gut wandern und picknicken. Ich beobachtete viele koreanische Reisegruppen, die mit dem Bus unterwegs waren und dann auf einer Wiese ihre Decken ausbreiteten, um gemeinsam das mitgebrachte Essen zu verzehren. Es wurde viel gesungen und getanzt und die Stimmung wurde dank der alkoholischen Getränke Soju oder Makgeolli schnell immer besser. Oft wurden wir zum Mitmachen eingeladen. Ausländische Touristen gab es damals nicht viele, so dass wir auffielen, aber stets freundlich und hilfsbereit behandelt wurden. Da die meisten Koreaner eine 6-Tage-Woche hatten, blieb ihnen wenig Zeit für Freizeitbeschäftigungen. Deswegen waren wir oft allein zum Baden am Strand oder zum Wandern in den Bergen. Viele konnten sich noch kein Auto leisten, so dass sie auf Bus oder Taxi angewiesen waren. Das Busfahren war ein kleines Abenteuer, da der Fahrer ohne Rücksicht auf die Passagiere sehr schnell fuhr und oft waghalsige Überholmanöver durchführte. Die Einheimischen lachten, wenn sie mein ängstliches Gesicht sahen. Teilweise musste man an den Haltestellen aufspringen, um noch mitgenommen zu werden, weil es stets schnell gehen musste. Das Telefonieren dagegen ging nicht ganz so schnell. Wir hatten in unserer Wohnung ein Telefon, aber bis man eine Verbindung nach Deutschland bekam, dauerte es immer eine Weile. Zuerst musste ich das Gespräch bei der Vermittlung anmelden und dann warten, bis eine Leitung nach Deutschland freigeschaltet wurde. Auch war unsere einzige schnelle schriftliche Verbindung zu der Firma meines Mannes ein Fernschreiber im nahe gelegenen Hotel. Unser Aufenthalt in Korea ging leider viel zu schnell vorbei,

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Blick auf Okpo 1984

aber nichtsdestotrotz haben wir in dieser Zeit das Land und seine Leute schätzen und lieben gelernt. Kein Wunder also, dass Südkorea uns auch nach der Rückkehr nach Deutschland faszinierte: Ich begann mit dem Lernen der koreanischen Sprache, während mein Mann alte Reiseberichte von deutschen Koreareisenden sammelte. Nach 25 Jahre kamen wir 2009 mit unseren Kindern zu einem dreiwöchigen Urlaub nach Korea zurück. Der erste Eindruck nach der Landung auf dem hochmodernen Flughafen Incheon war beeindruckend. Das gut organisierte Hotelshuttle-system nutzend, fuhren wir direkt ins Zentrum der Millionenmetropole Seoul. Von dort aus starteten wir unsere Reise kreuz und quer durch Südkorea. Natürlich war auch Okpo ein Ziel. Diesmal fuhren wir allerdings nicht mit der Fähre, sondern mit einem Mietwagen. Mittlerweile führt eine sehr gut ausgebaute Straße zu dem Ort, den wir kaum wiedererkannten. Das kleine Dorf hat sich zu einer modernen Stadt mit breiten Straßen, vielen Geschäften und unterschiedlichsten Restaurants entwickelt. In den großen Supermärkten und Bäckereien bekommt man inzwischen alles, was das Herz begehrt. Das Wohnviertel für die Werftmitarbeiter gibt es nach wie vor und auch der kleine Supermarkt und das Hotel bestehen noch. Im Gegensatz zu früher sieht man auf den vielbefahrenen Straßen nur noch wenige Kinder. Vielleicht haben sie keine Zeit mehr zum Spielen, da sie sehr lange lernen müssen, um dem Bildungsdruck standzuhalten. Das Tragetuch für Babys hat inzwischen ausgedient und man benutzt stattdessen Kinderwagen. Die Stadt Okpo ist viel hektischer geworden und hat den dörflichen Flair verloren. Außerdem ist man als Ausländer nichts Besonderes mehr und keiner dreht sich mehr um, wenn man vorbeiläuft. Der Tourismus in Südkorea hat rapide zugenommen, da die

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Blick auf Okpo 2009

Koreaner jetzt viel mehr Freizeit haben. Die 5-Tage-Woche macht es möglich, dass viele Einheimische am Wochenende wandern oder einen Ausflug machen. Die Straßen und Autobahnen sind alle sehr gut ausgebaut, so dass man bequem bis zu den Sehenswürdigkeiten fahren kann. Viele Koreaner können sich nun ein Auto leisten, deshalb haben die Gruppenreisen mit dem Bus stark abgenommen. Es gibt kaum noch Picknickplätze, da jetzt sehr viel Wert auf den Naturschutz gelegt wird. Die Leute sind aber nach wie vor sehr freundlich und hilfsbereit. Steht man als Ausländer irgendwo etwas hilflos herum, weil man sich verirrt hat, kommt sofort jemand und fragt, ob er helfen könne. Da ich inzwischen mehr Koreanisch kann, haben sich oft nette Gespräche entwickelt. Das Land ist inzwischen hoch technisiert und modern. Überall kann man mit seinem Handy telefonieren oder ins Internet gehen. Jeder nutzt diese Möglichkeit ausgiebig, sogar auf dem Gipfel eines Berges im Nationalpark informiert der koreanische Wanderer umgehend die daheim gebliebene Familie über den erfolgreichen Aufstieg. Bereits in Deutschland kann der Tourist ein Handy zum Ausleihen via Internet bestellen. Dies ist ratsam, da man beispielsweise seine Handynummer beim Mieten eines Autos und bei der Reservierung eines Hotelzimmers angeben muss. Selbst bei einem Ausflugsboot mussten wir eine Telefonnummer angeben, falls das Boot untergehen sollte. Kommunikation ist sehr wichtig und die Möglichkeiten dafür sind immens. Leider gehen drei Wochen sehr schnell vorbei und man kann in dieser Zeit nur einen kleinen Teil Südkoreas erkunden, doch dieses Land hat noch so viel mehr besondere Eindrücke und Erlebnisse zu bieten. Da ich gerne die Menschen und Kultur besser verstehen möchte und das nur über die Sprache geht, lerne ich jetzt intensiv Koreanisch. Es war sicherlich nicht unsere letzte Reise ins Land der Morgenstille.

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1. Schüler üben IBS- Manöver (IBS: inflatable boat small) im Jugendtrainingscamp der Marineinfanterie; die Übung simuliert die tatsächliche Grundausbildung der Marineinfanteristen. 2. Die Rekruten sind stolz, nach sechs Wochen Höllentraining das rote Namenszeichen, das Kennzeichen des ROK Marine Corps, zu erhalten.

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LIFESTYLE

MarineinfanterieBegeisterung unter den jungen Koreanern D

Der Schauspieler Hyun Bin winkt seinen Fans zu, bevor er sich ins Ausbildungslager der Marineinfanterie in Pohang, Provinz Gyeongsangbuk-do begibt, um seinen Militärdienst anzutreten (7. März 2011).

ie koreanischen Marineinfanteristen stechen buchstäblich ins Auge: Stiefel aus Sämischleder, rote Namensschilder, achteckige Mützen, Hahnenkamm-Friseur (Irokesenschnitt) und ein typischer Sprachgebrauch sind Merkmale der Marineinfanteristen.

Ein Top-Star-Marineinfanterist Die koreanische Marineinfanterie, die ein Jahr nach ihrer Gründung 1949 im Koreakrieg (1950-1953) kämpfte und damals ihren Spitznamen „Geisterjäger“ erhielt, sorgt heute für Furore. Es ist bislang so gut wie nie vorgekommen, dass eine der Teilstreitkräfte in aller Munde ist. In TV-Shows erzählen bekannte Sänger und TV-Stars stolz über ihre MarineinfanterieDienstzeiten und mit dem freiwilligen Eintritt des höchst beliebten Schauspielers Hyun Bin (echter Name: Kim Tae-pyeong) in die Marineinfanterie (Aufnahmegruppe 1137) im letzten März erreichte das öffentliche Interesse an der Als ein koreanischer Top-Star auf der Höhe seiner Karriere zur Marineinfanterie Marineinfanterie seinen Höhepunkt. ging, wurde er von seinen Fans mit Lob überschüttet. Es gibt aber auch junge KoAn dem Tag, als Hyun Bin sich zum Dienstreaner, die sich in der strategischen Überlegung, sich auf diese Weise in einer von antritt meldete, florierte das Hotel- und Konkurrenz geprägten Gesellschaft behaupten zu können, freiwillig zur MarineinGaststättengewerbe in der Stadt Pohang in der Provinz Gyeongsangbuk-do, was den fanterie melden. Genauer betrachtet ist der derzeitige Marine-Boom in Korea aber leidenschaftlichen Fans aus ganz Korea und kein plötzlich entstandenes, vorübergehendes Phänomen. Asien wie Japan, China, Hongkong und TaiKim Dang Journalist wan zu verdanken war, die in der Nähe des Trainingszentrums der Marineinfanterie kampierten, um ihr Idol zu sehen. Selbst Präsident Lee Myung-bak, der die oberste Truppenführungsgewalt innehat, sprach davon, dass Hyun Bins Entschluss, sich freiwillig zur Marineinfanterie zu melden, davon zeuge, dass er „ein gesundes Bewusstsein besitze“, was erneut für große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sorgte. Dass die Marineinfanterie in aller Munde ist und die jungen Menschen sich dafür begeistern, hängt aber nicht nur mit einigen Top-Stars, die die Massen beeinflussen, zusammen. In Korea hat die Marineinfanterie schon

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seit langem einen besonderen Ruf und wird als ein „ganz spezielles gesellschaftliches Phänomen“ betrachtet.

Warum die Marineinfanterie? Diesbezüglich zieht das Ergebnis der Meinungsumfrage, die die Maeil Business Newspaper durchgeführt hat, den Blick auf sich. Die Zeitung untersuchte das gesellschaftliche Bewusstsein und die Wertvorstellungen der Koreaner in den 20ern, der sogenannten „S-Generation“. Nach dieser Umfrage war der oberste Lehrsatz für die jungen Koreaner in den 20ern, die unter gesellschaftlicher Polarisierung, starker Konkurrenz und mangelnden Arbeitsstellen leiden, „Spezifizierung“ (specification, kurz spec) der Karriereentwicklung und „Kampf“ (struggle), um das „Überleben“ (survival) zu sichern. Die Zeitung stellte den Grund, warum Kwon Seung-ho (Name von der Redaktion geändert), Student im zweiten Jahr an der Korea University, einer der

und dem Stolz, Mitglied einer elitären Gruppe zu sein. Der bekannte koreanische Sänger Lee Jeong (30, Aufnahmegruppe 1080) leistete im August 2010 seinen Militärdienst in der Marineinfanterie ab. Bei einem Interview im Januar 2011 erzählte er über seine Erfahrungen: „Als ich nach dem Höllenmarsch das rote Namensschild bekam, klopfte mein Herz heftig.“

Marineinfanterie-Erlebnisprogramm für Jugendliche Im August 2005 schrieb die Marineinfanterie mit der Absolvierung der Aufnahmegruppe 1000 ein neues Kapitel in ihrer Geschichte. Das Forschungsinstitut für Marineinfanterie-Strategie (Research Institute For Marine Corps Strategy) befragte damals die Absolventen der Aufnahmegruppen 1000 und 1001 nach dem Grund für ihre Entscheidung für die Marineinfanterie. Die Umfrage brachte folgendes Ergebnis: Die überlegene geistige und körperliche Stärke der Marinein-

Nach dem koreanischen Verteidigungsweißbuch 2010 gehören unter den 650.000 Soldaten nur 27.000 (4,2%) zur Marineinfanterie (zwei Divisionen und eine Brigade), d.h. es sind im wahrsten Sinne des Wortes in Anlehnung an den gleichnamigen amerikanischen Film nur „A Few Good Men“. renommiertesten Privatuniversitäten Koreas, sich für die Marineinfanterie entschied, vor: „Mitglied des Alumniverbands der Korea University, Mitglied der Marinekameradschaft und Mitglied des Verbandes der Heimatfreunde aus der Honam-Region (Provinzen Jeollabuk-do und Jeollanam-do) zu sein, bedeutet, in Sachen persönliche Beziehungen in Korea quasi der Terminator zu sein.“ Die Aufgaben der koreanischen Marineinfanterie sind die Überwachung der Inseln, die sich in den Gewässern westlich und nordwestlich der Hauptstadt Seoul befinden, und die Durchführung von Landungsoperationen. Bei Landungsoperationen denkt man normalerweise nur daran, dass die Streitkräfte auf Kriegsschiffen in die Küstengebiete des Feindes vordringen. Doch in der Tat werden nicht nur Schiffe eingesetzt, sondern alle möglichen Transportmittel wie Panzerwagen und Flugzeuge. Um als eine schnelle Mehrzweck-Reaktionseinheit zu fungieren, die jederzeit in jeder Situation ihre Aufgabe erfüllen kann, werden die Marineinfanteristen unter möglichst realen Kriegs- oder Notfallbedingungen hart trainiert. Die Kriegsmaxime „Mehr Schweiß im Training, weniger Blut im Kampf“ passt besonders gut zu den Marineinfanteristen, die in feindliches Gebiet eindringen, die Gegner verwirren und so als Vorhut den Vormarsch sichern. Insbesondere die sechswöchige Grundausbildung ist entsprechend ihrem Ruf als „Höllentraining“ gnadenlos hart. Die besondere Verbundenheit unter den Marineninfanteristen beruht auf dem gemeinsam ertragenen Schmerz der Grundausbildung

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fanteristen (61%), die Möglichkeit der flexiblen Studienplanung (19%) (Bei der Marineinfanterie kann man selbst über den Zeitpunkt seines Dienstantritts entscheiden.), das äußere Erscheinungsbild (14%) und Empfehlung von anderen (6%). Das bedeutet, dass drei von vier Marineinfanteristen sich auf Grund der überlegenen geistigen und körperlichen Stärke und des Images der Marineinfanteristen für die Marineinfanterie entschieden haben. Das Image der harten Marineinfanteristen wird auch durch die Umfrage eines Marktforschungsinstituts bestätigt, bei der es um die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit koreanischer Marken ging. Die Marineinfanterie gehörte neben dem Handy von Samsung Electronics, der LPGA-Golferin Pak Se Ri und dem Major-League-Baseballspieler Park Chan-ho zu den repräsentativsten koreanischen Marken. Auch das Marineinfanterie-Erlebnisprogramm für Jugendliche, das nach der Devisenkrise 1997, als Korea durch den IWF gestützt werden musste, als Programm für das allgemeine gesellschaftliche Interesse gestartet wurde, beweist die Popularität der Marineinfanterie. Bei diesem Programm gehen die Jugendlichen für fünf Tage in ein Trainingscamp, wo sie von Veteranen in der Marineinfanterie ein Intensivtraining wie das der echten Marineinfanteristen durchlaufen: Guerilla-Training, Bergmarsch, Mut-Training auf dem Friedhof, IBS (inflatable boat small)-Training usw. Das Programm findet jeden Sommer und Winter in den Schulferien in den beiden Küstenstädten Pohang und Gimpo (Marineinfanterie Division 2) statt. Teilnehmen können neben Mittel- und Oberschülern auch Erwachsene.

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Teilnehmer eines Jugendtrainingscamps üben, wie man an Bord eines bewaffneten amphibischen Fahrzeuges (KAAV: Korean armored amphibious vehicle) geht.

Derzeit übersteigt die Zahl der Bewerber die der zur Verfügung stehenden Plätze. Auf Grund der großen Nachfrage gibt es mittlerweile sogar 15 weitere ähnliche Programme, die von Privatunternehmen betrieben werden. Beim Marineinfanterie-Erlebnisprogramm werden jährlich drei bis vier Gruppen von jeweils 150-300 Teilnehmern aufgenommen, so dass im Jahr 2010 bereits die Absolventen des 95. Programms hervorgegangen sind. Bislang haben über 30.000 Jugendliche auf diese Weise den Marineinfanterie-Dienst mittelbar erfahren und wurden nach dem Prinzip „Einmal Marineinfanterist, immer Marineinfanterist“ zu potenziellen Marineinfanteristen.

Einmal Marineinfanterist, immer Marineinfanterist Die Beliebtheit der Marineinfanterie in Korea beruht auf der Allgemeinen Wehrpflicht, nach der jeder gesunde junge Mann der Pflicht zur Absolvierung des Wehrdienstes nachkommen muss. In Südkorea, das immer noch in Konfrontation mit dem für seine militante Haltung bekannten Nordkorea steht, kann die Umgehung des Wehrdiensts nur als großer Stolperstein für das berufliche und gesellschaftliche Fortkommen junger Männer wirken. Derzeit gibt es zwar auch die Tendenz, dass einige junge Männer den Wehrdienst umgehen wollen, gleichzeitig entscheiden sich aber auch viele für die Marineinfanterie, die für ihr Image der Härte und starkes Selbstbewusstsein bekannt ist. Dahinter steht der Gedanke: Wenn man schon seiner Wehrpflicht nachkommen muss, dann auch gleich richtig. Weitere psychologische Gründe, in die Marineinfanterie einzutreten, sind die damit verbundene Selbstüberzeugtheit und das Wissen, einer Elite anzugehören. Das wird deutlich an dem Slogan der Marineinfanterie-Werbung „A Few Good Men“ und dem Motto der Marineinfanteristen „Wenn jeder Marineinfanterist werden könnte, dann wäre ich keiner geworden.“ Nach dem koreanischen Verteidigungsweißbuch 2010 gehören unter den 650.000 Soldaten nur 27.000 (4,2%) zur Marineinfanterie (2 Divisionen und 1 Brigade), d.h. es sind im wahrsten Sinne des Wortes in Anlehnung an den gleichnamigen amerikanischen Film nur „A Few Good Men“ (Eine Frage der Ehre). Das Selbstbewusstsein der Marineinfanteristen, die trotz der geringen Truppenstärke mit ihrer körperlichen und geistigen Stärke bislang eine hervorragende Kampfkraft bewiesen haben, zieht junge Menschen zur Marineinfanterie.

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Im Vergleich zu den anderen koreanischen Teilstreitkräften wie dem Landheer ist die Marineinfanterie zwar eine kleine, elitäre Minderheit, doch im internationalen Vergleich liegt ihre Stärke hinsichtlich Größe und Qualität auf Weltniveau. Was die Truppenstärke der Marineinfanterie angeht, so steht Südkorea unter den etwa 50 Ländern, die über eine Marineinfanterie verfügen, hinter den USA, Frankreich und Taiwan auf Platz vier. Die Qualität der militärischen Stärke ist schwer in Zahlen zu erfassen, jedoch wurde das qualitative Potential der südkoreanischen Marineinfanterie bei der jährlichen gemeinsamen Truppenübung zwischen Südkorea und den USA als von Weltspitzenniveau anerkannt. Es gibt Analysen, die den Anstieg der Bewerberzahl für die Marineinfanterie nach dem Bombardement der südkoreanischen Insel Yeonpyeong-do durch Nordkorea am 23. November 2010 - dem ersten Angriff seitens Nordkorea auf südkoreanisches Territorium seit dem Waffenstillstand nach dem Koreakrieg - auf die umfassende Medienberichterstattung über diese massive Sicherheitsgefährung und die Gegenreaktion der südkoreanischen Marineinfanterie zurückführen. Nach Angaben des Verwaltungsamtes der Streitkräfte bewarben sich im Januar 2011 4.553 Männer für die Marineinfanterie, nur 1.011 wurden aufgenommen. Damit wurde mit 4,5 zu 1 die bislang höchste Wettbewerbsratio verzeichnet. Nach dem Yeonpyeong-Vorfall besuchten die Abgeordneten aus Regierungs- und Oppositionsparteien, die als Offiziere oder Soldaten in der Marineinfanterie gedient hatten, sofort die Insel, um die Soldaten zu ermutigen, und übernahmen sogar Wachdienste für einen Tag. Im Parlament mag sie zwar die Ideologie trennen, aber wenn es um die Marineinfanterie geht, vereint sie eine feste Loyalität. Die Szenen von Marineinfanteristen im Dienst und diesen Reservisten, die ihre Solidarität bekundeten, gingen durch alle Medien und bewiesen der Öffentlichkeit, das „Einmal Marineinfanterist, immer Marineinfanterist“ unabhängig von Alter oder Rang gilt.

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Reisen in die Koreanische Literatur

rezension

der mit verschiedenen renommierten Literaturpreisen

Leise Harmonie: Licht und Schatten, Fülle und Leere Die Erzählästhetik von Yun Dae-nyeong

Koreas ausgezeichnet wurde, ging zunächst den Weg

Bok Do-hoon Literaturkritiker

Der Schriftsteller Yun Dae-nyeong (geb. 1962) studierte französische Literatur, arbeitete als Journalist für eine Modezeitschrift und debütierte dann 1990 mit dem Nachwuchspreis der Literaturzeitschrift

Munhak sasang (Literatur und Denken ). Seither widmet er sich äußerst produktiv dem literarischen Schaffen und gilt heute als eine der führenden Persönlichkeiten der koreanischen Literaturszene. Yun,

des Vollzeit-Schriftstellers und begann erst vor einigen Jahren damit, Kreatives Schreiben für Erzählungen an der Dongduk-Frauenuniversität zu unterrichten. Die Erzählung Bitterorangen schrieb er 2005, als er sich zu einem Einsiedlerleben auf die Insel Jeju-do zurückzog.

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un Dae-nyeong ist ein produktiver Autor. Bisher hat er sechs Bände mit kurzen Erzählungen, acht Romane, eine Conte-Sammlung und einen Band von Erzählungen mittlerer Länge veröffentlicht. Der erste Sammelband mit kurzen Erzählungen Ayu-Angelkorrespondenz (1994) ist ein hoch angesehenes Werk, das eine ursprüngliche Sensibilität – symbolisiert durch die Rückwanderung der Ayus an ihre Laichplätze – und die Einsamkeit des städtischen Lebens – verkörpert durch die Korrespondenz – in einem berauschenden, poetischen Sprachstil zu einem Ganzen harmonisiert. Yuns thematisches Bewusstsein und sein Stil evolvieren über subtile Variationen und in seinem jüngsten Erzählband Schneewarnung (2010) vertiefen sich seine Nachforschungen über das säkulare Leben. Seine neuesten Werke erzählen in Leerstellen lassenden, schlichten und ruhigen Sätzen, dass das Sakrale und das Säkulare sich ursprünglich nicht voneinander unterschieden, wodurch sie das Herz der Leser erwärmen. Die Anerkennung für Yun Dae-nyeongs ästhetische Leistung gilt mehr seinen kurzen Erzählungen. Dies hängt auch damit zusammen, dass von ihm geschriebene Sätze in starkem Maße Gedichtzeilen ähneln und seine kurzen Erzählungen daher wie lange Prosagedichte wirken. Sucht man unter ausländischen Autoren nach Schriftstellern mit einem vergleichbaren Stil, so wäre der französische Schriftsteller J. M. G. Le Clézio (geb. 1940) zu nennen, der 2008 den Nobelpreis für Literatur erhielt und dessen besonderes Interesse an Korea ihn mit diesem Land verbindet. Es ist bekannt, dass zwischen den beiden Autoren tatsächlich eine enge Bekanntschaft besteht. Kaum jemand dürfte dagegen Einwände erheben, dass Yun ein Autor ist, der in den 1990er Jahren eine originäre Ästhetik der Erzählliteratur entwickelte. Er begann Mitte der 1990er Jahre mit seiner schöpferischen Tätigkeit und bemühte sich zunächst hauptsächlich darum, Einsamkeit, Begegnungen und Trennungen der jungen Städter, die von der Flucht aus ihrem öden und abgeschnittenen Stadtleben und vom Herumstreifen träumen, in feiner Sprache zu beschreiben. Seine poetische Sprache, die die Bezeichnung „Offenbarungsästhetik“ verdienen würde, ähnelt einem Seismographen, denn sie erfasst

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die subtilen Lücken im Leben. Der Seismograph reagiert sensibel auf die transzendentalen poetischen Offenbarungen, die Menschen, die des aus seinen Ursprüngen gerissenen, trockenen Stadtlebens müde sind, ab und zu mit großer Intensität überfallen. Interessant dabei ist, dass in Yuns Erzählungen der 1990er Jahre das Medium dieser Offenbarung nicht die Natur, sondern etwas Künstliches ist. Der Augenblick, in dem der Protagonist der Erzählung erkennt, dass er sich selbst vergessen und ein eitles Leben geführt hat, ist z. B. in seinem ersten Roman Ich bin einen alten Film anschauen gegangen nicht der Moment, in dem er den durch die Baumblätter rauschenden Wind vernimmt, sondern der Moment, in dem er in einem Plattenladen in der Innenstadt das Vogelgezwitscher aus dem BeatlesSong Accross the Universe hört. Die Protagonisten von Yuns Erzählungen der 1990er Jahre trugen die Gesichter der jungen Nomaden, die gerade ihre Vorbereitungen für eine weite Reise nach Irgendwo abgeschlossen haben. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war jedoch nicht der des Fliehen-Wollens aus dem Leben, sondern eine verzweifelte Geste des Ringens um die Wiedererlangung der Authentizität des Lebens. Yuns literarische Welt begann sich jedoch Anfang des neuen Millenniums langsam zu verändern. Das möchte ich als „Wandel von der Nomaden-Sensibilität zur Sesshaften-Sensibilität“ interpretieren. Genauer: Es kann als eine gute Harmonie von beiden bezeichnet werden. Die Poetizität ist dieselbe geblieben. Yuns Sprache orientiert sich aber nun mehr an der ruhigen Harmonie von Licht und Schatten, von Fülle und Leere wie sie in der asiatischen Landschafts-Tuschemalerei zu finden ist, als an dem blendenden Spiel der Voluminösität der europäischen Malerei. Das ist z.B. zu sehen an der Beschreibung des Bildes Mittagessen auf dem Gras von Manet in Yuns gleichnamiger Erzählung aus dem Erzählband Schneewarnung. Ein solcher Wandel könnte auch daran erkannt werden, dass seine hervorragende Erzählung Bitterorangen aus dem Erzählband Eine Schwalbe züchten mit dem aus der chinesischen Antike stammenden Viersilber (Jú huà wéi zh ) beginnt und auch damit endet.

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Diese Redewendung, die in der Erzählung selbst erläutert wird, meint, dass die Mandarinen aus dem Süden Chinas zu Bitterorangen werden, wenn sie über den Fluss Huai Shui ( ) nach Norden gebracht werden. Dahinter steht die übertragene, lehrhafte Bedeutung, dass die Umgebung einen Menschen beeinflusst und verändert. Jú huà wéi zh in der Erzählung Bitterorangen ist kein einfacher Lehrspruch, sondern wird unter der Feder des Autors als ein literarisches Werk neu geboren, das eine tiefe Erkenntnis des Lebens in sich trägt. Die Tante, die in ihrer Familie als „Küchenmagd“ behandelt wurde, sucht ihren Neffen, einen Mann mittleren Alters, aus dem alleinigen Grunde auf, dass er in seiner Kindheit der einzige in der ganzen Familie war, der ihr Interesse entgegenbrachte. In mäßiger Zurückhaltung erzählt sie ihm von ihrem strapaziösen Leben, ihren Hoffnungen und Ressentiments, von ihren Begegnungen und Trennungen – mit Tränen oder Lächeln, singend oder weinend. Der Neffe kümmert sich zwar mit aller Höflichkeit um die Tante, ist jedoch bis zu ihrer Abfahrt ratlos, da er ihre Beweggründe nicht kennt. Wenn der Leser schließlich ans Ende der Erzählung gelangt, wo der Tod der Tante auf scheinbar unauffällige Weise bekannt wird, wird sein Herz wehmütig berührt. Die Erzählung ist nicht deshalb rührend, weil sie das Leben einer einfachen Frau auf eine poetische Ebene erhebt. Auch nicht deshalb, weil aus Bitterorangen Mandarinen geworden sind. Wie können Bitterorangen auch Mandarinen werden oder umgekehrt? Bitterorangen sind Bitterorangen, Mandarinen sind Mandarinen. Jede wächst für sich, jede wird für sich reif und jede beschließt ihr Leben mit eigener Vornehmheit. Die Bitterorangen, die die Tante im letzten Sommer ihres Lebens mitgebracht hatte, wurden nach ihrem Tod im folgenden Herbst gelb-reif, und auch die Freiland-Mandarinen der Insel Jeju-do reifen goldgelb heran. Die Erlesenheit von Yun Dae-nyeongs Erzählung Bitterorangen , die Weggang und Rückkehr, Nomadismus und Sesshaftwerdung, Säkularität und Transzendenz zur vollendeten Harmonie bringt, ist als ein wertvoller Gipfel zu bezeichnen, den die Literatur in Korea mittlerweile erklommen hat.

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Impressionen

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uf der Insel Jeju-do, dem Juwel der koreanischen Halbinsel, schaukeln hinter den Mauern aus schwarzem Basalt, die die Felder einrahmen, gelbe Wellen aus Rapsblüten. Ein wahrhaft schönes Landschaftsaquarell! Die Rapsblüten, die mit den Steinmauern eine perfekte Harmonie bilden, sind das bestechend schlichte Symbol der Insel. Der Blütenduft strömt frei durch die Mauerritzen. Tritt man ins Meer der Blütenwogen aus leuchtendem Gelb werden Körper und Seele so trunken vom betörenden Duft, dass man sich verwirrt fragt: Bin ich es, der sich im Rhythmus der Wellen wiegt, oder sind es die Blüten, die hin und her wogen? Die zarte Blütenpracht durchtränkt Körper und Seele. Wer vermag dem Reiz dieses Gelbs, das sich von den klaren Strahlen der südlichen Sonne nährt, zu widerstehen? Jeden Frühling bieten der Sonnenaufgangsgipfel Seongsan Ilchulbong, der Berg Songak-san, der Strand Yongmeori (Drachenkopf) und U-do, „die Insel in der Insel“, mit den gelben Wellen im Hintergrund einen noch atemberaubenderen Anblick. Die ganze Insel scheint im prächtigen Fest der Rapsblüten zu tanzen. Besucher, die gemächlich entlang der Olle-Trails wandern, machen immer wieder vor Bewunderung Halt, um die Szenerie mit der Linse einzufangen. Städter kommen auf dem Luftoder Seeweg zur Insel, um den gelben Frühling zu begrüßen. Im Frühling findet auch das Seogwipo Rape Flower International Walking Festival, das internationale Rapsblüten-Wanderfest in der Stadt Seogwipo, statt. Teilnehmer aus Japan, China und sogar aus dem fernen Russland wandern inmitten der Rapsblüten und der Duft der blütengeschwängerten Frühlingsbrise lässt ihr Herz höher schlagen. Halten wir einen Moment inne! Der Raps bietet nicht nur einen herrlichen Anblick, der das Auge des Betrachters entzückt. Bevor er erblüht, wird aus den Blättern Namul (Gemüsebeilage) oder Kimchi zubereitet und nach der Rapsblüte werden die Samen zu Öl gepresst. Darüber hinaus erwacht beim Genießen der zarten, leicht bitter schmeckenden blanchierten und gewürzten Rapsblätter (Raps-Namul), die mit frischen Meeresfrüchten serviert werden, erneut der erfrischende Duft des Frühlings. Wenn sich die leuchtend gelben Rapsblütenwellen legen, erblüht das Meer von Jeju-do im Fest seiner wahren Farben: Die schwarzen Basaltfelsen der Vulkaninsel erscheinen vor den sich brechenden Wellen des tiefblauen Sommermeers noch glänzender.

Die Rapsblüten-Wellen von Jeju-do Heo Yeong-seon Dichterin

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