Koreana Winter 2014 (German)

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WINTER 2014

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST

SPEZIAL

HONGDAE-AP

Ein Spaziergang durch

Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot Spaziergang in Hongdae-ap an einem „Feurigen Freitag“; Kultureller Schmelztiegel, in dem jugendliche Energie brodelt; Für jeden ein Wahrzeichen auf eigene Art

Hongdae-ap,

ISSN 1975-0617

JAHRGANG 9, NR.4

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 01


IMPRESSIONEN

Jangdokdae und Mutter und Zuhause in der Heimat Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der Korean National Academy

I

m Herzen der meisten Koreaner leben

angeordnet sind und das darin enthalte-

zeugte. In der Vergangenheit füllten viele

die Erinnerungen an das geliebte Zuhau-

ne „Jang“ Sonne, Regen und Wind, Schnee,

Mütter bei Tagesanbruch eine reine Schüs-

se ihrer Kindheit. In diesem Zuhause in

Kälte und Hitze ausgesetzt ist und im Laufe

sel randvoll mit Wasser, stellten sie auf

der Heimat gibt es im sonnigen Hinterhof an

der Zeit langsam atmend fermentiert und

einen der Krüge auf dem Jangdokdae und

der Einfriedungsmauer einen „Jangdokdae“,

reift.

verrichteten davor Gebete mit Bitten um

einen Platz zur Aufbewahrung von Vorrats-

Als Wirkungsbereich der Mutter war der

Wohlergehen und Glück ihrer Kinder, die

krügen. Dort steht die Mutter über die Krüge

Jangdokdae an einer sonnigen Stelle in der

aus dem Haus waren, und ihres Ehemanns.

gebückt und schaut hinein. Heimatliches

Nähe von Küche und Brunnen angelegt.

Zuhause, Mutter und Jangdokdae - aus die-

Die Mutter, die von ihrem Platz in der Holz-

Aber heutzutage sind viele Menschen an

sen drei Elementen besteht die Landschaft

diele auf die Krüge blickt, in denen die von

Stadtleben und Hochhäuser gewöhnt, so

der Sehnsucht nach der Kindheit.

ihrer Hand hergestellte Doenjang-Sojaboh-

dass Jangdokdae kaum noch zu finden sind.

nenpaste, Ganjang-Sojasoße, Gochujang-

Vom Fast Food gedrängt, verliert das traditi-

Was ist „Jangdokdae“? „Jang“ ist ein fer-

Chilipaste und eingelegten Gemüse vor sich

onelle Slow Food Jang seinen Glanz. Immer

mentiertes, lang haltbares Lebensmittel,

hin reifen, ist glücklich: Denn damit kann sie

mehr Menschen konsumieren nicht mehr

das auf dem Esstisch der Koreaner nicht

Esstisch und Leben der Familie bereichern.

das von der Mutterhand hausgemachte

fehlen darf. Es ist ein Slow Food, das aus

An sonnigen Tagen deckt sie die Krüge auf,

Jang, sondern Jang aus Fabrikherstellung.

lokal angebauten Sojabohnen, Chili und

damit Sonnenlicht und Wind hineindringen,

Aber immer noch reifen im Dorf auf dem

Meersalz zubereitet wird und langes, gedul-

bei Anzeichen für einen Regenschauer eilt

Jangdokdae im Zuhause der Kindheit die

diges Warten verlangt. „Dok“ sind kleine

sie zum Jangdokdae, um die Krüge zuzu-

Liebe der Mutter und Jang. An einem Win-

und große Krüge aus Ton zur Aufbewahrung

decken. Jangdokdae war auch eine heilige

tertag ähneln die einsamen, schneebedeck-

dieser Lebensmittel. „Dae“ ist ein erhöhter

Stätte des Gebets, die von der Hingabe der

ten Krüge der Mutter, die geduldig auf ihre in

Platz im Hof, wo die Krüge der Größe nach

Mutter für das Wohlergehen der Familie

die Stadt gezogenen Kinder wartet.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 1


SPEZIAL

Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot

04

SPEZIAL 1

04 Spaziergang in Hongdae-ap an einem „Feurigen Freitag“

Kim Kyung-ju

SPEZIAL 2

08 Kultureller Schmelztiegel, in dem jugendliche Energie brodelt

16

FOKUS

28

22 Die UNESCO–Welterbe-Festung Namhansanseong und ihre

Kang Young-min

SPEZIAL 3

12

Eine akustische Reise durch Hongdae-ap

Seong Gi-wan

SPEZIAL 4

16

Für jeden ein Wahrzeichen auf eigene Art Jung Ji-yeon

MODERNE WAHRZEICHEN

40 Das Hirotsu-Haus in Gunsan: Überbleibsel der modernen

Lee Kwang-pyo

Roh Hyung-suk

KUNSTKRITIK

HÜNTER DES TRADITIONELLEN ERBES

28

Good Morning, Mr. Orwell

44 Tteoksal-Sammler Kim Gil-seong:

Lim San

Park Chan-il

BLICK AUS DER FERNE

60

Grenzlinie finden

Anmutigen Symbolmustern der

REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Lebenswünsche verfallen

62 Realiät zeugt Fantasie,

Kang Shin-jae

NEUERSCHEINUNG

50 At Least We Can Apologize

The Dawn of Modern Korea

Encyclopedia of Korean Folk Beliefs

Song Su-jong

Charles La Shure

GOURMETFREUDEN

44

52 Jeon: Vorboten des Festes

Dort, wo das stille Glück verweilt Lilith Müller

Fantasie zeugt Realität

stellen und Antworten an der

Chicken-Republik

INTERVIEW

34 Noh Sun-tag: Durch Fotos Fragen

56

LIFESTYLE

Geschichte Koreas

Geschichten

von 1984 bis 2014

Joo Young-ha

Chang Du-yeong

Deine Verwandlung

Kim E-whan


SPEZIAL 1 Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot

Kim Kyung-ju Dichter und Dramatiker / Fotos Cho Ji-young

Hongdae-ap, die Gegend um die für Kunst und Design bekannte Hongik University, ist DER Hotspot von Seoul für junge Kultur- und Kunstliebhaber. Denn hier kann man aus nächster Nähe die Vitalität der Jugendkultur Koreas sehen und erleben. Wie die Khaosan Road in Bangkok, die Sudder Street in Kalkutta und Akihabara in Tokio ist Hongdae-ap zu einem großen kulturellen Ökosystem geworden.

Am Wochenende herrscht abends immer Hochbetrieb auf dem Spielplatz vor dem Haupttor der Hongik University. Was tagsüber ein normaler Kinderspielplatz ist, wird abends zu einem kulturellen Treffpunkt für junge Leute von heute. 4 KOREANA Winter 2014


KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 5


W

enn Sie überlegen, wie Sie die Kultur von Hongdae-ap

oder irgendwelche guerillartigen Stehgreif-Performances. Sams-

am besten kennen lernen sollten, würde ich die Route

tag nachmittags findet hier der Künstler-Flohmarkt „Hongdae Free

empfehlen, die sich von Ausgang 9 der U-Bahnstation

Market“ statt, den man nicht verpassen sollte.

Hongik University der Seouler Linie 2 aus durch die als „Walkable

Nachdem man mit der Performance-Kultur an der Hongdae-Peri-

Street“ bekannte Flanierstraße über den Hongdae-Spielplatz direkt

pherie vertraut geworden ist, heißt es, die Tiefen erkunden und sich

vor dem Haupttor der Universität bis hin zur Clubstraße zieht und im

dem Clubbing zu widmen. Wenn Sie Musik und Tanz mögen, dann

Café-Viertel in Sangsu-dong mündet. Diese Strecke bietet den bes-

müssen Sie unbedingt einmal in die vitale Energie, die hier generiert

ten Einblick in das Nachtleben in Hongdae-ap von den Randgebieten

wird, eintauchen! Erst dann können Sie sagen, dass Sie in Hongdae-

bis zum innersten Kern.

ap waren.

Sollten Sie dabei an einem „Bul-geum“ („Feuriger Freitag“: koreani-

An einem „Feurigen Freitag“ sind sogar die winzigsten Gassen in

sches Pendant zu TGIF: Thank Goodness it’s Friday) in Hongdae-ap

Hongdae belagert von Leuten, beschwipst von Alkohol und Begeis-

unterwegs sein, wird diese Gegend Sie zunächst mit ihrem Lichter-

terung. Auch zahlreiche Ausländer besuchen diese Gegend, um ein

meer überwältigen: Die leuchtenden Neonschilder unzähliger Clubs

Glas zu trinken, zu tanzen und einen heißen Freitagabend zu genie-

und Geschäfte tauchen zusammen mit den Lichtern der Smart-

ßen. Vor einigen Clubs, die für attraktive, brandneue Musik berühmt

phones der Bummler die gesamte Straße in Lichterglanz. Selbst an

sind, stehen die Leute schon ab dem frühen Abend Schlange. In

einem Wintertag ist an diesem Ort voller Tanz, Musik und Alkohol die

Hongdae-ap ist es keine Seltenheit, stundenlang auf Einlass in einen

Kälte schnell vergessen.

Club zu warten.

Kommt man aus Ausgang 9 der U-Bahnstation, schlägt einem die Lebenskraft der vielen jungen Menschen entgegen, die sich auf dem

Sich unter die Künstler mischen

kleinen Platz neben dem Ausgang angesammelt haben. Die meisten

Will man an einem Freitagabend eine etwas andere Atmosphäre als

warten mit dem Smartphone in der Hand auf ihre Verabredung. Der

die typische Club-Kultur in Hongdae-ap genießen, bietet es sich an,

Boden ist übersät mit allen möglichen Flyern von Nachtclubs und

weg von der Club-Straße in Richtung des Viertels Sangsu-dong zu

Kneipen oder auch mit Infomaterial für Ausstellungen und Konzer-

spazieren. Seitdem das Hongdae-Zentrum in die Nachbarschafts-

te von armen Künstlern. Hier vermischen sich Kommerzbezogenes

viertel auszustrahlen begonnen hat, gilt Sangsu-dong als eins der

und Kunstbezogenes auf dem Boden, was die zwei konstrastieren-

neuen Trendviertel. Hier finden sich gemütliche Cafés in umfunktio-

den Gesichter von Hongdae-ap entblößt.

nierten kleinen Fabriken sowie Werkstätten von Künstlern aller Art. Besucht man eines dieser Cafés auf eine Tasse Tee, kommt man auf

Straßen sind gleich Kunst

natürliche Weise mit der Salonkultur in Kontakt. Da in dieser Gegend

Lässt man die glänzenden Lichter am Ausgang 9 hinter sich und

tatsächlich Künstler der unterschiedlichsten Couleur zu finden sind,

kommt zur Hongik-Flanierstraße Walkable Street, ist man schon

ist es auch ein guter Ort, um einen Blick in Leben und Rhythmus

nahe der für Hongdae-ap typischen Stadtlandschaft. Diese Straße,

einer Künstlergemeinde zu werfen. Die Cafés hier dienen als Treff-

die zum Spielplatz gegenüber dem Haupttor der Universität führt,

punkte für Künstler-Diskussionsgruppen, als Veranstaltungsorte

lässt sich selbst im Schlenderschritt in dreißig Minuten ablaufen.

für Ausstellungen, Vorführungen von Independent-Filmen, Lesun-

Auf dem Weg zum Spielplatz gibt es reichlich Gelegenheit zum Shop-

gen mit Dichtern und Ghostwritern sowie Konzerte von Indie-Bands.

pen oder sich zu stärken. Man kann seinen leeren Bauch in einem

Ganz Sangsu-dong atmet das typische Ambiente alter Groschenro-

der Straßenimbisszelte füllen, sich in Künstlerwerkstätten umsehen

mane, das in den Clubstraßen nicht zu finden ist.

oder in einem der Lädchen mit ungewöhnlichen Auslagen stöbern.

Wenn Sie auf diese Künstler treffen und echte Neugier für deren

Was man auf dieser Straße auf keinen Fall versäumen sollte, ist die

Arbeit und Leidenschaft zeigen, können Sie sich in nur einer Nacht

Straßenkultur an sich zu entdecken. An allen Ecken und Enden der

mit ihnen anfreunden. Sie werden Ihnen selbstgemachten Glühwein

Straße zum Spielplatz gibt es Kunst-Performances. Geht man an

und Kekse anbieten, im Nu werden Sie in die Gemeinschaft des Vier-

den Grüppchen klatschender oder jubelnder Schaulustiger achtlos

tels aufgenommen und eine unvergessliche Nacht mit verrückten

vorbei, könnte das ein Grund zur Reue sein. Auf der Straße und am

und originellen Geschichten verbringen. Für manche mögen Alkohol,

Spielplatz geben Untergrund-Musiker Songs aus ihrem neuesten

Musik und Tanz nur eine Freisetzung unbesonnener Leidenschaften

Album zum Besten, Cosplay-Gruppen präsentieren Kostüm-Perfor-

sein, aber für diejenigen, die Hongdae-Nächte mögen, ist es eine Art,

mances oder Dichter, Rapper und Straßenkünstler kommen zusam-

zu leben, ein Lebensstil. Hongdae-ap ist nicht länger nur ein Lebens-

men, um die Erklärung der Unabhängigkeit der Kunst vorzutragen.

raum für Künstler, sondern ein Ort, an dem die Künstler sich mit

Man weiß nie, was einen an einem Freitagabend auf dem Spiel-

dem Publikum vermischen.

platz vor dieser Universität erwartet: Busking von Indie-Musikern

6 KOREANA Winter 2014


1. Straßenkünstler, Bands und darstellende Künstler jeglicher Couleur geben auf der Flanierstraße „Wakable Street“, die zum Spielplatz vor der Hongik University führt, ihr Können zum Besten. 2. In Hongdae-ap sind lange Schlangen von Menschen, die stundenlang auf Einlass in einen Club warten, ein normaler Anblick. 3. Das Su Noraebang hat auf der Straßenseite deckenhohe Fenster, die für die Passanten das interessante Spektakel von singenden und tanzenden KaraokeEnthusiasten bieten.

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An einem „Feurigen Freitag“ sind sogar die winzigsten Gassen in Hongdae-ap belagert von Leuten, beschwipst von Alkohol und Begeisterung. Auch zahlreiche Ausländer besuchen diese Gegend, um ein Glas zu trinken, zu tanzen und einen heißen Freitagabend zu genießen. Vor einigen Clubs, die für attraktive, brandneue Musik berühmt sind, stehen die Leute schon ab dem frühen Abend Schlange. In Hongdae-ap ist es keine Seltenheit, stundenlang auf Einlass in einen Club zu warten. 2

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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 7


SPEZIAL 2 Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot

Kang Young-min Popkünstler

Das als „Hongdae-ap“ (wörtl. „vor der Hongik-Uni“) bekannte Gebiet war verwaltungstechnisch gesehen früher nur ein Teil des Seouler Stadtbezirks Seogyo-dong. Bis Mitte der 1980er stand „Hongdae-ap“ nur für die Gegend vor dem Haupttor der Hongik Universität mit der Picasso-Straße, in der sich die Läden für Künstlerbedarf aneinander reihten. Aber ab Mitte der 1990er Jahre expandierte Hongdae-ap und umfasst heute nicht mehr nur Seogyo-dong, sondern auch Teile von Sangsu-dong, Hapjeong-dong, Donggyo-dong, Yeonnam-dong und Mangwon-dong. Während andere wichtige Kulturräume in Seoul wie Daehak-ro, Insa-dong und Garosu-gil den Zeitläuften entsprechend etwas an Bedeutung einbüßen, geht es mit Hongdae-ap seit zwanzig Jahren stetig bergauf. Was ist es, das Hongdae-ap einst wie jetzt zu einem kulturellen Hotspot voller überschäumender Energie macht?


teil Apgujeong-dong südlich des Han-Flusses (Gangnam) entwickelte sich mit dem sog. „Orange-Tribe“ an der Spitze zu einem Mekka des Konsums. Mit „OrangeTribe“ bezeichnete man junge Koreaner aus wohlha-

2

bendem Hause, die Schule oder Universität im Ausland besucht hatten. Auf der nördlichen Seite des Han-Flus3

© Living & Art Creative Center

1

ses schufen derweil junge, aufstrebende Künstler, ausgerüstet mit einer neuen Empfindlichkeit, eine experimentelle und alternative Spielkultur. Ein nennenswertes Beispiel dafür ist die erste Straßenausstellung Hongdae

Street Art im Oktober 1993, die von der Studentenvereinigung des Hongik University College of Art organisiert wurde. Diese Ausstellung war konzipiert als Zeichen des Widerstandes gegen die Vergnügungskultur des hedo-

1. Die Identität von Hongdae-ap als ein künstlerisches und freigeistiges Viertel geht auf die Kultur der Kunststudenten der Hongik University zurück. 2. Als Hongdae-ap in den 1990er Jahren als neuer Hotspot aufstieg, unternahmen junge Künstler in den Clubs und Cafés des Viertels interesssante kulturbezogene Experimente. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist das Album Dosirak teukgongdae (Lunch Box Taskforce), das von höchst individuellen Bands wie Sanullim und der Uhuhboo Band herausgebracht wurde. 3. Die einziartige Studiokultur der Künstler verbreitete sich auf kleine Werkstätten, Galerien und Cafés und wurde so zum kulturellen Mainstream .

H

nistischen „Orange-Tribe“, die zu dieser Zeit in Hongdae-

ongdae-aps Aufstieg zum repräsentativsten

ap einzudringen begann.

Zentrum von Kunst und Kultur nicht nur in Seoul,

Die Hongdae-Kultur begann ernsthaft an Schwung

sondern in ganz Korea, ist v.a. den einstigen

zu gewinnen, als einige Künstler ihre eigenen kreati-

Kunststudenten der Hongik University zu verdanken.

ven Räume mit unverkennbarer Note eröffneten. Dazu

Nach der Einrichtung der Kunstfakultät (Hongik Uni-

gehörten das Electronic Café, Ollo Ollo, Baljeonso

versity College of Art) im Jahr 1961 galt der Anblick der

(Kraftwerk) und Gompangi (Schimmel), um nur einige

frei und zwanglos wirkenden Kunststudenten in ihrer

zu nennen. In diesen Agitationsstätten junger Künstler

verschmutzten Arbeitskleidung auf der Straße als Sym-

wurden provokative, progressive Ausstellungen, Kon-

bol für die einzigartige künstlerische Atmosphäre, die

zerte und Performances mit Low-Budget organisiert.

in Hongdae-ap herrschte. Die meisten dieser jungen

Das distinktive Image und die besondere Charakteristik

Künstler waren nicht an einer festen Anstellung inter-

der Räume, welche heutzutage mit Hongdae-ap asso-

essiert, sondern blieben auch nach dem Hochschulab-

ziiert werden, bildeten sich um diese Zeit heraus. Die

schluss in Universitätsnähe, wo sie in ihren eigenen Stu-

Cafés und Clubs spielten die Rolle eines Inkubators für

dios ihre Kunstaktivitäten fortsetzten. Anders als heute

die heutige Hongdae-Kultur.

drängten sich in dieser Gegend zu der Zeit normale

Besonders erwähnenswert ist das Electronic Café, das

Wohnhäuser dicht an dicht. Viele arme Künstler miete-

1988 von dem Grafikdesigner Ahn Sang-soo und dem

ten sich in den freistehenden Häusern für wenig Geld die

Bildhauer Geum Nu-ri eröffnet wurde. Als das aller-

Garage oder ein Kellerzimmer, das sie dann als Studio

erste Internet-Café in Korea führte es das Konzept des

nutzten. Hier kamen Künstler aus verschiedenen Berei-

Computer-Netzwerkes ein. Es gilt als einer der Kataly-

chen zusammen, um zu trinken, zu diskutieren und neue

satoren der Hongdae-Kultur und als Geburtsstätte der

Kulturprojekte zu planen, woraus sich die Hongdae-typi-

elektronischen Kommunikationsforen in Korea. Hier ist

sche „Studio-Kultur“ entwickelte. Diese Kultur ergoss

v.a. das „Netzkunst-Projekt“ vom September 1990 zu

sich dann in für die Allgemeinheit offenen Räume wie

nennen, das Seoul und Los Angeles verband, und als

Cafés und Clubs und aus Hongdae-ap wurde ein „inter-

wohl weltweit erstes Projekt den Begriff „Netzwerk“

essantes Pflaster“.

popularisierte. Beim Online-Chatting im Rahmen dieses Projekts soll Ahn die kreative und offene Hongdae-ap-

Cafés und Clubs als Nährboden der Hongdae-apKultur

Kultur erwähnt haben.

Die spezielle Note von Hongdae-ap begann sich Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre herauszubilden. Mit

Gegenkultur zur etablierten Kultur und Mainstream-Musik

der Austragung der Olympischen Sommerspiele in

Mit der politischen Liberalisierung, die durch die Demo-

Seoul 1988 begann die schrittweise Liberalisierung von

kratiebewegung vom Juni 1987 in Gang gebracht wurde,

Auslandsreisen und der wohlhabende Seouler Stadt-

und dem Antritt der ersten Zivilregierung des Landes im

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 9


Jahr 1993 begann auch die Hongdae-ap-Kultur aufzu-

Von Kult-artiger zu offener Kultur

blühen. In dieser Zeit verlagerte sich in Hongdae-ap die

Ab der Millenniumwende wurde die Basis für die Hong-

kulturbestimmende Kraft von der bildenden Kunst auf

dae-ap-Kultur aktiver ausgeweitet. Das repräsentativs-

die Musik: Anders als in der Mainstream-Musikszene der

te Beispiel ist der Free Market am Spielplatz gegenüber

Zeit, die von koreanischer und ausländischer Popmusik

dem Haupttor der Universität, der 2002, als die Fußball-

geprägt war, wurden in den Cafés und Clubs verschie-

WM Korea Japan stattfand, ins Leben gerufen wurde.

dene damals aktuelle Musikrichtungen wie Alternati-

Dieser Markt hat den Charakter eines Kunst-Flohmark-

ve, Punk, Reggae und Elektronische Musik vorgestellt.

tes, auf dem nicht nur Künstler, sondern jeder Interes-

Junge Leute in den Zwanzigern, die von klein auf in Kon-

sierte seine selbstgemachten Kunstwerke, Handwerks-

takt mit ausländischen Kulturen gekommen und ent-

oder Handarbeitsprodukte verkaufen kann. Er ist nicht

sprechend kosmopolitischer aufgewachsen waren als

nur ein Ort zum Kaufen oder Verkaufen, sondern ein

die früheren Generationen, strömten nach Hongdae-ap.

wahrer „Markt der Kultur“, auf dem Kulturen aller Art

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass beinahe alle jun-

zum Austausch zusammenkommen und die Grenzen

gen Menschen, die die uniformierte und starre Nullacht-

zwischen Alltagsleben und Kunst sowie die Barrieren

fünfzehn-Kultur ablehnten, nach Hongdae-ap kamen.

zwischen Künstlern und Bürgern eingerissen wurden.

War die Jugendkultur der 1980er Jahre durch die Wider-

In diesem Sinne wird er positiv bewertet als Alternative

standsbewegung gegen die Militärdiktatur geprägt, so

zur herkömmlichen Art zu konsumieren. Ein ebenfalls

kann die Jugendkultur in den 1990ern als Gegenkultur

erfreulicher Erfolg ist darin zu sehen, dass die Hongdae-

beschrieben werden: Mit rot oder gelb gefärbten Punk-

ap-Kultur, die früher überwiegend auf das Nachtleben

Haarschnitten und Ketten an der Taille leisteten die jun-

fokussiert war, nun auch tagsüber etwas zu bieten hat.

gen Leute mit einem „Halt‘s Maul!“ Widerstand gegen

Das ist auch der entscheidende Grund dafür, warum es

Mainstream-Musik und die Kultur des Establishments.

heute auch das allgemeine Publikum, das bislang mit

Sie entwickelten eine eigene, progressive experimen-

Blick auf das Nachtleben vielleicht Vorbehalte gehabt

telle Kunst, mit der sie sich radikal vom Mainstream

haben mag, nach Hongdae-ap zieht.

absetzten, wobei die Clubs in Hongdae-ap zu kulturel-

Seit etwa 2005 herrscht in Hongdae-ap auch tagsüber

len Ventilen für die koreanische Jugend wurden. Noch

rege Geschäftigkeit. Das ist darauf zurückzuführen,

interessanter ist die Tatsache, dass die Barrieren zwi-

dass in den Straßen des Viertels zahlreiche Cafés öffne-

schen Konsumenten und Produzenten abgebaut wur-

ten, die sich bei Brunch-Fans großer Beliebtheit erfreu-

den und in den Hongdae-Clubs der „Kunde von gestern“

en. Und wie man sich im Laufe der Zeit an Avantgarde-

nicht selten zum „Künstler von heute“ wurde. Die jungen

Kunst gewöhnt, so ist auch die Kultur von Hongdae-ap

Künstler und Musiker, die ihre Individualität zum Aus-

heutzutage zweifelsohne kommerzialisierter und kon-

druck bringen wollten, lernten in Hongdae-ap Gleichge-

sumorientierter geworden, indem sie über Kunst und

sinnte kennen und versuchten, gemeinsam selbst etwas

Musik hinaus jetzt auch auf Essen, Mode und Shopping

Neues zu kreieren: In den Clubs hörten sie nicht nur

fokussiert. Sobald ein Blogger in einem Posting über den

Musik, sondern gründeten auch Punk- oder Alternative-

neuesten Hotspot oder seine jüngste Restaurant-Entde-

Bands oder debütierten als DJs. Ich selbst war im Café

ckung berichtet, wird ein Kreislauf in Bewegung gesetzt,

Underground als Visual Jockey aktiv und präsentierte

der mehr und mehr Menschen an diese Orte strömen

dort meine Videokunst. Hauptmerkmal der Hongdae-

lässt. Die Kraft der Kultur von Hongdae-ap sollte aller-

ap-Kultur der Zeit war, dass die Grenzen zwischen Pro-

dings nicht mit dem Verweis auf die zunnehmende Kom-

duzent und Konsument fließend waren und Hongdae-ap

merzialisierung und Betonung von Essen und Trinken

zu einer Art Schmelztiegel der Kultur wurde, in dem sich

in Verruf geraten und verschmäht werden. Die Kultur

alle mischten, gegenseitig beeinflussten und inspirier-

von Hongdae-ap befindet sich in einem Prozess des wie-

ten. Allgemeines Muster war, dass, wenn ein interessan-

derholten Wandels, der ausgehend von einer Rand- und

ter neuer Hangout aufmachte, dort unweigerlich neue

Kult-Kultur auf eine universellere und offenere Kultur

Kulturprojekte geplant wurden.

hin ausgerichtet ist.

10 KOREANA Winter 2014


1, 3. Die Straßenkunst ausstellung wurde erstmals im Oktober 1993 veranstaltet. Diese vom Studentenverband der Hongik University organisierte Ausstellung mit ihrer mittlerweile mehr als 20 Jahre alten Tradition hat die Kunst von den Galerien auf die Straße geholt und damit der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

© Street Art Exhibition

1

2

© KT&G Sangsang Madang

Hauptmerkmal der Hongdae-ap-Kultur der Zeit war, dass die Grenzen zwischen Produzent und Konsument fließend waren und Hongdae-ap zu einer Art Schmelztiegel der Kultur wurde, in dem sich alle mischten, gegenseitig beeinflussten und inspirierten. Allgemeines Muster war, dass, wenn ein interessanter neuer Hangout aufmachte, dort unweigerlich neue Kulturprojekte geplant wurden.

2. Auch wenn sich viele wegen der zunehmenden Kommerzialisierung von Hongdae-ap Sorgen machen, sind Produktion und Konsum alternativer Kulturformen so rege wie eh und je.

© Street Art Exhibition

3

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 11


In den Live Clubs in Hongdae-ap findet man leicht Vorstellungen von Indie-Musikern, die ihre eigene unverwechselbare Musik kreieren.

pul uls o e p, S ae-a d g Hon rch u 3 d ZIAL gang SPE pazier S Ein

ot otsp H n elle ltur u k en end sier

er usik n ie-M hyou d n er, I Harkt h c Di m

an , Li Gi-w -young g n i Seo Cho J tos Fo

on ap v e da bt ong e-ap gi H , ht n da leic lls i ong t a f H h n c n be .I d? t ni iden ibt es e Gegen sag e e h g g r sc o ch iese nter ber die es s hrli d u e e i s u d s a e w lz g e, e, a eou e Et gan t ist äng äud l r s S h b s e K c i i n i e i z ew d die ins pa n“ eG ind as g aße mS n un voll er H s d r l e z e t i l s n n ß s e i e r “ an lie ie “. E tur isu sch gt d isch hlen nge . Be Kul e In v n ä „ ü i u n l l f o z e t n K n r e en eid tek er ori ere zu „ e durch sch Aug el d rchi ilen. W t r and t a r e e r i t o r e s d i n e wa en d en Rei her, ß in „V teilen u adtt a a e t es z r d . S t h St .a sch eren ist v Stad t es sic , die usti t p n k r a and e a l A h r e er gda pfie ie beste it eine and m n e o Hon d v p sm st tlich gdae-a as i re e ä D . deu w n o en ie ch H zu öffn o, w s l dur A en n. Ohr ieße n die e zu g p?. und -a dae g n Ho

12 KOREANA Winter 2014


N

ach der Eröffnung der Seouler U-Bahnlinie 2 erlebte das

sich einige junge Leute nach solchen Performances zu einer Musi-

„Uni-Viertel“ im und um den Stadtbezirk Sinchon viele kultu-

kerkarriere. Es bildeten sich Punk-Gruppen. Sie waren aufmüp-

relle Veränderungen. Kaufhäuser wurden gebaut und in den

fig, aber nicht auf gefährliche Weise, und spielten gerne alberne,

Straßen um die Ewha Womans University, die älteste und renom-

harmlos-süße Streiche. Sie konnten es sich leisten, Skateboard zu

mierteste Frauenuniversität des Landes, wurde die akademische

fahren, damals ein noch neuer und nicht ganz billiger Sport. Mit der

Atmosphäre von allerlei Modeläden aufgeweicht. Als in Sinchon

Zeit wurde Drug zum Sammelpunkt junger Musiker mit „Do It Your-

dann kein kommerziell nutzbarer Raum mehr übrig war, wurde die

self-Geist“, die Anfang der 1990er Jahre zusammen mit dem sog.

Gegend vor der Hongik University, meistens kurz als „Hongdae-ap“

„Alternative-Rock-Boom“ auf der Bildfläche erschienen: Bands wie

bezeichnet, zum nächsten „neuen Paradies“. Obwohl sich das Gebiet

Crying Nut und No Brain machten diesen Club zum Mekka des kore-

um die Sogang University, die sich wie die Ewha Womans Universi-

anischen Punk-Rock. Andere Live-Clubs wie Spangle und Jammers

ty und die Yonsei University näher im Zentrum von Sinchon befindet,

dienten ebenfalls als Unterschlupf für solche Musiker und bis heute

fiel die Wahl auf Hongdae-ap, was vermutlich nicht zuletzt der guten

lebt dieser Geist in den Live Clubs in Hongdae-ap weiter.

Erreichbarkeit aufgrund der neuen U-Bahnstation geschuldet war.

In der Geschichte der Hongdae-Clubs markieren die Olympischen

So geschah es, das Hongdae-ap junge Leute, darunter die Studen-

Sommerspiele 1988 und die Fußball-WM Korea Japan 2002 zwei

ten aus Sinchon, anzog und die sog. „Rockcafé-Kultur“, die Mitte der

Höhepunkte. Die kulturelle Öffnung und Demokratisierung, die

1980er Jahre in Sinchon ihren Ausgang nahm, zu einer „Indie-Kultur“

nach den Olympischen Spielen ernsthaft vorangetrieben wurden,

weiterentwickelte.

brachten die Offenheit und Experimentierfreudigkeit der Clubkultur auf den Weg, die die Essenz der Hongdae-Clubkultur ausmacht.

Von der Rockcafé-Kultur zur Indie-Kultur

Pionier der experimentellen Kunst war das Electronic Café, das im

Der 1994 in Hongdae-ap eröffnete Punk-Club Drug (heute DGBD)

März 1988 eröffnete und drei Jahre lang betrieben wurde, gefolgt

fungierte im Laufe seiner Entwicklung als Meilenstein für die Indie-

von Cafés wie Baljeonso (Kraftwerk) und HwangeumTugu (Goldener

Szene. In diesem Club waren Mitte der 1990er Jahre die Grenzen

Helm), Gompangi (Schimmel), betrieben von Kim Hyeong-tae von der

zwischen Musikern und Publikum fließend. Wenn die Musiker von

Hwang Shin-hye-Band. Die Hongdae-Clubkultur entwickelte die ihr

der Bühne herunterkamen, mischten sie sich unters Publikum, und

eigene Flexibilität und Widerstandsfähigkeit gerade durch die junge

die Zuschauer, die auf der Tanzfläche abrockten, sprangen auf die

Lebenskraft der Punk-Clubs und die Konzipierungs- und Planungs-

Bühne und verwandelten sich in Musiker. Tatsächlich entschlossen

fähigkeit progressiver Künstler.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13


Busking- und ClubbingKultur existieren dicht an dicht. Die 端berall zu findende Vielfalt verleiht der Landschaft dieses Stadtviertels eine vibrierend bunte F端lle. 14 KOREANA Winter 2014


Hongdae-ap ist ein Busking-Paradies und die Hauptbühne der Straßenkünstler ist der Spielplatz gegenüber dem Haupttor der Hongik University. Es ist ein Ort, an dem noch namenlose Musiker sich darin üben, mit dem Publikum zu kommunizieren. Ein Ort, an dem sie an einem heiteren Tag mit ihren Gitarren aufkreuzen, musizieren und die Sonne genießen. Die fröhlichen Klänge ziehen die Passanten quasi „an den Ohren herbei“. Sie erfreuen sich an den lebhaften Klängen der Vorstellung, die direkt vor ihrer Nase aufgeführt wird. Dieser nette Unterhaltungsservice der Straßenkünstler ist ein Ohrenschmaus. Olympische Sommerspiele 1988, Fußball-WM 2002 und Clubkultur-Popularisierung

der Frühe mit vom Morgentau benetzter Stirn aufgewacht ist? Natür-

Die Fußball-WM 2002 goss gewissermaßen Öl ins Feuer der Club-

an nach wie vor ihrem eigentlichen Zweck, aber die Klänge, die den

kultur von Hongdae-ap, die bis dahin nur von einer kleinen Gruppe

Spielplatz erfüllen, sind doch anders als die auf den Spielplätzen in

junger Maniacs genossen worden war. Endlich trafen Versamm-

anderen Stadtteilen. In diesem Sinne ist es nur lohnenswert, den rei-

lungskultur und Clubkultur aufeinander: Die Gruppen, die sich auf

nen und leidenschaftlichen Klängen der jungen Straßenmusiker, die

dem Seoul Plaza zum Anfeuern versammelt hatten, fanden in den

von einer großen Zukunft träumen, Gehör zu schenken.

Clubs vor der Hongdae ein Ventil für ihre Begeisterung und entfach-

Die Klänge, die derzeit in Hondae-ap zu hören sind, kommen aber

ten gemeinsam eine lodernde Flamme wie Feuerstein und Docht.

nicht mehr nur aus dem Subkultur-Bereich, sondern mehr und mehr

Der „Hongdae Club Day“, der bereits vor der WM existierte, bot sich

aus einem breiten Spektrum der Pop-Kultur. So existieren derzeit

als idealer Treffpunkt für die jungen Leute an, die die kollektive Emp-

eine Reihe von Clubs verschiedener Stilrichtungen Seite an Seite:

findlichkeit ihrer Generation miteinander teilen wollten. Die DJ-Clubs

Live Clubs speziell für Bühnenauftritte von Bands, Techno Clubs, wo

florierten und die dröhnenden Basstöne des Techno House brachten

Clubbers auf Rave-Partys zu DJ-Mixen tanzen, Hip-Hop Clubs, Pop

die Straßen in Hongdae-ap zum Vibrieren. Die Clubs breiteten sich

Clubs, die einen Mix koreanischer Tanzmusik der 1990er und danach

über die sog. „Parkplatzstraße“ und das Kraftwerk Dangin-ri bis zur

bieten, usw. Es stimmt zwar, dass der Kern der Clubstraße heutzu-

U-Bahnstation Hapjeong aus. Anhand der Verteilung der Clubs ließe

tage eine gewisse standardisierende Kommerzialisierung erfährt,

sich eine Karte des Vergnügungsviertels von Hongdae-ap zeichnen.

aber in den sog. „Off Hongdae“-Randgebieten sind immer noch Klän-

Der Begriff „Hongdae-ap“ umfasst als Kulturraum also die neben-

ge der unterschiedlichsten Art zu hören, woran zu erkennen ist, dass

einander gelegenen Viertel vor den U-Bahnstationen Hongik Uni-

die kulturelle Bandbreite in Hongdae-ap sich erweitert und an einer

versity, Hapjeong und sogar Mangwon und im Norden den Bezirk

gewissen Tiefe gewonnen hat.

lich dienen der Kinderspielplatz und das Seniorenzentrum neben-

Yeonnam-dong. Aber es war nicht nur die Clubkultur, die Hongdae-ap zu einem „Vier-

Akustische Reise bis ins Morgengrauen

tel der Klänge“ machte. Die Straßen dort sind an sich schon Räume

Hongdae-ap ist zwar ein „Viertel der Klänge“, aber auch ein „Viertel

lebhafter Musik, und „Busking“ (Straßenkunst-Performances) ist

der Nacht“. Die Nacht bringt einem den Klang dieses Viertels noch

zumindest hier nichts Neues. Hongdae-ap ist ein wahres Busking-

deutlicher ans Ohr. Es ist gut möglich, dass man bei einer „akusti-

Paradies und die Hauptbühne der Straßenkünstler ist der Spielplatz

schen Reise“ durch dieses Viertel von der Morgendämmerung über-

gegenüber dem Haupttor der Hongik University. Es ist ein Ort, an

rascht wird. Am Wochenende sind hier viele junge Leute zu sehen,

dem noch namenlose Musiker sich darin üben, mit dem Publikum zu

die auf die erste U-Bahn um 05.30 Uhr warten. Sie sehen angetrun-

kommunizieren. Ein Ort, an dem sie an einem heiteren Tag mit ihren

ken und völlig erledigt aus, scheinen aber immer noch in der Eksta-

Gitarren aufkreuzen, musizieren und die Sonne genießen. Die fröhli-

se der Klänge, die auf ihre Trommelfelle einhämmerten, befangen.

chen Klänge ziehen die Passanten quasi „an den Ohren herbei“. Sie

Klänge existieren aber weniger als solche, sondern mehr als Atmo-

erfreuen sich an den lebhaften Klängen der Vorstellung, die direkt

sphäre. Ein Klang an sich ist ja nichts anderes als Schwingungen der

vor ihrer Nase aufgeführt wird. Dieser nette Unterhaltungsservice

Luft. Umgekehrt heißt es, dass Klänge die Luft eines bestimmten

der Straßenkünstler ist ein Ohrenschmaus. Ich frage mich, ob es

Raumes in sich tragen. Die Klänge teilen, bedeutet die Luft teilen, ein

überhaupt einen einzigen Indie-Musiker, mich eingeschlossen, gibt,

kollektives Atmen. In Korea gibt es keinen besseren Ort als Hong-

der nie auf dem Spielplatz sein Können zum Besten gegeben hat.

dae-ap, um Atem und Vibrationen voller Leidenschaft mit anderen zu

Geradeheraus gefragt: Gibt es einen Indie-Musiker, der nie auf dem

teilen. Die Vibrationen mögen im Nu verschwinden, aber ihr Echo im

Spielplatz eingeschlafen und dann nach stundenlangem Gitarrespie-

Ohr wird den Reisenden weiter auf seiner akustischen Reise beglei-

len und Genuss von Makgeolli (trüber, leicht vergorener Reiswein) in

ten, mal greifbar nah, mal unerreichbar fern, Tag für Tag.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15


SPEZIAL 4 Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot

Jung Ji-yeon Redakteurin von Street H Magazin Fotos Cho Ji-young

Jeder streift zu einem anderen Zweck in Hongdae-ap umher: Einige hoffen auf eine heiße Nacht im Club, andere möchten in Ruhe und Gemütlichkeit eine Tasse Kaffee genießen, wieder andere sind auf der Suche nach künstlerischer Inspiration. Wie unterscheiden sich ihre jeweiligen Hongdae-ap-Wahrzeichen voneinander?

Für Nachteulen, die singen, trinken und tanzen wollen

Club Day, der am letzten Freitag jedes

Beliebtheit des Club Day diente. Allerdings

Monats abgehalten wurde, hatte man mit

kam 2011 nach zehn Jahren das offizielle

Hongdae-ap ist ohne Übertreibung Seouls

dem Kauf einer einzigen Eintrittskarte im

Aus, als sich die größeren Clubs nicht länger

Clubbing-Mekka. Die Clubs reihen sich auf

zuerst besuchten Club in bis zu 20 weitere

an das anfängliche Prinzip, die Gewinne aus

ein Viertel konzentriert dicht an dicht und

Clubs in ganz Hongdae-ap Einlass. Dieses

dem Club Day paritätisch aufzuteilen, halten

wenden sich im Gegensatz zu den Schicke-

in seiner Art einzigartige Event war nicht

wollten.

ria-Clubs in den noblen Stadtvierteln Apgu-

nur bei Koreanern, sondern auch bei den

Nichtsdestoweniger assoziiert man mit

jeong-dong oder Cheongdam-dong an eine

ausländischen Mitbürgern gleichermaßen

Hongdae-ap immer noch sofort die Club-

breitere Kundschaft. Man könnte sagen,

beliebt. Es heißt, dass die Partystimmung

straße mit ihren mehr als 20 Clubs. Dar-

dass sie etwas jünger und cooler sind.

in den Straßen, die bei den Massenanfeu-

unter sind nb2 und M2 besonders populär.

Die derzeitige Berühmtheit der Clubs in

erungsaktionen während der Fußball-

Als einer der ältesten und größten Clubs in

Hongdae-ap ist nicht zuletzt dem 2001

weltmeisterschaft Korea Japan 2002 zu

Hongdae-ap bietet nb2 für jeden Geschmack

gestarteten „Club Day“ zu verdanken. Am

beobachten waren, als Katalysator für die

etwas, von Hip-Hop Musik der 1990er Jahre

16 KOREANA Winter 2014


© nb2

1, 2. Unter den mehr als 20 Clubs in Hongdaeap sind nb2 und M2 immer am vollsten. 3. Gopchang Jeongol ist eine LPMusikbar. Sie ist so berühmt, dass für ausländische Musiker wie MGMT, Beirut und Mogwai ein Besuch fester Bestandteil zu Tournee-Ende ist. 1

2

3 © M2

bis hin zu aktuellem elektronischem Hip-

fläche. Da auch öfters ausländische Musi-

1950er bis in die 1980er Jahre. Besonders

Hop. An Wochenenden ist die Tanzfläche

ker oder DJs eingeladen werden, reißt der

häufig zu hören ist der psychedelische Rock

mehr als überfüllt. Da dieser Club direkt

Besucherstrom nie ab.

aus den 1970er Jahren, angefangen von

von dem koreanischen Unterhaltungsun-

Clubbing ist aber nicht die einzige Option für

Shin Jung-hyun über Kim Choo-ja bis hin zu

ternehmen YG Entertainment betrieben

eine heiße Nacht in Hongdae-ap. Gopchang

berühmten Bands wie Sanullim und Song-

wird, finden hier öfters Showcase Partys

Jeongol ist z.B. eine gute Alternative. „Gop-

golmae. Gopchang Jeongol hat sich mittler-

von Künstlern statt, die bei YG unter Vertrag

chang Jeongol“ ist die Bezeichnung für ein

weile einen solchen Namen gemacht, dass

stehen. M2, der im Mai 2004 eröffnete, kann

koreanisches Stew auf Basis von Innereien,

ausländische Musiker wie MGMT, Beirut

nun schon fast auf ein Jahrzehnt Geschich-

aber in diesem Fall handelt es sich nicht um

oder Mogwai ihre Konzertreisen in Korea

te zurückblicken. Als Mega-Club, der durch

ein Restaurant, sondern um eine LP-Musik-

unbedingt mit einem Abend in dieser Bar

gemeinsame Investitionen mehrerer Elect-

bar mit einer über 20-jährigen Geschich-

beschließen.

ronica-Clubs gegründet wurde, verfügt M2

te. Sie verfügt über eine stattliche Samm-

Und dann gibt es noch das Noraebang Su,

über drei Bars und eine gigantische Tanz-

lung von fast 5.000 Schlager-LPs von den

wo man sich mit eigenen Augen und Ohren

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 17


© Sukara

1. Café Sukara, ein organisches Café, erfreut seine Gäste mit gesunden Gerichten aus sorgfältig ausgewählten Zutaten. 2. Das von einem Musiker betriebene Yri Café veranstaltet oft Kunst- und KulturEvents und ist ein beliebter Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller, Dichter, Musiker und Kritiker. 1

von der besonderen Sangesfreudigkeit der

in der Nähe der Kleinbühne Sanwoollim

in dem die 2007 ausgestrahlte gleichna-

Koreaner überzeugen kann. Dieses Mega-

Theater. Im Erdgeschoss dieses Theaters,

mige TV-Serie gedreht wurde. Dieses Café

Karaoke ist rund um die Uhr geöffnet und

in dem Warten auf Godot in Korea urauf-

war ursprünglich ein altes Wohnhaus mit

einige der Karaoke-Räume haben decken-

geführt wurde, befindet sich das Café Suka-

Garten, das seit dem Seriendreh als Café

hohe Fenster zur Straßenseite hin, sodass

ra, das erste Bio-Café in Hongdae-ap. Der

betrieben wird. Hier hängen eingerahmte

man von draußen sehen kann, wie drinnen

Name „Sukara“ leitet sich von der japani-

Autogramme der Schauspieler an der Wand,

gesungen und getanzt wird.

schen Aussprache des koreanischen Wortes

was das Café besonders für japanische und

„Sutgarak“ (Löffel) ab. Wie der Name schon

chinesische Touristen als Kulisse für Reise-

Für Liebhaber des gemütlichen Kaffeegenusses

verrät, wird das Café von Kim Su-hyang,

Schnappschüsse beliebt macht.

einer koreanischstämmigen Japanerin der

Bewegen wir uns nach Osten. Geht man

Selbst für Seouler Verhältnisse ist Hongdae-

zweiten Generation, betrieben. Als sie die-

vom U-Bahnhof Sangsu in Richtung Kraft-

ap, wo viele Musiker, Künstler und Desig-

ses Café eröffnete, war sie sich dank ihrer

werk Dangin-ri, kommt man am Café Yri

ner wohnen, ein Viertel mit einer besonders

Erfahrungen in Japan und Korea bereits des

vorbei, das häufig für verschiedene Kul-

hohen Konzentration an Cafés. Da Hongdae-

Wertes der umweltfreundlichen Landwirt-

turveranstaltungen wie Autorenlesungen,

ap nicht nur die Gegend direkt vor der Hongik

schaft und des Fairen Handels hinreichend

Treffen von Lesern und Autoren oder klei-

University meint, sondern auch Viertel wie

bewusst. Verwendet werden hauptsächlich

ne Konzerte genutzt wird. Betrieben von

Seogyo-dong, Sangsu-dong, Hapjeong-dong

von Konsumgenossenschaften oder Stadt-

einem Musiker, ist das Yri ein Künstler-Treff

und Yeonnam-dong umfasst, gibt es hier

bauern gelieferte Zutaten aus biologischem

für Schriftsteller, Dichter, Musiker, Kritiker

nicht gerade wenige Caféstraßen. Natürlich

Anbau. Hier werden auch häufig Verkostun-

usw. Spätabends kann man hier auch schon

handelt es sich in der Mehrzahl um Kaffee-

gen von makrobiotischen Gerichten veran-

mal improvisierte Jam-Sessions erleben.

ketten wie Starbucks oder Coffee Bean, aber

staltet. Geschäftsführerin Kim ist gleichzei-

Fünf Gehminuten entfernt gibt es zwei wei-

wer den Charme von Hongdae-ap richtig

tig Ko-Gründerin des Bio-Straßenmarktes

tere interessante Cafés: Das Anthracite,

entdecken möchte, der sollte in eins der pri-

Marché @ (www.macheat.net), der haupt-

eine ehemalige Schuhfabrik und berühmt

vat betriebenen Cafés des Viertels gehen.

sächlich im Seouler Stadtviertel Hyehwa-

für seine industrielle Atmosphäre und die

Hongdae-ap lässt sich - mit dem Haupttor

dong stattfindet.

hohen Decken, war auch Drehort für den

der Hongik University als Mittelpunkt - in

In einer Seitenstraße des Theaters San-

Film Cyrano Agency. Das weiße Gebäude

Westen und Osten teilen. Im westlichen Teil

woollim befindet sich auch das berühmte

gleich nebenan beherbergt das Café Muda e-

liegt die berühmteste Caféstraße, und zwar

Kaffeehaus The 1st Shop of Coffee Prince,

ruk, benannt nach einem legendären, unter-

18 KOREANA Winter 2014


2

2 KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 19


gegangenen Kontinent. Der dreistöckige

sind verschiedene in- und ausländische

Schmetterling, der, eben aus dem Kokon

Bau wird vielfältig genutzt: Im Kellerge-

Magazine, Eigenpublikationen und Werke

geschlüpft, seine Flügel ausbreitet. Dieser

schoss werden an Wochenenden oft Kon-

von Künstlern erhältlich. Die beeindrucken-

symbolträchtige Mehrzweck-Kulturraum

zerte von Indie-Bands veranstaltet und im

de hohe Holzregalwand, die im Dachboden-

beherbergt im Untergeschoss ein Kunst-

Erdgeschoss gibt es ein Café und eine Bar,

stil bis unter die Decke reicht, und die her-

film-Kino und eine Konzerthalle für Indie-

wo Kultur-Events wie Messen für Indepen-

umlaufenden Katzen, die die Kunden begrü-

Bands und im Erdgeschoss einen Design-

dent-Bücher stattfinden. Im zweiten Stock

ßen, verleihen dieser Buchhandlung ein

Shop, während im zweiten und dritten Stock

befinden sich Büro-Räumlichkeiten, die sich

unverwechselbares Ambiente. Your Mind

Galerieräume für Ausstellungen verschie-

mehrere Künstler teilen, und auf der Dach-

veranstaltet auch jährlich den Markt Unlimi-

dener Art untergebracht sind.

terrasse haben alleinstehende Frauen aus

ted Edition, auf dem jeder eigene Publikati-

Wer Interesse an Vintage-Möbeln hat, der

dem Viertel einen Gemüsegarten angelegt.

onen, Schreibwaren, Musikplatten u.ä. frei

ist im aA Design Museum an der richtigen

verkaufen kann.

Adresse. Betrieben wird dieses „Muse-

Für Kulturliebhaber auf der Suche nach künstlerischer Inspiration

In der Nähe der Parkplatzstraße, dem Zen-

umcafé“ von Kim Myung-han, der auf der

trum von Hongdae-ap, befindet sich eins

Suche nach Vintage-Möbeln und Beleuch-

Hongdae-ap ist eins der größsten Verlags-

der repräsentativsten architektonischen

tungen ganz Europa bereiste. Auf natürliche

viertel in Seoul. Die Gegend bietet mit Buch-

Wahrzeichen der Gegend: KT&G Sangsang

Weise hier und da im Café arrangiert, finden

verlagen, Zeitschriftenverlagen, Design-

Madang. An Wochenenden sind vor diesem

sich unter den Sammlerstücken Straßen-

Studios, Druckereien usw. eine solide Publi-

markanten Gebäude immer viele Menschen

laternen, die in den 1920er Jahren an den

shing-Infrastruktur. Besonders bemerkens-

zu sehen, die auf ihre Verabredung warten.

Ufern der Themse standen, Leuchten von

wert sind die alternativen Buchläden. In Your

Mit seiner kurvigen Fassade aus Sichtbe-

Tom Dixon und Stühle von Charles and Ray

Mind in der Nähe des Theaters Sanwoollim

ton und Glas erinnert das Gebäude an einen

Eames.

20 KOREANA Winter 2014

© KT&G Sangsang Madang

1


1, 2. KT&G Sangsang Madang ist ein VielzweckKulturraum mit einem Kunstfilm-Kino, einer Konzerthalle für IndieBands, einem Design Shop und Galerien. Das originelle Design macht das Gebäude zu einem beliebten Treffpunkt.

2

© Living & Art Creative Center

So wie sich Soho von einem armen BohemeViertel in eine Gegend voller Kaufhäuser, Galerien und Restaurants verwandelte, und aus Brooklyn, einer einstigen Enklave für Künstler auf der Flucht vor den hohen Mieten in Manhattan, ein nobles Wohnviertel wurde, so befindet sich auch Hongdae-ap in einem Prozess der Transformation. Mit den hochschnellenden Mieten begannen die Besitzer kleiner Läden in die Randgebiete wie Sangsu-dong oder Hapjeong-dong umzuziehen. Derzeit liegt Yeonnam-dong im Trend. Yeonnam-dong im Osten des vornehmeren Wohnviertels Yeonhui-dong war früher hauptsächlich von Chinesen bewohnt, weshalb es auch „Little China“ genannt wurde. Dank der Nähe zu Hongdae-ap und der relativ niedrigen Mieten fanden viele Künstler und junge Startups ab 2010 hier ein neues Zuhause. Der beliebteste Hotspot ist derzeit die Marktgasse Dongjin. Hinter diesem traditionellen Markt, der seine eigentliche Funktion bereits verloren hatte, eröffneten Restaurants, die diese Gasse schnell zum Trendspot der Gegend machten. Nach der Eröffnung von Tuk Tuk Noodle Thai, Coffe Libré und des japanischen Curry-Restaurants Himeji begannen auch kleine Galerien, Kneipen und weitere Restaurants aufzumachen. Zudem hat eine Sozialgenossenschaft in diesem

Jahr einen langfristigen Mietvertrag für den alten Marktplatz abgeschlossen, sodass jetzt jede Woche ein Markt stattfindet, auf dem landwirtschaftliche Produkte aus dem Land direkt an die Konsumenten verkauft werden. Besondere Beachtung verdient auch das Geschäft Eojjeoda Gage (wörtl.: Durch Zufall entstandenes Geschäft), das im Frühjahr 2014 eröffnet wurde. Ein altes, freistehendes Haus wurde renoviert und so umgebaut, dass es neun Kleinläden als gemeinsam genutzte Geschäftsfläche dient. Als trendiger, industrieller Raum ist er für die Nachbarschaft ein Ort zum Kennenlernen und Treffen, gleichzeitig aber auch ein einzigartiges architektonisches Experiment. Unter einem Dach versammelt sind eine MaltWhisky-Bar, eine Pie-Konditorei, ein Café & Lounge, ein Friseursalon und einige Studios von Kunsthandwerkern, die gemeinsam die Werte Sharing und Koexistenz teilen. In dieser einzigartigen Ladenwelt, die eine große Auswahl an Spezialitäten wie z.B. leckere Sandwiches, Bingsu (Süßspeise aus geschabtem Eis mit Garnierungen), Kaffee und Single-Malt-Whisky bietet, ist es gelungen, Diverses „zufällig“ unter einen Hut zu bringen. Gerade dieser glückliche Zufall zeigt uns die Freude des Teilens und gemeinsamer Aktivitäten, die mehr Spaß ins Leben bringen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 21


FOKUS

Die UNESCO– Welterbe-Festung Das Königreich Joseon (1392-1910) hatte so viele Festungen, dass es als „das Land der Festungen“ bezeichnet wurde. Es gab unterschiedliche Arten von Festungen wie Doseong, die Festung zur Verteidigung der Hauptstadt, Sanseong, Bergfestungen, die in Notfällen als Zufluchtsort dienten, und Eupseong, Festungsanlagen rund um Ortschaften in den einzelnen Regionen. Darunter weisen die Bergfestungen die meisten Spuren der Kriege in der koreanischen Geschichte auf. Hören wir, welche Geschichten sich um die Bergfestung Namhansanseong winden, die im Juni dieses Jahres in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde.

22 KOREANA Winter 2014


Namhansanseong und ihre Geschichten

Lee Kwang-pyo Journalist, Tageszeitung The Dong-A Ilbo

Š Namhansanseong Culture & Tourism Initiatives, Gyeongi Cultural Foundation

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23


Eine Kampfkunst-Vorführung vor dem Seojangdae, dem zweistöckigen westlichen Kommandoposten, der zwecks optimaler Truppenkontrolle und Beobachtung des Feindes an der höchsten Stelle der Festungsanlage angelegt wurde.

F

ür die Koreaner ist Namhansanseong mit bitteren Erinnerun-

Die ursprüngliche Anlage von Namhansanseong geht auf die Zeit der

gen verbunden. Während der Mandschu-Invasion im 17. Jh

Drei Königreiche zurück. Nach der Vereinigung der drei Königreiche

leistete der damalige Joseon-König Injo (reg. 1623-1649) hier

und der Eroberung des Hangang-Flussbeckens baute Silla 672 in

Widerstand, musste sich aber schließlich der chinesischen Qing-

diesem Gebiet eine Erdfestung, den Vorläufer von Namhansanseong.

Dynastie unterwerfen.

Damals versuchte Silla in einer Kraftprobe die chinesische Tang-

Im Dezember 1636 drangen die Mandschus mit ihren 130.000 Mann

Dynastie (618-907), seinen Verbündeten bei der Vereinigung der drei

starken Truppen in Joseon ein. Nach der Überquerung des Flus-

Reiche, zu vertreiben. Die Bergfestung wurde errichtet, um die nörd-

ses Yalu nahmen sie in nur fünf Tagen die Hauptstadt Hanyang (alter

lichen Gebiete vor den Tang-Angriffen zu schützen. Auch 1231 und

Name von Seoul) ein. Sie waren einfach nicht zu stoppen. Kurz vor

1232, während des Mongolen-Einfalls in der Goryeo-Zeit (918-1392),

der Hauptstadteroberung war der Kronprinz eiligst auf die Insel

spielte sie eine große Rolle.

Ganghwa-do geflüchtet. Danach war der Weg dorthin versperrt,

Im 17. Jh in der Joseon-Zeit wurde die Erdfestung dann in eine Stein-

sodass der König und die Minister in der Bergfestung Namhansan-

festung verwandelt. 1621 ließ König Gwanghaegun (reg. 1608-1623)

seong Zuflucht suchten.

die Festung aus Stein bauen, um einer Invasion der vom Volk der

Kurz darauf belagerten die Mandschus die Festung. König, Minister

Jurchen gegründeten Späteren Jin-Dynastie (1616–1636) im Nor-

und 15.000 Soldaten kämpften 47 Tage lang gegen das Qing-Heer.

den vorzubeugen und die Hauptstadt zu verteidigen. Der Bau wurde

Aber Ende Januar 1637 verließ König Injo die Festung und unter-

vorübergehend eingestellt, aber zur Zeit von König Injo 1624 wieder

warf sich in Samjeon-do (Fähranlegestelle in der Gegend des heuti-

aufgenommen und 1626 abgeschlossen. Seitdem positionierte sich

gen Seouler Stadtviertels Jamsil) den Invasoren. Joseon wurde ein

Namhansanseong mit seinem rund 8km langen Festungswall neben

Vasallenstaat des chinesischen Qing-Reiches. Diese Szene voller

der Hauptstadtfestung Bukhansanseong als militärische Bastion zur

Erniedrigung und Tragödie wird in der koreanischen Geschichte nie

Verteidigung von Hanyang.

vergessen werden.

1636, zehn Jahre nach ihrer Fertigstellung, griff die Qing-Dynastie Joseon erneut an. König Injo, der nach Namhansanseong geflüchtet

Festung der Landesverteidigung, Festung von Ruhm und Schande

24 KOREANA Winter 2014

war, öffnete nach einem erbitterten Gefecht selbst das Festungstor, um sich dem Kaiser der Qing-Dynastie zu ergeben. Beachtenswert


Namhansanseong, 2014 in die UNESCO Welterbeliste aufgenommen, ist nicht nur ein bedeutendes historisches Erbe, sondern auch ein Erholungsraum für die Bewohner der Hauptstadtregion. Vor kurzem wurden fünf Wanderrouten fertiggestellt, die es den Besuchern erlauben, sich der reizvollen Landschaft bei einer Wanderung entlang der Festungsmauer zu erfreuen.

ist dabei die Tatsache, dass die Bergfestung vor dieser Kapitulation

Militärische Bergfestung mit Zügen von Alltagsleben

nicht erobert worden war. In dem Geographiebuch Taengniji (Führer

Unter den Bergfestungen, die die Bergkämme entlang gebaut wur-

durch Korea) von Yi Jung-hwan (1690-1756), heißt es: „Das Innere von

den, weist Namhansanseong geographische und topographische

Namhansanseong ist niedrig und flach, während das Äußere hoch

Vorzüglichkeiten auf. In Yeojidoseo (1756), einer Sammlung von Kar-

und steil ist. Als die Qing-Truppen zum ersten Mal an die Festung

ten und geographischen Beschreibungen, die von jedem Kreis in

heranrückten, konnten sie nicht einmal die Klingen ihrer Waffen zum

Joseon kompiliert wurde, ist folgende Beschreibung zu lesen: „Nam-

Einsatz bringen, geschweige denn die Festung einnehmen. Dass der

hansanseong ist in der Mitte flach und außen steil. Das imposante

König trotzdem aus der Festung kam, lag am Lebensmittelmangel

Erscheinungsbild erinnert an eine Bergspitze, die einen Hut trägt.“

und am Fall von Ganghwa.“ Paradoxerweise wurde die Uneinnehm-

Die fast 8km lange Festungsmauer erstreckt sich 500m über dem

barkeit der Bergfestung zu einer Schwäche. 1896, als sich ein Frei-

Meeresspiegel über das zerklüftete natürliche Terrain, was Angriffe

willigentrupp aus der Gyeonggi-Region gegen die japanischen Ein-

von außen erschwerte. Die geographische Lage an sich bot Vorteile

dringlinge erhob, spielte Namhansanseong wieder eine wichtige

als militärischer Stützpunkt.

Rolle und während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945)

Die Spuren von verschiedenen militärischen Anlagen innerhalb

nutzten die Bewohner der Gegend die Festung als Basis für ihren

der Festung geben Aufschluss über Waffen und Kriegsführung der

Unabhängigkeitskampf wie die Bewegung vom 1. März.

Zeit. Namhansanseong ist eine Festung mit elaboriert angelegten

An der Festung Namhansanseong, die mehr als 1.000 Jahre lang

Angriffs- und Verteidigungsanlagen. Sie besteht aus einem inneren

Zeuge entscheidender Schlachten in der koreanischen Geschichte

Hauptwall und drei Außenmauern. Es wurden auch Vorwälle (Ong-

war, lässt sich der Entwicklungsprozess von koreanischen Festungs-

seong), Bastionen (Poru), Festungstore, Geheimtüren (Ammun), Nie-

wällen ablesen. Im 7. Jh zur Zeit des Vereinten Silla-Reiches (676-

derwälle, die dem Schutz der Verteidiger dienten (Yeojang), eine Art

935) als Erdfestung gebaut, wurde die Anlage danach je nach Zeital-

Wehrposten (Dondae) etc. angelegt.

ter auf unterschiedliche Art und Weise verstärkt. Entsprechend sind

Ein Onseong-Vorwall ist ein Mauerwerk, das als zusätzlicher Schutz

hier die verschiedenen Baumethoden von der Zeit der Drei Königrei-

vor das Festungstor gebaut wurde. Eindringlinge mussten zuerst die

che (57 v.Chr.-668 n.Chr.) bis hin zur Joseon-Zeit zu sehen.

Vormauer einnehmen, um ans Tor zu gelangen. Da diese Mauer nach außen vorsprang, konnten die Verteidiger auf der Mauer den Feind

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 25


Die Wanderroute, die zum schneebedeckten Tor Jwaik führt, ist besonders beliebt. Das Jwaik ist das Osttor von Namhansanseong und seit dem 17. Jh in seiner usprünglichen Gestalt erhalten.

aus verschiedenen Richtungen abwehren. Der Onseong hatte einen

Reichs erweiterte man die Bergfestung Namhansanseong zu einer

hohen Verteidigungseffekt.

Dorffestung. Die Regierung führte Ansiedelungsmaßnahmen durch,

Unter den Anlagen der Festung ist heutzutage der zweistöckige,

mit denen Namhansanseong über die reine Wehrfunktion hinaus

pavillonartige Westliche Kommandoposten Seo-Jangdae am impo-

zu einer Dorffestung wurde, in der die Bewohner ein normales All-

santesten und prächtigsten. Jangdae ist ein Beobachtungsposten

tagsleben führen konnten. Innerhalb der Festung waren zivile und

für Heerführer an einem Ort, von wo aus man einen Überblick über

militärische Einrichtungen auf natürliche Weise gemischt. An 125

die gesamte Umgebung hat. In den meisten Fällen wurde er an der

Stellen waren Posten eingerichtet, an denen Soldaten Wache stan-

höchsten Stelle innerhalb der Festung errichtet, was Befehlsertei-

den, und dazwischen finden sich Spuren von Salz- und Kohlegruben.

lung und Überwachung erleichterte. Erstreckte sich die Festung

Das weist darauf hin, dass für den Notfall überall Lagerräume für

über ein weites Areal, sodass das Kommandieren erschwert war,

Lebensmittel und militärische Vorräte geschaffen wurden.

wurden mehrere Jangdae eingerichtet. In Namhansanseong gab es ursprünglich fünf Jangdae (zwei im Osten, die anderen im Westen,

Provisorische Hauptstadt mit einem Sonderpalast

Süden und Norden), von denen leider nur noch der im Westen erhal-

In Namhansanseong wurde ein Haenggung errichtet, ein Sonderpa-

ten ist.

last zur Unterbringung des Königs außerhalb des Hauptpalastes in

Zwischen den vier Haupttoren, die in die vier Himmelsrichtungen

der Hauptstadt. Wenn sich der König wegen Invasionen oder politi-

hinausgingen, waren Ammun, Geheimtüren, eingelassen. Sie befan-

schen Unruhen in Sicherheit bringen musste, fungierte er als eine

den sich an von außen nur schwer sichtbaren Stellen. Es waren klei-

Art provisorische Hauptstadt. Die Existenz des Sonderpalastes in

ne Durchgänge ohne Wehrgang, durch die in Notsituationen wie

Namhansanseong bedeutet, dass die Bergfestung schon beim Ent-

Belagerungen Proviant- und Waffennachschub geliefert wurde und

wurf nicht nur für die Verteidigung konzipiert wurde, sondern auch

Militärboten oder Verstärkungstruppen unbemerkt ein- und ausge-

zur Nutzung als provisorische Hauptstadt. Unter den rund zehn

hen konnten. Mit insgesamt 16 Ammun besitzt Namhansanseong im

Sonderpalästen im ganzen Land ist der Palast in Namhansanseong

Vergleich zu anderen Festungen in Korea eine besonders hohe Zahl

der einzige, der mit den beiden wesentlichsten Elementen einer

an Geheimtüren.

Hauptstadt der Joseon-Zeit ausgestattet ist, i.e. mit dem königlichen

Aufgrund der schmerzhaften Erfahrungen bei der Invasion des Qing-

Ahnenschrein des Joseon-Reiches auf der linken Seite und mit dem

26 KOREANA Winter 2014


Zwischen den in die vier Himmelsrichtungen gehenden Haupttoren befinden sich die Geheimtore Ammun, durch die Vorräte wie Lebensmittel, und Waffen hinein- und hinausgeschmuggelt wurden.

Altar für die Götter der Erde und des Getreides auf der rechten Seite.

aus man einen Ausblick auf die wunderschöne Berglandschaft hat

Auch beherbergte es Schlafgemach, Privatgemächer und Arbeits-

und den Reiz der vier Jahreszeiten genießen kann, sind als Wan-

zimmer des Königs, sodass er im Notfall als Regierungshauptstadt

der- und Touristenrouten berühmt. Aber das, was die Herzen der

dienen konnte.

Besucher berührt, ist nicht nur das sichtbare materielle Kulturerbe,

Eine weitere Besonderheit als provisorische Hauptstadt ist das

sondern auch die darin verborgene, von Ruhm und Schande gepräg-

Nebeneinander von Spuren eines normalen Alltagslebens und denen

te Geschichte. Ironischerweise hat diese tragische Geschichte viele

von militärischen Anlagen. Beispiele dafür sind der Schrein Hyeon-

Künstler inspiriert. Der Nationaldichter Yi Yuk-sa (1904-1944) ver-

jeol-sa, der zum Gedenken an die Loyalität von drei gelehrten Hof-

fasste während der japanischen Kolonialherrschaft das Gedicht

beamten errichtet wurde, die der Qing-Dynastie die Gefolgschaft

Namhansanseong, in dem er seinen Traum von der Unabhängig-

verweigerten und dafür hingerichtet wurden, oder Sungyeoljeon, der

keit des Landes thematisierte. Der zeitgenössische Schriftsteller

Schrein zu Ehren von König Onjo (18 v. Chr.-28 n. Chr.), Gründer des

Kim Hoon (geb. 1948) ließ in seinem Roman Namhansanseong Cha-

Baekje-Reichs, und der Zuständigen für den Festungsbau. Zu nen-

rakterere wiederauferstehen, die von der Geschichte der Schande

nen ist auch Cheongnyangdang, ein Schrein zu Ehren all derer, die

und dem dramatischen Wandel von politischen Konstellationen und

im Zuge des Festungsbaus ihr Leben lassen mussten und für deren

Gesellschaft mitgerissen wurden.

Seelen ein schamanistisches Gut-Trostritual abgehalten wird. Vor

Namhansanseong ist ein Ort, an dem man die Vergangenheit über-

Cheongnyangdang steht ein 350 Jahre alter Wacholderbaum, unter

winden, verstehen lernen und nach vorne schauen kann. Es ist gera-

dem die Bewohner zu den Göttern beteten. Erhalten ist auch noch

de der Ort, wo wir aus der Schande, dass der König vor den Invaso-

der Pavillon, in dem sich die adligen Yangban erholten und ihren Stu-

ren einen Kotau machte, lernen, wie unbarmherzig die Geschichte ist

dien nachgingen, sowie Spuren des Marktes, der vor dem Pavillon

und uns angesichts des Todes der drei Gelehrten bewusst machen,

Yeonmugwan stattfand, wo die Soldaten ihre militärischen Übungen

was Ehre und Rechtschaffenheit bedeuten, ein Ort, an dem der Atem

machten.

des Menschen zu spüren ist. Die Aufnahme von Namhansanseong in die Liste des UNESCO-Welterbes wird eine weitere wertvolle Gele-

Spuren der Geschichte für heute

genheit bieten, über das materiell Sichtbare hinaus die immateriellen

Die entlang der Festungsmauer angelegten Rundwege, von denen

Dimensionen der Festung zu erleben.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 27


KUNSTKRITIK

Good Morning, Mr. Orwell von 1984 bis 2014 Lim San

Professor, Department of Curatorial Studies and Art Management, Dongduk Women’s University

© Nam June Paik Cultural Foundation

1

Je bequemer die Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung wird, desto mehr gewöhnen wir uns an die Klischees der uniformen Realität. Diese Klischees, mit denen TV-Nachrichten, Zeitungen oder kommerzielle Filme übervoll sind, treten mal in Form prächtiger Bilder, mal in Form leicht-bekömmlicher Worte an uns heran. Sie besitzen eine negative Magie, die uns die entmenschlichende Realität vergessen oder den Widerspruch als reine Illusion empfinden lässt. Haben uns aber nicht schon die großen Intellektuellen, derer sich die Menschheit rühmt, wie Franz Kafka, James Joyce und Charlie Chaplin die Erhabenheit der Kunst demonstriert, mit der wir diese Art von Bedrohung bekämpfen können? Will man an dieser Stelle einen weiteren Künstler erwähnen, dann wäre das Nam June Paik.

28 KOREANA Winter 2014


2

1. Bildschirmfoto aus Nam June Paiks Good Morning, Mr. Orwell (1984) 2. Good Morning, Mr. Orwell (1984) wurde in voller L채nge auf der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014 gezeigt, die versuchte, Paiks Botschaft f체r die heutige Zeit neu zu entdecken.


N

am June Paik (1932-2006) erzählte als Lite-

elektronische Eigenschaften des Fernsehens an, woraus

rat, Ingenieur und Prophet von Zeitaltern und

sich später dann die Grundlagen für eine herausfordern-

Kunst. Er überschritt nicht nur freigeistig die

de Medienkunst entwickelten.

traditionellen Grenzen von Musik und Kunst, sondern

Paiks künstlerischer Geist wird im Nam June Paik Art

präsentierte auch durch „Text“ als Medium in vielfälti-

Center in Yongin, Provinz Gyeonggi-do in verschiede-

ger Weise das Spektrum seiner kreativen Seele, das in

ner Form wiederbelebt. Ein Beispiel dafür ist die jüngste

seinen visuellen Images und Tönen enthalten ist. Irmeli-

Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014 . In Erinne-

ne Lebeer, die unter dem Titel Paik: Du Cheval à Christo

rung an die TV-Show Good Morning, Mr. Orwell, mit der

et autres écrits (1993) eine Sammlung der von Paik über

sich Paik am 1. Januar 1984 versuchte, zielte man dar-

einen Zeitraum von 35 Jahren verfassten Artikel, Briefe,

auf ab, die damalige Botschaft des Künstlers für unser

Partituren und Szenarien herausgab, sagte, dass Paiks

heutiges Zeitalter neu zu entdecken. Entsprechend zog

Schriften von seinem endlosen Verlangen nach weitem

das Exponat Good Morning, Mr. Orwell, das die vor drei-

Raum und Freiheit durchtränkt sind und er nicht länger

ßig Jahren ausgestrahlten Fernsehbilder der Show prä-

in die Grenzen einer Sprache eingesperrt werden könne.

sentierte, die größte Aufmerksamkeit der Besucher auf

Damit drückte sie ihre Bewunderung über Paiks kraft-

sich. 1984 wurde die Show live per Satellit in Seoul, New

volle Prosa aus. Als Pionier verschiedener Genres wie

York, Paris und Berlin ausgestrahlt, sodass Zuschau-

Performance-Musik, Videoskulptur und Medien-Per-

er in aller Welt ein Kunsterlebnis miteinander teilen

formance wandte Paik außerdem die technische Logik

konnten. Rund hundert Künstler, darunter die New Yor-

der damaligen elektronischen Technologie auf die Kunst

ker Avantgardisten John Cage und Merce Cunningham,

an. Seine Fähigkeit, naturwissenschaftlich-technische

Popularmusiker wie Yves Montand und die Band Oingo

Kenntnisse anzuwenden, wurde in Kombination mit sei-

Boingo nahmen mit diversen Performances an die-

nem literarischen Talent zum inspirativen Antriebsmo-

sem Projekt teil. Diese knapp einstündige Performance

tor für eine Kunst, die die auf der gegenwärtigen Rea-

gewährte dem Publikum einen Blick in eine Zukunft, in

lität beruhende Vorstellungskraft überschritt, um die

der die Medien „kommunizieren“ statt zu „kontrollieren“.

Zukunft vorauszusagen.

Das Motiv war direkt aus George Orwells dystopischen,

Wechselbeziehung und Wechselwirkung

zeichnet darin die Zukunft einer totalitären Gesellschaft,

Nam June Paiks kreativ-experimentaler Geist nahm

die Medien wie Teleschirme und Mikrofone zu Überwa-

während seines Aufenthalts in Deutschland konkre-

chung und Diktatur nutzt und durch die Amtssprache

te Gestalt an. 1932 in der südkoreanischen Hauptstadt

Neusprech die Freiheit der Menschen einschränkt. Im

Seoul geboren, floh Paik nach dem Ausbruch des Korea-

Mittelpunkt des Totalitarismus steht der Große Bruder.

kriegs 1950 nach Japan, wo er sein Studium der Musik-

Paik betrachtete Orwells Prophezeiung als „nur halb

und Kunstwissenschaften an der Universität Tokio mit

richtig“ und demonstrierte der ganzen Welt das künst-

einer Arbeit über die Musikästhetik des österreichischen

lerische Potential von Medien und Sprache, das Orwell

Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951) abschloss.

nicht erkannt hatte.

1949 veröffentlichten Roman 1984 entlehnt. Orwell

Darauf folgte seine „Deutschland-Phase“, während der er von 1956 bis 1963 viel Neues lernte und unermüdlich

Die Zukunft der kommunizierenden Medien

umsetzte. Zu dieser Zeit propagierten viele, von Schön-

Die monumentale Bedeutung von Good Morning, Mr.

berg beeinflusste junge Musiker mit verschiedenen

Orwell wurde von anderen Künstlern derselben Periode,

Arten von Konzertdarbietungen und Bildungsprogram-

die an der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014

men die „Neue Musik“, während Avantgardekünstler

teilnahmen, neu beleuchtet. Sie stellten Betrachtun-

mit der Interaktion von Musik und Malerei, Körper und

gen über das technologische Potential der Medien sowie

Klang sowie Mensch und Maschine experimentierten.

deren gesellschaftlichen und politischen Einfluss an,

Vor dem Hintergrund dieses progressiven künstleri-

enthüllten den „Großen Bruder“ und widersetzten sich

schen Umfelds beleuchtete Paik 1963 auf seiner ersten

ihm, der ein der heutigen Zeit entsprechendes Gesicht

Ausstellung in der ihm eigenen, originären Sprache die

trägt. So Much I Want to Say, die 1-Kanal Videoinstal-

versteckten Beziehungen zwischen Medien und Gesell-

lation der palästinensisch-britischen Künstlerin Mona

schaft. Dafür wandte er Kommunikationsmethoden und

Hatoum, dokumentierte z.B. die Stimme einer Frau, die

30 KOREANA Winter 2014

1, 2. Good Morning, Mr. Orwell (1984) war eine internationale satellitengestützte Performance, die am 1. Januar 1984 ausgestrahlt wurde. Bei dem Event wurden WNET TV in New York und das Centre Pompidou in Paris via Satellit verbunden und an Sender in Südkorea und Deutschland angeschlossen. Die Show zeigte verschiedene Performances von über 100 Künstlern aus aller Welt.


1 2


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3 4

32 KOREANA Winter 2014

1. Pointing at Fukuichi Live Camera, (Mit dem Finger in die LiveKamera zeigender Arbeiter in Fukushima, Japan), 2011, 1-Kanal Video, Farbe, Ton, 24 Min. 50 Sek. 2. Counter-Music, (Harun Farocki, Deutschland), 2004, 2-Kanal Video, Farbe, Ton, 25 Min. 3. P R, (Liz Magic Laser, USA), 2013, 5-KanalVideoinstallation, 17 Min. 4. S o Much I Want to Say, (Mona Hatoum, Lebanon), 1983, 1-Kanal Video, schwarzweiĂ&#x;, Ton, 5 Min.


Die Exponate der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014 widerlegen die brutale Herzlosigkeit, auf die der Mensch in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft nolens volens stößt. Sie fordern zudem statt eines Herumlavierens um diese Herzlosigkeit ein dynamisches, anspruchsvolles Bewusstsein und lassen uns nachdenken über das Potential und die Verantwortung der künstlerischen Freiheit, die Paik vor dreißig Jahren durch LiveSatellitenübertragungen an alle Weltbürger vermittelte. In diesem Sinne erinnert uns diese Ausstellung daran, warum die Kunst Nam June Paiks auch in unserer Zeit immer noch Gültigkeit besitzt und notwendig ist. sich von der Unterdrückung zu befreien versucht. Die für

Künstlerkollektiv JODI, Pionieren der Erforschung der

dieses mit nur etwa fünf Minuten relativ kurze Werk ver-

interaktiven Besonderheiten von Medien. Gegenstand

wendete Slow-Scan-Technik, bei der mit Ton unterlegte

der Experimente war dabei das Ausloten des Interak-

Momentaufnahmen übertragen werden, mag zwar sim-

tionspotentials der kommunizierenden Kunst in einer

pel erscheinen, bringt jedoch das Thema kompakt zum

vernetzten Gesellschaft. Solche künstlerischen Heraus-

Ausdruck. Das Werk nutzte auch die Methode der Satel-

forderungen unterstreichen die Rolle des Künstlers, der,

litenübertragung. So wie Paik das Medium „Satellit“,

wie Paik in seinem Essay Art & Satellite (1984) erwähnt,

das sich während des Kalten Krieges unter der strengen

in seiner Epoche „nicht nur neue Relationen zwischen

Kontrolle und Überwachung der Regierungen befand,

verschiedenen Gedanken entdecken, sondern ein Netz-

in ein mysteriöses Instrument des Experimentierens

werk zwischen ihnen aufbauen“ sollte.

verwandelte, um herauszufinden, ob der Dialog mittels Kunst Ort und Zeit transzendieren kann, ist Hatoums

Die Kraft der Kunst, die Realität zu überwinden

Werk ein Ruf nach künstlerischem Entkommen aus dem

Die Exponate von Good Morning, Mr. Orwell 2014 wider-

eisernen Griff der Medien über die Gesellschaft.

legen die brutale Herzlosigkeit, auf die der Mensch in

Auf der Ausstellung vertreten waren auch Künstler, die

einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesell-

Überwachung und Zensur, vor denen Orwell gewarnt

schaft nolens volens stößt. Sie fordern zudem statt eines

hatte, kritisch thematisierten. Die US-amerikanische

Herumlavierens um diese Herzlosigkeit ein dynami-

Künstlerin Jill Magid setzte sich in Liverpool absichtlich

sches, anspruchsvolles Bewusstsein und lassen uns

den Augen von Überwachungskameras aus und produ-

nachdenken über das Potential und die Verantwortung

zierte ein Video aus den „offiziellen“ Überwachungsma-

der künstlerischen Freiheit, die Paik vor dreißig Jahren

terialien ihrer Person. Der thailändische Videokünst-

durch Live-Satellitenübertragungen an alle Weltbürger

ler und Drehbuchautor Sompot Chidgasornpongse hat

vermittelte. In diesem Sinne erinnert uns diese Ausstel-

Filmszenen, die der Zensur der thailändischen Regie-

lung daran, warum die Kunst Nam June Paiks auch in

rung zum Opfer gefallen waren, zu einem Film zusam-

unserer Zeit immer noch Gültigkeit besitzt und notwen-

mengestellt. Ebenfalls zu sehen war das Werk Stereo-

dig ist. Der „Mensch“ mag, wie Orwell befürchtete, auf-

scope (1999) des südafrikanischen Künstlers William

grund der Verbreitung der Medien und der von oben ver-

Kentridge. Mit seinen einzigartigen stereoskopischen

breiteten klischeehaften Informationen verloren gegan-

Zeichnungen bringt Kentridge in seinem Animationsvi-

gen sein. Aber wenn wir zu definieren versuchten, was

deo die mechanische Struktur der Kommunikationsme-

wieder zurückgewonnen werden sollte, dann wäre das

dien, die damals das Leben der Massen zu durchdrin-

nicht einfach die holistische Form des verloren gegange-

gen begannen, zum Ausdruck und beschreibt die daraus

nen Menschen. Viel dringender nötig sind Bemühungen,

resultierenden emotionalen Defizite und Begierden.

die „menschlichen“ Beziehungen, die sich angesichts

Paiks 1984 machte aus der eingleisigen Übertragungs-

der Veränderungen von Medien und Sprachen heraus-

weise des Fernsehens einen Zwei-Wege-Kanal, entzog

bilden, reifer zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist

ihm damit seine hierarchische Macht und schlug ein

der künstlerische Geist von Nam June Paik für die Men-

alternatives TV-Sendemodell vor. Das Tele-communi-

schen des modernen Zeitalters weiterhin eine Quelle

cation Café und das Web Art Café präsentierten auf der

der Kraft zur Überwindung der Realität und lebt daher

Ausstellung 2014 in diesem Sinne Videoarbeiten von

immer noch in unserer Mitte weiter.

Künstlern wie Douglas Davis und dem niederländischen

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 33


INTERVIEW

Noh Sun-tag

Durch Fotos Fragen stellen und Antworten an der Grenzlinie finden Song Su-jong

Unabhängige Ausstellerin

Der Fotokünstler Noh Sun-tag (geb. 1971) wurde für seine Fotoausstellung Sneaky Snakes in Scenes of Incompetence (2014) mit dem Korea Artist Prize, der jährlich vom Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) und der SBS Foundation zur Förderung der koreanischen Kunst verliehen wird, ausgezeichnet. Noh, der damit offiziell als kompetenter Künstler sowie Repräsentant der modernen koreanischen Kunst anerkannt wurde, versucht nicht, die Probleme der koreanischen Gesellschaft einfach als ideologische Konfrontation zu interpretieren. Er weckt vielmehr dadurch Empathie, dass er sich ihnen als universale Probleme des Menschen nähert und sie mit seinem Sinn für Ästhetik visualisiert.

N

oh Sun-tag ist ein Fotograf, der die Teilung der koreanischen

das schallende Gelächter und das zynische Grinsen ausgraben und

Halbinsel stets kritisch unter die Lupe genommen hat. Er

so eingreifen, um die aktuelle Polizität zum Ausdruck zu bringen.

begann seine Karriere als Fotojournalist und veröffentlichte

Das alles ist aber gar nicht so einfach.

seine Arbeiten in Form von Ausstellungen bzw. Fotobänden, darun-

ter Smells like the Division of the Korean Peninsula (2004-2005), Red

Song: Der größte Teil Ihrer preisgekrönten Ausstellung zeigt nicht

House (2007) und State of Emergency (2008), sowie der Fotoserie

den Schauplatz eines Ereignisses an sich, sondern die Fotografen,

the strAnge ball (2006). Das Thema, das sich durch all seine Werke

die ihn verewigt haben. Was ist der Grund für Ihr beständiges Inter-

zieht, ist die Frage, wie die Ideologie der Teilung in der koreanischen

esse an dieser Dokumentation?

Gesellschaft funktioniert. Daher können seine Arbeiten nicht vom

Noh: Meine Ausstellung Sneaky Snakes in Scenes of Incompe-

politischen und gesellschaftlichen Kontext getrennt werden. Nach

tence beruht auf unzähligen Szenen gesellschaftlicher Konflikte und

über 60 Jahren der Teilung haben wir uns zwar an die Teilung und die

Zusammenstöße, die in den letzten etwa zehn Jahren die Stimmung

daraus resultierenden Spannungen und Probleme gewöhnt, doch

in der koreanischen Gesellschaft aufgeheizt haben. Sie umfassen die

beeinflusst diese Realität immer noch viele Bereiche unseres All-

Gegenwart unserer Gesellschaft: von den Demonstrationen gegen

tags. Als Gewinner des Korea Artist Prize 2014 hielt Noh am 26. Sep-

die Erweiterung eines US-Militärstützpunktes in Daechu-ri sowie

tember im MMCA Gwacheon eine Gesprächsrunde mit dem Publi-

den Bau eines nationalen Marinestützpunktes in Gangjeong auf der

kum. Im Anschluss daran erfolgte das Interview.

Insel Jeju-do über die Menschenleben fordernde Brandkastastrophe in Yongsan während der Streiks gegen das Sanierungsprojekt

Song Su-jong: Bitte stellen Sie Ihre Arbeit etwas vor.

der Stadt Seoul, die Massenentlassungen bei Ssangyong Motors,

Noh Sun-tag: Ich erforsche, wie der Koreakrieg in unserer Realität

die durchgepaukte Einrichtung von Atomstromleitungen in Miryang,

weiterlebt. Wir haben den Krieg und die Teilung des Landes als fixes

die mutmaßliche Versenkung der Korvette Cheonan durch Nordko-

Kapitel der Geschichte einverleibt und sie hin und wieder zu unse-

rea und Nordkoreas Artillerieangriff auf die südkoreanische Insel

rem eigenen Nutzen interpretiert. Ein Beispiel dafür ist die politische

Yeonpyeong-do bis hin zu dem tragischen Unglück der Fähre Sewol.

Macht, die sich der Teilung des Landes bedient. Ich möchte durch

Es sind grauenhafte Szenen. Ich meine jedoch, dass sie nicht durch

meine Arbeit aus den Rissen in dieser Macht den Wahnsinn und das

Grausamkeit, sondern durch Inkompetenz verursacht wurden. Wer

Schweigen, die dadurch bewirkten Vorteile und die Schäden sowie

sind diese Menschen, die mit ihren Kameras durch diese „Szenen

34 KOREANA Winter 2014


Noh Sun-tag will durch seine Fotos, in denen er Szenen von gesellschaftlichen Konflikten und Zusammenstößen über Streitfragen festgehalten hat, bedeutungsreiche Botschaften vermitteln. (Sneaky Snakes in Scenes of Incompetence - XIII050101P, 2013)

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 35


1

der Inkompetenz“ ihr jeweiliges Ziel verfolgen? Wie funktioniert Foto-

Posen ein, um ihre Bilder zu schießen. Aber auch wenn die Fotos ein

grafie? Sind Fotos, die als transparent, objektiv und unparteiisch gel-

und dieselbe Szene einfangen, steckt die Botschaft nicht in den Bil-

ten, wirklich zuverlässig? Selbst wenn die Fotografie „kompetent“

dern an sich, sondern ist abhängig vom jeweiligen Kontext. Die Foto-

ist, bedeutet diese Kompetenz dann das Gegenteil von „Inkompe-

grafie ist ein vages Medium. Es ist weder genau, objektiv, transpa-

tenz“? Das vor 175 Jahren erfundene, relativ „neue“ Medium Foto-

rent noch unvoreingenommen. Auch dieselben Fotos werden je nach

grafie, das über diese „inkompetenten Szenen“ wie eine Schlange

Kontext völlig anders interpretiert.

schlittert, ist das Thema dieser Ausstellung. Song: Sie sind der erste Fotograf, der vom MMCA mit dem Korea Song: In den Fotos trägt jeder eine Kamera. Welche Bedeutung hat

Artist Prize ausgezeichnet wurde. Dass dieser symbolhaltige Preis

die Fotografie für Sie? Und was bedeutet Fotografie in unserem

für beachtenswerte Künstler der Moderne an einen Fotografen

Zeitalter?

ging, ist von tiefer Bedeutung.

Noh: Die Menschen, die vor Ort mit der Kamera dabei sind, fotogra-

Noh: Besonders dankbar bin ich, dass von den Personen auf meinen

fieren die Ereignisse aus ihrem eigenen Blickwinkel. Ich habe stets

Fotos Glückwünsche kamen. Da meine Fotos meist bei Demos oder

über die unzähligen Möglichkeiten nachgedacht, Fotos zu produ-

an Schauplätzen von Ereignissen mit Negativschlagzeilen aufge-

zieren, die zwar ähnlich sein mögen, aber niemals gleich. Die Fotos

nommen wurden, ist es nicht gerade erfreulich, als Protagonist fest-

sind auch nicht unbedingt schön oder großartig. Auch wenn das Foto

gehalten worden zu sein. Dass das eigene Konterfei dann auch noch

großartig ist, hat der Produktionsprozess nichts Großartiges an sich.

an den schönen Wänden eines Kunstmuseums präsentiert wird,

Ich wollte den ganzen Produktionsprozess beleuchten, insbesonde-

dürfte auch nur bedingt erfreulich sein. Worte der Gratulation und

re, wie die Szenen gesellschaftlicher Konflikte vor Ort in Form von

Ermutigung kamen von vielen, die Glückwünsche meiner unfreiwilli-

Bildern Gestalt annehmen. Vor Ort sind alle Fotografen mit ähnlichen

gen Hauptdarsteller haben mich aber besonders gefreut, erfüllen sie

Kameras ausgerüstet und nehmen ähnliche oder ungewöhnliche

mich doch mit Bedauern und Dankbarkeit.

36 KOREANA Winter 2014


2

1. In seiner Doku-Serie fängt Noh seine Fotografen-Kollegen auf der Jagd nach schlagzeilenkräftigen Fotos ein und erfasst so den Schauplatz der Konfrontation aus seiner eigenen Perspektive und Bildsuche. (Sneaky Snakes in Scenes of Incompetence - XIII050101P, 2013) 2. Einwohner von Daechu-ri, Pyeongtaek, Provinz Gyeonggi-do geraten beim Protest gegen die Erweiterung eines amerikanischen Militärstützpunkts mit der Einsatzpolizei aneinander. (the strAnge ball - 29, 2005)

Song: Sie haben als Fotojournalist begonnen und suchen auch

Fragen zu finden.

heute noch aktuelle Schauplätze auf und bleiben zum Fotografieren. Interessant ist, dass Sie auch selbst Berichte schreiben und

Song: Ihre Fotos halten einen ziemlichen Abstand von den Dingen,

bei Ihren Ausstellungen viel mit Text arbeiten. Daher sind viele

statt klare Statements zu geben. Gab es irgendwann einen Wende-

neugierig auf Ihre Identität.

punkt, eine Motivation, die Sie zu Ihrer eigenen Stimme und Ihrem

Noh: Tatsächlich verdanke ich bei meiner Arbeit viel den aktuellen

eigenen Stil gebracht haben?

Schauplätzen. Die Leute auf meinen Fotos wie die Demonstranten

Noh: Das war, als der Konflikt wegen der Erweiterung des US-Mili-

in Maehyang-ri, Daechu-ri und Gangjeong oder die bei den Massen-

tärstützpunktes in Daechu-ri eskalierte. Priester Moon Jung-hyun,

entlassungen von Ssangyong rufen in manchen Momenten nach

mit dem ich gut befreundet bin, hatte mich gebeten, ein Wochenend-

Hilfe. Wenn der Ernst der Lage es verlangt, schreibe ich auch schon

Fotostudio im Dorf einzurichten. Später habe ich dort auch kurz

mal Berichte online. Wenn nötig, unterstütze ich sie mit Fotos für

gewohnt. Irgendwann habe ich einen riesigen weißen Ball bemerkt,

ihre Aktionen oder nehme selbst daran teil. In diesem Sinne bin ich

der von überall im Dorf zu sehen war. Auch von den älteren Dorfbe-

immer noch Journalist und auch Aktivist. Ich möchte auch nicht län-

wohnern wusste keiner, was das war. Einer sagte, es sei ein Was-

ger leugnen, dass ich das alles bin. Aber ich fühle die Notwendig-

sertank. Während ich relevante Materialien im Internet postete

keit, darüber nachzudenken, woher diese Realität, deren Zeuge ich

und Informationen sammelte, fand ich heraus, dass es sich um ein

bin, rührt. Es gibt einiges, das nie in Form eines Berichts aufgezeigt

Aufklärungs-Radom des US-Militärs handelte. Dieses Ding, das

werden kann. Nicht die Gesamtumstände eines Vorfalls interessie-

Aufklärungs- und Kriegsgerät in einem war, ähnelte einem Voll-

ren mich, sondern die grundlegende Frage, warum es so kommen

mond, einem Golfball oder tatsächlich auch einem Wassertank. Sein

musste, wie es gekommen ist. Die verborgene Innenseite lässt sich

Anblick erinnerte mich an uns, die wir unter Überwachung und Kon-

nicht durch eine rein erklärende Methode zutage fördern. Ausstel-

trolle der Mächte leben, als sei gar nichts dabei. Das Ganze kam mir

lungen sind für Künstler wie mich eine Methode, Antworten auf diese

etwas absurd und lächerlich vor. Ich habe den Ball aus möglichst

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 37


1

2

38 KOREANA Winter 2014

1. Ein kleiner Ausschnitt der Menschenmassen, die die Straßen Seouls füllten, um dem früheren Präsidenten Roh Moo-hyun bei seinem Staatsbegräbnis das letzte Geleit zu geben. Dazu gehörten auch traditionelle Riten, die am 29. Mai 2009 auf dem Seoul Plaza abgehalten wurden. (StringPulling Theory: An excellent mystery of the great wall made by 2MegaByte - IX052901, 2009) 2. Gigantische Stapel von Frachtcontainern versperren Demonstranten den Zugang zu den Hauptstraßen der Seouler Innenstadt.. (String-Pulling Theory: An excellent mystery of the great wall made by 2MegaByte - VIII061003, 2008) 3. Noh Sun-tag ist ein Fotojournalist, der politische und gesellschaftliche Ereignisse im Korea von heute durch seine Dokumentarfotografie festhält. Auch wenn seine FotoserienArbeiten auf Szenen erbitterter Konfrontation fokussieren, zeugen sie doch von tiefer Kontemplation und beißendem Humor.


© Park Seung-hwa

Ich kann nicht sagen, dass Fotos die Realität repräsentieren, und ich glaube auch nicht, dass das, was wir sehen, der Ablauf von Ereignissen ist. Unsere Gesellschaft scheint zwar richtig zu funktionieren, aber manchmal wird auch eine Fehlfunktion mit einer richtigen Funktion verwechselt. Solche Fehlfunktionen haben stets meine Aufmerksamkeit erregt. Ich habe versucht, solche Irrtümer näher zu betrachten und in meinen Fotos den schwarzen Humor einzufangen, der witzig und traurig zugleich ist. Daher sind die Realität, die sich in meinen Augen widerspiegelt, und der Blick, den ich als Fotograf auf diese Realität werfe, wie die zwei Schneiden eines Schwertes. Ich befasse mich mit Fotografie, verbohre mich in sie und studiere sie, aber ich kann nicht ihr Sprecher sein. Genau so wenig bin ich imstande, die Realität als Ganze zu ändern, oder alles zu durchdringen und zu zeigen, auch wenn ich die Welt in Bildern festhalte. Sicher ist, dass auch in Zukunft die aktuellen Schauplätze die Grundlage meiner Arbeit sein werden. Es ist aber nicht leicht, vor Ort zu sein und alles mit Körper und Seele aufzunehmen.

3

Song: Letzte Frage: Ein Kritiker meinte, dass die Wahrhaftigkeit Ihrer Arbeit in Ihrem endlosen Zweifeln liege. Mit welcher Haltung sehen Sie die Welt oder sich selbst als Fotograf?

unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen, um möglichst viele

Noh: Seit Jahren verfasse ich für ein wöchentlich erscheinendes

Interpretationen zu ermöglichen. Es war das erste Mal, dass ich

Filmmagazin eine Kolumne mit dem Titel Die Haare des Fotos. Haare

mich von meinem erklärenden Arbeitsstil losmachte.

sind natürlich nur Haare, jedoch gibt es keine Haare, die nicht aus dem Körper wachsen. In diesem Sinne sind Fotos die Haare der Welt,

Song: Hauptgegenstand Ihrer Arbeit sind die bitteren Aspekte, die

nicht der Körper. Aber sie stammen aus dem Körper. Auf Basis die-

sich aus der Teilung des Landes ergeben haben. Oder Menschen,

ser eindeutigen Tatsache kann der Körper ausfindig gemacht wer-

die gesellschaftlich oder wirtschaftlich an den Rand gedrängt wur-

den. Ich kann nicht sagen, dass Fotos die Realität repräsentieren,

den. Diese Ausstellung fokussiert auf Fotografen, die diesbezügli-

und ich glaube auch nicht, dass das, was wir sehen, der Ablauf von

che Szenen vor Ort festhalten. Was bedeutet für Sie „vor Ort“?

Ereignissen ist. Unsere Gesellschaft scheint zwar richtig zu funktio-

Noh: Ich bin immer neugierig, wenn ich mich vor Ort begebe: Was

nieren, aber manchmal wird auch eine Fehlfunktion mit einer richti-

passiert dort gerade? Wie wird es in den Medien übertragen? Ich

gen Funktion verwechselt. Solche Fehlfunktionen haben stets meine

interessiere mich mehr für die Niederträchtigkeit der einen als die

Aufmerksamkeit erregt. Ich habe versucht, solche Irrtümer näher zu

Armseligkeit der anderen, versuche die Funktionsstörung im Funkti-

betrachten und in meinen Fotos den schwarzen Humor einzufangen,

onieren des Staats aufzudecken, eines Staats, der gestreng verpackt

der witzig und traurig zugleich ist. Eigentlich versuche ich nur, diese

oder von Ordnung bestimmt zu sein scheint. Es ist eine Art Spötte-

Welt auf meine Weise zu zeigen. Ich bin jemand, der etwas verloren

lei, ein bitteres Lächeln. Ich achte darauf, wie die Machthabenden

hierhin und dorthin läuft und habe auch keine grundfesten Über-

Dinge dokumentieren, um ihre Dokumentationen anzukratzen. Es ist

zeugungen, weder über Menschen, über die Gesellschaft noch über

sozusagen eine kleine Gegenoffensive, um auszudrücken, dass „das,

Fotos. Ich frage mich sogar, wer ich wirklich bin. Vielleicht sind Fotos

was ihr da macht, nicht nur so weitererzählt wird, wie ihr euch das

ein Instrument, auf all das zu blicken. Während ich immer betrachte,

wünscht“. Ich bin nur ein Fotograf, der seine schon immer geheg-

bezweifle und zögere, verbinde ich Gedanken mit Gedanken, bin mir

ten Fragen durch Fotos darzustellen und zu beantworten sucht.

aber nicht sicher, was das bedeuten soll.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 39


1

MODERNE WAHRZEICHEN

Das Hirotsu-Haus in Gunsan

Überbleibsel der modernen Geschichte Koreas Roh Hyung-suk

Journalist, Tageszeitung The Hankyoreh

Gunsan, eine am Westmeer gelegene Hafenstadt im Südwesten Koreas, gehört zu den Städten mit einer besonders hohen Konzentration an Gebäuden aus der Zeit der frühen modernen Geschichte des Landes. Dies geht darauf zurück, dass die Japaner nach der Öffnung des Hafens Gunsan im Jahre 1899 von hier aus Reis und Mineralien aus Korea in ihre Heimat schifften. In der Gegend entstanden auf natürliche Weise Gebäude, die die Japaner für ihre Zwecke benötigten, und viele der ersten Bauten aus dieser Zeit prägen bis heute das Stadtbild. 40 KOREANA Winter 2014


es sich um kein gewöhnliches Haus handelt. Als erstes zieht die massive ockerrote Einfrie-

dungsmauer, gedeckt mit gebrannten Dachziegeln, den Blick auf sich. Dahinter erhebt sich eine Residenz mit zwei Gebäuden, eins davon zweistöckig, wobei diese miteinander verbundenen Gebäude drei Arten von Ziegeldächern aufweisen: Giebel-, Walm- und Fußwalmdach. Das üppige Dunkelgrün der Bäume, das zwischen Einfriedungsmauer und Hausdächern aufragt, vermittelt ein gewisses Gefühl der stillen Geborgenheit. Seltsamerweise ist das Haupttor des Anwesens jedoch so klein wie ein Pförtchen und kaum zu sehen. Denn es ist versteckt in der Schmalseite einer einspringenden Ecke, die von zwei langen, längs verlaufenden Teilen der Einfriedungsmauer gebildet wird. Das Anwesen ist im YashikiStil (Herrenhaus-Stil) angelegt, dem typischen Stil einer Residenz der japanischen Samurai-Krieger in der Sengoku-Zeit der Streitenden Reiche im 16. Jh. Dieses weit-

© Korea Tourism Organization

S

chon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass

1. Die in Sinheung-dong in der Sadt Gunsan gelegene Hirotsu-Residenz wurde im Yashiki-Stil errichtet, der typisch für die japanischen Samurai-Herrenhäuser aus dem 16. Jh ist. Als der Hafen Gunsan im späten 19. Jh für den internationalen Handel geöffnet wurde, diente die Stadt als Stützpunkt für viele in Korea lebende Japaner. Ein Teil der damals im japanischen Stil errichteten Häuser ist bis heute erhalten. 2. Hinter dem kleinen, in der Schmalseite einer einspringenden Ecke der imposanten ockerroten Einfriedungsmauer eingelassenen Haupttor erstreckt sich ein lauschiger und unerwartet großer Garten.

2

läufige japanische Herrenhaus befindet sich am Westmeer in der Hafenstadt Gunsan in der Provinz Jeollabuk-

Im Hafengebiet bauten die Japaner ein modernes Stadtzentrum auf,

do. Konkreter gesagt liegt es in 58-2, Sinheung-dong in

das u.a. aus der Bahnstation der mittlerweile stillgelegten Gunsan-

Gunsan, einem bei den japanischen Expats der Koloni-

Hwamul (Fracht)-Linie, der ehemaligen Zollbehörde, der Gunsan-

alzeit beliebten Viertel. Gebaut als Wohnhaus für den

Zweigstelle der einstigen Bank of Chosen (Vorläufer der Bank of

wohlhabenden japanischen Kurzwarenhändler Hirotsu

Korea; registr. Kulturgut Nr. 374) und einigen Geschäften bestand.

Keisaburo, ist es bis heute als „Hirotsu-Haus“ bekannt.

Etwas weiter landeinwärts vom Hafen erstrecken sich auf einem sonnigen Hügel die Viertel Sinheung-dong und Wolmyeong-dong,

Gunsan - Schatzkammer des neuzeitlichen architektonischen Erbes

wo sich viele einflussreiche und wohlhabende Japaner stattliche

Im Viertel Sinheung-dong in Gunsan reihten sich die

herrschaft 1945 wurde der Handelsaustausch mit Japan und China

Residenzen von einflussreichen Japanern, die vor 70 bis

unterbrochen, sodass Gunsan einen Niedergang erlebte. In einem

80 Jahren hier lebten, dicht an dicht. In der weitläufi-

merkwürdigen Paradox wurde die Stadt gerade deshalb von den

gen, schachbrettartig angelegten Wohngegend ist auch

destruktiven Nebenerscheinungen der raschen Industrialisierung

heute noch eine beträchtliche Anzahl von Häusern im

und Entwicklung des Landes verschont, sodass zahlreiche Bauwer-

japanischen Stil erhalten. Noch bis in die 1970er Jahre

ke aus der frühen Moderne gut erhalten geblieben sind.

soll es ein besseres Wohnviertel gewesen sein, in dem

Unter den Häusern im japanischen Stil in Sinheung-dong ist das

nur schwer Mietobjekte zu finden waren. Heute sieht es

Hirotsu-Haus das einzige, dessen ursprüngliche Form fast unverän-

hier jedoch wie in einer normalen städtischen Wohnge-

dert erhalten ist. Hirotsu Keisaburo, der Bauherr, betrieb in Gunsan

gend in Japan aus.

ein Textilgeschäft und einen kleinen Bauernhof. Anders als ande-

Mit der Öffnung des Hafens machten die Japaner Gun-

re wohlhabende Japaner in Gunsan, die große Bauernhöfe besa-

san zum Stützpunkt für den Transport von Gütern aus

ßen, kam er durch den Handel zu Vermögen. Er baute das Haus in

dem damaligen Königreich Joseon (1392-1910) in ihre

den 1920er Jahren mit fast ausschließlich aus Japan importierten

Heimat. Als Folge davon wurde Gunsan zu einem Zent-

Baumaterialien. Hirotsu wollte wohl nicht nur seinen Reichtum,

rum der japanischen Niederlassungen in Korea. Auf die

sondern auch seinen verfeinerten Geschmack in puncto Architek-

kleinen Inseln im Westmeer blickend, liegt die Hafen-

tur demonstrieren. Das Haupttor ist zwar klein und in einer Seiten-

stadt zwischen der Mündung des Flusses Geum-gang

mauer eingelassen, aber innen ist das Anwesen unerwartet groß.

im Norden und der Mündung des Mangyeong-gang im

Gebäude und Garten harmonieren gut miteinander und das Innere

Süden, zwischen denen sich weite Ebenen erstrecken.

der Gebäude ist elaboriert strukturiert. Struktur und Anordnung

Häuser bauten. Nach der Befreiung von der japanischen Kolonial-

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 41


1

der Gebäude unterscheiden sich kaum von denen der

Erdgeschossräume auf jeden Fall mit Bodenheizung ausstatteten,

Samurai-Residenzen in der Stadt Izuhara auf der Insel

um die kalten koreanischen Winter besser zu überstehen.

Tsushima, im Bezirk Chofu nahe Shimonoseki in der Präfektur Yamaguchi, oder in den traditionellen Vierteln

Architektonische Ästhetik voll schmerzhafter Geschichte

von Kyoto.

Eins der reizvollsten Merkmale des Hirotsu-Hauses ist die Aussicht

Jenseits des Eingangstors liegt ein lauschiger Garten

auf den Garten, die man von den Fluren aus hat, die die Räume im

voller Wacholder-, Kiefern- und Magnolienbäume. Das

Erdgeschoss und im ersten Stock verbinden. Je nachdem, an wel-

zweistöckige Hauptgebäude und der einstöckige Anbau

cher Stelle der langen Flure sich der Betrachter befindet, bietet sich

mit Gästezimmern sind transversal verbunden und bli-

ein anderer Anblick. Der im japanischen Stil gehaltene Garten ist

cken auf den mit Steinobjekten wie Laternen sorgfäl-

mit polierten Steinen, ästhetisch geformten Bäumen und elegan-

tig dekorierten, beschaulichen Garten. Im Inneren des

ten Steinfiguren geschmückt und strahlt eine Schönheit aus, die von

Hauptgebäudes ist in einer der Wände ein einzigartiges,

anderer Art als die der traditionellen koreanischen Gärten ist, bei

rundes Fenster eingelassen, das mit seiner Form und

denen die Natürlichkeit betont wird. Die Familie Hirotsu dürfte sich

dem Bambusgitterdesign an traditionelle chinesische

jeden Tag voller Muße am reizvollen Anblick dieses Gartens erfreut

Fenster erinnert und einen starken Eindruck hinter-

haben, der am Morgen von warmen Sonnenstrahlen durchflutet und

lässt. Da es sich um ein im Stil typisch japanisches Haus

bei Einbruch der Dämmerung vom Glühen des Abendrots erfüllt war.

handelt, würde man erwarten, dass alle Fußböden

Das größte Zimmer des Hauses ist mit Oshiire (tiefer Wandschrank

mit traditionellen Tatami-Reisstrohmatten ausgelegt

zum Verstauen von Futons u.ä.) und Tokonoma (dekorative Wand-

wären, aber sechs der sieben Räume im Erdgeschoss

nische mit Rollbildern und Bonsais) in einem originär japanischen

sind mit dem koreanischen Ondol-Fußbodenheizungs-

Ambiente gehalten. An den Decken der Flure, die mit natürlichen

system ausgestattet. Der Erdgeschoss-Flur führt in

Hölzern von Dachsparren-Dicke ausgekleidet sind, lässt sich erken-

sieben Zimmer, eine Küche, ein Esszimmer, zwei Toi-

nen, mit welch großer Sorgfalt sich der Hausbesitzer um jedes

letten und ein Bad sowie in einen Lagerraum. Die Zim-

Detail bis hin zur Materialauswahl kümmerte.

mer im ersten Stock sind dann aber alle mit Tatami-

Es ist auch interessant, sich die Innenstruktur dieses Hauses

Matten ausgelegt. Man kann vermuten, dass die damals

genauer anzuschauen, die die Einfachheit seiner äußeren Form

in Korea lebenden Japaner beim Bau ihrer Häuser die

Lügen straft: Der Grundriss ist nämlich komplex und fast labyrin-

42 KOREANA Winter 2014


1. Eins der reizvollsten Merkmale des Hirotsu-Hauses ist die Gartenlandschaft, die sich panoramaartig von den verschiedenen Stellen der langen Flure im Erdgeschoss und ersten Stock auftut. Von den Fluren aus gesehen bietet der japanische Garten eine Schönheit, die sich distinktiv von der koreanischer Gärten unterscheidet. 2. Das Haus kombiniert die distinktiven Elemente traditioneller koreanischer und japanischer Architektur: Während die Erdgeschossräume mit Blick auf die kalten koreanischen Winter mit OndolFußbodenheizung ausgestattet sind, sind alle Zimmer im ersten Stock nach japanischem Stil mit Tatami-Matten ausgelegt. 2

Es ist auch interessant, sich die Innenstruktur dieses Hauses genauer anzuschauen, die die Einfachheit seiner äußeren Form Lügen straft: Der Grundriss ist nämlich komplex und fast labyrinthisch wie bei einem mittelalterlichen Festungsbau.

benden Japaners verkörpert, sondern auch dessen ästhetischen Sinn für Raum widerspiegelt, ist es auch als Kulisse für Filme beliebt, die vor dem Hintergrund der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) spielen. In Der Sohn des Generals (The

General‘s Son, 1990) und Tazza: The High thisch wie bei einem mittelalterlichen Festungsbau. Die

Rollers (2006) fungierte das Haus jeweils als Hauptquartier japani-

Räume des Hauses wie Zimmer und Küche miteinander

scher Gangster bzw. als Glücksspiel-Bühne.

verbindend, verlaufen die Flure durch das ganze Haus,

Nach der Befreiung Koreas 1945 ging Hirotsu, seinen ganzen Besitz

wobei die Flure in der Mitte und die seitlich verlau-

einschließlich des Hauses zurücklassend, wieder nach Japan und

fenden Flure mit den Fenstern sich in alle Richtungen

seine schicksalhafte Verbindung mit Korea fand ihr endgültiges

schlängeln, in verschiedene Zimmer führen, die wie-

Ende. Zuerst wurde das Haus als Besitz des Feindes von der korea-

derum mit anderen verbunden sind. Das ruft ein leicht

nischen Regierung konfisziert und später an Yi Yong-gu, den Grün-

unheimliches Gefühl des Herumirrens in einem rätsel-

der von Honam Flour Mills (heute: Korea Flour Mills) verkauft, in

haften Raum hervor.

dessen Besitz es sich bis heute befindet. 2005 wurde es in die Liste

Hinter dem Hauptgebäude des Anwesens befindet sich

des Registrierten Kulturgutes (Nr. 183) aufgenommen. Nach dem

ein zweistöckiger Betonbau, der der Hirotsu-Familie als

Abschluss der Restaurierungsarbeiten 2010 ist das Haus zu einer

Lager für Geld und andere Wertsachen gedient haben

touristischen Attraktion geworden, die Unmengen von Besuchern

wird. Konzept und Struktur dieses Baus können erst

anzieht.

voll begriffen werden, wenn man den Hinterhof und das

Vielleicht hat Hirotsu gedacht, dass seine Familie in diesem Haus

Erdgeschoss des Hauptgebäudes mehrfach unter die

von Generation zu Generation prosperieren würde. Gerüchten zufol-

Lupe genommen hat. Dasselbe gilt für die Raumstruk-

ge soll er die einzelnen Räume mit Blick auf seine heranwachsen-

tur des Gartens, der immer tiefer und breiter wird, je

den Kinder sehr großzügig angelegt haben. Die Hoffnungen und

weiter man hineingeht. Weil dieses Anwesen nicht nur

Träume, die er gehabt haben mag, zerplatzten jedoch im Strudel der

Stil und Pracht der typischen Residenz eines wohlha-

Geschichte mit der Niederlage Japans 1945 wie Seifenblasen.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 43


HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Tteoksal-Sammler Kim Gil-seong

Anmutigen Symbolmustern der Lebenswünsche verfallen Kang Shin-jae

Freiberuflicher Autor Fotos

Cho Ji-young

Kim Gil-song (64) sammelt seit 1975, also über einen Zeitraum von fast 40 Jahren traditionelle Reiskuchenformen aus Holz, auf Koreanisch „Tteoksal“. Er öffnete die Klappe einer Holztruhe in der Ecke des Wohnzimmers und nahm seine Reiskuchenform-Schätze heraus. Der Duft alten Holzes verbreitete sich im Raum. Rechteckige Holzblöcke mit einer Länge von 10 bis 50 cm und runde Holzformen mit Griffen auf beiden Seiten kamen in rauen Mengen zum Vorschein. In alle waren traditionelle koreanische Motive mit symbolischer Bedeutung eingraviert.

B

is vor 20 Jahren noch arbeitete Kim Gil-seong bei

selten aufzutreiben. Kaum jemals stieß man in privaten

einem Bauunternehmen. Aber seine Stelle war

Haushalten auf volkstümliche Artefakte mit Mustern wie

nicht nur ein Platz der Arbeit, sondern auch ein

z.B. Neunghwapan, Holzdruckstöcke für Buchumschlä-

Platz ständiger geistiger Qualen für ihn. „Wissen Sie,

ge, oder Sijeonjipan, Holzschnittformen zur Verzierung

woraus ein Haus gebaut wird? Aus Zement? Stahlträ-

von Brief- und Gedichtpapier. Im Gegensatz dazu konn-

gern? Nein. Ein Haus wird mit Geschimpfe und Gefluche

te man leicht verschiedene Arten von Reiskuchenfor-

errichtet. Also war es nur eine Frage der Zeit, bis ich

men finden. Was Sammelobjekte angeht, so ist bei raren

kündigte.“ Während seine Verstörtheit mit den Gebäu-

Sammelstücken schnell die Grenze des Sammelns

den, die er baute, quasi Stock für Stock wuchs, stieß

erreicht, während bei leicht aufzutreibenden Sammel-

er zufällig auf eine Reiskuchenform. Es handelte sich

stücken schnell das Interesse schwindet. Ein Mittelmaß

um ein besonders wohlgeformtes Tteoksal-Exemplar.

ist am besten, und gerade das trifft auf Tteoksal zu.“

Das war im Jahr 1975. Schon seit seiner Jugend mochte Kim Bäume, beschäftigte sich ausgiebig mit Bonsais

Schönheit und Bedeutung der Muster

und verfiel daher sofort dem Zauber des alten Holzes.

Kim erläuterte jedes einzelne Muster seiner Reisku-

„Wenn ich Holz mit geschlossenen Augen befühle, kann

chenformen, die im Wohnzimmer ausgebreitet waren.

ich sagen, was für ein Holz es ist. Das spezifische Gefühl

Seine Erklärungen führten auf natürliche Weise zu den

und die Wärme, die eine Holzart an meinen Fingerspit-

Herzenswünschen der Tteoksal-Hersteller. Kim, der

zen generiert, ist jeweils anders. Reiskuchenformen

vor allem Formen aus der Joseon-Zeit (1392-1910) sam-

sind meist aus dichtem, glattem Holz gemacht, das

melt, sagte: „Die Muster der Reiskuchenformen aus

nicht so stark duftet, so dass der subtile, im Inneren des

der Joseon-Zeit beschränken sich auf Symbole wie 壽

Holzes verborgene Reiz spürbar war.“

福 (Subok; langes, glückliches Leben), 富貴 (Bugwui;

Allerdings spotteten auch viele, dass man Reiskuchen-

Reichtum) und 多男 (Danam; viele männliche Nachkom-

formen doch wohl kaum als sammelwerte Altertümer

men). Auf späteren Druckformen sind auch Zeichen ein-

betrachten könne. Trotzdem entschied Kim sich dafür,

graviert, die das jeweilige Zeitalter widerspiegeln. Nach

sie zu sammeln. „Einmal abgesehen von Relikten aus

dem Koreakrieg (1950-1953) erscheint zum Beispiel

Tempeln waren Artefakte mit traditionellen Mustern

das Wort ‚Frieden‘ und nach dem von Park Chung-hee

44 KOREANA Winter 2014

Kim Gil-seong sammelt die aus Holz gemachten antiken Reiskuchenpressen Tteoksal und die TeegebäckFormen Dasik. Der Anwendungszweck ist zwar anders, die Form jedoch ähnlich.


KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 45


„Ein wahrer Sammler sollte wissen, wie er seine Sammlung ordnen, die einzelnen Stücke erforschen und möglichst vielen Menschen zugänglich machen kann. Wenn eine Sammlung in einem Buch dokumentiert worden ist, dann verschwinden auch Besessenheit und Besitzgier, denn sie sind ja dann sowieso nicht mehr meine Besitztümer. Irgendwann muss der Sammler, sei es ein Individuum oder eine staatliche Einrichtung, sich allein damit trösten, dass ein Buch als Endprodukt bleibt.”

angeführten Militärputsch vom 16. Mai 1961 sogar das Wort ‚Wiederaufbau‘.” Unter den Stapeln von Tteoksal fiel mein Blick zuerst auf die Tier- und Pflanzenmuster: Fische, die für Reichtum und viele Nachkommen stehen, Schmetterlinge, die Harmonie in der Ehe symbolisieren, und Pflaumenblüten, die den Wunsch nach Wiedererlangung jugendlicher Frische ausdrücken. Danach sprangen geometrische Muster ins Auge: BandnudelMuster, die Langlebigkeit symbolisieren, Gitter-Muster zur Abwehr von bösen Geistern, Designs auf Basis von Taegeuk (Yin-Yang-Symbol) und Palgoe (acht Trigramme der Divination). Zudem gab es auch Tteoksal mit verheißungsvollen klassischen chinesischen Schriftzeichen 喜 (Hi; Freude) und 壽 (Su; Langlebigkeit). Wenn man sie näher betrachtete, konnte man erkennen, dass die Zeichen in unterschiedlichen Kalligraphie-Stilen eingraviert waren. Bei allen Designs handelt es sich um traditionelle koreanische Motive und Muster mit symbolischer Bedeutung.

ihre sehnlichsten Herzenswünsche. Das Zu-sich-neh-

In Korea war der Reiskuchen „Tteok“ eine Speise, die

men von mit Mustern versehenen Reiskuchen bedeu-

auf keiner der für zeremoniale Anlässe gedeckten Tafel

tete sozusagen das Zu-sich-nehmen dieser Wünsche.

fehlen durfte, sei es bei Feiern anlässlich der Volljährig-

Der Reiskuchen war in alten Zeiten also eine Speise, die

keit oder bei Hochzeiten, sei es bei Beerdigungen oder

nicht nur den körperlichen Hunger, sondern auch den

Ahnenverehrungszeremonien. Und nie vergaß man

seelischen Hunger stillen konnte. Aber das ist nur ein

dabei, die Oberfläche des gedämpften Reiskuchens

Teil der Reiskuchen-Geschichte.

durch Aufpressen einer Tteoksal mit Mustern zu ver-

Die Reiskuchenformen waren über ihren Symbolgehalt

zieren. Solche Muster auf Speisen, die zu Feier bedeu-

hinaus nämlich auch praktische Alltagsgegenstände.

tender Anlässe zubereitet wurden, sind wohl mehr als

Da sie normalerweise den Abmessungen des Zere-

nur einfache Verzierungen. Tteoksal wurden bis in die

monialgeschirrs entsprachen, konnte man mit ihnen

1970er Jahre, bevor die Reiskuchenherstellung mecha-

die Reiskuchenstränge gut zurechtschneiden. Die Ril-

nisiert und kommerzialisiert wurde, in koreanischen

len der Muster verhinderten wiederum, dass die auf

Haushalten noch häufig als „Stempel zum Aufdru-

dem Geschirr aufgestapelten Reiskuchen abrutsch-

cken von Mustern auf die Oberfläche von Reiskuchen“

ten. Außerdem konnte die Luft durch die Oberflächen-

benutzt. Daher kann man die Druckformen nicht ein-

Vertiefungen der Muster zirkulieren, sodass der Reis-

fach als Alltagsgegenstand der Vergangenheit abtun.

kuchen nicht leicht verdarb. „Schon beim Kauen merkt

Die Menschen suchten in der Vergangenheit für jede

man, dass die Teile des Reiskuchens, die von der Form

Zeremonie bestimmte Muster aus, die dem jeweiligen

niedergepresst wurden, besonders köstlich schme-

Anlass angemessen waren. Die Muster standen also für

cken. Der Geschmack, den sie an der Zungenspitze hin-

46 KOREANA Winter 2014


terlassen, unterscheidet sich ganz deutlich von dem der glatten Stellen. Dazu wird ja die Oberfläche von Tteok mit Sesamöl bestrichen. Die Rillen des Musters dienen dabei sozusagen als Rinnen, in denen sich das Sesamöl ansammelt.“ Daher wurden in jedem Haushalt Reiskuchenformen hergestellt, die dann auch an die Nachbarn verliehen wurden. Während es Druckformen gab, bei denen der Eigentümer anhand des Designs auf den ersten Blick zu erraten war, mussten andere mit Namen oder Adresse des Eigentümers versehen werden, damit sie nicht verloren gingen. Es gab auch einige Druckformen, in die im Falle eines Geschenks die Glückwünsche des Schenkenden zum jeweiligen Anlass oder poetische Verse eingraviert wurden. Der Prozess der Herstellung von Reiskuchen, die Schönheit und Bedeutung in sich vereinten, brachte den Menschen in alter Zeit Momente der Muße und der kreativ-künstlerischen Inspiration in den Alltag, was möglich war.

Ein Sammler frei von Gier und Neugier Mit Vertrauen in sein kritisches Expertenauge begann Kim mit dem Sammeln von Tteoksal. So häuften sich schließlich fast 2.000 Stücke an. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass seine Sammlung fast alle Arten von Tteoksal umfasste. Je größer die Sammlung wurde, desto größer wurde jedoch auch sein innerer Konflikt. „Auch wenn jemand 99 Schafe besitzt, wird er einem anderen, der nur ein einziges besitzt, dieses Schaf rauben wollen, nur um die Zahl 100 zu erreichen. Ein echter Sammler giert nach allen existierenden Sammelstücken, egal, wie groß seine Sammlung schon sein mag. Jemand, der angesichts eines Stücks fragt, ob er es sich leisten kann, ist kein wirklicher Sammler. Ein Sammler kauft erst einmal und überlegt sich dann einen Ausweg aus der finanziellen Klemme. Gier und Neugier bestimmen das Wesen eines Sammlers. Was mich betrifft, so finde ich einen anderen Sammler, dem ich begegne,

Fisch-Motive stehen für den Wunsch nach Wohlstand und reicher Nachkommenschaft. Die Motive der Formen sind je nach Region unterschiedlich: Während Hasen, Rehe und Wildblumen in Bergregionen häufig sind, finden sich in Küstengebieten häufiger Fische, Garnelen usw.


1. In einige der TeegebäckFormen aus Kims Sammlung sind auf der Rückseite Verse oder dem jeweiligen Anlass entsprechende Wünsche des Schenkenden eingraviert. Da diese für künstlerisches Empfinden und Lebensstil der Koreaner von einst stehen, haben solche Stücke für Sammler einen höheren Wert. 2. Das Motiv des auf einem ziegelgedeckten Haus sitzenden Vogels bringt den Wunsch nach häuslichem Glück zum Ausdruck. 3. Ungeachtet der Vielfalt der eingravierten Designs sind die Formen alle aus ein und demselben Material: ein dichtes, feinmaseriges Hartholz mit dezentem Duft, das normalerweise von Persimonen-, Jujuben- oder Eisenbirkenbäumen stammt.

1


4.000 Stücke umfassenden Begaenmo-Sammlung (dekorative Abschlussstücke an beiden Enden eines traditionellen koreanischen Kopfkissens), nachdem er das Buch Bestickte Begaenmo, eine volkstümliche Tradition (2001) veröffentlicht und eine Ausstellung dazu abgehalten hatte. In Erinnerung daran sagte er: „Wenn eine Sammlung in einem Buch dokumentiert worden ist, dann verschwinden auch Besessenheit und Besitzgier, denn sie sind ja dann sowieso nicht mehr meine Besitztümer. Irgendwann muss der Sammler, sei es ein Individuum oder eine staatliche Einrichtung, sich allein damit trösten, dass ein Buch als Endprodukt bleibt.“

2

3

Relikte volkstümlicher Tradition, denen „ein Hauch von Menschsein“ anhaftet Bereits vor 25 Jahren veröffentlichte Kim sein Buch

Traditionelle Dasik- und Tteoksal-Motive (1989) (Dasik: traditionelles Teegebäck), das seine ganzen Forschunzwar interessant, gehe aber nicht davon aus, dass er

gen zum Thema Reiskuchenformen dokumentiert.

unbedingt ein gutes Herz hat.“

Trotzdem kann er sich von rund 1.000 Formen immer

Vor diesem Hintergrund vermied Kim dann wohl eine

noch nicht trennen. Nur etwa die Hälfte seiner Samm-

direkte Antwort auf die Frage nach der Höchstsumme,

lung ging an ein Universitätsmuseum. Stücken, die

die er in den fast 40 Jahren seines Sammlerlebens für

seinem verfeinerten ästhetischen Blick nicht länger

ein einzelnes Stück gezahlt hatte. Statt dessen bemerk-

standhalten können, entledigt er sich gewöhnlich ohne

te er, dass mit dem Ausbau der Sammlung der Wert

Wenn und Aber. Die Reiskuchenformen haben jedoch

eines Stückes immer subjektiver werde: Auch wenn der

während seiner Karriere als Sammler verschiede-

Marktwert eines Stückes nur 10 Euro betrage, würde

ner Objekte der Volkskunst auch unter seinem immer

er es nicht nicht einmal für 1.000 Euro hergeben, wenn

anspruchsvoller werdenden Auge nie an Wert verloren.

es unter 1.000 Sammelstücken einzigartig wäre. Aller-

Wortlos streicht Kim über die Maserung einer hölzer-

dings heißt das nicht, dass Kim alles gekauft hätte,

nen Reiskuchenform. Es ist, als ob seine Fingerspitzen

was ihm in die Hände fiel. Er ist ein Sammler, der es

Spuren seines leidenschaftlichen Lebens darauf hin-

nicht ertragen könnte, dass seine Sammlung ein „bunt

terlassen würden. Auch Erinnerungen an eine ferne

zusammengewürfelter Haufen von diesem und jenem“

Vergangenheit werden durch diese Geste heraufbe-

würde. Beim Sammeln werde irgendwann ein Punkt

schworen: die rauen Hände einer Frau, die die Form

erreicht, an dem man bestimmter Stücke überdrüssig

sachte auf den etwas abgekühlten Reiskuchen presst;

werde oder man kein wirkliches Ende sehe. In diesem

ihre leichten Schritte auf dem Nachhauseweg von

Fall würden sie direkt veräußert. Solche Entscheidun-

einem Nachbarn, der ihr für den besonderen Famili-

gen beruhen auf der Entschlossenheit, die ihn dazu

enanlass seine mit besonders schönen Mustern ver-

bewegte, die Baufirma zu verlassen und professionel-

sehene Form geliehen hat; der Duft des Holzes, der

ler Sammler zu werden, aber auch auf seinem Sinn für

schwerer wurde durch den Gebrauch der Formen für

Ästhetik, der im Laufe seines Sammlerlebens an Tiefe

all die Momente des Glücks und der Trauer des gan-

gewonnen hat.

zen Dorfes, und der von Generation zu Generation wei-

Um seinem festen Grundsatz, dass „ein wahrer Samm-

terströmte. Dies ist die Kraft, die nur in Artefakten der

ler seine Sammlung ordnen, erforschen und möglichst

Volkskunst weiterzuleben vermag, die von Atem und

vielen Menschen zugänglich machen“ sollte, treu zu

Schweiß des kleinen Mannes durchtränkt sind, und

bleiben und das nötige Geld für seine Sammlung auf-

nicht nachgeahmt werden kann von Relikten, die die

zutreiben, gibt er Bücher heraus und organisiert Aus-

Zeiten nur als zur Schau gestellte Kunstobjekte über-

stellungen. Tatsächlich trennte er sich von seiner über

dauert haben.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 49


NEUERSCHEINUNG

Charles La Shure Professor, Department of Korean Language and Literature, Seoul National University

At Least We Can Apologize Lee Ki-ho (2009), übersetzt von Christopher J. Dykas, Dalkey Archive Press, 2013. 185 Seiten. $13.00

L

ee Ki-hos 2009

cken, steckt und nach draußen befördert. Die beiden Freunde tun es

erschienener

ihm gleich. Resultat: Die Polizei macht eine Razzia, das Anstaltsper-

Roman hat einen

sonal landet im Gefängnis und die Patienten werden entlassen.

sehr or iginellen

Der Erzähler hat vergessen, wo er wohnt, weshalb die beiden bei

Stoff: eine Agentur, deren einziges Ziel es ist,

Si-bongs jüngerer Schwester Si-yeon landen. Bald drängt Si-yeons

Entschuldigungen für andere anzubieten.

Freund die beiden dazu, sich Arbeit zu suchen. Da stolpern sie über

Das scheint quasi ein Garn zu sein aus dem

eine brilliante Idee: sich für andere entschuldigen. Aber ihre „Ent-

sich Komödien stricken lassen, und tatsäch-

schuldigungen“ sind nicht einfach Worte der Reue. Die Pfleger in der

lich handelt es sich um eine Komödie, aller-

Anstalt hatten sie so lange geschlagen, bis sie sich entschuldigten,

dings eine unerwartete. Der Leser sieht die

auch wenn sie sich dafür extra entschuldigenswertes Fehlverhalten

Geschichte mit den Augen des Erzählers,

ausdenken mussten. Auf diese Weise vermischte sich das Konzept

der – als Inkarnation der Zuverlässigkeit

von „Entschuldigung“ untrennbar mit der Prügel, so dass sie zwar

– einfach und geradeheraus bis zum Geht-

völlig naiv den Begriff „Entschuldigung“ für das, was sie tun, verwen-

nichtmehr gestrickt ist. Er erwartet von

den, es im Grunde genommen dabei aber mehr um Sühne oder Buße

jedem dieselbe Aufrichtigkeit und nimmt

geht. Die religiösen Untertöne kommen nicht von ungefähr: Eine

alles wortwörtlich. Hierin liegen das Komi-

Figur, die erfährt, was die beiden tun, kommentiert: „Ach, ich dachte,

sche und das Tragische der Geschichte.

es gäbe nur einen Jesus.“

Der Roman beginnt mit dem Protagonisten,

At Least We Can Apologize verdreht das Thema der Sühne jedoch.

der als Erzähler fungiert, und dessen Freund

Statt dass dadurch Sünden weggewaschen werden, scheint die Sühne

Si-bong, Insassen einer psychiatrischen

der Protagonisten nur weitere Probleme heraufzubeschwören. Wäh-

Anstalt. Anstatt einer Behandlung werden

rend sie glauben, Gutes zu tun, ziehen sie in Wirklichkeit an losen

sie medikamentös ruhig gestellt und täg-

Fäden, was das Geflecht der menschlichen Beziehungen aufzutrennen

lich von den beiden „Pflegern“ geschlagen.

scheint – oder ist es der Sand, den wir uns selbst in die Augen streu-

So hätte es ewig weitergehen können, wäre

en, so dass wir der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken müssen? Die

nicht ein am Bahnhof aufgelesener Obdach-

Geschichte packt uns am Schlafittchen und zwingt uns, das Unrecht,

loser ihr Zimmernachbar geworden. Dieser

das wir begangen haben, genauer zu betrachten, darüber nachzuden-

Mann schreibt flehentliche Notizen, die er in

ken, warum wir es verstecken und uns klar darüber zu werden, dass

die Sockenbündel, die die Patienten verpa-

Sühne vielleicht nicht möglich ist, und schon gar nicht wünschenswert.

Encyclopedia of Korean Folk Beliefs http://folkency.nfm.go.kr/eng/folkbeliefs.jsp, Seoul: National Folk Museum of Korea

sechs Bänden, die sich mit Schamanismus und der Verehrung von Dorfgottheiten und Hausgottheiten befassen. Bei der vorliegenden englischen Ausgabe handelt es sich um eine gekürzte und - zwecks leichteren Verständnisses - edierte Fassung. Die Encyclopedia enthält über 250 Artikel zu sechs Hauptthemen: Riten und Offizianten,

50 KOREANA Winter 2014

Diese Online-Enzyklopädie ist die zweite in einer

Gottheiten und Heilige Wesen, Rituelle Zere-

Serie von englischsprachigen Enzyklopädien,

monialgegenstände, Rituelle Opfergaben,

die das Nationale Folkloremuseum Koreas her-

Orte ritueller Zeremonien, Fachausdrücke

ausgebracht hat. Die erste ist die Encyclopedia

und Verweise. Jedes Thema kann in alpha-

of Korean Seasonal Customs, sechs weitere sind

betischer Reihenfolge gebrowst werden, per

in Planung. Die koreanische Originalversion der

Suchfunktion können bestimmte Artikel aus-

Encyclopedia of Korean Folk Beliefs besteht aus

gemacht werden. Die Artikel sind von Fotos


The Dawn of Modern Korea Andrei Lankov (2007), EunHaeng NaMu, 366 Seiten. 13.000 KW

F

von nur drei aufeinander folgenden Kapiteln von der Einführung des Seouler Busliniensystems über den Niedergang der Gisaeng-Kurtisaninnen-Welt bis hin zum Widerstand der Christen gegenüber der japanischen Imperialpolitik. Das mag die Reise manchmal etwas unzusammenhängend erscheinen lassen, aber darin liegt gerade die Besonderheit dieses Buches. Der Vorteil ist, dass man das Buch an einer beliebi-

ür Andrei Lankov, früher an der Kook-

gen Stelle aufschlagen und etwas Interessantes über einen bestimm-

min University in Seoul und derzeit an

ten Zeitpunkt der koreanischen Geschichte erfahren kann.

der University of Oslo tätig, gilt die moder-

Wie bei Geschichte generell der Fall, so wurde auch in Korea die

ne Ära, eine Ära von „rekordbrechenden

Modernisierung durch die Wechselwirkung von alten und neuen

gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen, die Korea zum

Werten auf den Weg gebracht. Zum großen Teil waren die alten

ersten Mal in seiner Geschichte zu einem Hauptakteur auf der politi-

Werte einheimisch und die neuen Werte Ideen und Technologien von

schen und wirtschaftlichen Weltbühne machten“, als die größte des

außen. Als diese Werte aufeinander prallten und eine neue, moder-

Landes. The Dawn of Modern Korea basiert lose auf einer Kolumne,

ne Nation auf den Weg brachten, entstand etwas originär Koreani-

die Lankov ab Anfang 2002 für The Korea Times schrieb, und verfolgt

sches. Die gezielten Beschreibungen der Veränderungen, die aus

„den Wandel in Bezug auf Leben und Stadtlandschaft“ im Laufe der

diesem Zusammenprall hervorgingen, sind die größten Vorzüge von

letzten rund 100 Jahre.

Modern Korea . Aber es ist nicht nur interessant, zu konstatieren, was

Das Buch beginnt mit einer Art Vorspiel im Jahr 1784, dem Jahr, als

thematisiert wird, sondern auch das, was ausgespart wird. Während

das Christentum seinen Weg auf die koreanische Halbinsel fand.

es natürlich zahlreiche Hinweise auf die Rolle Japans als Kolonial-

Korea ist in diesem Punkt außergewöhnlich, da das Christentum nicht

macht gibt und einige Kapitel speziell der Kolonialherrschaft gewid-

durch ausländische Missionare ins Land gebracht wurde, sondern von

met sind, so fehlen doch Ereignisse wie der Vertrag von Ganghwa,

einem Koreaner, der sich in China zum christlichen Glauben bekehrte.

die Ermordung von Kaiserin Myeongseong und die Annexion Koreas

Danach macht Modern Korea einen Satz von fast einem Jahrhundert

durch Japan. D.h. ein Großteil der Tragödien, die sich normalerwei-

ins Jahr 1871, als die ersten Fotos in Korea aufgenommen wurde, und

se in einer Geschichte des modernen Korea finden, fehlen. Ob das

taucht ernsthaft 1881 in die Materie ein, als die erste Gruppe koreani-

gut ist, mag dem Urteil des Lesers anheimgestellt bleiben, aber der

scher Studenten ins Ausland reiste, um etwas über moderne techni-

Gesamteffekt besteht darin, dass dadurch Korea als moderne Nation

sche Errungenschaften zu erfahren. Die 97 Essays, folgen meistens

weniger wie ein passives Opfer des Schicksals erscheint und stärker

diesem Strickmuster, d.h. sie erläutern einschneidende Ereignisse der

als ein kraftvoller Agens, der sein eigenes Schicksal zum großen Teil

koreanischen Geschichte. Dazwischen finden sich Kapitel, die einzelne

bestimmen kann.

Jahrzehnte oder bestimmte Zeiträume abdecken.

Lankovs Essay-Sammlung ist kein typisches Geschichtsbuch. Für all

Entsprechend ist Modern Korea mehr eine Aneinanderreihung von

die Leser, für die Korea Neuland ist, ist das Buch eine leicht zugäng-

Einzelschnappschüssen als eine fortlaufende Betrachtung. Statt

liche Einführung in die moderne Geschichte des Landes. Alte Hasen

Geschichte zu diskutieren, bietet es einen Kaleidoskop-Blick auf den

wiederum dürften faszinierende Leckerbissen entdecken, der ihr

Wandel der Zeiten. Auf diese Weise bewegt sich der Leser innerhalb

Korea-Verständnis weiter vertieft.

begleitet, die man wiederum separat unter

Encyclopedia of Korean Folk Culture ) sind

schnellstmöglich Abhilfe geschaffen wer-

„Multimedia“ finden kann. Das erlaubt einen

und es gewisse Überschneidungen zwischen

den – sind das alles nur kleinere Schönheits-

detaillierten Einblick in viele Aspekte der

beiden gibt, aber für den Anfänger kann es

fehler. Der Wert des Inhalts der Encyclope-

koreanischen Volkskultur, die Korea als Nati-

verwirrend sein. Langfristig gesehen dürf-

dia wiegt bei weitem solche Probleme der

on geformt haben.

te es zudem hilfreicher sein, separat in den

Webseitenarchitektur auf. Während sich die

Es gibt aber noch einige Fehler auszubügeln.

einzelnen Enzyklopädien surfen zu können,

moderne koreanische Popkultur mittlerweile

So ist die Stichwort-Suche unterbrochen: Auf

besonders, wenn nach Abschluss des Pro-

schon ihren Platz auf der Weltbühne erobert

der Trefferseite erscheint zwar die Anzahl

jekts acht verschiedene Quellen zur Verfü-

hat, bleiben viele Aspekte der koreanischen

der Treffer, aber nichts weiter. Auch besteht

gung stehen werden. In Bezug auf die Orga-

Volkskultur weiterhin unbekannt. Diese

nicht die Möglichkeit, eine Suche auf eine der

nisation der Informationen ist anzumerken,

digitale Enzyklopädie und die weiteren, die

beiden Enzyklopädien einzuschränken, es

dass die Sektion „Multimedia“ sowohl Fotos

das Nationale Folkloremuseum in Zukunft

erscheinen immer Treffer aus beiden. Das

als auch Videos listet, es daneben aber auch

hinzuzufügen plant, sind wichtige Schritte,

muss sich in der Praxis nicht unbedingt als

noch die Sektion „Filme“ gibt, die dieselben

diese Aspekte der koreanischen Kultur für

Nachteil erweisen, da die beiden Enzyklopä-

Videos enthält. Abgesehen von der unter-

englischsprachige Interessenten leichter

dien Bestandteil eines größeren Werkes (der

brochenen Stichwort-Suche – hier sollte

zugänglich zu machen. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 51


GOURMETFREUDEN

Vorboten des Festes Jeon ist ein Oberbegriff für alle Arten von Gerichten, bei denen verschiedene Zutaten wie Fleisch, Fisch oder Gemüse in Mehl gewendet, in geschlagene Eimasse getaucht und dann in Öl ausgebraten werden. Das Öl, in dem die Jeon goldbraun gebraten werden, verleiht den Pfannküchlein ein delikates Aroma und eine besondere Geschmackstiefe. Von Jeonyueo (Fisch-Jeon im Eimantel gebraten), die einst nur auf die Haupttafel des Königs kamen, bis hin zum Straßenimbiss Bindaetteok (Mungobohnen-Pfannkuchen), haben sich Arten und Status von Jeon zwar je nach Zeitalter und Zutaten divers entwickelt, aber mit dem brutzelnden Geräusch von Jeon und dem aromatischen Ölgeruch assoziieren die Koreaner immer noch Festtagsstimmung. Joo Young-ha Professor of Folklore Studies, Graduate School of Korean Studies, Academy of Korean Studies Fotos Lim Hark-hyoun

„G

egen den dritten März oder den neunten September nach

Arbeiten, denen die Bauern vor dem Chuseok-Erntedankfest im ach-

Lunarkalendar gingen sie mit den Frauen des Hauses an

ten Mondmonat nachgingen, war Ernte und Pressen von Sesam- und

einem warmen, windstillen Tag mit einem Kessel nach

Perilla-Körnern, um zu den Feiertagen Jeon mit einer aromatischen

draußen, setzten diesen auf einen Felsen der Klippe, pflückten Wild-

und guten Geschmacksnote zubereiten zu können. Vor allem Öl aus

blumen oder Chrysanthemen, mit denen sie Jeon machten, und

Sesam, der aus den Ländern an der Westgrenze Chinas kam, wurde

kochten eine Beifußsuppe. Fröhlich und ausgelassen vergnügten sie

wegen seines aromatischen Dufts besonders geschätzt und daher

sich den ganzen Tag über vom Morgen bis zum Abend“ – so ein Aus-

„Cham-gireum (Echtes Öl)“ genannt.

zug aus dem Buch Aufzeichnungen des Dorfes Myeongdeok, ver-

Früher war es jedoch alles andere als einfach, Speiseöl zu gewinnen.

fasst von Chae Je-gong (1720-1799), einem Gelehrten und Beamten

Im Somunsaseol, einer von Yi Si-pil (1657-1724) verfassten Enzyklo-

der Joseon-Zeit (1392-1910), in dem ein Ausflug zum Blumenfeld

pädie des praktischen Wissens, wird eine traditionelle Perillasamen-

beschrieben wird.

Presse erwähnt: „Ein Block aus hartem Holz oder Stein, der einer

Zu dieser Zeit, als die Frauen nicht frei aus dem Haus gehen durf-

Holzpantine mit hohen Sohlen ähnelt, dient als Grundlage. Gedämpf-

ten, wurde der Tag des Picknicks im Blumenfeld entprechend heiß

te Perilla-Samen werden in zwei oder drei Hanfsäcke gefüllt und

herbeigesehnt. Was bei einem solchen Ausflug nicht fehlen durfte,

darauf gelegt. Schlägt man so stark auf die Säcke, wie man auf

waren natürlich Hwajeon (Blumen-Pfannkuchen). Für Hwajeon wird

die Sohle eines Lederschuhs hämmern würde, läuft das Öl durch

zuerst aus Klebreismehl ein leichter Teig zubereitet. Dann gibt man

die Öffnung des unteren Blocks.“ Da Sesamöl auf dieselbe Weise

eine dünne Schicht Teig in eine gut eingeölte Pfanne, garniert ihn mit

gewonnen wurde, war dieses „wertvolle Öl“ eine Zutat, die bis zur

frisch in Bergen oder Feldern gepflückten Blüten und brät ihn aus.

Joseon-Zeit nur in der Hofküche häufiger verwendet wurde.

Der Duft, der sich beim Ausbraten des kohlenhydrathaltigen Klebreises entwickelt, regt den Appetit an. Im Frühling werden Azaleen-

Gericht für Feste

und Birnenblüten verwendet, im Herbst Chrysanthemen. Da Duft

Unter den in Sesamöl ausgebratenen Gerichten wurde am Joseon-

und Form der Blüten bewahrt werden, sind Hwajeon-Pfannküchlein

Königshof v.a. Jeonyueo besonders geschätzt. In der Palastküche

an sich schon ein Festessen, mit dem sich die Freuden der Jahreszeit

trocknete man verschiedene, im Westmeer gefangene Fische, aus

genießen lassen.

denen man dann bei Banketten Jeonyueo zubereitete: Dafür wurden die getrockneten Fische in schräge Scheiben geschnitten, mit Stär-

Wertvolle Speisen in wertvollem Öl

kemehl bestäubt, in Eigelb getunkt und in Sesamöl ausgebraten.

Heutzutage sind verschiedene Speiseölsorten leicht erhältlich, aber

1765, im 41. Regierungsjahr von König Yeongjo (reg. 1724-1776), fand

für die Menschen der Joseon-Zeit gab es nur Sesam- und Perilla-

in Gyeonghui-gung, einem Nebenpalast der Königsfamilie, zum

öl, das aus Sesam- bzw. Perilla-Körnern gepresst wurde. Eine der

Geburtstag des Regenten ein Bankett statt. Der königlichen Anord-

52 KOREANA Winter 2014


Umberfisch-Jeonyueo war ein teures Gericht, das in der Joseon-Zeit nur dem König oder bei verschiedenen Hofbanketten serviert wurde. In der späten Joseon-Zeit wurden dann diverse Arten von Jeon - seien es dünn filetierte, in Öl gebratene Fischoder Fleischscheiben - zum Bestandteil jeder Festtafel. Bei besonderen Anlässen wurden sie sogar in den Häusern der Normalbürger serviert.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 53


1

2

nung, Festbankette bescheiden zu halten, entsprechend, wurden

nefett wurde oft von den Chinesen, die sich Ende des 19. Jhs in Korea

lediglich zehn Gerichte aufgetischt, dazu gehörte auch Jeonyueo.

niederließen, zum Braten verwendet. Bindaetteok-Pfannkuchen, für

Als ob nur eine Sorte von Jeonyueo nicht ausreichend gewesen

die ein Mungobohnen-Teig mit verschiedenen Gemüsen und Fleisch

wäre, wurde auch noch Fasanenfleisch auf Jeonyueo-Art mit Mehl

gemischt ausgebraten wurde, war ein Gericht, das ursprünglich mit

bestäubt und im Eimantel gebraten serviert. Das heißt, dass zwei von

der Hofspeise Jeonyueo verglichen werden konnte. Aber in der von

den zehn Gerichten Jeonyueo waren.

Chaos und Not geprägten Zeit des Koreakriegs wurden die aus billi-

In der späten Joseon-Zeit kam Jeonyueo dann auch bei den Festes-

gen Zutaten hergestellten Bindaetteok zu einem populären Straße-

sen der adligen Yangban-Haushalte und sogar bei Normalbürgern

nimbiss. Dieser warme, vor Schweinefett triefende Mungobohnen-

auf den Tisch. Und das auch nicht mehr nur zu feierlichen Anlässen.

Pfannkuchen erfreute sich in den Zeiten, in denen schwer an Fleisch

In dem 1924 von Yi Yong-gi (1870-1933), einem Experten für Ernäh-

zu kommen war, beim einfachen Volk großer Beliebtheit.

rungswissenschaft, veröffentlichten Kochbuch Joseon Mussang Sin-

Auch heute noch finden sich auf den traditionellen Märkten „Jeon-

sik Yorijebeop (Unschlagbare neue Kochrezepte aus Joseon) heißt

Gassen“. Geht man dort vorbei, lässt einen der aromatische Duft von

es: „Jeonyuyeo passt zu jeder Gelegenheit: Bei Hochzeits- und Trau-

Öl innehalten, ein Duft, der sich nicht nur beim Braten von dicken

erfeiern, bei Ahnenverehrungszeremonien und Geburtstagsfeiern,

Bindaetteok-Pfannkuchen entwickelt, sondern auch von verschiede-

bei Banketten, bei Trinkrunden, ja bei einer auf Form bedachten

nen anderen Jeon-Sorten aufsteigt, seien es Jeon mit Sesamblätter-

Tafel darf Jeonyueo nicht fehlen.“ Bei Anlässen, zu denen viele Men-

oder Seetangmantel, mit Fleisch, Gemüse und Glasnudeln gefüllte

schen zusammenkamen, waren für eine ordentlich gedeckte Tafel

Tintenfisch-Würste, Pilz-Jeon usw. Je nach persönlicher Vorliebe

in Sesamöl gebratene Fisch-Jeon zwar ein Muss, war jedoch kein

kann man aus dem Angebot auswählen und die Jeon bei einem Glas

Sesamöl vorhandeln, behalf man sich mit Perillaöl. Denn die in Öl

eisgekühlten Makgeolli (trüber, leicht vergorener Reiswein) genie-

gebratenen Speisen an sich waren ein Zeichen dafür, dass die Gäste

ßen. Jede anfängliche Unbehaglichkeit, die man vielleicht empfin-

mit der ihnen gebührenden Gastfreundschaft bewirtet wurden

den mag, wenn man am Straßenstand neben Wildfremden sitzend isst, verfliegt schnell und macht einer heiteren Fröhlichkeit Platz, die

Vom Gericht für den König zum Gericht für jedermann

sogar das Beisammensein von zwei, drei Leuten in ein lebhaftes Fest

Als im 20. Jh die Speiseölsorten vielfältiger und billiger wurden, fand

verwandelt. Obwohl Jeon heutzutage ein gewöhnliches Gericht ist,

auch die Delikatesse Jeon allgemein Verbreitung. Die repräsenta-

dienen die verschiedenen Jeon-Sorten immer noch als Festessen,

tivste Jeon-Variante ist dabei Bindaetteok, die sog. „Koreanische

das die Stimmung erhöht. Vielleicht lässt einen das Geräusch brut-

Pizza“. Bindaetteok – die Bezeichnung stammt höchstwahrschein-

zelnden Öls und der davon ausgehende aromatische Duft an Jeon-

lich von „Bindaebyeong“, „Pfannkuchen zur Bewirtung von Gästen“

yueo erinnern, ein Gericht aus längst vergangenen Tagen, einst ser-

– wird nicht in Sesamöl, sondern in Schweinefett gebraten. Schwei-

viert an Festtagen, an denen es hoch her ging.

54 KOREANA Winter 2014


1, 2. Jeon ist ein Oberbegriff für alle Arten von Gerichten, bei denen verschiedene Zutaten in der Pfanne ausgebraten werden. Für Jeonyueo werden dünne Scheiben Fisch mit Mehl bestäubt, in geschlagene Eimasse gedippt und gebraten. Für Bindaeddeok wird ein Pfannkuchenteig mit Gemüse, Fleisch- oder Fischstücken in der Pfanne ausgebraten. Und in den Teig für Meeresfrüchte-LauchJeon - eine beliebte Beilage für MakgeolliReiswein - kommen neben Schalotten noch Tintenfisch, Muscheln und Garnelen. 3. Jeon ist ein Gericht, das den Zutaten durch einfache Zubereitung tiefen Geschmack verleiht. Nur durch Ausbraten in der Pfanne gewinnen Allerweltsgemüse wie Sesamblätter, Zucchini oder Chinakohl eine pikante Geschmacksnote.

3

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 55


LIFESTYLE

Chicken-Republik

Park Chan-il Koch Foto Cho Ji-young

Es scheint, dass der Hauptgrund dafür, dass meine Tochter sich glücklich schätzt, einen Koch als Vater zu haben, meine Hühnchen-Frittierkünste sind. Sie gibt nie damit an, dass ihr Vater ein bekannter Koch in Seoul ist, der nebenher auch noch schreibt und Bücher veröffentlicht. Das einzige, was sie stolz von sich gibt, ist: „Gestern hat mein Papa für mich Hühnchen frittiert! Da seid ihr neidisch, was?“ Das entspricht durchaus dem Verhalten eines jungen Bürgers in der Chicken-Republik.

V

or Kurzem hatte ich auf einer Mailand-Reise ein

tiertem Hähnchen auf koreanische Art für Furore. Denn

besonderes Erlebnis. Auf meine Bitte, mir ein

die Autoren, ausnahmslos renommierte Köche und For-

gutes Restaurant zu empfehlen, schleppte mich

scher, präsentierten den Anhängern der Feinen Küche

mein jüngerer Kollege, der dort als Koch arbeitet, in ein

(meistens Köche und Gourmets) „Crispy Chicken Wings,

Brathähnchen-Lokal. Für mich, der ich handgemach-

Korean-Style“. Das Rezept basiert auf der in Korea ent-

te feine Ravioli, exquisites Safran-Risotto nach Mailän-

wickelten, einzigartigen scharfen Soße. Hähnchen auf

der Art oder Ossobuco alla milanese erwartet hatte,

koreanische Art, das dank dieser Soße süß und scharf-

war das eine überraschende Wahl. Aber meine Reaktion

pikant zugleich schmeckt, macht einfach süchtig.

auf dieses vertraute Hühnerfleischstück im Mund war

Der jüngste „Chimaek“-Hype in Asien darf hier nicht

„Daumen hoch!“ Innen saftig und zart, außen knusprig

unerwähnt bleiben. Die TV-Serie My Love from the

und erstaunlich pikant, war es für mich ein „vertrauter“

Star, in der die Hauptdarsteller „Chimaek“ (Chi(cken) +

Geschmack.

Maek(ju): Chicken und Bier) genießen, wurde in China und anderen Ländern ausgestrahlt, wo „Chimaek“ sich

Frittiertes Hähnchen auf koreanische Art erobert die Welt

solcher Beliebtheit erfreut, dass es sogar als Eigenname

Ich war schlichtweg von den Socken, dass frittiertes

koreanischen Chicken-Restaurants wie Pilze aus dem

Hähnchen auch mitten in einer italienischen Stadt ser-

Boden, weshalb sich sogar Sorgen um einen überhitzten

viert wurde. Ist Italien nicht ein Land, in dem seit eh

Wettbewerb regen.

verwendet wird. In Hongkong schossen Hunderte von

und je die nationale Küche das Zepter in der Hand hält? Italienische Männer verlangt es immer nach den von

Die „verrückte Liebe“ der Koreaner zu Chicken

„Mamma“ gekochten Speisen und außer Haus bestellen

Abgesehen von den USA dürfte es kein Land geben,

sie möglichst etwas Ähnliches - obwohl sie sich wahr-

in dem mehr frittierte Hähnchen verzehrt werden als

scheinlich auch mit einem Hamburger abfinden wür-

in Korea. Bezogen auf den Pro-Kopf-Konsum dürf-

den, wenn die Bedienung hübsch ist. Ich konnte also nur

te Korea sogar weltweit auf Platz 1 rangieren. Die vom

darüber staunen, dass frittiertes Hähnchen, ein typi-

Forschungsinstitut der KB Financial Group Inc. heraus-

sches Fast Food, in einem solchen Land populär ist.

gegebenen „Lage-Analyse des koreanischen Brathähn-

Mein Kollege war überzeugt davon, dass dieses Hühner-

chengeschäfts 2013“ zufolge, sollen 2012 fast 800 Mio.

gericht vom koreanischen „Chicken“ stammt (Anmer-

Hühner geschlachtet worden sein. In den letzten zehn

kung: In Korea meint „Chicken“ „Frittiertes Hähnchen“).

Jahren soll sich der Umsatz des koreanischen Chicken-

Modernist Cuisine (2011), eine von einer amerikanischen

Marktes von 330 Mrd. Won (ca. 240 Mio. Euro) auf 3,1

Kochexperiment-Gruppe verfasste, hochgelobte Koch-

Bio. Won (ca. 2,25 Mrd. Euro) verneunfacht haben. Korea

Enzyklopädie, sorgte mit der Thematisierung von Frit-

trägt den Titel „Chicken-Republik“ nicht umsonst.

56 KOREANA Winter 2014


© Pelicana

Die koreanische Vorliebe für Hähnchen ist immens: Laut einer Untersuchung werden in Korea pro Jahr an die 800 Mio. Hähnchen verzehrt.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 57


2

Damals gab es den Trend, dass die Väter mit einem Grillhähnchen in einer gelben Papiertüte von der Arbeit nach Hause kamen. Das war wohl das Beste, was die stets hochbeschäftigten koreanischen Väter machen konnten, denen einfach die Zeit fehlte, ihre „Väterlichkeit“ durch gemeinsames Schreinern im Hinterhof oder Rasenmähen zu demonstrieren. serviert wurde. Noch heute erinnern sich viele an die Hähnchen, die sich dort am Elektro-Grillspieß drehten. Damals gab es den Trend, dass die Väter mit einem Grillhähnchen in einer gelben Papiertüte von der Arbeit nach Hause kamen. Das war wohl das Beste, was die stets hochbeschäftigten koreanischen Väter machen konnten, denen einfach die Zeit fehlte, ihre „Väterlichkeit“ durch

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58 KOREANA Winter 2014

gemeinsames Schreinern im Hinterhof oder RasenDas heißt aber nicht, dass die Koreraner schon seit

mähen zu demonstrieren. Auch ich erinnere mich noch

alters her frittierte Hähnchen nach heutiger Zuberei-

daran, wie mich als Jugendlicher gegen Mitternacht das

tungsart gegessen hätten. In der Vergangenheit war

würzige Aroma des Grillhähnchens weckte.

nicht nur Speiseöl wertvoll, auch das Huhn war ein wert-

In Soße marinierte Hähnchen von Pelicana, der 1982 in

volles Nutztier, wie die Redewendung „Damit Huhn auf

Daejeon gestarteten ersten Chicken-Franchise-Kette

den Tisch kommt, muss erst der Schwiegersohn zu

Koreas, und die Popularität der amerikanischen Fast

Besuch kommen“ zeigt. Erst Mitte der 1960er Jahre, als

Food-Kette KFC, die 1984 in Korea Einzug hielt, sorg-

mit der Industrialisierung der Landwirtschaft die Mas-

ten dann für einen neuen Boom auf dem Chicken-Markt.

senproduktion von Futtermitteln möglich wurde und

Auch der Start der professionellen Baseball-Liga in den

sich auch die Zuchtmethoden verbessert hatten, konnte

1980er Jahren trug viel zum Wachstum dieses Marktes

sich die Hühnerzucht-Industrie rapide entwickeln. 1971

bei. Die Menschen aßen gerne Hähnchen, während sie

brachte ein koreanischer Speiseölhersteller das erste,

sich die Baseballspiele im Fernsehen ansahen. Mit der

in Massenproduktion hergestellte Sojaöl auf den Markt,

Fußballweltmeisterschaft 2002 erreichten die goldenen

was den einheimischen Chicken-Markt ernorm wachsen

Zeiten des Brathähnchengeschäfts dann ihren Höhe-

ließ.

punkt: Nicht nur zu Hause und in Chicken-Restaurants

„Prototyp“ des Chicken auf koreanische Art ist das Grill-

mit Breitwand-TV, wo man sich die Spiele ansehen konn-

hähnchen, das in dem 1961 eröffneten Myeong-dong

te, sondern auch auf der Straße, wo sie an die Wände von

Yeongnyang Center, einem auf Hähnchen spezialisier-

Hochhäusern projiziert wurden, feuerten enorme Men-

ten Restaurant im Seouler Stadtviertel Myeong-dong,

schenmengen, Hähnchenkeulen in den Händen schwin-


3

1. Eine 1968 in der Tageszeitung Kyeonghyang Daily erschienene Werbung für Chicken vom Elektro-Grillspieß. 2. Zu der Zeit war es allgemein üblich, dass die Väter nach der Arbeit Grillhähnchen mit nach Hause brachten. 3. In den Ländern Asiens, in die die koreanische TV-Serie My Love from the Star exportiert wurde, wurden die Szenen mit Chimaek zum Stadtgespräch und lösten nicht nur in Südostasien, sondern auch in Korea einen Chimaek-Hype aus.

gend, die koreanische Mannschaft enthusiastisch mit

Analyse des koreanischen Brathähnchengeschäfts

dem Schlachtruf „Daehan-minguk (Republik Korea)“ an

2013 heißt es, dass in den letzten 10 Jahren pro Jahr

- Szenen, die weltweit für Aufregung sorgten.

etwa 7.000 Restaurants aufmachten, während im gleichen Zeitraum 5.000 aufgaben. Die durchschnittliche

Frittierte Hähnchen und Devisenkrise

Lebensdauer liegt bei lediglich 2,7 Jahren. Da kann der

Der koreanische Chicken-Boom hat auch eine Schatten-

Wettbewerb nur knallhart sein. Vor ein paar Jahren ver-

seite. Jeong Eun-jeong, Autorin von Koreanische Chi-

kaufte ein Großhändler frittierte Hähnchen zum halben

cken verweist in ihrem Buch auf eine wichtige Tatsache:

Preis, was bei den kleineren Betreibern heftige Empö-

„Seit 1997 ist Chicken unangefochten die Nr. 1 unter den

rung hervorrief. Der gerechte Zorn verbreitete sich all-

Gerichten, die beim Auswärts-Essen bestellt werden.

gemein, weil die Kleinstunternehmer sich eh schon

1997, als Chicken sich diese Position sicherte, war genau

mehr schlecht als recht durchschlagen mussten und

die Zeit, als der „mühselige Marsch“ begann. Während

der Großhändler die Situation nur noch verschlimmerte.

der asiatischen Devisenkrise, in Korea wegen des IWF-

Hätte man Fernseher, Kühlschränke oder Ramen-Ins-

Rettungspakets auch als „IWF-Krise“ bekannt, eröff-

tantnudeln zum halben Preis vermarktet, hätte es eine

neten viele Familienernährer, die von heute auf morgen

solch kollektive öffentliche Reaktion nicht gegeben. Das

auf der Straße standen, Hähnchenrestaurants, um ihre

koreanische Chicken ist eben mehr als ein gewöhnliches

Familie durchzubringen. Dafür brauchte man keine spe-

Gericht.

ziellen Fertigkeiten oder Fachwissen und auch nur rela-

Wenn Chicken im Westen Fast Food ist, kann es in Korea

tiv wenig Kapital. Seitdem gilt das Chicken-Restaurant

„Soul Food“ genannt werden. Nicht nur bei freudigen

für die Baby-Boomer, die mit 40 bis 50 Jahren frühzeitig

Anlässen, sondern auch bei traurigen und ärgerlichen

aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als Geschäftsbe-

ist Chicken jederzeit für uns da. Frittiertes Hähnchen -

reich, in den man leicht einsteigen kann.

ein Gericht, das wie ein Freund die Momente der Freu-

2011 gab es landesweit ca. 25.000 Franchise-Chicken-

de, Wut, Trauer und des Glücks mit uns teilt. Auch heute

Restaurants. Zählt man Nicht-Franchise-Restaurants

vergessen wir nach der Arbeit zusammen mit Kolle-

mit, kommt man auf rund 36.000, was 0,71 Chicken-

gen oder Freunden bei einem frittierten Hähnchen und

Restraurants pro 1.000 Koreaner macht. Die Zahl der

einem Glas Bier die Sorgen des Lebens. Auf diese Weise

Geschäftspleiten ist ebenfalls enorm. In der Lage-

wird der seelische Hunger gestillt.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 59


BLICK AUS DER FERNE

Dort, wo das stille Seoul ist meisterhaft in der Verführung – die Stadt zieht Menschen

werden. Die Blätter dagegen scheuen kochendes Wasser – die Zeit

mit ihrer Fülle und Intensität in den Bann. Alle Sinne werden ange-

des Abkühlens lädt zur Kontemplation ein. So kann schon die Zube-

sprochen. Ständig. Überall. Und in jeder Form: Der heiße Fußboden,

reitung einer Schale Tee meditative Kraft entwickeln. Diese entfaltet

der im harschen Winter eiskalte Füße wieder auftaut, der Klang des

sich vollends im Genuss des Getränks. Die Aufmerksamkeit rich-

Mopeds, das nachts eine deftige Mahlzeit an die Haustür liefert, der

tet sich dabei ganz auf den delikaten Geschmack, der sich mit jedem

Geruch von Knoblauch, der vom Abendessen meines Nachbarn in

Aufguss verändert. Bereits im Mund wirkt der grüne Tee stärkend

der U-Bahn erzählt, und nicht zuletzt die Abermillionen von Neon-

und belebend. Der Zauber liegt in der Verbindung energiespenden-

lichtern und Reklametafeln, die in Restaurants, Cafés und Bars ein-

der und beruhigender Kräfte, die sich sowohl im Zubereiten als auch

laden, wo kulinarische Gelüste jeglicher Couleur erfüllt werden.

im Teetrinken entfalten. Beidem wohnt gleichermaßen Harmonie

Seoul pulsiert, atmet konstante Veränderung, Geschichte, Kommerz,

und Ruhe inne. Tee – das ist Balsam für Körper und Seele, flüssiges

Kunst und Kultur. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Doch

Glück.

dann schlich sich fast unbemerkt, mit kleinen leisen Schritten, eine Sehnsucht nach innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Zufriedenheit

Ein Glücksgefühl ganz anderer Art erfüllt mich beim Ausüben von

an.

Seonmudo. Wie der Name verrät, handelt es sich um eine spirituelle Bewegungsform – das Wort setzt sich aus „Seon“, im deutsch-

Als ich zum ersten Mal einen Fuß in ein traditionelles Teehaus setze,

sprachigen Raum als „Zen“ bekannt, das für Meditation steht, sowie

durchfährt mich ein wohliges Gefühl. Es ist November – die molli-

„Mu“ für Kampf und „Do“ für Methode oder Weg zusammen. Bereits

ge Wärme und die schlichte, doch gemütliche Einrichtung erzeugen

seit der Silla-Zeit (57 v.Chr. – 935 n.Chr.) existiert diese koreanische

eine süße Behaglichkeit. Mobiliar, Beleuchtung und Geschirr üben

Kampfkunst, die von buddhistischen Mönchen weitergegeben und

sich in dezenter Zurückhaltung, um dem Tee ungeteilte Aufmerk-

praktiziert wird. Seonmudo gilt als Trainingsmethode zur Harmo-

samkeit zukommen zu lassen. Dieser schmeckt ungewohnt. Es han-

nisierung von Körper und Geist, die zu einem höheren Bewusst-

delt sich nicht um Tee im eigentlichen Sinne, sondern um den Auf-

sein führt und im Idealfall in der Erleuchtung mündet. Der Unter-

guss der Chinesischen Beerentraube – auf der Karte als „Omijacha“,

richt mutet allerdings sehr irdisch an, Erschöpfung und Muskelkater

ein Trank mit fünf Geschmacksrichtungen, angepriesen.

inklusive. Er besteht aus der Verbindung verschiedener Atem- und

Erst nach und nach wage ich mich an grünen Tee, der im Vergleich zu

Dehnungsübungen, Meditation, Yoga-Elementen, Qigong-Formen

Kaffee ein Schattendasein in Korea führt. Das mag am Geschmack

sowie Kampfkunst, die in festgelegter Abfolge eingeübt werden. Als

liegen oder am Image, aber vor allem an der Kultur beider Getränke.

Anfängerin spüre ich schmerzlich, welche Muskeln ich im Alltag

Es bedarf Achtsamkeit und Ruhe, wohlschmeckenden Tee zuzube-

kaum nutze. Immer und immer wieder lässt uns Meister Shin, Träger

reiten und darüber hinaus einiger Utensilien und Grundkenntnisse

des 4. Dans (Schwarzer Gürtel), die gleichen Formen wiederholen.

über die Verarbeitung qualitativ hochwertigen grünen Tees, der im

Meine Beine zittern, wenn wir eine schwierige Pose minutenlang hal-

Süden Koreas angebaut wird. Die zarten Teeblätter sind kleine Prin-

ten sollen. Im Spiegel bemerke ich manchmal die fehlende Eleganz

zessinnen, die als solche behandelt werden wollen: fürsorglich und

meiner Ausführung.

behutsam. Teekanne und Schälchen möchten zunächst vorgewärmt

Die Schönheit und Anmut dieser Kampfkunst kann man im Tem-

60 KOREANA Winter 2014


Glück verweilt Lilith Müller

Lektorin, Hankuk University of Foreign Studies

pel Golgul-sa in der Nähe von Gyeongju bewundern. Im Hauptsitz

vertiefe ich mich in die Arbeit, merke nicht, wie sich Schultern und

der weltweiten Seonmudo -Vereinigung lernen und lehren buddhis-

Nacken verspannen. Genauso wenig bekomme ich mit, wie die Zeit

tische Mönche gemeinsam mit Menschen aus der ganzen Welt und

verfliegt. Oft gehe ich erst am Nachmittag, manchmal ist bereits der

demonstrieren ihr Können. Das ist Ansporn und Hoffnung zugleich.

Abend angebrochen.

Doch während des Übens gibt es nur das Hier und Jetzt. Ich fokussie-

Nur langsam schreitet das Werk voran. Doch dieses Eintauchen öff-

re mich auf den Atem, einzelne Körperteile und ihre Muskeln: Bewe-

net eine weitere Tür – eine Tür in die Stille und Zufriedenheit. Es gibt

gung, Anspannung, Entspannung. Ich spüre, wie sich durch Konzen-

nichts außer dem Papier. Gedanken, Wünsche, Sorgen existieren

tration und mentale Einkehr ein hellwaches Bewusstsein und innere

nicht mehr. Während mein Fokus bei der traditionellen Seon -Medita-

Ausgeglichenheit formen. Äußerlich zeugen rosa Wangen und ein

tion, die ich im Tempel praktiziere, immer wieder abschweift, schafft

zufriedenes Lächeln von Erfüllung.

es der Hanji -Kurs, ihn zu bündeln. Er ist eine Art „Papier-bearbeitende-Meditation“. Nachdem das Äußere und Innere des Tisches mit

Die Woche beginnt auch mit einem Lächeln. Dem von Meisterin Om

schwarzem und dunkelrotem Papier eingekleidet sind, fehlt noch die

– Künstlerin, Philantropin und Lehrerin – , wenn Sie die Tür zu ihrem

Dekoration. Dafür sind Teeblätter und zwei Teeschalen aus Hanji als

Studio im Nordwesten Seouls öffnet. Ihre Schülerinnen lehrt sie,

Griffe vorgesehen. Wieder und wieder schneide ich mit dem Skalpell

das traditionelle koreanische Papier Hanji zu verarbeiten, um dar-

grünes Papier in Form von Teeblättern zurecht. Den ersten fünfzehn

aus Schachteln, Tabletts, Uhren, Lampen oder sogar Möbel zu fer-

sieht man die Bemühungen an, dann werden die Formen fließender.

tigen. Schritt für Schritt erklärt Frau Om interessierten Frauen den

Innere Ruhe stellt sich ein. Nach dem letzten Lackieren und einer

Umgang mit diesem vielseitigen Material. Jeden Montagmorgen

Gesamtdauer von fünf Monaten kann ich zum ersten Mal eine Schale

sitze ich seit zweieinhalb Jahren in die Arbeit versenkt in ihrem Stu-

Tee auf meinem Tisch zubereiten. Ein perfekter Moment, für den sich

dio, entwerfe Skizzen für ein neues Projekt, vermesse Papier, zerle-

die Anstrengung gelohnt hat.

ge es mit einem Skalpell, leime oder lackiere. Während 17 Stockwerke tiefer Hektik und Lärm die Schnellstraße

Seoul, die Stadt der Schnelligkeit und Verlockungen, birgt auch Plät-

entlang des Han-Flusses beherrschen, erfüllen Konzentration und

ze der Stille und inneren Ruhe. Es liegt an jedem selbst, diese Orte

Muße jeden Winkel des Arbeitsraumes. Zu Beginn mangelt es mir an

für sich zu suchen, sich ganz auf das stille Glück einzulassen und zu

Geduld. Ich löchere die Meisterin mit Fragen über die Fertigstellung

verweilen.

eines Objekts und fühle nicht selten Enttäuschung, wenn diese nicht zeitnah scheint. Dies ändert sich mit meinem ersten Möbelstück aus

Hanji: einem Tisch zum Teetrinken. Allein die Recherche und Pla-

Ein von der Autorin selbst hergestellter Teetisch

nung beanspruchen zwei Wochen: Größe, Form, Farben des Papiers und Verzierung – alles muss berücksichtigt werden. Skizzen über Skizzen. Dann der Beginn des Projekts: Zunächst werden die Außenwände sowie die Tischplatte und zwei Schubladen aus Pappe gebaut. Messen, schneiden, feilen, polieren, zusammenleimen. Voll und ganz

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 61


REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

REZENSION

Realiät zeugt Fantasie, Fantasie zeugt Realität Chang Du-yeong Literaturkritiker

Kim E-whan hat sich über viele Jahre hinweg im Bereich der so genannten Genre-Literatur einen festen Platz gesichert. 1996 begann er, unter Ausnutzung der PC-Kommunikation zu schreiben und nach seinem Studienabschluss im Jahr 2000 machte er sich mit Online-Fortsetzungsromanen unter den

Der Junge, der Socken sammelt (2007) beginnt damit,

Lesern der Genre-Literatur einen Namen. Bereits sein erster Buchroman Die Geister von Evitagen (2004) wies auf seine vielfältigen Interessen hin, zu denen Science Fiction, Fantasy, Computerspiele, Animationsfilme, Kinofilme, Mythen und Legenden sowie Horror gehören.

tasie ein- und ausgeht, entwickelt er sich zu einer ein-

dass der Protagonist einen geheimen Durchgang ins Land der Fantasie findet. In der Realität ist er ein ganz gewöhnlicher Teenager, der sich Sorgen macht, ob er die Universitätsaufnahmeprüfung bestehen oder eine Freundin finden kann, aber während er im Land der Fanflussreichen Person, die bei vielem mitmischt. Auch in dem Roman Der Außerirdische von fünf Uhr nachmit-

tags (2008) koexistieren Realität und irreale Fantasiewelt: Man Kann sie zwar nicht erkennen, aber überall in unserer Umgebung stolzieren getarnte Außerirdische herum und ein normal erscheinendes Café ist in Wirk-

D

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lichkeit die geheime Agitationsstätte von Spezialagen-

ie Jahre kurz nach der Millenniumwende, als

ten, die diese Außerirdischen verfolgen und festnehmen.

Kim E-whan mit dem Schreiben anfing, waren

In Kims Erzählungen existiert die Fantasiewelt parallel

in Korea die Blütezeit der Fantasy-Romane, die

zum langweiligen Alltag.

durch die Beliebtheit der Serie Dragon Raja von Lee

Die Werke von Kim E-wahn, in denen Realität und Fanta-

Yeong-do ausgelöst wurde. Dragon Raja folgte der

sie Seite an Seite bestehen, werden manchmal als Alle-

Grundkonstellation der Fantasy-Welten mit Stämmen,

gorien auf die Realität interpretiert. In seinem Roman

Magie usw. nach dem Vorbild von Tolkiens Der Herr der

Die Kugel der Verzweiflung , der dem Autor 2009 den

Ringe . Der Erfolg dieses Romans führte in Korea zu

Ersten Multi-Literatur-Preis und Ruhm einbrachte, zeigt

einer Flut von Werken gleichen Strickmusters und das

seine Einsicht in Existenz und Begierde des Menschen.

Erscheinen von Drachen, Magie usw. wurde zur For-

Der Schauplatz des Romans ist das Seoul von heute, die

mel für die koreanische Fantasy-Literatur, die dann v.a.

Stadt, in der wir leben. Urplötzlich taucht eine nicht iden-

durch ihre Anwendung auf Online-Spiele zu einer Kon-

tifizierbare schwarze Kugel auf und schluckt die Men-

vention für Fantasy-Romane wurde.

schen einen nach dem anderen, was sie immer stärker

Im Gegensatz dazu wird in Kims Werken, denen meis-

werden lässt, sodass sich die Menschheit schließlich

tens Zeit und Raum des Alltags als Hintergrund dienen,

vom Aussterben bedroht sieht. Die Menschen-absorbie-

die Realität von der Fantasie überlagert. Der Roman

rende Kugel, die als Motiv wohl Zombie-Filmen entlehnt


ist, symbolisiert den Tod, kann aber auch als Metapher für das auf voller Front heranrückende Große Kapital als reizvolles literarisches Mittel verstanden werden, das die Gier des Menschen restlos entblößt. Die Koexistenz von Realität und Fantasiewelt liefert einen wichtigen Hinweis sowohl für die Genre- als auch für die orthodoxe Literatur. Kims Werke, die die Möglichkeit der Reflexion über die Realität bzw. die des Einsehens in die Realität aufzeigen, sind von besonderer Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass die Genre-Literatur hauptsächlich wegen ihrer wesensbedingter Selbstwiderspiegelung anstelle von Realitätswiderspiegelung oder wegen ihres eskapistischen Charakters kritisiert wird. Auch aus der Sicht der orthodoxen Literatur sind die Frische, die Kims Science Fiction- und Fantasyartige Weltanschauung zeigt, seine Kühnheit, die Grenzen der Vorstellungskraft ungehemmt zu erweitern, und seine Fähigkeit, das Interesse der Leser nachhaltig zu fesseln, beachtenswert. In diesem Sinne ist Kims Deine Verwandlung eine Erzählung, die das Potential der seinen Werken innewohnenden „Grenzvorstellungen“ an den Tag legt. Diese Erzählung, die 2010 in der Literaturzeit-

Ende wieder auf die Frage der Realität der Gegenwart.

schrift Munhakdongne (Literaturdorf) veröffentlicht wurde, ist die

Die Erzählung, die mit der Frage: „Was wird in Zukunft

veränderte Version der Erzählung Verwandlung!, die einige Jahre

geschehen?“ angefangen hat, stellt am Schluss, als alle

zuvor in dem auf Fantasy-Literatur spizialisierten Webzin Mirror

Geschichten erzählt sind, dem Leser die Frage: „Was ist

(mirror.pe.kr) veröffentlicht worden war. „Was würde geschehen,

es, das du wirklich begehrst?“

wenn der Mensch seinen Körper beliebig ändern könnte?“ Diese

Kim E-whan fasziniert den Leser an verschiedenen Stel-

Grundfrage der Erzählung hat ihre Wurzeln in der Science-Fiction-

len seiner Erzählungen, an denen sich Realität und Fan-

Tradition, deren Lieblingsstoff künstliche Menschen bzw. Roboter

tasie überlagern, mit einer „zwar vertrauten, aber bis

sind. Verwandlung! besteht aus etwa zwanzig kurzen Texten, die

dahin noch nicht entdeckten Fremdheit“. Man könnte

aus Berichten von Wissenschaftlern der Zukunft stammen könnten.

es vielleicht die Faszination von dem nennen, was man

In Deine Verwandlung erscheinen dazu die Figuren „Ich“ und „Du“.

nach einem langem Spaziergang in der Schwerelosigkeit

Das epische Grundgerüst wird durch die Darstellung verschiedener

der frei herumschweifenden Vorstellungskraft unver-

Geschehnisse aufgebaut und durch Gespräche zwischen „Ich” und

sehens entdeckt. Das kann ein scharfer Hinweis auf das

„Du” oder Beschreibungen der psychischen Befindlichkeit ausgeklei-

Verhalten des Menschen oder auch eine Mahnung vor

det. Wenn in Verwandlung! originelle Vorstellungen einfach nur anei-

seiner übermäßigen Gier sein. In seiner Erzählung Nie-

nandergereiht waren, so ist in Deine Verwandlung die Literarität auf

sen mit der Kaffeetasse in der Hand , in der es um die

einer höheren Ebene gesichert und die Vorstellungen weisen mehr

unsinnige Tagträumerei eines Gesprächs mit einer aus

Tiefe und Breite auf.

dem Abfluss gekrochenen Schnecke geht, füllt der Autor

Infolgedessen bietet die Erzählung das Vergnügen, einen Blick in die

die Geschichte mit reichlich originellen Einfällen, um

Zukunft à la Science Fiction zu werfen und bewirkt gleichzeitig eine

dann mit dem Satz abzuschließen: „Die Realität zeugt

Reflexion über die Gier des Menschen. An manchen Stellen ist eine

Geschichten, Geschichten zeugen Realität; beide zusam-

gewisse Huldigung an Animations- oder Kinofilme auszumachen,

men haben unser Leben geschaffen, indem sie einan-

die eine dunkle, deprimierende Zukunft darstellen, bzw. eine Paro-

der zeugten“. Wenn man daran denkt, dass für Kim eine

die derselben. Andere Stellen ließen sich hingegen als erzählerische

Geschichte eine von der Vorstellungskraft à la Science

Anwendung der Theorien über Homosexualität oder Psychoanalyse

Fiction und Fantasy überquellende Geschichte, sprich

interpretieren. Die Vorstellungen und Reflexionen sind nicht auf die

eine Fantasiegeschichte ist, dann lässt sich der obige

Zukunft fixiert, sondern weisen mit Bezügen zum antiken Griechen-

Satz wie folgt umformulieren: „Realität zeugt Fantasie,

land oder zum Seoul von heute dynamische Aspekte auf. Ist man

Fantasie zeugt Realität“. Diese Schnittstelle birgt das

eine Weile den Spuren der interessanten, wunderlichen bis irrsinni-

Potential, die Grenzen zwischen der Genre-Literatur und

gen Vorstellungen über die künftige Welt gefolgt, so stößt man am

der orthodoxen Literatur zu überschreiten.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63


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