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„Ist Tonalität ewig, unsterblich?“
Leonard Bernstein
Diese kurze Frage ist ein ausformuliertes Jahrhundertproblem. Eine Frage, die sich am schärfsten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stellte. Wie weit ließen sich die tonalen Grenzen noch erweitern und wie weit die Dimensionen von Sinfonien noch ausdehnen? Wo Wagner sich mit seinem „Parsifal“ schon im harmonischen Ausnahmezustand befand, wurde er von den späten Mahlersinfonien noch überboten. Und doch stand Anfang des neuen Jahrtausends schon fest, dass sich Harmonie und hypertrophe Orchesterwerke nicht ins Unendliche ausdehnen lassen, dass ein neuer Weg beschritten werden musste oder die Musik kollabieren würde. Und hier –um die 1910er Jahre – begann sich die Suche nach neuen Wegen musikalisch zu manifestieren. Es sind Komponisten wie Arnold Schönberg und Igor Strawinsky, die mit der Tonalität brechen, archaische Klänge zur Basis ihres Schaffens erheben und Fragen aufwerfen. Auch Jean Sibelius beschäftigte die Frage nach neuen musikalischen Wegen. In der Abgeschiedenheit Kareliens, wohin er sich im Sommer 1910 zurückgezogen hatte, legte er den Grundstein für seine 4. Sinfonie: „Ich arbeite an meiner neuen Sinfonie und habe hier und da wirklich erfreuliche Augenblicke. Manchmal etwas so Sublimes, woran ich nie zuvor Anteil hatte … Nur die Sinfonie lebt in mir. Es ist so wundervoll, mich ihr so vollkommen zuwenden zu können.“ Ganz so reibungslos, wie der hoffnungsvolle Beginn vermuten lässt, sollte es mit der neuen Komposition allerdings doch nicht vorangehen. Immer wieder unterbricht Sibelius seine Arbeit für andere Werke, verwirft, schreibt neu, fühlt sich gehetzt: „Es ist ein Jammer, dass die 4. Sinfonie keine Zeit hat, um in Ruhe zu reifen“, schreibt er seinem Agenten und zieht schließlich die Notbremse, sagt alle geplanten Tourneetermine ab und eröffnet seinem Agenten hellsichtig: „Die IV. Sinfonie strahlt mächtig in Sonnenschein und Kraft … Meine Kunst unterscheidet sich grundlegend von den ‚Konzertwaren‘, die sich ‚verkaufen‘.“
Tatsächlich stößt die 4. Sinfonie bei ihrer Uraufführung am 3. April 1911 in Helsinki, wo sie unter der Leitung des Komponisten stattfindet, weitgehend auf Unverständnis. Sibeliusʼ Frau Aino notierte im Anschluss an das Konzert: „Hinterhältige Blicke, Kopfschütteln, verlegen oder versteckt ironisches Lächeln. Zur Gratulation kamen nicht viele ins Künstlerfoyer.“ Das, was Sibelius hier vorstellte, hatte kaum etwas mit seinen früheren Kompositionen gemein, und es gab sich scheinbar spröde. „Aber obwohl der Komponist allen äußerlichen Glanz abgeworfen hat, ist sein Werk nicht rückwärtsgewandt, im Gegenteil. Es ist das Neueste der neuen Musik, bislang das Kühnste in kontrapunktischer und harmonischer Hinsicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, scheint es schwer verständlich zu sein – einfach wegen des Reichtums der Dissonanzen und der Radikalität der harmonischen Struktur, aber wenn man es besser kennenlernt, spürt man die außergewöhnliche Technik und strenge Logik dahinter, die beim ersten Hören noch dunkel schien“, bemerkte der Kritiker Evert Katila und Sibelius pflichtete ihm bei. So klar Sibeliusʼ Vorstellungen von diesem Werk waren, so sehr wurde und wird es zum Teil noch heute missverstanden. Nicht zuletzt rührt das Unverständnis von dem Bemühen her, ihr ein außermusikalisches Programm überstülpen zu wollen. So ließ ein Kritiker schon kurz nach der zweiten Aufführung – angeregt durch Reisebeschreibungen, die von Sibeliusʼ Karelienaufenthalt herrührten – ein naturgewaltiges, den Nationalstolz beförderndes vermeintliches Programm zum Verständnis der Sinfonie abdrucken. Vom Berg Koli ist da die Rede und von dem See Pielsjärvi, dessen Wellen in der Sonne glitzern, sowie vom Komponisten selbst, der die Landschaft durchwandert und seine Eindrücke in die Sinfonie komponiert habe. Sibelius widersprach dieser Auffassung energisch, doch das Wort war bereits in der Welt und wirkt nachhaltig weiter. Dabei ist es völlig ausreichend, und mindestens so spannend wie eine Reisebeschreibung, Auf- und Anregung in der puren Musik zu suchen und zu finden. Insgesamt ist die Vierte höchst ökonomisch angelegt, das Orchester nicht ausufernd groß besetzt und das thematische Material verdichtet. Eine zentrale Rolle spielt bei den motivischen Überlegungen der Tritonus, der „Diabolus in musica“ („Teufel in der Musik“) –eine Dissonanz, die sich der Dur-MollEinordnung widersetzt. Dieses Intervall, das sich als Idee durch alle Sätze der Sinfonie zieht, bildet den motivischen Kern des ersten Satzes, der grüblerisch, rhythmisch komplex und in seiner Langsamkeit einen geradezu verstörenden Einstieg in eine Sinfonie darstellt. An zweiter Stelle folgt ein Scherzo, das trotz seiner Strenge von einer tänzerischen Leichtigkeit durchdrungen ist.
Doch die Stimmung kippt, der Tritonus rückt erneut ins Zentrum des motivischen Interesses, der Satz endet unerwartet, erschöpft, alle Energie scheint aus ihm gewichen.
Vorsichtig tastend beginnt das Largo mit zaghaften Holzbläserfragen. Auch im weiteren Verlauf des Satzes geben sich die Themen rhapsodisch, suchend. Das Fehlen eines verlässlichen Fundamentes macht sich schmerzlich bemerkbar. Auch ein beinahe hymnisches Aufbäumen kurz vor Schluss, fällt wieder in sich zusammen, das Largo verklingt im Pianissimo.
Der Umschwung erfolgt im Finale : Die Energie ist zurück, die Krise scheint überwunden. Doch die hymnischen Momente sind nur von kurzer Dauer. Auch dieser Satz zerlegt sich in Fragmente, verliert an Gewissheit, chorale Ansätze werden nicht zu Ende geführt, das Tritonus-Motiv kehrt zurück und mit ihm die zunehmend stabile Behauptung der Tonart a-Moll, die das lakonische Ende bestimmt.
Eine Sinfonie, die „voller ungelöster Zweifel und Schrecken“ steckt, wie es Leonard Bernstein formulierte, die aber gleichzeitig den Blick nach vorne öffnet und die Frage nach dem Weg der Tonalität stellt, ohne sie bereits beantworten zu können.
1912 unterzog Sibelius seine Sinfonie noch einer Revision, dann aber erklärte er diese Fassung zu der „für alle Zeit gültigen“. Tatsächlich äußerte er noch Jahre später: „Ich kann darin immer noch keine einzige Note finden, die ich streichen könnte und auch finde ich nichts hinzuzusetzen. Das erfüllt mich mit Kraft und Zufriedenheit. Die 4. Sinfonie repräsentiert einen wesentlichen und großen Teil von mir. Ja, ich bin froh, dass ich sie geschrieben habe.“
Am 29. März 1912 wurde die revidierte Fassung, die auch im heutigen Konzert zu hören sein wird, in Helsinki, wieder unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt. Ihr folgten zahlreiche Konzerte im Ausland: in Kopenhagen, Birmingham, Amsterdam. Die Aufführung in Wien fand nicht statt: Man habe kein Glockenspiel, lautete die durchsichtige Ausrede, ein Werk, dem von der Kritik in Großbritannien „extreme Unklarheit“ und ein „beträchtlicher Mangel an Charme“ bescheinigt worden war, nicht aufführen zu müssen. Tatsächlich hatte sich das Orchester geweigert, die
Sinfonie zu spielen. Trotz einiger derartiger Vorbehalte und Rückschläge setzte sich das Werk mit der Zeit durch, nicht zuletzt, weil bereits derselbe Kritiker der Londoner „Times“, der die Sinfonie so „uncharmant“ gefunden hatte, auch erkannte, dass Sibeliusʼ Sinfonie gezeigt habe, „dass wir ihn als wesentlich wichtigeren Faktor in moderner Musik betrachten müssen, als uns dies Kompositionen wie ‚Finlandia‘ und ‚En saga‘ nahegelegt hatten“.