EIN GRO ß ER AUFBRUCH
von Magnus VattrodtEin großer Aufbruch von Magnus Vattrodt nach seinem gleichnamigen Film
Holm Jan Bernhardt
Adrian Hannes Rittig
Katharina Christiane Schoon
Marie Friederike Serr
Heiko
Anjo Czernich
Ella Gabriele Völsch
Charlotte Nora Hickler
Inszenierung Uta Koschel
Bühne & Kostüme Eva Humburg
Dramaturgie Oliver Lisewski
Regieassistenz & Abendspielleitung Lisa Muchow
Inspizienz Kerstin Wollschläger
Soufflage
Wolf Dietrich Stückrad
Premiere Greifswald 16.03.2024, Kaisersaal
Premiere Stralsund 05.04.2024, Großes Haus
Premiere Putbus 03.05.2024, Theater Putbus
Aufführungsdauer ca. 2 Stunden und 20 Minuten, inkl. Pause
Aufführungsrechte Hartmann & Stauffacher Verlag, Köln
Ausstattungsleiterin: Eva Humburg / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Beleuchtungseinrichtung: Christoph Weber / Bühnentechnische Einrichtung: Jens-Uwe Gut / Toneinrichtung: Nils Bargfleth / Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Leitung Ton: Daniel Kelm / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm / Bühne & Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg / Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit / Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister / Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas Garcia, Sven Greiner / Dekoration: Frank Metzner / Kostüm & Werkstätten: Leiter der Kostümabteilung: Peter Plaschek / Gewandmeisterinnen: Annegret Päßler, Carola Bartsch / Modisterei: Elke Kricheldorf Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Westphal / Maske: Tali Rabea Breuer, Jill Dahm, Antje Kwiatkowski, Kateryna Maliarchuk, Ilka Stelter
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Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Darf ich fragen, was das ist, ein gelungenes Leben?
Magnus Vattrodt „Ein großer Aufbruch“
Ende gut, alles gut?
Der pensionierte Ingenieur Holm ist unheilbar krank und hat sich entschlossen, seinen „großen Aufbruch“ selbst in die Hand zu nehmen und in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Nur eine Woche vor dem geplanten begleiteten Suizid lädt er seine Familie und die engsten Freunde in sein Haus am See ein, um sie von seinem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Trotz des vermeintlich traurigen Anlasses, hofft er auf einen schönen Abend. Mit einem üppigen Mahl und viel gutem Wein will er sich gebührend verabschieden und noch einmal das Leben feiern – schließlich haben sich die Eingeladenen in dieser Konstellation seit Jahren nicht mehr getroffen, leben in alle Himmelsrichtungen zerstreut und folgen ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen und beruflichen Karrieren: Holms Tochter Marie ist Anwältin, die jüngere Tochter Charlotte Galeristin in Frankreich. Seine Ex-Frau Ella ist Ärztin, sein bester Freund Adrian Geschäftsführer und ein ehemaliger Entwicklungshelfer, wie Holm selbst einst einer war. Adrians Frau Katharina leitet eine Stiftung für Waisenkinder und Maries Freund Heiko ist Patentanwalt.
Zur Überraschung des Gastgebers läuft jedoch nichts wie geplant. Seinem Entschluss und der Darstellung seines vermeintlich erfüllten und gelungenen Lebens will die versammelte Tischgesellschaft nicht zustimmen und eröffnet schonungslos ganz andere Perspektiven auf Holms Biografie. Im Verlauf des Abends brechen alte und neue Konflikte aus, lange Verdrängtes und geheime Affären kommen ans Tageslicht und die Beziehungen werden allesamt auf die Probe gestellt. Der Autor selbst beschreibt es so: „Mehr als um Sterbehilfe geht es am Ende um Selbstbilder und die Lügen und Halbwahrheiten und Täuschungsmanöver, in denen wir unsere Leben einrichten.“
Magnus Vattrodt ist es gelungen, aus einer tragisch anmutenden Konstellation ein intelligentes, komödiantisches Kammerspiel zu entwickeln, das auf sehr vitale Weise und in blitzgescheiten Dialogen die Angst vor dem Sterben und dem Scheitern der eigenen Lebensentwürfe verhandelt. Es geht um die Bedeutung von Freundschaft und Familie und am Ende um die Frage nach einem gelungenen Leben.
Ars moriendi – Ars vivendi
Im 15. Jahrhundert war man der Ansicht, dass Sterben eine Kunst sei. Für ganze Generationen von Vorfahren war es selbstverständlich, dass Sterben und Tod zu jeder Zeit eintreffen konnten. Und was taten sie? Sie lernten sterben. Damit sich jeder zu Lebzeiten diese Kunst aneignen konnte, gab es ein Lehrbüchlein dafür. Sein Titel lautete ‚Ars moriendi‘ (‚Die Kunst des guten Sterbens‘) und es war mit Holzschnittzeichnungen versehen, so dass es auch jeder Leseunkundige studieren und sich mit dem allenthalben in Erscheinung tretenden Tod auseinandersetzen konnte. Der Tod wurde nicht verdrängt, was angesichts seiner Allgegenwart auch schwerlich gelungen wäre.
Sterben ist seit damals nicht leichter geworden. Doch eine Anleitung gibt es heute nicht mehr. Wohl liegen unzählige Publikationen zum Thema ‚Sterben und Tod‘ vor. Mittlerweile gibt es Studien zu allen nur denkbaren medizinischen, rechtlichen, psychologischen, historischen, philosophischen und theologischen Teilaspekten. Vor lauter ausuferndem Schreiben und endlosem Reden haben wir jedoch die simple und doch so schwere Kunst unserer Vorfahren, selbst zu sterben, verlernt.
Unser Dilemma rührt daher, dass wir diese Natur in uns leugnen wollen. Der schöne Schein von Dutzenden quasi garantierten „besten Jahren“ pervertiert die Lüge vom „ewigen“ Leben zur Wahrheit auf Zeit. Wieso aber sollte uns – trotz allen (erfreulichen!) Erfolgen in der Gesundheitseinbußen-Abwendung – als natürlichen Wesen letztlich etwas anderes bevorstehen als allen anderen natürlichen Wesen auch?
Die Einsicht in unser natürliches Schicksal, entpuppt sich bei genauem Hinsehen somit recht eigentlich als eine ‚Ars vivendi‘. Wer die „Kunst des rechten Lebens“ beherrscht und sie virtuos handhabt, der wird sich auch leichter mit der Kunst des rechten Sterbens tun. Das eine wird zum Wegbereiter des anderen.
Arthur E. ImhofHumor in der Kunst
Traditionell haben wir die Vorstellung, dass Kunst eine ernste Angelegenheit sein sollte. In diesem Fall stünde komische, humorvolle Kunst auf der untersten Stufe der Leiter. Kunstwerke, die uns zum Schmunzeln und Lachen bringen, sind jedoch überall in Galerien und auf Kunstmessen zu sehen.
Es wäre unmöglich, die große Zahl von Künstlern zu erfassen, die in der zeitgenössischen Kunst auf irgendeiner Ebene Humor verwenden. Wir können uns jedoch in Erinnerung rufen, dass sowohl Kunst als auch Humor als Illusion existieren und als Lücke zwischen der Realität und dem Möglichen fungieren. Deshalb haben beide die Fähigkeit, uns Abstand zu verschaffen und uns die Augen für die vertraute Realität, die uns umgibt, zu öffnen.
Humor dient in der Kunst unterschiedlichen Zwecken. Unbeschwerter Humor spielt oft mit den Codes der künstlerischen Institution selbst, während zynischer Humor für gesellschaftspolitische Kritik verwendet wird. In beiden Fällen ist der Humor weit davon entfernt, die Kunst in etwas Belangloses zu verwandeln. Wenn wir uns auf die Freudsche Psychoanalyse beziehen, sehen wir, dass der Humor aus der Fähigkeit zum Spiel entsteht und das „Prinzip der Realität“ und das „Prinzip des Vergnügens“ nebeneinander bestehen können. Humor hat also die Fähigkeit, Gegensätze zu versöhnen. Die Leichtigkeit im Angesicht der Schwere der Realität ermöglicht es uns, uns von unseren Ängsten zu distanzieren. Mit anderen Worten: Humor kann als Abwehrmechanismus gegen Scham, Depression, Wut und Verzweiflung wirken. Möglicherweise erwarten wir vom Humor dasselbe wie von der Kunst: eine Unterbrechung unserer gewohnten Realität, eine Flucht aus unserem Alltag und eine Ermutigung, trotz des Schlechten, das uns umgibt, weiterzuleben.
Max PapeschiHolm & seine Gäste
Holm : Kaum eine Autostunde von der Stadt entfernt, liegt der See. Hier habe ich schon als Kind mit meinen Eltern sämtliche Ferien verbracht. Ich habe hier schwimmen gelernt. Vom Ufer ist es nur ein kurzer Fußmarsch bis zu meinem Haus.
Ella ist auf dem Weg zu mir. Sie wird sich natürlich verspäten, aber solche Dinge haben Ella noch nie interessiert. Ella und ich waren einmal verheiratet. Aber das ist lange her. Heute ist sie mit einem Schweizer zusammen. Er ist Arzt, wie sie. Lungenspezialist.
Und das ist Charlotte . Unsere jüngste Tochter. Sie ist extra den ganzen weiten Weg von Narbonne gekommen. Sie hat dort eine Galerie, gemeinsam mit ihrem derzeitigen Verlobten, einem Künstler namens Jean-Michel. Oder Jean-Pierre. Oder so. Charlotte hat immer gute Laune. Immer.
Und das ist Marie , unsere älteste Tochter. Marie ist Anwältin. Sie beherrscht vier Fremdsprachen und hat eine besondere Vorliebe für Zahlen. Für Puppen oder sowas hat sie sich nie interessiert. Stattdessen wollte sie schon als Kind immer mit den großen Jungs spielen. Genau genommen macht sie das bis heute.
Das ist Adrian . Er ist mein bester Freund. Er wartet übrigens schon seit über einer Stunde auf mich. Er würde nie auf die Idee kommen, sich in sein Auto zu setzen und die Standheizung zu bemühen. Da friert er lieber. Oder kocht. So ist er, der gute Adrian.
Und Katharina , Adrians Frau. Früher war sie mal Ellas beste Freundin. Aber das ist lang vorbei. Heute leitet sie eine Stiftung, die sich um die Förderung von Waisenkindern kümmert. Die Stiftung finanziert sie über Adrians Geld. Genauso wie ihre Leidenschaft für große Autos.
Und dann ist da noch Heiko , Maries Freund, aber ihn werde ich erst im Laufe des Abends kennenlernen …
Meine Töchter, meine besten Freunde und Ella: Die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Mit ihnen will ich heute feiern: Wir feiern … das Leben!
Auszug aus der Drehbuchfassung von Magnus Vattrodt
Afrika
Eines der größten Streitthemen im Haus am See ist Holms Vergangenheit als Ingenieur in der Entwicklungshilfe. Er inszeniert sich als Idealist, die Wahrheit ist eine andere und beinhaltet sexuelle Abenteuer unter der Sonne Afrikas.
„Die latente Verlogenheit mancher Entwicklungshilfe-Aktivisten beschäftigt mich schon länger“, sagt Autor Magnus Vattrodt. „Die Selbstgerechtigkeit einiger Menschen, die hinausfahren und für uns alle die Welt retten. Ich war nach dem Abitur mehrfach in Westafrika und habe diese Szene ein bisschen kennen gelernt. Da gab es viele, denen es ernst war, und die professionell gearbeitet haben. Aber eben auch einige, bei denen ich mich gefragt habe: Bist du wirklich hier, um zu helfen, oder weil es deinem Ego schmeichelt, wenn du den großen Zampano spielen kannst und mit speziellem Nummernschild durch Afrika brausen darfst?“
Sven SakowitzIch für meinen Teil würde sagen: Ein gelungenes Leben ist ein intensiv gelebtes Leben. Ich denke da zum Beispiel an unsere wunderbaren Jahre in Afrika … MARIE
Feinslieb, das war es also schon, Der Sommer ist vertrieben, Die Vögel sind auf und davon, Und wir sind hiergeblieben Fremd zieh ich ein, fremd zieh ich aus, Ich weiß nicht was ich tu Heut nacht, verwelkt ist mein Zuhaus, Und du, du lachst dazu.
Hans-Eckardt WenzelDer Autor
Magnus Vattrodt wurde 1972 in Karlsruhe geboren, studierte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen und absolvierte das Autorenprogramm der Internationalen Filmschule in Köln, an der er heute als Professor lehrt. Als Drehbuchautor zeichnet er u.a. verantwortlich für mehrere Tatort-Folgen und preisgekrönte Produktionen wie „Der Novembermann“, „Liebesjahre“, „Das Ende einer Nacht“, „Das Zeugenhaus“, „Ein großer Aufbruch“, „Ein Kommissar kehrt zurück“ und „Die Wannseekonferenz“. Ihn verbindet eine jahrelange Zusammenarbeit mit dem Regisseur Matti Geschonneck, der mehr als zehn seiner Drehbücher realisierte, u.a. auch „Ein großer Aufbruch“.
Seine Produktionen wurden mit dem Grimme-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Drehbuchpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet. Magnus Vattrodt lebt mit seiner Familie in Köln.
DER LEUCHTENDE PUNKT
MEINE
IDOMENEO
Der Grundgedanke war, ein gleichermaßen heiteres wie böses Stück über ein als schwer empfundenes Thema zu machen – die Konfrontation mit dem eigenen Sterben, die Aufarbeitung einer Familiengeschichte und die Bewertung des eigenen Lebens angesichts des Todes.
Magnus VattrodtHerausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24
Geschäftsführung:
André Kretzschmar
Gestaltung: giraffentoast Impressum
Redaktion: Oliver Lisewski
Literaturnachweise: Der Text auf S. 3 ist ein Originalbeitrag von Oliver Lisewski für dieses Heft. / Arthur E. Imhof: Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien 1991, S. 19ff. / Max Papeschi: Humor in der modernen und zeitgenössischen Kunst, Artsper, 1. September 2015, www.blog. artsper.com / Afrika: zit. aus: Sven Sakowitz: „Ein großer Aufbruch“: Im Angesicht des Todes, taz vom 16.12.2015 / Hans-Eckardt Wenzel: Herbstlied, zit. nach: https://www.songtexte.com/songtext/wenzeland-band/herbstlied-g13bb59d9.html
Bildnachweise: Fotos von Peter van Heesen