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DREI FRAGEN AN REGISSEUR WOLFGANG BERTHOLD
Der mythische Stoff des Orpheus reicht zurück bis in die Antike, die Oper nimmt sich dieses Stoffes seit dem frühen 17. Jahrhundert immer wieder an und rückt dabei die unterschiedlichsten Facetten in den Vordergrund. Welches war der Ausgangspunkt für diese Inszenierungsidee?
Das Verhalten zum Todesthema war für mich eine wichtige Frage im Vorfeld: Wie gehen wir mit dem Versprechen um, dass wir Tote zurück ins Leben holen können? Ich finde diese Behauptung aus einer aufgeklärt-atheistischen Weltsicht heraus problematisch und sogar geradezu zynisch, wollte das also keinesfalls wörtlich nehmen. Das Sterben von Liebe ist ja auch als Metapher lesbar, und die Redewendung, dass jemand für einen „gestorben“ ist, funktioniert ebenso. Wir haben uns also dafür entschieden, die ganze Geschichte viel profaner und diesseitiger zu interpretieren, als Passion nach einer gescheiterten Beziehung. Die großen Emotionen, sowohl im Text als auch in der Musik, sind aus Orfeos radikal subjektiver Sicht nicht minder wahr: Für ihn ist der Trennungsschmerz in diesem Moment ebenso heftig wie der Schmerz nach dem Tod eines geliebten Menschen (wie ja alle emotionalen Empfindungen letztlich subjektiv immer wahr sind). Euridice ist deswegen bei uns auch immer präsent, denn ihr Leben geht ja weiter – nur eben ohne Orfeo, und damit für ihn unerreichbar. Der Abstieg in den Hades ist bei uns folgerichtig Orfeos Weg in das eigene Unterbewusste, die Konfrontation mit seinen Ängsten, Projektionen und auch Hoffnungen. Letztlich macht er eine Art Therapie durch, nach der er und Euridice sich im dritten Akt noch einmal eine Chance geben. Hier kommt die Blickthematik ins Spiel: Euridice wünscht sich, von Orfeo endlich „gesehen“ zu werden – und natürlich kann man problemlos jemanden anschauen, ohne ihn zu sehen. Im Dialog zwischen beiden wird die sehr äußerliche Frage nach dem „Blick“ also zu einem Abarbeiten an der Bürde einer toxischen Beziehung und die Frage danach, ob eine zweite Chance unter diesen Bedingungen überhaupt realistisch ist.
Inwiefern hat der Kaisersaal als Spielstätte die Konzeption der Inszenierung beeinflusst?
Die Raumbühne im Kaisersaal ist mit ihrer Offenheit nach beiden Seiten maximal antiillusionistisch. Das geht Hand in Hand mit unserem Konzept: Wir brauchen ja keine Unterwelt aus Pappmachéefelsen oder dergleichen, da sich das Drama im Inneren abspielt. Die Bilder, die wir zeigen, sind also symbolische, Visionen, (Alp)träume, Überhöhungen – und als solche immer reich an Skurrilitäten, Brechungen und Irritationen. Durch die große Nähe zum Publikum können sich die Darstellerinnen ein feines, nuanciertes und intimes Spiel erlauben, das auf der „großen“ Bühne kaum funktionieren würde. Und theatralisch betrachtet ist das Schöne an dieser Bühne, dass man nichts verstecken kann – und deswegen gar nicht erst Gefahr läuft, in illusionistisches „Behauptungstheater“ zu verfallen. Alle Aktionen geschehen offen, jeder technische Vorgang wird damit ebenso bedeutsam wie ein inhaltlicher – Banales steht dadurch unvermittelt neben Bedeutsamem, und dieses Nebeneinander von Existentiellem und Alltäglichem ist es ja auch, was Beziehungsdramen nun mal oft kennzeichnet und die Tragikomik des Daseins ausmacht.
Inwiefern hat Glucks Musik die Inszenierungsidee mitgeprägt bzw. beeinflusst die dramatische Umsetzung, und welche Rolle spielt sie hinsichtlich dieser Herangehensweise?
Glucks Musik ist gekennzeichnet von einer gewissen Erhabenheit und klassischem Formbewusstsein – das irritiert natürlich zuerst einmal angesichts der großen Emotionen, die sie ja charakterisieren soll. Doch Glucks Bestreben war es eben, bewusst das virtuose Überborden der Barockoper zu überwinden und zu einer innerlicheren Empfindsamkeit zu gelangen. Unsere Lesart ergänzt das ideal, da uns ja auch subjektive Empfindungen, innere Vorgänge wichtiger sind als äußerliche Betriebsamkeit. Außerdem ermöglichen die vielen Ballettmusiken und tableauhaften Szenen der Partitur genau die symbolische Überhöhung, das Eröffnen von psychologischen Bilderwelten, mit denen wir Orfeos Seelenzustände darstellen wollten. Gleichwohl ist die Musik auch in diesen Szenen nicht nur „Soundtrack“, sondern oft ergibt sich aus dem Kontrapunkt zwischen Szene und Musik noch einmal eine besondere Reibung. Kommt dann in manchen Momenten auch noch ergänzender Sprechtext hinzu, ergibt sich fast eine kognitive Überforderung, die aber wiederum genau Orfeos emotionaler Überforderung entspricht.
Übrigens hat uns vor allem die Partitur auch darin bestärkt, den schicksalhaften „Augenblick“ im dritten Akt, in dem Orfeo sich zu Euridice umschaut, nicht realistisch zu lesen: Genau in diesem Moment passiert in der Musik nämlich – nichts. Die dramatischen Höhepunkte sind an anderen Stellen gesetzt. Schon Gluck hat sich also wohl eher für die psychologische Dimension als für den äußeren Handlungsvorgang interessiert.
Vom Wortsinn aus betrachtet ist ein Mythos zunächst nichts weiter als eine Geschichte. Doch sein Gehalt geht weit über die bloße Erzählung hinaus. Indem der Mythos meist exemplarisch menschliche Geschicke in Beziehung mit dem herrschenden Gesellschaftsgefüge setzt, fällt ihm eine allgemeingültigere, ja sinn- und ordnungsstiftende Aufgabe zu. Aus der zunächst vorrangigen Funktion, gleichermaßen Vertrautheit wie bewusste Distanz gegenüber den unberechenbaren Elementen der Natur zu schaffen, entwickelte sich im antiken Griechenland schnell ein Kosmos aus Mythen um die Beziehungen zwischen Menschen und Göttern, die aus Unerklärlichem Schicksalhaftes machten und Natur in Kultur einzuordnen versuchten. Somit zielt der Mythos primär darauf ab, den Menschen die „Angst auf den unbesetzten Horizont der Möglichkeiten dessen was herankommen mag“ (Hans Blumenberg) zu nehmen.
Dieser „Lebensangst“ kann mit der „Lebenskunst“ begegnet werden, also durch Kunstgriffe, mithilfe derer das Unerklärliche erklärbar gemacht, und so die Existenz in kalkulierbare Bahnen gelenkt wird. Das so entstehende Weltenkonstrukt dient im Moment seiner Entstehung zweifelsohne als Erklärungsmodell, muss sich aber im Wandel der Zeiten stetig mit der veränderten Wahrnehmung der Welt modifizieren. Neue Unwägbarkeiten verlangen nach neuen Erklärungsmodellen – oder der Neubewertung alter Mythen. Dies ist die Sisyphos-Aufgabe jeder Kultur.
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Die romantische Liebe gilt uns als geheime Macht, als Quelle höchsten Glücks und größter Schmerzen. Eine Ausnahmesituation, die von extremen Emotionen gekennzeichnet ist. Und sie ist unabdingbar, sie wird zum erstrebenswerten Lebensinhalt. Dass romantische Liebe ein so wichtiger Faktor in unserem Dasein ist, gilt erst seit einigen hundert Jahren, nämlich seit der Entstehung der modernen Gesellschaft. Der Stellenwert der Liebe und ihre Spielarten sind nicht nur Gegenstand der vielfältigsten künstlerischen Betrachtungen, sondern – allerspätestens seit dem 19. Jahrhundert – auch Bestandteil psychologischer Betrachtungsweisen geworden. Doch auch diese Analysen werden dem Phänomen nur zum Teil gerecht, denn der rasante Wandel im Verständnis und in den Bedürfnissen der Liebe lassen sich nur mit einem damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel erklären. Und an diesem Punkt kommen soziologische Betrachtungen ins Spiel.
Die Soziologie holt die romantische Liebe im 20. Jahrhundert auf den harten Boden der gesellschaftlichen Tatsachen zurück und beschreibt sie als soziale Erfindung, als Quidproquo oder als kommunikative Zumutung. Denn schließlich handelt es sich bei der Liebe nüchtern betrachtet um eine soziale Beziehung zweier (oder mehrerer) Menschen, die in vielfältiger Weise von den sie umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen abhängt. Dabei gilt das soziologische Interesse in erster Linie der Entzauberung des Bildes der romantischen Liebe. Durch die Überhöhung der Liebeserwartung zu einem utopischen Ideal rückt sie in unerreichbare Ferne. Hingegen wird das tatsächlich einlösbare Liebesglück oft negiert, da es zu unspektakulär erscheint.
So paradox es scheinen mag: Nur wenn man die Liebe nüchtern betrachtet, den romantischen Zuckerguss abkratzt, den Mythos entzaubert, tritt sie in ihrer Vielfalt wieder zutage.
Dabei wäre der Ausgangspunkt aller Betrachtungen die Einsicht in die Tatsache, dass das Phänomen der romantischen Liebe mit all seinen seelischen und körperlichen Ausprägungen ein Ausnahmezustand jüngeren Datums ist. Die Idee der Liebe als Grundlage für die Partnerwahl und Partnerbeziehungen, die sich im 18. Jahrhundert nach und nach manifestierte, gilt im 20. Jahrhundert als (nahezu einzig) legitime Voraussetzung für eine Eheschließung.
Und doch sind gerade jetzt, wo der romantischen Liebe Tor und Tür geöffnet scheinen, die Freiheit der Partnerwahl sich gesellschaftlich manifestiert, die Hindernisse, eine solche Liebe zu leben, größer denn je. Die unbegrenzten Möglichkeiten, die eine aufgeklärte (über-) sensibilisierte freiheitliche Gesellschaft mit sich bringt, hat einen Pferdefuß. Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, dann gilt auch der Umkehrschluss. Wo alles möglich ist, ist nichts mehr einzigartig. Die Überfülle der Möglichkeiten führt zu einer Entscheidungsparalyse. Denn die Wahl der einen führt zwangsläufig zur Ablehnung vieler anderer, womöglich besserer Alternativen. Die Kompromisslosigkeit dieser Suche erhebt die romantische Liebe nun tatsächlich in den Status einer Utopie. Denn um Liebe als Lebensmodell erfahrbar zu machen, müssen sich Menschen aufeinander zubewegen und Kompromisse eingehen. Das unterscheidet die Theorie von der Praxis, das Ideal von der Realität, Orpheus von Eurydike.
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