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INNERER PROZESS
CHEFDRAMATURG RONNY SCHOLZ IM GESPRÄCH MIT REGISSEUR UND AUSSTATTER SEBASTIAN RITSCHEL ÜBER DIE KAFKA OPER DER PROZESS
RONNY SCHOLZ Kafkas rätselhaftes Romanfragment DER PROZESS wurde schnell als Schlüsselwerk verstanden und unzählige Male für das Theater adaptiert. Worin besteht für dich das Faszinosum der Vorlage als Theaterstoff?
SEBASTIAN RITSCHEL Kafkas Romanfragment DER PROZESS und die spannende Aufarbeitung seiner Entstehung haben mich schon immer fasziniert. Der Versuch Kafkas Schreibprozess und seine Handschrift zu analysieren, ist wie eine archäologische Reise zum Innenlebendes Romans. Kafkas theatrale „Welten“ sind auf den ersten Blick geprägt von der allgegenwärtigen Präsenz einer höheren Gewalt, die gegen den machtlosen Einzelnen agiert, und einem nicht unproblematischen Verhältnis zum weiblichen Geschlecht – insgesamt ein eher „dunkles“ Bild. Doch es existiert gleichzeitig ein facettenreiches Bild von Absurditäten und grotesken Situationen– man denke nur an Max Brods Kommentaranlässlich der Lachsalven beim gemeinsamen Vorlesen des PROZESS’.
RS Und als Oper?
SR Auf der Suche nach Adaptionen von Kafka-Stoffen für das Musiktheater stößt man auf einige Werke, die aufgrund ihrer unglaublichen Größe oft nicht in Frage kommen. Komponist Gottfried von Einem und seine lustvolle Vertonung des Stoffes bilden eine pragmatische Ausnahme. Die Oper – zwischen Parlando, Jazz und pochender Rhythmik – vertieft die absurde Ebene des Romans, indem sie Doppelgänger*innen schafft und diese als Projektions- und Erinnerungsflächen „gegen“ Josef K. verwendet.
RS Wofür steht der „Prozess Josef K.“ deiner Meinung nach?
SR Die Frage der Schuld ist einer der zentralsten Aspekte in Kafkas Roman und in seinem gesamten Schaffen. Paradoxerweise erfährt Josef K. nie, inwiefern er schuldig ist. Ich lese den Stoff heute als Prozess einer inneren Entfremdung und als ein Zeichen unterdrückter Schuld. Betrachtet man den PROZESS vor dem biografischen Hintergrund Kafkas, so sind es vor allem zwei Begebenheiten, die als Anlass für die Verwendung der Schuldthematik angesehen werden können: Kafkas problematisches Verhältnis zu seinem Vater (Herrmann Kafka) und die Auflösung der Verlobung mit Felice Bauer. Bezeichnenderweise fällt diese auf den Vortag Kafkas einunddreißigsten Geburtstages – eine „Parallele“, die Kafka später in seinem Roman drastischer verwenden wird: Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird Josef K. umgebracht.
RS In diesem Fall bist du dein eigener Ausstatter: Warum ist vom klassischenKafka-Schwarz-Weiß nicht viel zu sehen?
SR Weil diese „einfachen“ Parallelen für mich nicht existieren. Das Leitmotiv unserer Inszenierung ist: „Thema und Variationen“. Der dreigeteilte Bühnenraum (Zimmer–Straße–Bank) spiegelt die Ausweglosigkeit von Josef K. wider. Wir zeigen, dass er trotz veränderter Spiel-Situationen immer wieder am „gleichen Ort“ gefangen ist. Eine endlose Schleife setzt sich in Bewegung: Es gibt kein Entrinnen.
PRESSEAUSWAHL ZUR KOPRODUKTION MIT DEN LANDESBÜHNEN SACHSEN
DER PROZESS ist auch in dieser Hinsicht ein Stück zur Stunde. Ins Auge gefasst hatte der bisherige, in der kommenden Spielzeit als Intendant nach Regensburg wechselnde Operndirektor der Landesbühnen und Regisseur Sebastian Ritschel diese von Einem Oper schon länger. Gut, dass er das ambitionierte Vorhaben jetzt umgesetzt hat. […] Überhaupt stimmt das Timing und die stilistische Geschlossenheit dieser Inszenierung bis ins fantasievolle Detail.
JOACHIM LANGE www.nmz.de
Die Inszenierung Sebastians Ritschels, der auch die Ausstattung verantwortet, übersetzt diese musikalischen Qualitäten in faszinierende Bilder. […] Die hyperreale Albtraumwelt des Romans findet eine optisch überzeugende Entsprechung, wobei auf simple Schwarz-Grau-Symbolik verzichtet wird. Sogar die Videotechnik, nicht selten eine unverzichtbare Requisite einfallsloser Inszenierungen, wird hier sinnvoll eingesetzt. […] Die Aufführung liefert mithin genug künstlerische Gründe, dieses Werk auch auf größere Bühnen zu holen.
VOLKER TARNOW Opernwelt Dezember 2021
Ein Gesamtkunstwerk aus hochästhetischer szenischer Umsetzung und hohem musikalischem und vokalem Niveau. […] Die Vorteile dieser Inszenierung sind die sinnliche Qualität und der Schauwert, in die alles verpackt wurde. […] Das Premierenpublikum wusste jedenfalls, warum am Ende Jubel angesagt war. Die Pfiffe der vielen Jugendlichen waren eindeutig Zustimmung.
ROBERTO BECKER www.die-deutsche-buehne.de
DER PROZESS
Oper von Gottfried von Einem | Koproduktion mit den Landesbühnen Sachsen | MUSIKALISCHE LEITUNG Tom Woods | INSZENIERUNG, AUSSTATTUNG & LICHT Sebastian Ritschel | VIDEO Sven Stratmann | CHOREOGRAFIE Gabriel Pitoni | DRAMATURGIE Ronny Scholz