8 minute read
Hereinspaziert!?
Über Zugänge und Abgrenzungen im Figurentheater
Corona-Sommer 2020: In vielen deutschen Städten und Orten entstanden dezentrale Veranstaltungsformate, welche versuchten, die Lücke zu schließen, die sich durch den Wegfall der großen Events auftat. Monatelange Schließungen hatten den Künstler*innen und Kulturinstitutionen deutlich gemacht, wie gering die Politik ihre Relevanz einschätzte. Das dezentrale Konzept vieler Sommerveranstaltungen war nicht nur mit den neuen Hygiene-Regeln in Einklang zu bringen. Es ging auch darum, zu beweisen, dass Kunst für alle Menschen wichtig sei – sie müsse nur für alle zugänglich sein. Kunst für alle, und am besten noch von allen – kein neues Konzept, aber eines, das gut in unsere Zeit passt, die gerade so leidenschaftlich über Ausgrenzung, Privilegien und Normsetzungen diskutiert, zumindest im Kulturbetrieb. Was aber sind denn die Barrieren, innerhalb der Kunstform, auch jenseits der rein baulichen und technischen, die Kunst schwer zugänglich machen? Und wie sieht es im Puppen- und Figurentheater aus? Diesen Fragen geht Mascha Erbelding mit einem Ausflug in die Historie des Puppentheaters nach.
Publik-Spiel Von Mascha Erbelding /// Puppentheaterhistoriker*innen und -theoretiker*innen unterschiedlichster Ausrichtungen verorten die Herkunft des (nicht nur europäischen) Puppentheaters auf den öffentlichen Plätzen, den Jahrmärkten und im Ritual, in den Tempeln und Kirchen – also an Orten mit unmittelbarem Zugang für die Menschen. Und auch das Puppenspiel selbst, dessen Verbindungslinie zum Kinderspiel mit Puppen und Dingen einerseits und zur animistischen Belebung von Gegenständen andererseits als elementar begriffen wird, ist wohl Teil aller menschlichen Kulturen.
Deshalb geht es in den meisten frühen Quellen aus dem mitteleuropäischen Raum auch nicht darum, Menschen Zugang zum Puppentheater zu verschaffen, sondern im Gegenteil darum, das Theater zu unterbinden und die Zuschauer*innen davor zu bewahren. Enno Podehl hat in seiner Untersuchung zur Lustigen Figur „Der unzeitgemäße Narr“1 aufgezeigt, wie dezidiert moralische Gründe zur Ablehnung des Puppentheaters Ende des 18. Jahrhunderts von anderen Motiven ergänzt werden: Neben der Unterdrückung der aus Improvisation entstehenden Kritik an den Herrschenden geht es auch um eine anarchische Spielfreude, um einen Zeitvertreib für das „einfache Volk“, der in Zeiten der ökonomischen Neuorganisation mit der beginnenden Industrialisierung viel weniger passend zu sein scheint als ein Theater als „moralische Anstalt“ (Schiller 1784). Während das Schauspiel im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert sesshaft und kontrollierbar wird – kurz gesagt: bürgerlich –, bleibt das Puppentheater, und insbesondere das Handpuppentheater als Publik-Spiel, teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein auf den öffentlichen Plätzen – und am Rande der Gesellschaft. Ein Beruf am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter, gerade beim Handpuppenspiel, ein Sammelbecken für „Quereinsteiger*innen“ aus Handwerksberufen, gescheiterte Studenten und auch Veteranen, die ihren Lebensunterhalt mit allerlei Schaustellungen zu verdienen versuchen. Und auch die Wandermarionettentheater, bei denen sich Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts neue Dynastien bildeten, waren als Fahrende Leute nicht überall gern gesehen.2 So bleibt das Puppentheater (abgesehen vom Heimtheater der bürgerlichen Dilettant*innen) zugänglich für Akteur*innen und Publikum vornehmlich aus der unteren Hälfte der Gesellschaft, zu den großen Schauspielhäusern und zur Mitte der Gesellschaft jedoch sind die Barrieren groß. Nur vereinzelt versuchen Akteure, diese Grenzen zu überwinden, etwa Josef Leonhard Schmid, der sich für sein „Münchner Marionettentheater“ (gegr. 1858) Unterstützung beim Grafen Pocci holte.
Volkserziehung oder Künstlertheater? Gerade diese Randständigkeit und die scheinbar so direkte Verbindung zum „Volk“ machte das Puppentheater attraktiv für romantisierende Rückgriffe nicht nur Anfang des 19., sondern auch Anfang des 20. Jahrhunderts. Kulturpessimistische Strömungen innerhalb der neuen Jugendbewegungen stellen die „volkserzieherische“ Kraft, die sie, in Umkehrung vorheriger Urteile über die Lustige Figur, insbesondere beim Handpuppenspiel3 sahen, in den Dienst der Bildung einer neuen Volkskultur – gerade weil es nicht zur etablierten bürgerlichen Kultur gehörte. Die neuen Akteur*innen des Handpuppentheaters setzen auf die „Volkstümlichkeit“ des Puppentheaters, um junge Menschen dem als verderblich angesehenen neuen Medium des Kinos zu entziehen – paradoxerweise zu einem Zeitpunkt, als das Puppentheater an Attraktivität für sein Stammpublikum zu verlieren scheint und die entstehende Massenkultur neue Unterhaltungsformen findet. Mit geradezu missionarischem Eifer ziehen die Spielgruppen, darunter später berühmte
wie Max Jacobs „Hohnsteiner“, über die Dörfer. Das Puppentheater wird zum Medium der Erziehung und Bildung der Kinder, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Theaterpublikum mit eigenen Bedürfnissen „entdeckt“ worden waren, und des „Volkes“: Dass von der Volkserziehung der Weg zur Propaganda nicht weit ist und direkte Linien von den Jugendbewegungen der 1920er Jahre zur Hitlerjugend führen, kann hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden.
Während rührige Pädagog*innen (und später auch Demagog*innen) das Puppentheater für ihre Zwecke domestizieren, in die bürgerliche Gesellschaft holen, zugleich aber nah am Publikum bleiben, und versuchen „niederschwellige“ Angebote vor allem für Kinder und Jugendliche zu schaffen, grenzen sich andere Puppentheater deutlich von den Jahrmarktswurzeln ab. Durchaus auch unter dem Einfluss der Wiederentdeckung des Puppentheaters durch die Theaterreform der Jahrhundertwende greifen weitere neue Akteur*innen, junge Künstler*innen, insbesondere auch aus dem Bereich der bildenden Kunst, das Puppentheater für sich auf. Mit neuem Repertoire und neuer Ästhetik versuchen sie, ein kunstinteressiertes, gebildetes Publikum zu erreichen. Das „Künstlerische“ führen sie im Namen, zugehörig fühlen sie sich mehr dem Schauspieltheater als den Jahrmarktsspieler*innen, gespielt wird in Ateliers oder sogar, wie etwa im Falle des Marionettentheaters Münchner Künstler, in eigens gebauten festen Häusern. In den Zeitschriften und Vereinigungen wird über die Professionalisierung des Genres gestritten. Die Berufspuppenspieler*innen rücken Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre ihre eigenen Belange in den Vordergrund und stellen auch die Frage nach der künstlerischen Qualität des auf den Puppentheaterbühnen Dargebotenen. Dass sie damit neue Barrieren innerhalb der kleinen Puppentheaterszene schaffen, ist ihnen bewusst, erscheint ihnen aber für die Anerkennung der Ebenbürtigkeit des Puppentheaters zu den etablierten Kunstformen notwendig.4
Die Konzepte eines pädagogischen Puppentheaters und einer künstlerischen Ausdrucksform mit eigener Gesetzmäßigkeit werden nach dem zweiten Weltkrieg konsequent weiterentwickelt. Mit der Professionalisierung der Ausbildung in den 1970er und 1980er Jahren nimmt das Puppentheater eine weitere Hürde in Richtung einer den anderen Theaterkünsten gleichgestellten Kunstform. Der neuen Entwicklung entsprechend gibt es sich in Deutschland die neuen Namen Figurentheater oder Puppenspielkunst, die die Abgrenzung vom Volkstümlichen markieren. Dass man damit für einen Teil seines Publikums neue Barrieren schafft, wird erneut billigend in Kauf genommen. Für politisch engagierte Gruppen, wie etwa das US-amerikanische Bread & Puppet Theater, ist die logische Konsequenz, das Publikum auf der Straße zu suchen, und damit zurück zu den Jahrmarktswurzeln zu gehen.
Als Theater für Kinder, gespielt nicht nur in professionellen Theaterhäusern, sondern auch als Laienspiel in Erziehungseinrichtungen, erreicht das Puppen- und Figurentheater ebenfalls heute noch ein breites Publikum – auch wenn das Puppenspiel bei den Erzieher*innen an Beliebtheit zu verlieren scheint. Anzunehmen ist, dass durch das Fehlen der Begegnung mit dem (Figuren-) Theater eine Hürde zum Theater für zukünftige erwachsene Zuschauer*innen entsteht, die es dann zu überwinden gilt.
Hybride Form Was aber ist mit dem, was auf der Bühne passiert? Welche ästhetischen Barrieren gibt es im Puppen-, im Figuren-, im Objekttheater bzw. im Theater der Dinge? Ohne nun an dieser Stelle definieren zu wollen, was „Figurentheater“ eigentlich ist, gibt es meines Erachtens zwei Merkmale vieler Figurentheater-Aufführungen, die in diesem Kontext diskutiert werden sollten. Zum einen das (Wahrnehmungs-)Spiel mit animierten Objekten. Es erfordert eine besondere Leistung der Zuschauenden, das gespielte Leben des Objekts als wahr anzunehmen, während sie zugleich wissen, dass es sich um unbelebte Gegenstände in den Händen von Puppenspieler*innen handelt.5 Oder kommt dieser scheinbar komplizierte Vorgang der menschlichen Wahrnehmung und einem angeborenen Anthropomorphismus, der sich auch im kindlichen Spiel zeigt, entgegen – unabhängig davon, ob (wie in den meisten traditionellen Formen) verdeckt oder (wie in den meisten zeitgenössischen Aufführungen) offen gespielt wird? Und ermöglicht diese Animation in der Wahrnehmung der Zuschauenden eine sogar tiefere Identifikation? Das ist mit Sicherheit dann der Fall, wenn sich das Figurentheater dem klassischen Theater mit klar umrissenen Figuren und einer Handlung annähert und eine „perfekte“ Illusion möglich wird. Die doppelte Wahrnehmung der Zuschauenden kann aber auch gezielt für Verfremdungseffekte im Brecht‘schen Sinn eingesetzt werden. Je mehr sich das Figurentheater jedoch hin zur bildenden Kunst öffnet, desto mehr sind es gerade die Brüchigkeiten6, die in den Vordergrund treten als Schwellen, die Zuschauer*innen und Spieler*innen gemeinsam überschreiten.
Zum anderen bedingt die schon erwähnte Nähe zur bildenden Kunst auch den zweiten in diesem Kontext interessanten Aspekt, die starke visuelle Kraft des Figurentheaters, seine Sinnlichkeit jenseits eines literarischen Theaters. Dieses quasi im Genre angelegte Mehr-Sinne-Prinzip verleiht dem Figurentheater eine größere Zugänglichkeit, ermöglicht ihm, neue Publikumsgruppen anzusprechen – so zuletzt im „Theater für die Allerkleinsten“. Hier und in vielen anderen Inszenierungen kommt das Figurentheater oft ohne Worte aus und wird damit leichter zugänglich nicht nur für Kleinkinder, sondern auch für Menschen aus anderen Kulturen. Die in der Figur liegende Abstraktion macht es zudem leichter, in diesem Medium schwierige Themen wie z. B. Gewalt
oder Tod darzustellen. Denn die Figur ist einerseits Vermittler, ermöglicht Nähe und erlaubt den Zuschauenden andererseits, vom Thema Abstand zu nehmen.
Der bewusst weit gesetzte Begriff Figurentheater – der manchen fast zu weit ist – symbolisiert eine große Offenheit der Formen. Als hybride Form, die Schnittstellen zu anderen Kunstformen sucht, die sich Spielformen aus anderen Kulturen öffnet – oder eher aneignet? – scheint das Figurentheater offener für Veränderungen als andere Theaterformen. Aber ist es deshalb automatisch offen für alle? Gerade im Bereich der Akteur*innen auf und hinter der Bühne, aber auch, was neue Publikumsgruppen angeht, gibt es etwa noch großes Potenzial. Die Voraussetzungen sind gut, es gilt sie zu nutzen. Denn um seine gesellschaftliche Relevanz zu beweisen, muss das Theater mehr Menschen erreichen, darf es nicht das Privileg weniger, sondern muss es das Recht aller sein.
1 Enno Podehl: Der unzeitgemäße Narr. Die lustige Figur im Puppentheater des 18. Jahrhunderts im Spiegel der Zensur – ein phänomenologischer Versuch zu einem Volkstheaterprinzip. In: Olaf Bernstengel, Gerd Taube, Gina Weinkauff (Hg.): „Die Gattung leidet tausend Varietäten…“ Beiträge zur Geschichte der lustigen Figur im Puppenspiel. Frankfurt a. M., 1994 (S. 75–87). Dort finden sich auch weitere Beiträge zum Puppentheater auf Jahrmärkten und Festplätzen, etwa von Lars Rebehn. 2 Insbesondere Sinti- und Roma-Puppenspieler*innen waren Ziel polizeilicher Verfolgung und Diskriminierung. 3 Siehe Benno von Polenz: Spielt Handpuppentheater! Im Auftrage des beim Sächsischen Landesausschusse für Jugendpflege begründeten Unterausschusses für Kino-Ersatz, 1920. 4 Zum „Legitimierungsdiskurs“ im deutschen Puppentheater siehe Gerd Taube: Puppenspiel als kulturhistorisches Phänomen. Tübingen 1995, S. 153–159. 5 Siehe etwa Steve Tillis‘ Konzept der „double-vision“. Steve Tillis: Towards an Aesthetics of the Puppet. Puppetry as Theatrical Art. New York u. a., 1992. 6 Siehe Meike Wagner: Nähte am Puppenkörper. Der mediale Blick und die Körperentwürfe des Theaters. Bielefeld, 2003.