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THEMA
HEREINSPAZIERT!? Über Zugänge und Abgrenzungen im Figurentheater Corona-Sommer 2020: In vielen deutschen Städten und Orten entstanden dezentrale Veranstaltungsformate, welche versuchten, die Lücke zu schließen, die sich durch den Wegfall der großen Events auftat. Monatelange Schließungen hatten den Künstler*innen und Kulturinstitutionen deutlich gemacht, wie gering die Politik ihre Relevanz einschätzte. Das dezentrale Konzept vieler Sommerveranstaltungen war nicht nur mit den neuen Hygiene-Regeln in Einklang zu bringen. Es ging auch darum, zu beweisen, dass Kunst für alle Menschen wichtig sei – sie müsse nur für alle zugänglich sein. Kunst für alle, und am besten noch von allen – kein neues Konzept, aber eines, das gut in unsere Zeit passt, die gerade so leidenschaftlich über Ausgrenzung, Privilegien und Normsetzungen diskutiert, zumindest im Kulturbetrieb. Was aber sind denn die Barrieren, innerhalb der Kunstform, auch jenseits der rein baulichen und technischen, die Kunst schwer zugänglich machen? Und wie sieht es im Puppen- und Figurentheater aus? Diesen Fragen geht Mascha Erbelding mit einem Ausflug in die Historie des Puppentheaters nach.
Publik-Spiel Von Ma sc h a E rbe l d in g /// Puppentheaterhistoriker*innen und -theoretiker*innen unterschiedlichster Ausrichtungen verorten die Herkunft des (nicht nur europäischen) Puppentheaters auf den öffentlichen Plätzen, den Jahrmärkten und im Ritual, in den Tempeln und Kirchen – also an Orten mit unmittelbarem Zugang für die Menschen. Und auch das Puppenspiel selbst, dessen Verbindungslinie zum Kinderspiel mit Puppen und Dingen einerseits und zur animistischen Belebung von Gegenständen andererseits als elementar begriffen wird, ist wohl Teil aller menschlichen Kulturen. Deshalb geht es in den meisten frühen Quellen aus dem mitteleuropäischen Raum auch nicht darum, Menschen Zugang zum Puppentheater zu verschaffen, sondern im Gegenteil darum, das Theater zu unterbinden und die Zuschauer*innen davor zu bewahren. Enno Podehl hat in seiner Untersuchung zur Lustigen Figur „Der unzeitgemäße Narr“1 aufgezeigt, wie dezidiert moralische Gründe zur Ablehnung des Puppentheaters Ende des 18. Jahrhunderts von anderen Motiven ergänzt werden: Neben der Unterdrückung der aus Improvisation entstehenden Kritik an den Herrschenden geht es auch um eine anarchische Spielfreude, um einen Zeitvertreib für das „einfache Volk“, der in Zeiten der ökonomischen Neuorganisation mit der beginnenden Industrialisierung viel weniger passend zu sein scheint als ein Theater als „moralische Anstalt“ (Schiller 1784). Während das Schauspiel im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert sesshaft und kontrollierbar wird – kurz gesagt: bürgerlich –, bleibt das Puppentheater, und insbesondere das Handpuppentheater als Publik-Spiel, teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein auf den öffentlichen Plätzen – und am Rande der Gesellschaft. Ein Beruf am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter, gerade beim Handpuppenspiel, ein Sammelbecken für „Quereinsteiger*innen“ aus Handwerksberufen, gescheiterte Studenten und auch Veteranen, die ihren Lebensunterhalt mit allerlei Schaustellungen zu verdienen versuchen. Und auch die Wandermarionettentheater, bei denen sich Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts neue Dynastien bildeten, waren als Fahrende Leute nicht überall gern gesehen.2 So bleibt das Puppentheater (abgesehen vom Heimtheater der bürgerlichen Dilettant*innen) zugänglich für Akteur*innen und Publikum vornehmlich aus der unteren Hälfte der Gesellschaft, zu den großen Schauspielhäusern und zur Mitte der Gesellschaft jedoch sind die Barrieren groß. Nur vereinzelt versuchen Akteure, diese Grenzen zu überwinden, etwa Josef Leonhard Schmid, der sich für sein „Münchner Marionettentheater“ (gegr. 1858) Unterstützung beim Grafen Pocci holte.
Volkserziehung oder Künstlertheater? Gerade diese Randständigkeit und die scheinbar so direkte Verbindung zum „Volk“ machte das Puppentheater attraktiv für romantisierende Rückgriffe nicht nur Anfang des 19., sondern auch Anfang des 20. Jahrhunderts. Kulturpessimistische Strömungen innerhalb der neuen Jugendbewegungen stellen die „volkserzieherische“ Kraft, die sie, in Umkehrung vorheriger Urteile über die Lustige Figur, insbesondere beim Handpuppenspiel3 sahen, in den Dienst der Bildung einer neuen Volkskultur – gerade weil es nicht zur etablierten bürgerlichen Kultur gehörte. Die neuen Akteur*innen des Handpuppentheaters setzen auf die „Volkstümlichkeit“ des Puppentheaters, um junge Menschen dem als verderblich angesehenen neuen Medium des Kinos zu entziehen – paradoxerweise zu einem Zeitpunkt, als das Puppentheater an Attraktivität für sein Stammpublikum zu verlieren scheint und die entstehende Massenkultur neue Unterhaltungsformen findet. Mit geradezu missionarischem Eifer ziehen die Spielgruppen, darunter später berühmte
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