Theater der Zeit 01/2025 – Die Kürzungskatastrophe

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Theater der Zeit

Mit

Anna Drexler Alexander Kluge René Pollesch Thomas Brasch Ronja Oehler Marie Schleef Franziska Benack Thomas Köck

Januar 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Die Kürzungskatastrophe Wie Einsparungen Theater bedrohen



Foto Viviane Wild

Theater der Zeit Editorial

Harald Müller im verlagseigenen Buchladen Einar & Bert in Berlin Prenzlauer Berg

In eigener Sache Ein neues Jahr fängt an, in nicht nur für die Theaterwelt schwierigsten Zeiten. Hier, in diesem Heft und auf dieser Seite, fängt es für Theater der Zeit mit einem Abschied an, einer ganz und gar nicht leichten Verabschiedung. Harald Müller, Verlagsleiter des Buchverlags und zuletzt Herausgeber der Zeitschrift Theater der Zeit, hat mit dem 1. Januar seine Tätigkeit beendet und steigt aus dem operativen Geschäft des Verlags aus. Im Mai 1993 wurde die Zeitschrift auf Initiative von Harald Müller neu gegründet, nachdem der Henschel Verlag, in der DDR ein Großverlag für Kunst und Gesellschaft mit angeschlossenen Fachzeitschriften, ein Jahr zuvor insolvent wurde und das Erscheinen der gerade erst wieder neu ausgerichteten Zeitschrift eingestellt werden musste. Zunächst getragen von einem Verein und im zweimonatlichen Rhythmus erscheinend wurde Theater der Zeit zum Kern eines nach und nach größeren Projekts, aus dem schließlich Ende der neunziger Jahre der Verlag hervorging. Auf diesem Weg liegt bis heute vieles, das ­Harald Müller angeregt und angelegt hat. 1996 erschien nach dem Tod von Heiner Müller das erste Arbeitsbuch, 1998 der erste Band der Recherchen-Reihe (mit Teresa Kovacs’ „Theater der Leere“ erreicht

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die Reihe gerade Band 172!), im Jahr 2000 kehrte die Zeitschrift zur monatlichen Erscheinungsweise zurück, im selben Jahr gab es das erste der Bühnenbild-Bücher (Anna Viebrock), 2003 wurden die DialogBücher mit Stücktexten (die einen Vorgänger im Henschel Verlag hatten) neu eröffnet und 2009 erschien mit ­Ulrich Matthes der erste Band der Porträtserie backstage. Dazu wohl kaum noch zu zählende Titel zu einzelnen Theatern und ihrer Geschichte, Sonderpublikationen zu aktuellen Debatten und vieles mehr. Der Geschäftsführer Harald Müller war immer auch Verlegerkapitän – und nicht zuletzt ein Gesprächspartner der Theater von Berlin bis Zürich, von Aalen bis Bautzen. Seinen Lieblingssatz übernahm er von dem Kritiker und Redakteur Martin Linzer, nach dem heute ein gleichfalls von Müller angeregter Preis von Theater der Zeit benannt ist: „Wir wollen das Theater lieben!“ Im März wird Theater der Zeit mit dem Kurt-Wolff-Preis für unabhängige Verlage ausgezeichnet werden. Auf insgesamt zehn Folgen war die Serie Post-Ost angelegt, essayistische, meist autobiografisch grundierte Beiträge, die in diesem Heft mit Ronja Oehlers „Um unsere Träume ein Bauzaun“ abgeschlossen wird. Die Serie wurde anlässlich der Wahlen in den Ost-Bundesländern und den dazu wieder aufwallenden Debatten um ostdeutsche Identitäten und Erfahrungen von Online-Redakteurin Lina Wölfel, selbst Generation Post-Ost, entwickelt und redaktionell betreut. Lara Wenzel, als Autorin schon seit Jahren für die Zeitschrift tätig, ist die neue TdZ-Redakteurin für Sachsen und Sachsen-Anhalt und macht so das Redaktionsteam aus den Bundesländern wieder zu einem Quartett. Wir wünschen allen Leser:innen ein gutes Jahr 2025! Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Anna Drexler in „Trauer ist das Ding mit Federn“ von Max Porter. Regie Christopher Rüping am Schauspielhaus Bochum

Thema Die Sparkrise und ihre Folgen 10 Essay Das Theater mit den Finanzen Eine kritische Kartografie zur Kulturförderung Von Wolfgang Schneider

14 Bericht Berliner Chaostage Kürzen ohne Konzept und Dialog. Joe Chialo auf Schlingerkurs Von Thomas Flierl

16 Reportage Bühnen, wollt ihr ewig leben? „Die Verwandlung“, Konzept und Regie Manuel Gerst im Rahmen des Impulse Theater Festivals, 2024

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/dossier/kulturkürzungen

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Die Kultureinsparungen erreichen Köln sowie das Impulse Festival in Nordrhein-Westfalen Von Stefan Keim

18 Gespräch Das strahlt auf die Szene des ganzen Landes Hans-Georg Wegner, Generalintendant des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin, über dessen vergleichsweise entspannte Situation Im Gespräch mit Juliane Vogt

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Fotos links oben Jörg Brüggemann/Ostkreuz, links unten Paul Max Fischer, rechts picture-alliance / Eventpress Hoensch | Eventpress Hoensch

Theater der Zeit


Inhalt 1 / 2025

Akteure 22 Kunstinsert Im Möglichkeitsraum Wie Alexander Kluge KI nutzt, um die Grenzen des linearen Erzählens zu überschreiten, und was sich daraus für das Theater ableiten lässt Von Volker Gebhart

28 Porträt „Ich will nicht mit mir geizen“ Eine Begegnung mit der FAUST-Theaterpreis-Schauspielerin Anna Drexler Von Anne Fritsch

Diskurs & Analyse 48 Essay Selbstgespräch Ein unveröffentlichter Essay der Verständigung über Literatur und Theater

Stück

Von Thomas Brasch

32 Stückgespräch Überprüfung der Arbeitspraxis

52 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Die Praxis der Gemeinsamkeit

35 „Der Schnittchenkauf“

Von Franziska Benack

Martin Wuttke über René Polleschs „Der Schnittchenkauf“ Im Gespräch mit Thomas Irmer

Von René Pollesch

56 Serie: Post-Ost Um unsere Träume ein Bauzaun Von Ronja Oehler

58 Essay Sleeping Beauties – und die Vergegenständlichung der Frau Von Marie Schleef

Magazin 4 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken Von Yaël Koutouan, Stefan Keim, Tom Mustroph und Thomas Irmer

Report

6 Kolumne Ist das politisch oder machen wir Urlaub?

62 Erlangen „Wir müssen gar nichts!“

Von Iwona Nowacka

Neustart in Erlangen: Aus dem Theater wird programmatisch ein Schauspiel, mit einem Intendanten als Trojaner Von Michael Helbing

74 Vorabdruck Wie kleine Spielstätten und sogar eine Galerie entstanden

65 Leipzig Brennender Schatten

76 Gespräch Anlaufstelle Internationalität

Die Leipziger euro-scene erweiterte ihren geografischen Spielraum auf kontroverse Weise Von Nathalie Eckstein

68 Kyoto Eine Wette auf die Zukunft Das Kyoto Experiment Festival – die wichtigste japanische Fringe-Institution Von Freda Fiala

Von Annette Menting

Thomas Engel, scheidender Direktor des Internationalen Theaterinstituts Deutschland, im Gespräch mit Yvonne Büdenhölzer

78 Bücher Anfangszeiten der Inklusion Von Christine Boyde

80 Was macht das Theater, Thomas Köck? Im Gespräch mit Elisabeth Maier

1 Editorial 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: ixypsilonzett – Winterheft 2024/25 für Darstellende Künste und Junges Publikum

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Magazin Kritiken

Staatstheater Mainz

Apfelstrudel aus der Tube „Magic Town“ von Hannah Frauenrath und Ensemble (UA) – Regie Hannah Frauenrath, Bühne Laura Immler, Kostüm Isabell Wibbeke, Musik Carl Grübel

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in junges Berliner Paar (Lennart Klappstein und Carl Grübel) begibt sich auf den Weg nach Haßloch, der durchschnittlichste Ort Deutschlands, und berichtet, wie überdurchschnittlich gut sie in der Durchschnittlichkeit aufgenommen wurden. Die Sehnsucht nach Sicherheit und gemeinschaftlicher Teilhabe trieb die beiden aus der pulsierenden Hauptstadt in die kleinstädtische Einöde. Hier fristet selbst Max Mustermann sein monotones Dasein. Tatsächlich ist an Haßloch rein gar nichts magisch. „Magic Town“ nennt man im Marketingjargon einen Ort, der dem Durchschnitt eines Landes entspricht. In der Magic Town Haßloch hat man keine Freund:innen, sondern Bekannte, man kauft Apfelstrudel aus der Tube, alles, was neu oder anders ist, wird skeptisch beäugt, man trägt vorzugsweise beige Cargohosen und Pullunder (Kostüm Isabell Wibbeke) und hofft darauf, dass der Kapitalismus sein Glücksversprechen einlösen wird, und ist bis dahin zufrieden mit dem, was man hat – dem Gartengrill. Die ganze Misere wird von elektronischen Keyboardklängen und aufdringlichen, aber durchaus eingängigen Werbejingles begleitet (Musik Carl Grübel), die einem auch den letzten Nerv rauben. Frauenraths Darstellung der Kleinstadthölle ist auf allen Ebenen erschreckend akkurat. Tatsächlich testet die Gesellschaft für Kon-

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„Tabak oder warum Sie mit dem Frauen morden aufhören sollten“ von Rachel J. Müller. Regie Lea Oltmanns

Schauspiel Essen

Unnachgiebig behutsam „Tabak oder warum Sie mit dem Frauen morden aufhören sollten“ von Rachel J. Müller (UA) – Regie Lea Oltmanns, Bühne und Video Thorben Schumüller, Kostüme Bee Hartmann, Hannah Trakowski, Musik Greta Gottschalk

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as Video zieht weiße Linien über den dunklen Gazevorhang. Sie ergeben ein Labyrinth. Dahinter ist ein orangenes Glühen zu sehen. Es spricht: das Haus. Taubengrau, sechsstöckig. Mehrstimmig wie seine Bewohner:innen. Mit einer geflüstert-gewispert-geraunten Hörspielcollage beginnt die Uraufführung von „Tabak oder warum Sie mit dem Frauen morden aufhören sollten“ in der ADA, der winzigen Spielstätte im oberen Geschoss des Essener Grillo-Theaters. Die Autorin Rachel J. Müller bezieht sich auf einen realen Femizid in Wien. Sie hat dennoch kein anklagendes Agitprop-Stück geschrieben, sondern nähert sich dem Thema langsam, leise, mit unnachgiebiger Behutsamkeit. Erst spricht das Haus, die Wände, die Rohre, die Leitungen bekommen eine Stimme. Dann kommen die Bewohnerinnen zu Wort, die sich zuerst nicht kennen. Auf der kleinen Bühne gibt es mehrere verschieden erhöhte Ebenen, angedeutete Stockwerke mit Sesseln und Stühlen. Effektiver als es Thorben Schumüller tut, kann man mit so einer winzigen Bühne kaum umgehen. Über das Feuer und den Mord, von dem sie durch Fernsehnachrichten erfahren, kommen die Frauen in Kontakt. Bald verlassen sie die Bühne und gehen ins Publikum. Die Frauen reden miteinander, machen erste Schritte, um sich zu verbünden, Solidarität zu ent­ wickeln. „Tabak“ ist ein kunstvoll geschriebenes Stück, das Charaktere nur andeutet. Mehr Psychologisierung würde die Rollen berührender machen, allgemeiner gehalten stehen sie für viele. Das macht den Text vorhersehbar, und der Schluss ist ziemlich platt. Da vereinen sich die Frauen zu einer feministischen Kampftruppe, entwickeln aber dabei nur die Energie eines Prosecco-Kränzchens. Dennoch überzeugt die Klarheit, mit der die junge Regisseurin Lea Oltmanns den nachdenklichen und vielschichtigen Text mit einem sehr konzentrierten Ensemble auf die Bühne bringt. // Stefan Keim

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Fotos links oben Andreas Etter, unten Nils Heck, rechts oben Steffen Rasche und unten Thomas Aurin

„Magic Town“ von Hannah Frauenrath und Ensemble. Regie Hannah Frauenrath am Staatstheater Mainz

sumforschung (GfK) in Haßloch für Konzerne wie Coca-Cola oder Tchibo Waren des täglichen Bedarfs, bevor sie deutschlandweit auf den Markt kommen. 3500 von 10 000 Haushalten werden von der GfK erfasst und bilden einen repräsentativen Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haßloch ist berühmt, weil es so gewöhnlich ist. Wie Carl Grübel an einer Stelle ernüchtert feststellt, ist der Name Haßloch leider Ruf und Versprechen in einem. Langsam scheint ihn die Mittelmäßigkeit mürbe zu machen und doch sehne er sich nur nach einem ganz normalen Leben und einer ganz normalen Liebe. Während man sich fragt, wer hier eigentlich wem etwas vorspielt, hält die Regisseurin dem mehrheitlich weißen, mittelständischen Publikum des Mainzer Staatstheaters einen Zerrspiegel entgegen: An diesem Abend lachen hoffentlich diejenigen über sich selbst, die sich politisch in der Mitte verorten, deren Vorstellungskraft nur bis zum Gartenzaun des Nachbarn reicht, deren Kinder natürlich aufs Gymnasium ­gehen und die zufrieden sind, weil sie es zu relativem Wohlstand gebracht haben. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ganz normal. // Yaël Koutouan


Magazin Kritiken

„Warten auf’n Bus“ von Oliver Bukowski. Regie Mirko Böttcher an der Neuen Bühne Senftenberg

Neue Bühne Senftenberg

Eastern-Komödie mit Knalleffekt „Warten auf’n Bus“ nach der Fernsehserie von Oliver Bukowski mit Texten von Oliver Bukowski und Anne Rabe – Fassung und Regie Mirko Böttcher, Bühne und Kostüme Helene Seitz

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er Mensch braucht ein Dach über dem Kopf. Das sagen sich auch Ralle und Hannes, die beiden seit Jahren aus allen beruflichen Freuden wie Zwängen freigesetzten Männer aus Bukowskis erfolgreicher ostdeutscher Seelenerkundung. Das Dach fanden sie über einer Bushaltestelle, zu der gelegentlich – bis zur Einstellung der Linie – die von den Männerherzen heiß begehrte Kathrin aus Poznań ihr Menschentransportgefäß steuerte. Die Haltestelle auf der Bühne (Bühne und Kostüme Helene Seitz) ist denn auch schön abgeranzt. Das Schild ist verwittert, stabil wirkt immerhin noch der Mülleimer. Und auch das Dach hält. Dort finden Ralle (Daniel Borgwardt) und Hannes (Matthias Manz) täglichen Unterschlupf. Einst brachen sie von hier aus zur Arbeit auf. Jetzt lassen sie in routineartiger Könnerschaft nur noch die Bierdosen aufploppen. Manz, ein Kerl von einem Mann, lässt seinen Hannes als brummigen Philosophen an der Welt, dem Westen und dem eigenen Unvermögen verzweifeln. Zuweilen aber versucht er, das Schöne doch noch zu fassen. Ralle, einst Tänzer und Boxer, Abraumbagger fahrender Ingenieur auch, wirkt im Spiel von Borgwardt agiler. Er neckt den al-

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ten Kumpel, provoziert ihn, will im Duell um die Gunst der fern an ihrem Buslenker strahlenden Kathrin (die in dieser Version der Textfassung und Regie von Mirko Böttcher nie auftaucht) sogar Waffengleichheit herstellen. Und deshalb bringt er Hannes ein paar Tanzschritte bei. Vor allem aber rafft er sich auf, zur Bürgermeisterwahl im schrumpfenden Heimatdorf anzutreten. Die klassischen Themenfelder werden abgelaufen: Wir sind von hier, geboren im damaligen Kreiskrankenhaus ein paar Busstationen weiter, keine „Karrieredurchlauferhitzer“ aus dem Westen also. Das Wahlversprechen ist vor allem eines: erst mal quatschen können miteinander, Misstrauen dabei abbauen. Und weil es im Dorf keine Kneipe mehr gibt, kein Gemeindebüro, ja nicht einmal einen richtigen Dorfplatz, laden beide eben zur Bushaltestelle ohne Linie, aber immerhin mit Dach ein. Das ist die Emanzipationsgeschichte, die auf der Bühne auch den einen oder anderen Like-Daumen erhält. Regisseur Böttcher entschließt sich aber, dem stimmungsvollen Eastern, der so manche Westernanleihen enthält, das klassische Happy End zu verwehren. // Tom Mustroph

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Deutsches Theater Berlin

er deftige Titel ist Thomas Braschs zweitem Buch entnommen. „Kargo“ (1977) mixt Gedichte, Prosa und Postdramatisches avant la lettre mit Fotos in einer ziemlich losen Anordnung, als ob er die Struktur für diesen Kühnel-Kuttner-Abend vorweggenommen hätte. Ursprünglich für die Kammerspiele konzipiert landete „Halt’s Maul, Kassandra!“ wegen eines Produktionsausfalls auf der großen Bühne des Deutschen Theaters – wo es auch hingehört. Da sieht man im Video die legendäre Szene von der Verleihung des bayrischen Filmpreises für „Engel aus Eisen“, bei der Brasch nicht etwa den Preisgebern dankt, sondern unter Buhrufen der Filmhochschule der DDR, während der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß feist grinsend danebensteht, denn er wird gleich darauf Brasch für dessen wunderbares „Demonstrationsobjekt“ bayrischer Liberalität danken. Ein anderes Dokument der TV-Geschichte, Georg Stefan Trollers „Personenbeschreibung“, wird mit O-Ton reenacted. Trollers distanziert ironische Art, den gerade im Westen angekommenen Autor zu porträtieren, wird so in grelle Komik verwandelt, wenn Felix Goeser sich als Troller abmüht, während Mareike Beykirch als Brasch und Anja Schneider als Katharina Thalbach auf einer Matratze lümmeln und die Neugier des österreichischen Fernsehmanns auf ostdeutsches Dissidententum abprallen lassen. Der Abend handelt natürlich auch davon, wie Brasch von der DDR nie weg- und woanders nie ankam. Kuttner lässt kurz mal aufblitzen, dass bei dem Thema uns auch kein Oschmann und kein Kowalczuk weiterhelfen würden. Und dann tritt die DDR ja sogar noch selbst auf in Gestalt von Jörg Pose mit Engelsflügeln: „Wieder hast du die Fenster verriegelt, damit du dich im Dämmerlicht von der Gegenwart ausschließen und un­ gestört einschlafen kannst.“ Der Geist aus Braschs Farce „Herr Geiler“ ist ein grandioser Auftritt in dieser insgesamt gelungenen Brasch-Revue. // Thomas Irmer

„Halt’s Maul, Kassandra!“ nach Texten von Thomas Brasch – Regie Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, Bühne Jo Schramm, Kostüme Daniela Selig, Musik Matthias Trippner

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

„Halt’s Maul, Kassandra“ in der Regie von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner am Deutschen Theater Berlin

Mit flottem Engelsflügelschlag

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Ist das politisch oder machen wir Urlaub? Von Iwona Nowacka

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Ein Jahr ist seit dem Regierungswechsel in Polen vergangen. Im Dezember 2023 hat Donald Tusk genau am 42. Jahrestag der Einführung des Kriegsrechts durch die kommunistische Regierung (ja, polnische Geschichte ist voll von Paradoxien) nach acht Jahren das Steuer von der rechten PiS übernommen. Wenn sich etwas jährt, sind viele für Resümees anfällig. Ich bin da eher vorsichtig. Was ist denn schon ein Jahr? Historisch gesehen gar nichts, das ist klar. Aber sogar in Anbetracht der davor liegenden acht düsteren Jahre. Ich würde also gerne auf ein solches verzichten. Es scheint mir wirklich voreilig. Aber eine Sache lässt mich nicht in Ruhe. Ziemlich häufig werde ich im Ausland, und insbesondere in Deutschland, mit der Frage konfrontiert: Sag mal, stimmt es, dass das polnische Theater nun weniger politisch geworden ist? Oder: Sag mal, hat sich das polnische Theater jetzt ins Private zurückgezogen? Oder gleich direkter, als ob die These schon bestätigt worden wäre: Warum ist es so, interessieren sich denn die polnischen Theatermacher:innen nicht mehr für Politik? Und da muss ich jedes Mal so richtig staunen. Zum einen, weil es ein wenig wie ein Vorwurf klingt: Was denken sich die Pol:innen, machen sie jetzt Urlaub von Politik, ohne den Urlaubsantrag ausgefüllt zu haben? Und ohne ihn gestellt zu haben, bei wem auch immer. Und zum anderen, weil es einfach ganz und gar nicht der Wahrheit ­entspricht. Es müssen zuerst mal zwei Schritte zurück gemacht und dann gefragt werden: Was ist denn bitte politisches Theater heutzutage? Und ist es überhaupt möglich, diesen Begriff für die gegenwärtigen darstellenden Künste anzuwenden? Oder müssen wir eher vom Politischen im Theater sprechen? Und haben wir damit nur dann zu tun, wenn direkt von den Regierenden gesprochen oder auf der Bühne gegen Entscheidungen des Parlaments protestiert wird? Oder wenn namentlich Akteur:innen der politischen Welt genannt und kritisiert werden. Ja, das haben wir in den letzten acht Jahren oft genug getan. Nun leben wir aber in einer anderen Wirklichkeit. Die selbst­ verständlich auch nicht rosig ist. Die neuen Regierenden sehen Kultur ja auch nicht als Priorität und es muss weiterhin um Geld und Schätzung ihrerseits gekämpft werden. Mindestens jedoch mehr Freiheit, weniger Druck, keine Zensurversuche, kompetentere

Menschen auf ihren Posten. Unter solchen Bedingungen kann man auch endlich eine andere künstlerische Arbeit leisten. Aber die ist weiterhin politisch. Denn: Ist es nicht politisch, wenn Geschichten vom sozialem Aufstieg erzählt, nicht-heteronormative Biografien nach Jahren der Verbannung aus dem öffentlichen Raum endlich ins Zentrum gestellt werden, wenn für Sterbehilfe plädiert wird, wenn Themen wie Abtreibungstourismus, Ausbeutung der Mitarbeiter:innen, Klimawandel, Klassismus, Sexismus auf­ ­ gegriffen werden, wenn Biografien der bisher durch die Geschichte verschwiegenen ­Frauen erzählt werden, wenn häusliche oder ­sexuelle Gewalt thematisiert wird, wenn auf der Bühne über Armut und damit verbundene Scham verhandelt wird, wenn weiterhin mit der katholischen Kirche abgerechnet wird, wenn immer mehr Theaterproduktionen entstehen, an denen sich Menschen aus unterschiedlichsten marginalisierten Gruppen beteiligen, wenn um die Lösung der ­humanitären Krise an der polnisch-belarus­ sischen Grenze appelliert wird? Wenn das alles nicht politisch ist, dann weiß ich wirklich nicht, was es sein sollte. Nein, wir machen keinen Urlaub vom Politischen, wir haben nicht mal im Traum daran gedacht. Wir bauen ja nach acht Jahren wieder auf. Und können uns jetzt endlich auch um andere Felder kümmern, die wir manchmal in den letzten Jahren vernachlässigen mussten, weil es keinen Raum für sie gab. Also Urlaub können wir uns wirklich nicht leisten. Zumal wir jetzt noch besser als zuvor verstehen, dass Freiheit und Demokratie keine für ewig geschenkte Selbstverständlichkeit sind. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel.

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Foto links Jakub Wittchen, rechts Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Theater Marie Bettina Diel, English Theatre Berlin Aditi Kapur, Sophiensæle Berlin Janosch Rabe

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Marie In der gleichförmigen Bürolandschaft erzählt Maria Ursprungs Stück „Höhere Gewalt“ von unerwartenden Telefonaten und den undurchdringlichen Versprechen der Versicherungsgesellschaften. 11.1. bis 12.1. (Bühne Aarau), 23.1. bis 26.1. (Kellertheater Winterthur), 1.2. (Zeughaus Kultur Brig )

„Human in the loop“ Cie Nicole Seiler

„Auf meinen Schultern“ von Raphael Moussa Hillebrand

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Mit über 50 Vorstellungen gehört Raphael Moussa Hillebrands „Auf meinen Schultern“ zu den erfolgreichsten Produktionen im Repertoire. Eine persönliche wie politische Hommage des Choreografen und Tänzers an Berlin. 18. bis 21.1.

Newa Grawit in „Höhere Gewalt“

Theater Casino Zug „Human in the loop“ von Nicole Seiler hinterfragt Machtverhältnisse und die Freiheit des Menschen in einer Welt, die immer mehr von Algorithmen gesteuert wird. Entlang von Anweisungen, welche die KI vor jeder Aufführung generiert und die von den Darsteller:innen live während der Vorstellung jeweils neu getanzt werden, enthüllt sich der künstlerische Prozess. theatercasino.ch 10.1. und 12.1. + Themen-Talk: Künstliche Intelligenz auf der Bühne

English Theatre Berlin Gemeinsam mit trans Singer-Songwriterin Marlene Bellissimo erforscht das Opera Lab Berlin die transformative Kraft elektronischer Musik. A Guide to Self Synthesis 30.1. (Premiere), 31.1. und 1.2.

Chamäleon Berlin Eine opulente Reise in die Zirkuswelt um 1900. För Künkel und Mirjam Hildbrand geben in einem großformartigen, reich bebilderten Band Einblicke in eine längst vergessene Praxis. 17.2. (Buchpremiere)

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Wie klingen queere Harmonien und transige Oszillatoren?

Sophiensæle Berlin Die Tanztage Berlin 2025 feiern die Tanzszene in all ihrer fierceness und verbinden kritische Reflexion zu Freiheit und Körperpolitiken mit künstlerischer Experimentierfreude. 9. bis 25.1.

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Thema Die Sparkrise und ihre Folgen 8

Theater Theaterder derZeit Zeit 11 1 / 2025 2024


Foto Christian von Polentz/transitfoto.de

In den diedie Theater in fast allenallen Bundesländern mit drasden vergangenen vergangenenWochen Wochenwurden wurden Theater in fast Bundesländern mit tischen Einsparungsszenarios der öffentlichen Hand in nie dagewesener Weise konfrond ­ rastischen Einsparungsszenarios der öffentlichen Hand in nie dagewesener Weise tiert. In Berlin, und Nordrhein-Westfalen wird schon Notstand für dieses konfrontiert. In Sachsen Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen wird der schon der Notstand für Jahr diskutiert. Meist mit dermit Formel, wenn 10 Prozent gekürztgekürzt werden, ist das ist genau dieses Jahr diskutiert. Meist der Formel, wenn 10 Prozent werden, das der Etat diefür künstlerische Produktion, denn denn der große Rest Rest dientdient demdem Betrieb der genau derfür Etat die künstlerische Produktion, der große Betrieb Institutionen. Dazu kommen in diesem Moment nochnoch so genannte Tarifaufwüchse, die der Institutionen. Dazu kommen in diesem Moment sogenannte Tarifaufwüchse, garantierten Lohnangleichungen für Festangestellte. die garantierten Lohnangleichungen für Festangestellte. Teilweise gibt es aber auch Abmilderungen und Umverteilungen wie in München und Berlin, wo die Kinder- und Jugendtheater weniger hart betroffen sein sollen. Planungen ändern sich wöchentlich, wenn nicht sogar täglich. Für den Nachrichtenfluss in den der Dinge Dingekann kannbei beitdz.de tdz.deaktuell aktuelleingesehen eingesehen werden. Für den Schwerpunkt haStand der werden. Für den Schwerpunkt h ­ aben ben Wolfgang Schneider, einst Mitglied einer Enquete-Kommission für die weitsichtig Wolfgang Schneider, einst Mitglied einer Enquete-Kommission für die weit­sichtig planplanvolle Entwicklung der Darstellenden Künste in Deutschland, frühere Bervolle Entwicklung der Darstellenden Künste in Deutschland, und und der der ­frühere ­Berliner liner Kultur-Senator Thomas Flierl, mit Blick auf die besonders verschärfte Situation Kultursenator Thomas Flierl, mit Blick auf die besonders verschärfte Situation in Berin Berlin, geschrieben. Dazu NRW-Redakteur Stefan zu der mit der lin, geschrieben. Dazu NRW-Redakteur Stefan Keim zuKeim der Frage, obFrage, mit derob fehlenden fehlenden Finanzierung für Impulse auch das wichtigste Festival der Freien Szene vor Finanzierung für Impulse auch das wichtigste Festival der Freien ­Szene vor dem Aus dem Aus und ein Gespräch mit dem Schweriner Intendanten Hans-Georg Wegner steht, undsteht, ein Gespräch mit dem Schweriner Intendanten Hans-Georg Wegner über die über Mecklenburg-Vorpommern. Herausforderungen in Mecklenburg-Vorpommern. Demonstration gegen Kulturabbau am Brandenburger Tor, Berlin, November 2024

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Thema Die Sparkrise und ihre Folgen

Das Theater mit den Finanzen Eine kritische Kartografie zur Kulturförderung Von Wolfgang Schneider

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September 2024: Eine von Heinrich Horwitz initiierte Petition wird an Staatsministerin Claudia Roth übergeben, die 36 605 Unterstützer:innen gefunden hat und sich klar positioniert: „An der Freien Kunst zu sparen, kostet zu viel!“ Auslöser war der Haushaltsentwurf für 2025, in dem die Bundesbudgets für die Kulturfonds gegenüber dem laufenden Jahr halbiert werden. „Besonders trifft es hierbei die Darstellenden Künste, da durch den Wegfall des Bündnisses internationaler Produktionshäuser und die Kürzungen beim Fonds Darstellende Künste insgesamt 10 Mio. Euro weniger für die Szene zur Verfügung stehen.“

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Fotos Christian von Polentz/transitfoto.de

Die Kundgebung der Aktionsplattform #BerlinIstKultur am 13. November 2024


Thema Die Sparkrise und ihre Folgen Aktionsbündnis #BerlinistKultur hat nach dem Aktionstag gegen drohende Einsparungen im Kulturbereich im Oktober zur Demonstration gegen Kulturkürzungen auf Bundes- und Länderebene geladen. Es ist der Tag, an dem im Berliner Abgeordnetenhaus der Hauptausschuss tagt und über die Haushaltsplanung bis 2028 debattiert. „So viel Einigkeit war selten in Berlins Kulturszene“, heißt es im Tages­ spiegel, „staatliche Häuser und freie Szene, Seit ein Seit, vereint im Kampf gegen weniger Knete für die Kultur.“

Deutschland im Herbst: Die Regierung stürzt, Berlin kürzt

Oktober 2024: Kulturschaffende in den Ländern sind besorgt und warnen vor einschneidenden Folgen für die Freie Szene, wenn die angekündigten Kürzungen von Bundesmitteln so beschlossen werden. Projekte liefen ins Leere, Ko-Finanzierungen kämen nicht zustande, angestellte Kräfte stünden vor der Kündigung. Der inzwischen auf mehr als zwei Mrd. Euro gestiegene ­Gesamtetat für Kultur und Medien könne sich nicht auf die Hauptstadt und repräsentative Einzelprojekte beschränken, monieren sieben Landeskulturvertretungen. November 2024: Tausende protestieren vor dem Brandenburger Tor. Das

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Deutschland im Herbst: Die Regierung stürzt, Berlin kürzt und allüberall kämpfen Kunst und Kultur ums Überleben. Und es betrifft nicht nur die Freien Darstellenden Künste, es geht ebenso um die Substanz von Stadt- und Staatstheatern, die gesamte Theaterlandschaft in Deutschland steht offensichtlich zur Disposition. Ihre Finanzierung ist fragiler denn je; die sogenannten freiwilligen Ausgaben, so wird es zumindest immer wieder gerne durch die Politik postuliert, von Bund, Ländern und Kommunen müssen herhalten, um Haushaltslöcher zu stopfen. Dass das noch nie der Wahrheit entsprach, zeigt sich seit Jahrzehnten. Und gespart wird ja nicht wirklich was, das ist schlicht gelogen. Kulturpolitik steht auch derzeit wieder mit dem Rücken zur Wand und muss sich am Diktat der Finanzpolitik orientieren. „Kahlschlag bei Kindertheatern?“, titelt der Tagesspiegel am 20. Oktober 2024. Patrick Wildermann beschreibt die Misere für eine Theaterarbeit, die sich an das junge Publikum wendet und damit im besten Falle auch für den Nachwuchs vor, auf und hinter der Bühne sorgen kann. Zum Wesenskern des Kindertheaters gehöre es, dass günstige Schulvorstellungen angeboten werden. „Hier die Preise zu erhöhen würde bedeuten, dass wir noch eine krassere Schere bekommen zwischen denjenigen, die sich Theater noch leisten können – und den anderen.“ So wird der Leiter des Grips Theater, Philipp Harpain, zitiert und Christina Schulz, Intendantin des Jungen Staatstheaters Berlin, erinnert

Es geht um die Substanz von Stadt- und Staats­theatern, die gesamte Theaterlandschaft in Deutschland steht offen­ sichtlich zur Disposition.

im gleichen Text daran, „dass nur im Theater für junges Publikum die Stadtgesellschaft noch in ihrer ganzen Diversität vertreten ist. Mit allen Schulformen, sozialen und sonstigen Herkünften“. In Berlin sollen die vom Senat mit ausgehandelten Tarifsteigerungen bei den Theatern (wie auch in anderen Ländern) nicht ausgeglichen werden und rund 13 Pro­zent des gesamten Kulturetats gekürzt werden! Wieso eigentlich nicht acht oder 15 Prozent? Helfen die wenigen Millionen der Kunst den Milliarden des Defizits? Mittlerweile, heißt es, sollen „Umschichtungen“ vorgenommen werden. Wegfallen sollen die Sparvorgaben für die Kinderund Jugendtheater und auch die Budgets der großen Häuser werden wohl weniger gekürzt. Ein in der Politik durchaus fragwürdiges Verfahren findet also wieder einmal Anwendung. Zunächst wird eine radikale Streichliste in Umlauf gebracht und je nach Protest ein wenig korrigiert. Aber nur durch Gegenfinanzierung im gleichen Haushaltstitel, was dann die „Kulturfachpolitiker“ erledigen dürfen. In Kulturhaushalten, die jeweils nur einen Bruchteil des Gesamthaushalts ausmachen, wird überproportional gekürzt. Und wissen die verantwortlichen Politiker:innen, was sie unverantwortlich mit den Kürzungen kaputtsparen? Fragen, die derzeit nicht nur im Bund und in den Ländern, sondern vor allem in den Städten gestellt werden.

„Wie viel Kürzungen verträgt die Kultur?“ In München fragen die Theaterleitungen: „Wie viel Kürzungen verträgt die Kultur?“ Es geht um 17 Mio. Euro, die gestrichen werden sollen. Das sind 8,5 Prozent des gesamten Sparvolumens, obwohl der Anteil der Kultur bei den Gesamtausgaben

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Kulturwissenschaftler und Autor Wolfgang Schneider

der Stadt nur drei Prozent beträgt. Allein die Münchner Kammerspiele trifft es mit 3,6 Mio. Euro, eine Summe, die aufgrund von Tariferhöhungen auf ein erwartetes Minus von 6,2 Mio. steigen wird. Der Intendant des Volkstheaters spricht bei Sparforderungen und Tarifsteigerungen von 2,9 Mio. Euro von einer drohenden Insolvenz. Auch die Stadt Dresden hat Kürzungen von fünf Mio. Euro im Bereich der Kultur angekündigt. Mit einer Kampagne wehrt sich ein Bündnis Weltoffenes Dresden dage­gen, darunter die Leitungen von Kulturinsti­ tutionen wie der Semperoper, dem Staatsschauspiel oder der Frauenkirche. Auch die Leiterin des Kunsthaus, Christiane Mennicke-Schwarz, warnt bei MDR KULTUR vor den fatalen Folgen für städtische Kultureinrichtungen sowie die Freie Szene: „Die Kultur ist durch die Kürzungen der vergangenen Jahre, durch die Pandemie und durch die Inflation massiv geschwächt. D. h., wenn da jetzt noch mehr wegbricht, dann lassen sich ganze Bereiche nicht mehr halten.“ Sie verweist völlig zu Recht auf die Folgewirkungen für das soziale Gefüge einer

Manche Akteure fordern die Stärkung der Kulturförderung durch den Bund als Vorbild im föderalen Gefüge der Kulturpolitik. 12

Stadt: „Während der Bedarf in der Gesellschaft eigentlich größer wird, müssen wir jetzt über die Verringerung von Öffnungszeiten und das Streichen von Programmen nachdenken.“ In einem offenen Brief fordert auch die Freie Szene die Rücknahme der Sparpläne im Kulturbereich. „Diese Kürzung macht bei einem Gesamthaushaltsvolumen von über zwei Mrd. Euro nur einen geringen Bruchteil an Einsparpotenzial aus, schädigt aber die Arbeit von Künstler:innen und Kulturinstitutionen aller Sparten massiv und nachhaltig.“ Die Existenz Freier Künstler:innen sei von den massiven Kürzungen bedroht. Die Kulturstadt Dresden zerstöre damit ihr Fundament. Kunst und Kultur wirkten auch als Standortfaktor, Kunst und Kultur müssten gerade in „gesellschaftlich angespannten und polarisierten Zeiten“ gestärkt werden. „Aufstehen für die freie Kunst- und Kulturszene!“, hieß es zuletzt auch in Köln. Mehrere Hundert Menschen hatten gemeinsam gegen Kürzungen und für den Erhalt der Freien Szene demonstriert. Zwei Drittel der Bevölkerung beschreibe die Freie Kulturszene als unabdingbar für die Stadt, hieß es bei der Kundgebung. Die Freie Szene brauche aber zusätzliche Mittel, mehr Mitspracherecht und könne keine Kürzungen verkraften. Festivals wie das bundesweit wirkende Impulse Theater Festival stehen auf der Streichungsliste ebenso wie die Akademie der Künste der Welt. Im Gespräch mit dem WDR beklagte der Sprecher des Kulturnetz Köln, Manuel Moser, dass die Freie Szene von der Stadt nur fünf Prozent des Kulturetats erhalte, aber 80 Prozent des Angebots stemme. Wenn die Freie Szene künftig – wie angekündigt – mit etwa 2,4 Mio. Euro weniger auskommen soll, führt das nach Ansicht von Moser dazu, dass insbesondere freiberufliche Künstler:innen arbeitslos werden.

Im Bund mit der Kultur? Die Liste der Kommunen, die bei ihren Haushaltskonsolidierungen der Kultur an den Kragen wollen, ließe sich beliebig ausweiten. Manche Akteure fordern deshalb die Stärkung der Kulturförderung durch den Bund, gewissermaßen als leuchtendes Vorbild im föderalen Gefüge der Kultur-

politik. Die Befürchtung ist nämlich durchaus real, dass die geplanten Mittelkürzungen einen Dominoeffekt nach sich ziehen könnten. Wenn der Bund kürzt, können die Länder das auch, und die Kommunen allemal. Im Haushaltsentwurf der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien für das Jahr 2025 sind die Mittel für die Freie Szene dramatisch gekürzt worden – und das, obwohl die Kultur im Entwurf für den Bundeshaushalt denkbar gut weggekommen ist: Trotz aller Sparzwänge in anderen Ressorts wächst er in der Kultur sogar von 2,15 auf 2,2 Mrd. Euro. Aber: Bei den sechs Förderfonds des Bundes (Literaturfonds, Übersetzerfonds, Musikfonds, Kunstfonds, Fonds Darstellende Künste und Fonds Soziokultur) sind die Mittel im Haushaltsansatz von 32 auf nur noch 18 Mio. Euro zusammengestrichen worden, drastisch um 46 Prozent. Mit den Kürzungen für die Freie Szene ignorierte die Beauftragte für Kultur und Medien ihren eigenen Koalitionsvertrag. Auf Seite 97 heißt es im sechsten Kapitel unter „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“: „Fortan bauen wir die Kulturstiftung des Bundes und den Bundeskulturfonds als Innovationstreiber aus und stärken Strukturen der Freien Szene und des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser.“ Die Förderung der Produktionshäuser wurde ganz gestrichen, die Kürzungen beim Fonds Darstellende Künste um zwei Drittel! Und ebenso gibt’s für die anderen Fonds weniger. Aber auch die fördern in Musik, Literatur und Soziokultur Theaterarbeit. So haben sich die Künstler:innen die Propagierung einer „modernen Demokratie“, von „Freiheit“, „Vielfalt“ und „Gleichstellung“ sicher nicht vorgestellt. „Ob Theater, Musik oder Literatur: Dies alles entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Dahinter stecken Fleiß und Leiden, Technik und Handwerk. Das scheint man bei den Etatkürzungen in der Hauptstadt vergessen zu haben“, schreibt die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels Carolin Emcke in ihrer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Okto­ ber 2024 und findet, was der Kultur angetan werden soll, nur noch „skandalös

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Fotos links picture alliance / dpa | Isa Lange, rechts Christian von Polentz/transitfoto.de

Thema Die Sparkrise und ihre Folgen


Thema Die Sparkrise und ihre Folgen und peinlich“. Zuvor hatte schon Simone Dede Ayivi in der taz vom 9. August 2024 vom „Stroh, das wir uns leisten müssen“ gesprochen und über „Unterfinanzierung und Unsicherheit“ geklagt: „Häuser werden weniger Stroh stellen können, Theatergruppen weniger Geld haben, um selbst Stroh zu kaufen.“ Den Darstellenden Künsten gehe es an die Infrastruktur, den Akteuren an die Existenz. „Das Publikum wird weniger und billiger produziertes Theater zu sehen bekommen.“

Vom Zusammenwirken in der Infrastruktur Neben all der berechtigten Klagen aus den Künsten und den aktionistischen Kürzungen durch die Politik stellt sich erneut die Frage: Welche Zukunftsszenarien gibt es im Kulturstaat? Die EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestags hat schon 2007 in ihrem Abschlussbericht den Ländern und Kommunen empfohlen, „regionale Theaterentwicklungsplanungen zu erstellen, mittelfristig umzusetzen und langfristig die Förderung auch darauf auszurichten, inwieweit die Theater (…) und Opern auch Kulturvermittlung betreiben, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen“. Bei der Reform der Förderarchitektur in den Darstellenden Künsten für mehr Theater für mehr Menschen bedarf es nämlich nicht nur der Finanzierung, sondern immer mehr auch der Konzeptionen zur Neugestaltung der Darstellenden Künste, um sich der Ziele zu vergegenwärtigen und ihre Realisierung zu gestalten. Es geht um eine Revision der Agenda von Theaterpolitik, vom feudalen Anfang über die bürgerliche Tradition bis zu einem postmodernen Prozess aller Erscheinungsformen. Es geht um eine Theaterlandschaft der Interdis­ ziplinarität und der Diversität. Aber sind die bestehenden kulturpolitischen Instrumentarien hierfür noch zeitgemäß? Vielfach ausprobierte Kooperationen, jedoch nur vereinzelt in der Infrastruktur umgesetzt, sind das relevante Potenzial für die Transformation der Theater. Der sogenannte Doppelpass der Bundeskulturstiftung, der eine tempo-

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Die Aktionsplattform #BerlinIstKultur fasst die Proteste gegen die angedrohten Kürzungen der Berliner Regierung von 13 Prozent im Kulturbereich zusammen

räre Projektarbeit zwischen Stadttheater und Freien Gruppen ermöglichte, war ein Versuch ohne wirkliche Folgen im System. Gerade erst umgesetzten Ansätzen des Zusammenwirkens der Förderebenen wie beim Fonds Darstellende Künste droht ein abruptes Ende. Kunst braucht – nicht nur in Zeiten der Krise – auf allen Ebenen verlässliche Partnerschaften. Kunst braucht eine verlässliche Vereinbarung mit der Politik, kommunal und föderal. Der Bund kann dabei Partner der Länder und Kommunen sein, um überregionale und internationale künstlerische Aktivitäten und Kooperationen zu stützen, aber z. B. auch um gesamt-

gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Digitalität, Nachhaltigkeit und sozialräumlicher Chancengleichheit zu begegnen. Auf regionaler Basis muss Theaterarbeit mehr von den Publika hergedacht werden, Rezeption und Distribution gilt es, als kulturpolitischen Auftrag wahrzunehmen. Und es bedarf neuer Räume, auch durch eine mittelfristige Umgestaltung der Institutionen und Umverteilung der Mittel. Es braucht in Anbetracht des Theaters mit den Finanzen endlich eine progressive konzeptionelle Kulturpolitik, damit die Darstellenden Künste ihrer Rolle als gesellschaftliche Kraft gerecht werden und die Künstler:innen davon leben können. T

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Baustelle der Komischen Oper in Berlin

Berliner Chaos-Tage Fehlende gegenseitige ­Abstimmung der Senatoren brachte die Berliner Kürzungs­ politik von ­Joe Chialo von ­Anfang an auf Schlingerkurs Von Thomas Flierl

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In einem beispiellosen Verfahren versucht der Berliner Senat aus CDU und SPD, den Landeshaushalt zu konsolidieren. Die im April 2023 angetretene Regierung hat für den Zeitraum 2019 bis 2024 ein strukturelles Defizit von 5 Mrd. Euro ausgemacht, das durch Ausgabenkürzungen von 3 Mrd. im Jahre 2025 und von weiteren 2 Mrd. im Jahre 2026 ausgeglichen werden soll. Anfang Dezember 2024 steht immer noch nicht fest, mit welchen konkreten Budgetreduzierungen im Kulturhaushalt 2025 die Kultureinrichtungen und Förderbereiche ab 1. Januar umzugehen haben. Dabei hatte derselbe Senat durch Nutzung von Sonderprogrammen – in der Tradition der Vorgängerregierungen – den Berliner Kulturetat auf den Rekordwert von 1,1 Mrd. Euro gesteigert. Im Januar 2024 habe Finanzsenator Stefan Evers (CDU) die Fachressorts um Kürzungsbeiträge, darunter den Kultursenator um 200 Mio. Euro gebeten, woraufhin Kultursenator Joe Chialo (CDU) in der Öffentlichkeit unbekannte Kürzungsvorschläge von 10 Prozent, d. h. 110 Mio. Euro, eingereicht haben soll. Erst im September 2024 gab es

dann eine Begegnung der beiden Senatoren mit Vertreter:innen der Kultureinrichtungen im Humboldt-Forum, bei der Evers die finanzpolitische „Zeitenwende“ erläutert haben soll. Offenbar wurde also die Zeit zwischen Januar und September vertrödelt, in der man mit den Kultureinrichtungen die finanzielle Lage hätte besprechen oder gar ein kulturpolitisches Konzept ausarbeiten und mit der Stadtgesellschaft erörtern können. Weiterhin liegt völlig im Dunkeln, wer eigentlich die Kulturpolitik in Berlin betreibt. Das Heft des Handelns halten offensichtlich die Vorsitzenden und die haushaltspolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen (traditionell keine kulturpolitischen Sachverständigen) in der Hand. Nach deren Beschluss soll der Beitrag der Kultur zum Sparvolumen nun sogar 130 Mio. Euro, mithin 12 Prozent des Kulturetats, betragen. Der Kultursenator wurde so selbst zum Spielball der partei- und koalitionspolitischen Auseinandersetzung. Seine Verwaltung war gelähmt, eigenständig zu agieren. So verursachten alle zusammen das Chaos, in das die Berliner Kultur gestürzt wurde. Ohne öffentlichen Dialog, fachliche Expertise und Anhörung der Betroffenen, Aufgabenkritik oder Konzept geistert ein Abbruchszenario durch den Raum, das sich auf vor Kurzem geleakte Listen titelscharfer Kürzungen stützt, die bis heute weder dementiert noch bestätigt wurden. Keinem Unternehmen wäre zuzumuten, unter diesen Bedingungen zu wirtschaften. Vertragliche Verpflichtungen, Kündigungsfristen und Spielpläne lassen sich nicht einen Monat vor Jahresfrist aussetzen. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) empfing Intendant:innen, die auf ihre Lage aufmerksam machten und offenkundige Absurditäten erläuterten. Es scheint nun, dass die Tarifsteigerungen doch bezahlt werden und dass die Kinder- und Jugendtheater vor Einschnitten bewahrt werden sollten – ohne jedoch das Einsparvolumen zu reduzieren, sondern es nur anders im Kulturbereich zu verteilen. Überhaupt hält sich Kultursenator Chialo als Manager der Grausamkeiten mit der These einer „gerechten Verteilung der Einsparungen“, zwischen den Sparten sowie zwischen großen und kleinen Kulturein-

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Foto links picture alliance / imageBROKER | Schoening, rechts picture alliance/dpa | Britta Pedersen

Thema Die Sparkrise und ihre Folgen


Thema Die Sparkrise und ihre Folgen richtungen, argumentativ über Wasser. Da das parlamentarische Verfahren noch laufe, könne er sich nicht im Einzelnen äußern. Der Ausschluss der Stadtgesellschaft von der Mitwirkung bei der Frage, über welche öffentlich geförderte Kultur sie zukünftig noch verfügt, nimmt orakelhafte Züge an. Alles wartet nun auf den Haushaltsbeschluss des Abgeordnetenhauses vom 19. Dezember 2024. Politik als Blackbox. Auf Nachfrage kündigte Chialo für die Einsparrunde 2026 einen Dialog und eine „Kultur-Agenda 2030“ an. Wer mag ihm noch glauben?

Wieder in Gefahr: Die Komische Oper Berlin Der Autor dieser Zeilen hatte als Kultursenator 2002–2006 ebenfalls fast 10 Prozent des Kulturetats einzusparen, konkret 30 Mio. Euro von 370 Mio. Euro, das war der Etat einer der drei Opern in Berlin. Über einen aufwendigen Erörterungs- und Anhörungsprozess kam es 2004 zur Errichtung der Stiftung Oper in Berlin, bei der alle drei Opernhäuser erhalten werden konnten. Wahlweise war zuvor aus dem politischen Raum die Schließung der Deutschen Oper und/oder die Fusion von Komischer Oper und Staatsoper bzw. von Staatsoper und Deutscher Oper vorgeschlagen worden. Mit der Zentralisierung der Werkstätten, der Schaffung des Staatsballetts und anderen Maßnahmen konnten sozialverträglich ca. 200 Personalstellen abgebaut und mehr als 16 Mio. Euro gespart werden. Die Übernahme von Kultureinrichtungen mit hauptstädtischer Bedeutung, wie die Akademie der Künste, die Berliner Festspiele oder die Stiftung Deutsche Kinemathek, durch den Bund brachte Berlin weitere Entlastungen. Substanzerhalt, Modernisierung von Einrichtungen und Prioritätensetzung waren seinerzeit meine Leitsätze einer dialogischen Kulturpolitik.

Ohne öffentlichen Dialog und fachliche Expertise geistert ein Abbruchszenario durch Berlin. Theater der Zeit 1 / 2025

Während die Staatsoper Unter den Linden 2010–2017 für 440 Mio. Euro (zusätzlich 200 Mio. Euro vom Bund) aufwendig saniert wurde, steht die bauliche Erneuerung der Komischen Oper immer noch aus. Unter der Intendanz von Andreas Homoki (2002–2012) und Barrie Kosky (2012–2022) hat die Komische Oper einen grandiosen künstlerischen Aufstieg genommen, hat neue Publikumsschichten erschlossen, ist stets ausverkauft. Homoki musste sich noch mit der Überwindung politisch gewollter Private-­Public-Partnership-Modellen befassen, bei der die Oper zum Anhängsel eines privaten Hotelprojekts zu werden drohte. Kosky schaffte es, das öffentliche Sanierungsprojekt auf den Weg zu bringen. Mit der Zusicherung der Sanierung ihres Gebäudes ist die Komische Oper im September 2023 ins Schillertheater gezogen, wo es weniger Plätze, d. h. auch weniger Einnahmen, und zusätzliche Miet-, Lagerund Logistikkosten gibt. Wird jetzt die Sanierung aufgeschoben, werden sich ­ ­allein nach drei Jahren die Baukosten von derzeit noch 448 Mio. Euro (über mehrere Jahre) durch vertragliche Verpflichtungen und Baukostensteigerung um 250 Mio. Euro erhöhen. Allein die drohende Streichung der Baurate für 2025 von 10 Mio. Euro bedeutet den Tod der Komischen Oper im Schillertheater, da Teile davon für die Zusatzkosten im Schillertheater bestimmt sind. Kämen noch die pauschale Budgetabsenkung von 3,8 Mio. Euro und, wie ursprünglich mitgeteilt, der fehlende Ausgleich für die Tarifsteigerungen in Höhe von 3,2 Mio. Euro hinzu, wären dies mehr als 25 Prozent Budgetkürzung für die Komische Oper. Wie die Oper den Mitgliedern des Abgeordnetenhauses vorrechnete, wäre sie nach Aufbrauchen der Rücklagen nach anderthalb Jahren, also noch während der laufenden Legislaturperiode, nicht mehr spielfähig. Barrie Kosky hat in seinem offenen Brief drastisch darauf aufmerksam gemacht, welches 1933 abgebrochene und wieder aufgenommene jüdische Kulturerbe bzw. welches kulturelles Erbe aus der DDR, mit Walter Felsenstein und Harry Kupfer, und welche aktuelle Kunstproduktion – die Komische Oper war 2007 und

Thomas Flierl, Berliner Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur a.D.

2013 „Oper des Jahres“ und ist eben als „Opera Company of the Year 2024“ ausgezeichnet worden – hier zur Disposition steht.

Welches Kulturverständnis? Ist es nicht großkoalitionärer Populismus, wenn der Regierende Bürgermeister meint, dass Kinder- und Jugendtheater „sicherlich nie wirtschaftlich arbeiten“ können und daher „auf staatliche Subventionen angewiesen“ bleiben (natürlich!), während er der sprichwörtlichen „Verkäuferin im Supermarkt“ attestiert, dass sie „wahrscheinlich eher selten in die Staatsoper geht“, aber „mit ihrem Steuergeld diese Eintrittskarten allesamt mitsubventioniert“. Statt eine gerechte Steuerreform vorzuschlagen oder einkommensabhängige Tickets einzuführen, plädiert Wegner für höhere Eintrittspreise, hat also die Verkäuferin als Opernbesucherin schon abgeschrieben. Für die Opernreform vor 20 Jahren engagierten sich noch Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Antje Vollmer, sie waren Mitglieder der jeweiligen Freundeskreise der drei Opern. Ohne sie hätte Berlin keine drei Opern mehr. Haben wir heute das Ende bürgerlicher Kulturpolitik zu konstatieren? Die Drift zur Spaltung der Gesellschaft kommt aus ihrer Mitte. T

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„Introducing Living Smile Vidya“, Künstlerische Leitung und Performance Living Smile Vidya im Rahmen des Impulse Theater Festivals, 2024

Bühnen, wollt ihr ewig leben? Die Kultureinsparungen erreichen Köln sowie das Impulse Festival in Nordrhein-Westfalen Von Stefan Keim

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Die Unsicherheit greift um sich. Das Szenario eines Kulturkahlschlags angesichts knapper Kassen ist längst keine Dystopie mehr. Die Metropolen München und Berlin wollen knallharte Einsparungen bereits im nächsten Haushalt durchziehen. „Mein Wunsch ist, dass wir die Situation annehmen und damit kreativ und proaktiv umgehen“, sagt Berlins Kultursenator Joe Chialo im Deutschlandfunk Kultur und weist zurück, dass die Kürzungen überraschend kommen. „Jeder musste wissen, dass wir in ein hartes Einsparungsszenario gehen.“ Er habe schon im August viele Gespräche mit Kulturschaffenden und Institutionen geführt. „Wer es hören wollte, der hat es gehört.“ Und wer nicht hören will, muss fühlen. Dieser Grundsatz antiquierter Kindererziehung klingt mit in Chialos Worten. Er empfiehlt den Theatern, sich am berühmten Berghain zu orientieren, dem international bekannten Berliner Technoclub, der ohne Subventionen funktioniert und auch zur kulturellen Attraktivität der Hauptstadt beiträgt. Dass die Stadttheater mittelständische Betriebe mit Tarifstrukturen sind, deren Etats zu 80 bis 90 Prozent festgelegt ist, mag er als Argument nicht gelten lassen. So etwas kann man ja ändern, wenn es die Wirtschaftslage erfordert. Und hat nicht gerade die Freie Szene immer wieder die Reform der dicken Tanker gefordert? Theater, die flexibler und beweglicher sein sollen? Im Augenblick sitzen alle im selben Boot, das sich in heftiger Seenot befindet. Die Freie Szene ist ebenso stark gefährdet wie die städtischen Bühnen. Die Finanzierung des Bündnisses internationaler Produktionshäuser durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) ist komplett gestrichen worden. Vielleicht war es der Plan Claudia Roths, dass diese Kürzung bei der Bereinigungssitzung des Bundestags für den Haushalt zurückgenommen wird. Intern war da viel Optimismus zu hören. Aber das Vorhaben ist durch das Ende der Ampelkoalition krachend gescheitert. Und damit liegt ein Kernstück grüner Kulturpolitik – die Förderung sozial und politisch besonders aktiver Häuser und Kollektive – im Dreck, aus eigenem Verschulden und ohne Vorwarnung der Beteiligten.

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Foto Robin Junicke

Thema Die Sparkrise und ihre Folgen


Thema Die Sparkrise und ihre Folgen Nun ist auch ein weiteres Flaggschiff des Off-Theaters akut gefährdet, das Theaterfestival Impulse. Seit 1990 ist es – immer in mehreren Städten Nordrhein-Westfa­ lens – eines der wichtigsten Foren für Freie Ensembles. Nun will die Stadt Köln den Zuschuss 2025 auf ein Drittel zurückfahren und ab dann komplett streichen. Neben anderen heftigen Kürzungen, die hier vor allem die Freie Kultur treffen. „Der Veranstalter NRW KULTURsekretariat erfuhr, wie auch das Festival-Kuratorium, durch die Medien von den Kölner Plänen“, sagt Christian Esch, der Direktor des NRW-Kultursekretariats, das die Impulse veranstaltet. Sollten die angekündigte Kürzung bzw. Streichung der Mittel (um ein Drittel für 2025 und auf Null für 2026) Wirklichkeit werden, wäre das traditionsreiche, renommierteste Festival der freien Performance-Szene in Gefahr pünktlich zur gemeinsam bestellten neuen Intendanz. Verantwortungsvolles Kommunizieren und Handeln sieht anders aus.

Dramatischer Fachkräftemangel Köln, Berlin, München – das sind nun schon drei Kulturmetropolen, die mit dem Rasenmäher durch ihre kulturellen Blumenbeete brettern. Die Gefahr scheint groß, dass die Kulturpolitik in mittleren und kleineren Städten in große Not gerät, wenn sie ihre Theater, Orchester und Museen beschützen wollen. Bereits jetzt überlegen sich viele Intendant:innen ganz genau, wie viel Risiko sie in ihren Spielplänen eingehen. Denn wenn eine Premiere beim Publikum durchfällt, könnte das gleich Wasser auf die Mühlen der Kulturgegner:innen sein. Im Schauspielhaus Bochum gibt es – neben den von Kritiker:innen hochgelobten und zu Festivals eingeladenen – Spitzenproduktionen auch einige Flops, die vielleicht künstlerisch wagemutig sind, aber beim Publikum durchfallen. Was Verwaltungsdirektor Stephan Wasenauer keinesfalls bestreitet. Aber er verweist darauf, dass immer noch in der vergangenen S ­ aison 130  000 Leute gekommen sind, und die Einnahmen durch Gastspiele einige schlecht besuchte Aufführungen wettmachen: „Mehr noch: Die durch Gast-

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spiele erzielten Erträge stellen inzwischen eine wesentliche Säule der gesamten Umsatzerlöse dar.“ Und das Wichtigste: „Das Schauspielhaus Bochum hat genau diesen Auftrag, herausragende künstlerische Leistungen hervorzubringen. Dazu steht die Stadt mustergültig. Wir fürchten hier keine Kürzungsdebatte.“ Zwar nicht ganz so selbstbewusst, aber doch klar hört man ähnliche Aussagen aus anderen Städten Nordrhein-Westfalens. Sogar das Kulturamt des dauerbankrotten Hagen schickt die kurze Nachricht, dass es gerade keine Debatte über die Existenz des Theaters gebe. Ist die Kürzungsdebatte also ein Metropolenproblem? Ganz so einfach wird es wohl nicht, denn die Einsparungen haben ja gerade erst angefangen. Laut Stephan Wasenauer stehen die Theater vor einem ganz anderen Problem. Der Fachkräftemangel wird dramatisch. Der Bochumer Verwaltungsdirektor befürchtet, dass nicht wegen Etatkürzungen Vorstellungen ausfallen, sondern weil bald keine Veranstaltungstechniker:innen vor allem in Führungspositionen mehr zur Verfügung stehen. „Ich hab dann zwar eine auskömmliche Finanzierung“, spitzt Wasenauer zu, „aber keine Möglichkeit, mit dem Geld die offenen Stellen zu besetzen. Wir müssen schon jetzt den Vorstellungsbetrieb personell so effizient wie möglich organisieren und mitunter den altbekannten Repertoirebetrieb umgestalten. Wir hoffen, dass das Publikum den Weg mitgehen wird.“ Die Theater sind also durch zwei Entwicklungen in Gefahr. Da scheint es sinnvoll, Joe Chialos Anregung doch einmal durchzuspielen, so inkompetent sie auch klingen mag. Wenn die Theater vielleicht bald ohnehin keine Fachkräfte mehr finden, sollten sie dann nicht einfach die Gewerke stark reduzieren und wie in fast allen anderen Ländern mit einer kleinen Kerngruppe und vielen Freien ihre Stücke produzieren? So etwas klang vor einigen Jahren noch reizvoll, als viele begeistert in die Niederlande schauten, wo Gruppen an bestimmten Häusern ihre Stücke produzierten und dann auf Tournee gingen. Und wird nicht ohnehin verstärkt ko-produziert, vor allem auch im Musiktheater? Bernhard Helmich, der Generalintendant des Theaters Bonn, rät zu Vorsicht.

Mit Impulse ist ein Flaggschiff des Off-Theaters akut gefährdet.

„Wir sehen die Konsequenzen sehr deutlich in Italien, Frankreich und Großbritannien. Wenn die festen Strukturen, die wir in Deutschland haben, nicht vorhanden sind, dann geht der Schrumpfungsprozess, der Weg in die Bedeutungslosigkeit viel schneller. Es kommt automatisch zu einer Verarmung des Repertoires.“ Gerade in Krisenzeiten, meint Helmich, stabilisiere ein großer Apparat ein Theater. Allerdings nur solange in der Kulturpolitik Vernunft herrscht und verstanden wird, dass eine zehnprozentige Kürzung zum Ausfall des gesamten Systems führt. Sich am Tourneesystem der Niederlande zu orientieren, bringe keine schnelle Einsparung, im Gegenteil. „Dann muss man Strukturen finden, in denen die Theater nicht ausschließlich eine Sache der Kommunen sind. Die Länder müssen sich stärker engagieren.“ Es kostet Geld, Zeit und braucht viel Kompetenz, um dieses neue System aufzubauen. Schnelle Veränderungen scheinen also nicht umsetzbar zu sein. Auch wenn Joe Chialo meint, er habe doch schon im August darauf hingewiesen, dass ein dickes Ende kommt. Es wäre dringend an der Zeit, dass sich kompetente Menschen aus Stadt, Land und Bund zusammensetzen und ein Konzept entwickeln, welches Theatersystem sinnvoll ist und wie es bezahlt werden kann. Dann bräuchte es eine langfristige und sichere Finanzierung sowie klare Zielvorgaben. Doch das bleibt wahrscheinlich eine Träumerei. Die Realität ist, dass sogar gut gemeinte Regelungen Gefahr laufen, nach hinten loszugehen. In Nordrhein-Westfalen sollen in Freien Theatern Honoraruntergrenzen eingeführt werden, sonst sollen die Bühnen und Gruppen nicht mehr gefördert werden. Da aber die Förderungen nicht mitsteigen, sondern sogar eher sinken, droht auch hier ein Kahlschlag. Glücklich, wer das neue Jahr ohne direkte Existenzsorgen beginnen kann. T

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Thema Die Sparkrise und ihre Folgen

Das strahlt auf die Szene des ganzen Landes Hans-Georg Wegner, Generalintendant des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin, über dessen vergleichsweise entspannte Situation im Gespräch mit Juliane Vogt

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Herr Wegner, wie geht es dem Mecklenbur­ gischen Staatstheater? HANS-GEORG WERNER: Also es geht uns, glaube ich, genau wie vielen anderen Theatern auch. Bei manchen kommt es etwas später, weil sie mehr Rücklagen haben als wir. Bis jetzt ist das Glas bei uns immer noch halbvoll, würde ich mal so formulieren. Wir haben in MV diesen Theaterpakt bis 2028. Das heißt, dass die fünf Bühnen in Mecklenburg-Vorpommern jährlich 2,5 Prozent mehr aus dem Landeshaushalt bekommen. Und die frohe

Theater der Zeit 1 / 2025

Foto Silke Winkler

„SANCTA“, Regie und Choreografie Florentina Holzinger, am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin


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Botschaft ist, dass der nicht angefasst wird. Das ist ja im Vergleich zu Berlin schon mal eine sehr gute Ausgangssituation. Andererseits haben wir es mit einer Inflation zu tun, die enorm ist, also mit einer Steigerung der Produktionskosten. Wir haben es mit sehr hohen Tarifabschlüssen zu tun. Wir haben es mit einer Steigerung der Einstiegsgage zu tun, die zwischen GDBA und Bühnenverein ausgehandelt worden ist. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler haben bis vor zwei Jahren von brutto 2000 bis 2900 Euro gelebt. Heute beträgt schon die Mindestgage 3000 Euro. Das ist sehr zu begrüßen, aber die Zuschüsse wachsen nicht im selben Maß. Und eine zweite Sache, die aus den Konsolidierungswellen resultiert, die das Mecklenburgische Staatstheater hinter sich hat: Es ist einiges outgesourct worden, wie zum Beispiel die Security und der Einlassdienst, ein Segment, bei dem die Steigerung des Mindestlohns greift. Glücklicherweise haben wir hier in Mecklenburg-Vorpommern eine sehr gesprächsbereite und auch hilfsbereite Politik, die tut, was sie kann. Und nicht einfach die Axt ansetzt wie in Berlin. Mecklenburg-Vorpommern ist seit 2020 Alleingesellschafter des Mecklenburgischen Staatstheaters. Mit 26  138  200 Euro ist das Theater 2024 vom Land bezuschusst worden. Wie viel davon kommt auf der Bühne an? H-GW: Circa 85 Prozent sind Personalkosten. Damit bewegen wir uns in etwa im Durchschnitt dessen, was auch an anderen Theatern üblich ist. Der Rest ist für den Spielbetrieb, Produktionskosten im weitesten Sinne, von Heizkosten bis zu Einladungen an Künstlerinnen und Künstler. Das Finanzministerium des Landes Meck­ lenburg-Vorpommern ist direkter Nach­ bar des Theaters. Auch die Staatskanz­ lei, Amtssitz der Ministerpräsidentin des Landes, Manuela Schwesig. Welche Rolle spielt es, dass Sie Staatstheater sind, mit Verlaub, im Vergleich zu den Stadttheatern in Mecklenburg-Vorpommern? H-GW: Natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Stadt traditionell ein Bürgertheater hat oder ob es eine Residenzstadt war, wo das Theater auch

repräsentative Aufgaben zu erfüllen hat. Die Beziehung zwischen dem Theater und dem Schloss, dem heutigen Parlament, ist in Schwerin immer noch da und das ist ja auch fantastisch. Unser Privileg ist, dass die Entscheiderinnen und Entscheider in dieser kleinen Landeshauptstadt immer wieder live erleben, was Theater für eine Gesellschaft tun kann. Das strahlt dann aber auch auf die gesamte Theaterszene in Mecklenburg-Vorpommern ab. Und wir haben den deutschlandweit zweitgrößten Verein der Theaterfreunde. Das sind knapp 1000 Menschen, die eng mit dem Theater verbunden sind. Das ist Glück und Aufgabe zugleich. Hatten Sie deshalb in der vergangenen Spielzeit den Mut für solche Inszenierungen wie die „Orestie“? Oder die Musikthea­ ter-Produktion „Sancta“ von Florentina Holzinger, die für großes auch interna­ ­ tionales Aufsehen gesorgt hat? Dafür sind Sie mit dem Stuttgarter Opernhaus, der Berliner Volksbühne und den Wiener Fest­ wochen eine Kooperation eingegangen. H-GW: Den Mut, Holzinger hierher zu holen, hat das Haus selber aufgebracht. Es gab Stimmen, die haben gesagt: Seid ihr verrückt geworden? Wir haben dafür doch gar nicht das Publikum. Die anderen haben gesagt: Ach, wie schön, wir sind bei den Wiener Festwochen. Letztlich wissen die Leute, wenn etwas aufregend und spannend ist, weil die Schweriner durch ihre lange hervorragende Tradition ein sicheres Gefühl dafür haben, was gutes Theater ist. Eine häufig skeptische Abonnentin zum Beispiel, die auch im Freundeskreis des Theaters ist, sagte: Gut, Herr Wegner, Sie haben gesagt, ich muss mir das angucken. Und ich habe jetzt eine Karte gekauft, aber nur für 18 Euro, damit ich es nicht bereue. Ich fand das großartig, also diesen Schritt zu machen. Sie wollte sich eben nicht nachsagen lassen, dass sie gekniffen hat. Und dann hat es ihr super gefallen. Dann kamen natürlich auch viele Leute aus Berlin und Hamburg. Es sind auch Schweriner nach Stuttgart gefahren, weil sie es noch einmal sehen wollten. Gerade solche Produktionen in dieser wunderschönen Kooperation mit dem Stuttgarter Opernhaus, der Berliner Volksbühne und den Wiener

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Thema Die Sparkrise und ihre Folgen

Hans-Georg Wegner, Intendant des Sechs-Spartenhauses in Schwerin

Festwochen sind für die Ausstrahlung des Mecklenburgischen Staatstheaters enorm wichtig. Dass dieses Theater mit den großen internationalen Partnern auf Augenhöhe arbeiten kann, darauf sind wir alle echt stolz.

sere Zuschauerzahlen in die Höhe treibt. Aber wir sind dort präsent, und die Leute haben eine positive Verbindung zu einem für den Zusammenhalt der Gesellschaft sehr wichtigen Ort, nämlich dem Mecklenburgischen Staatstheater.

Sie sind Intendant eines Sechs-SpartenHauses. Neben Tanz, Schauspiel und Musik­theater gibt es die Mecklenburgische Staatskapelle, die Fritz-Reuter-Bühne und das Junge Staatstheater in Parchim. Auch auf dem Großen Dreesch haben Sie mit der M*Halle eine Spielstätte, in einem Neu­ baugebiet mit den üblichen Problemen. H-GW: Vom Stammpublikum aus der Innenstadt wird die M*Halle sehr gut angenommen. Es ist aber nach wie vor schwierig, die Bewohner des Neubau­ gebietes ins Theater zu bekommen. Da machen wir uns nichts vor. Wir versuchen vor allem die Kinder und Jugendlichen zu kriegen, indem wir sie in Theateraufführungen einbinden. Ein anderes Beispiel ist unsere Konzertreihe „Misch Masch“ mit arabischer Musik in Kooperation mit dem syrischen Verein Ma’an-Miteinander. Da kommen 150 Leute, und damit sind wir schon ganz glücklich. Das ist also nicht das Publikumssegment, das plötzlich un-

Gerade sind hier Hunderte von Kindern aus dem Theater gekommen. Es gibt „Neues vom Räuber Hotzenplotz“. Wie sieht es mit dem Theaternachwuchs in Schwerin aus? H-GW: Das ist ehrlich gesagt, ein riesengroßes Thema. Demografisch gesehen werden die jungen Menschen nicht die alten ersetzen, weil in den vergangenen Jahrzehnten die jungen Leute in ganzen Jahrgängen die Region verlassen haben. Daher bin ich davon überzeugt, dass der Bereich Kinder- und Jugendtheater in Zukunft eine stärkere Rolle spielen muss, damit wir jedes Schweriner Kind und jeden jungen Erwachsenen hier ins Theater bekommen. Mit Themen, die sie interessieren.

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Womit zum Beispiel? H-GW: Wir haben zum Beispiel die Inszenierung „Parlament der Dinge“. Jugendliche werden da zu Parlamentariern und vertreten die Interessen von „Din-

Wie sehen Sie in die Zukunft? Hier in Schwerin und für das Theater ganz allge­ mein. H-GW: Theater kann etwas, was keine Erklärungen oder soziale Medien schaffen: Es kann Lebenserfahrung bieten. Man empfindet mit, was den Menschen da auf der Bühne widerfährt. Man muss den Krieg nicht selbst erleben, aber die „Orestie“ zum Beispiel zeigt, was Krieg anrichtet. Das durchlebt das Publikum mit. Theater ist eine Schule der Empathie. Das Theater ist für ganz viele Menschen auch einfach Teil ihres Alltags. Und nimmt man das alles weg, das war ja auch so eine Pandemie-Erfahrung, dann bleibt sehr wenig übrig, und die Leute fangen an, sich zu langweilen und einsam zu fühlen. Dann haben sie noch ihren Garten und vielleicht die Enkel und die Kreise werden kleiner. Da verarmt das Leben schon, das wissen viele noch aus der Pandemie-Zeit. Theater ist eben doch was anderes als das einmalige Taylor-Swift-Konzert. Es ist viel regelmäßiger, viel mehr in den Alltag verwoben. Ich glaube, dass weder Berlin noch Schwerin Probleme mit dem Publikum haben, wir haben jährlich wachsende Zuschauerzahlen. Abgesehen mal davon, dass Theater schon wer weiß wie oft für tot erklärt wurde – und trotzdem gibt es Theater von der Antike an. Also wird es auch in unseren Zeiten nicht aussterben. Es kann gar nicht genug Theater geben. T

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Foto Philip Frowein

Theater ist eben doch etwas anderes als ein Taylor-SwiftKonzert.

gen“, die wiederum von Schauspielerinnen und Jugendlichen dargestellt werden: Was würde das Moor sagen, wenn es eine Stimme hätte? Wie viel darf ein Döner kosten? Das vertreten sie vor den anderen Schülern, die wie im Parlament über Fragestellungen abstimmen. Da wird zum Beispiel abgestimmt, ob Moore eher Weideland werden oder Co2 binden sollen. Als Theater haben wir ein großes Netzwerk und können Experten einladen, die etwas über das Moor sagen können, zur Landwirtschaft, zu grüner Energie. Die kommen aus ganz Mecklenburg-Vorpommern hierher, reden eine Stunde lang mit den Kindern und wägen die Argumente pro und contra ab. Und dann können die darüber abstimmen. ­Demokratie als sinnliche Erfahrung.


Theater der Zeit

Foto Alexander Kluge

Akteure

„Die ‚feuernde linke Hand‘ der Freiheit“ von Alexander Kluge

Kunstinsert Wie Alexander Kluge KI nutzt und was sich daraus für das Theater ableiten lässt Porträt Eine Begegnung mit der FAUST-TheaterpreisSchauspielerin Anna Drexler

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Akteure Kunstinsert

KI-Variation eines Fotos von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

Im Möglichkeitsraum Fotos Alexander Kluge

Wie Alexander Kluge KI nutzt, um die Grenzen des linearen Erzählens zu überschreiten, und was sich daraus für das Theater ableiten lässt Von Volker Gebhart

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Oben: Bearbeitung von einem Buchdruck (1596) aus der Georg Baselitz Collection Unten: Alexander Kluge holt Theodor W. Adorno zum Mittagessen ab. Nach einem Foto von Stefan Moses

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Fotos Alexander Kluge

Oben: Zu Buchdruck von 1596: „Das aufmerksame Gesicht der Hebamme“ Unten: Alexander Kluge als Kind ein Zeitgenosse in 1934

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Stills aus Alexander Kluges Film „Das tödliche Dreieck“ zu Tristan und Isolde

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Wie lassen sich Bilder und Geschichten auf neue Möglichkeiten hin untersuchen und damit weitererzählen? Der Schriftsteller, Filmemacher und Philosoph Alexander Kluge hat hierzu eine Arbeitsweise entwickelt. Er setzt KI zum Kommentieren ein und bringt dabei wertvolle Missverständnisse und verblüffende Konstellationen hervor. In seinem Buch „Der Konjunktiv der Bilder – Meine virtuelle Kamera (K. I.)“ (Spector Books, 2024) hat der 92-Jährige seine Experimente beschrieben und geht im Gespräch mit TdZ den Möglichkeiten des Mediums auf den Grund, auch für die Zukunft der performativen Künste. Mit dem Schritt von der klassischen Kamera aus Film und Fernsehen hin zur virtuellen Kamera der KI hat Alexander Kluge neue Möglichkeiten entdeckt. Dabei geht es ihm um den Konjunktiv der Bilder: „Als virtuelle Kamera kann sie diesen aufnehmen, was meine klassische Filmkamera, an der ich natürlich hänge, nicht kann. Diese kann nur den Indikativ aufzeichnen, also das, was tatsächlich vor der Kameralinse zu sehen ist, fotografieren, und in Film verwandeln. Dann kann ich als Filmemacher mithilfe von Montage noch etwas bewirken. Aber ansonsten ist diese Arbeitsweise immer linear. Sie befindet sich in der Gegenwart. Nun besteht ein wirklicher Augenblick jedoch aus Gegenwart und dazu allen Möglichkeiten dieses Moments. Dass diese wahre Zeit, die Geschichte und sogar die Zukunft, aber auf jeden Fall die Möglichkeit, die Heterotopie, auf den Moment einwirkt, ist mit der klassischen Filmkamera nicht zu lösen. Da kann ich nur montieren, kommentieren, dazu Handlung entwickeln und Schauspieler verkleiden. Ich kann das nicht direkt aufnehmen. Unser Vorstellungsvermögen beruht ja aber auch auf den Möglichkeiten. Wir sehen jemanden einträchtig auf der Straße gehen, dabei könnten wir die Gefahr eines Unfalls erkennen und zur Vorsicht rufen.“

Alexander Kluge, geboren in Halberstadt, ist Jurist, Schriftsteller, Philosoph und Filmemacher. Der 92-Jährige zählt zu den wichtigsten Vertretern des Neuen Deutschen Films. Als Regisseur, Produzent und Autor zeichnete er für Klassiker wie „Abschied von gestern“ (1966) verantwortlich und hat z. B. an „Deutschland im Herbst“ (1978) gemeinsam mit Rainer Werner Fassbinder gearbeitet. Kluge ist außerdem Kopf der Fernsehund inzwischen auch Web-TV-Produktionsfirma dctp, die sich seit 1987 unabhängigen Programmen verschrieben hat. Charakteristisch für die Plattform sind vor allem Kluges eigenen Interviewbeiträge in Filmform. Während in diesen seine vertraute Stimme zu hören ist, erscheint Kluge zumeist als Fragestellender nicht im Bild. Den Fokus setzt er dafür auf seine Gesprächspartner wie Heiner Müller, Jean-Luc Godard, Oskar Negt und Sophie Rois.

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Die virtuelle Kamera, so erläutert es Kluge in seinem Buch, ist quasi so etwas wie unser menschliches Vorstellungsvermögen. Sie existiert in unseren Köpfen und ebenso im Ahnungsvermögen unserer Haut. Sie agiert auf ähnliche Weise wie Filmkameras. K ­ luge geht hierzu einleitend der Frage nach unseren Sinnen auf den Grund, die selbst wie eine Kamera funktionieren. Dabei spannt er einen weiten Bogen ausgehend von der Höhlenmalerei vor etwa 40  000 Jahren – einer Zeit, in der die Musik, die Bilder und der Tanz entstanden – über die Praxis der Filmmontage bis hin zum Experiment mit der KI in unsere Gegenwart. Aber wie wendet er Letztere durch Bildeingaben und Fragestellung mit dem KI-Modell Stable Diffusion an? „Ich benutze dieses wie ein Ikonoklast, also überhaupt nicht zum Illustrieren. Das heißt, das Erste, was ich tue, ist, ich störe und irritiere das Training meiner KI. Diese verwaltet wie ein guter Buchhalter der Einzelheiten acht Milliarden Daten. Das macht die KI sehr redlich, sehr eifrig und nicht intelligent, wohl aber so wie Jacob Grimm das Wörterbuch der deutschen Sprache schreibt. Ihre Genauigkeitsgrade machen aus ihr ein Werkzeug, das aufzeichnen kann und zwar anders als die Fotografie und die Kamera und das sich auch von der Arbeitsweise eines Malers unterscheidet. Künstlerisch ist sie gar nicht

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Foto oben Alexander Kluge, Porträt von Markus Kirchgessner

Die virtuelle Kamera


Akteure Kunstinsert tätig. Wenn ich mit ihr umgehe, dann ist das so wie bei einer Filmkamera. Da bin ich ja auch nicht wirklich der Herr dessen, was sie aufnimmt. Nur dadurch, dass ich schneiden kann hinterher und den Kontext bestimmen kann, zum Beispiel den Bildausschnitt wähle. Ich kann also durch eine Reihe von Nebensachen das Ergebnis beeinflussen. Und je sachlicher ich bin, desto besser bin ich als Filmemacher. Je empathischer ich wäre, desto besser wäre ich als Maler, was ich nicht bin. Illustration ist dabei das Letzte, was Sie mit der KI gut machen können. Dafür eignet sie sich zum Kommentieren, Konstellieren und Variieren sowie zum Abklopfen auf Möglichkeiten hin. Mit ihr lassen sich Missverständnisse produzieren, die eine Wahrheit enthalten und einen Grund haben. Im ganzen Bereich der Dialektik der Aufmerksamkeit kann ich mit der KI auf für mich verblüffende Weise rangieren.“ Auf ein besonders überraschendes Ergebnis und eine ungeahnte Verknüpfung von Zusammenhängen stieß Kluge, als er seiner KI verschiedene Varianten von Bildern der Freiheitsstatue in New York eingab, die ihn persönlich bewegen. Hintergrund: Diese Statue sahen schon die europäischen Einwanderer:innen in den Jahren nach 1848, als sie vor New York eintrafen. Denselben Anblick wiederum hatten auch die Flüchtlinge aus dem Dritten Reich in den Jahren nach 1938. „Diese Freiheitsstatue enthält ein Versprechen“, sagt Kluge und setzt fort: „Ich gebe jetzt aber meiner KI als Aufgabe, dieses Bild, das ich als Muster eingegeben habe, nach Fernost zu versetzen. Dort findet sie keine Freiheitsstatue, dort wird Freiheit anders ausgedrückt. Jedenfalls haben sie nicht dieses Symbol der Frau mit Krone und Fackel. Also kommt meine KI in Not. Sie versucht trotzdem zu antworten und mit ihrem Riesenarsenal prüft sie jetzt und sie kreiert das Bild einer Asiatin mit einer Fackel in der rechten Hand. Mit der linken feuert sie ebenfalls. Das ist wie bei dem Freiheitskämpfer Mucius Scaevola. Er kommt in einer römischen Wandergeschichte vor, die die KI gewiss nicht kennt, und ich habe ihr dazu auch nichts gesagt. Mucius Scaevola, später ein Held der Französischen Revolution, wollte den Tyrannen Porsenna ermorden, der Rom belagert. Der nimmt ihn fest. Mucius Scaevola entgegnet ihm, er könne seinen Willen nicht beugen. Er legt seine Hand ins Feuer. Diese verbrennt, aber sein Wille bleibt ungebrochen. Daher stammt die noch heute gebräuchliche Redewendung, seine Hand ins Feuer legen. Es ist eine leere Phrase geworden, aber sie geht auf diese alte Geschichte zurück. Auf diesen Zusammenhang also kommt die KI, ohne dass ich ihr Information dazu eingegeben habe. Das hat mich zum Beispiel überrascht. Diese Methode des Kommentierens oder der Suche nach Verbindungen zwischen Zufälligkeiten ist ihre Fähigkeit. Damit kann sie mich verblüffen und Unbekanntes hervortreten lassen, was ich vorher nicht wahrgenommen habe.“

Konjunktiv der Bilder Alexander Kluge knüpft mit dem „Konjunktiv der Bilder“ kohärent und schlüssig an seinen Fokus auf die Form des Kommentars aus den Vorjahren an. Dabei hatte er in der Rolle des „Sammlers und Gärtners“ die Narration des Kommentars neu erprobt. Nun setzt er an genau dieser Stelle wiederum an und begibt sich mit den

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Der Kommentar als parallele Ebene lässt sich zur Montage einsetzen, um die Narration aufzusprengen.

Möglichkeiten der KI auf eine weitere Suche mit offenem Ausgang. Dabei wird deutlich: Kluge sieht Materialien nicht als bloße Materie, er erkennt sie als lebendig an und versetzt sie in einen Dialog. Daraus entsteht die kommentierende Ebene, die er mit seiner Arbeitsweise erschafft, und die über das Lineare hinausweisen kann. „Das ist eine sehr wertvolle Meta-Ebene, eine konstellierende Schicht, die also nicht einfach immer weitererzählt und alle Nebensachen unterdrückt, sondern dann von einer Nebensache ausgehend gewissermaßen noch einmal Vielfalt erzeugt und vernetzt. Dieses Bild lässt sich anhand von Arachne der Weberin, einer Gestalt der griechischen Mythologie, verdeutlichen. Sie stickte als Künstlerin auf die Gewänder, die sie entwickelte, die ganze Geschichte von Troja. Ihre Nebenbuhlerin Athene, eifersüchtig auf diese Künstlerin, verwandelte sie daraufhin, weil sie die Rivalin nicht duldete, in eine Spinne. Und diese Spinne mit ihren Netzen, das ist ein Symbol auch der Kunst, nicht nur im Sinne des Chip-basierten Internets heute, sondern Vernetzung ist im Grunde ein Kernprinzip gründlicher Kunst.“ Doch was bedeuten die Möglichkeiten der KI in Bezug auf zukünftige Arbeitsweisen für Theater und Performance? Kluges Experimente zeigen, dass sich durch die Eingabe von Bildmaterialien und Fragestellungen mit der Absicht, den Kontext in einen anderen Raum oder eine andere Zeit zu befördern, Assoziationen und Verknüpfungen hervorbringen lassen, die unerwartet oder irrtümlich sind. Dieses kann beispielsweise bei der neuen Bearbeitung klassischer Stoffe von Interesse sein. Der geschaffene Konjunktiv kann in Form des Kommentars eine parallele Ebene erzeugen, die sich dann wiederum zur Montage einsetzen lässt, um die ursprüngliche Narration aufzusprengen, sie zu ergänzen oder zu kontrapunktieren. Die KI passt damit als Werkzeug zur nicht-linearen und fragmentarischen Erzählweise des Postdramatischen Theaters. Wenngleich sie sich sicher keinesfalls dazu eignet, Autor:innen oder gar die Regie zu ersetzen, so können ihre Fähigkeiten als ergänzendes Element für die Bühne wirken. Dann, wenn die Handlung als nicht abgeschlossen angesehen wird und es darum geht, in der Erarbeitung von und Auseinandersetzung mit Stoffen neue Reibung zu erzeugen. Die KI kann das Spiel mit den Möglichkeiten durch ihre digital erzeugten Bilder befeuern und zuvor ungesehene Aspekte zutage fördern. Sie verweist damit in andere Richtungen und gibt den Impuls, bekannte Erzählungen neu fortzusetzen. T

Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

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„Ich will nicht mit mir geizen“ Eine Begegnung mit der FAUST-TheaterpreisSchauspielerin Anna Drexler Von Anne Fritsch

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Im November wurde Anna Drexler für ihr Spiel in „Trauer ist das Ding mit Federn“ am Schauspielhaus Bochum mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST als beste Darsteller:in Schauspiel ausgezeichnet. Anna Drexler spielt in der Inszenierung von Christopher Rüping dieses „Ding mit Federn“, diese als Krähe personifizierte Trauer. Sie ist ein ungebetener Gast, der bleibt, solange es nötig ist. Sie ist nervig, aufdringlich, übergriffig, brutal und hie und da auch witzig, aber wohl nur aus der Distanz. Sie zwingt die Kinder und den Mann, sich mit dem Tod der Mutter und Frau auseinanderzusetzen, sich dem Schmerz und dem Verlust zu stellen. Anna Drexler ist intensiv über die gesamte Dauer der Aufführung, lässt die Trauernden ebenso wenig davonkommen wie das Publikum, zieht alle in ihren Bann. Ein mehr als verdienter Preis.

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Fotos Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Anne Rietmeijer und Anna Drexler in „Trauer ist das Ding mit Federn“ von Max Porter. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling Regie: Christopher Rüping


Akteure Porträt „Früher haben wir um eins zu Mittag gegessen – jetzt essen wir um sieben.“ Anna Drexler

nieren, musste jedoch abbrechen. Johan Simons übernahm die Regie. Und holte Anna Drexler für die Rolle der Sonja, denn neben der Regisseurin war auch eine Schauspielerin erkrankt. Und da stand sie dann bei der Premiere und spielte diese junge Frau, die kämpft und gegen eine Wand der Lethargie und des Trübsinns rennt. Drexler eröffnete den Abend. „Früher haben wir gearbeitet“, erklärte sie. „Früher haben wir um eins zu Mittag gegessen – und jetzt essen wir erst um sieben!“ Alle Regelmäßigkeiten, alle Routinen sind mit der Ankunft des Professors verlustig gegangen – und mit ihnen die Existenzgrundlage von Sonja und Wanja, ihre

Ein paar Tage später sitze ich mit Anna Drexler in der Kantine des Münchner Residenztheaters, wo sie seit dieser Spielzeit im Ensemble ist, und spreche mit ihr über das Spielen und das Leben. Ein Gespräch mit Anna Drexler ist angenehm, weil sie die Fragen in sich aufsaugt, sie wirken lässt und in sich nach der richtigen Antwort sucht; nach den Worten, die fassen, was sie fühlt. Sie will den Dingen auf den Grund gehen, auch ihren Rollen. Vielleicht ist das, was sie auf der Bühne macht, deswegen immer von dieser besonderen Präsenz. Unser erstes Gespräch führten wir 2013. Damals war Anna Drexler in ihrem letzten Jahr an der Otto-Falckenberg-Schule und schon im Ensemble der Münchner Kammerspiele. Angefangen hatte alles mit einer Produktion, die überschattet war von Krankheiten: Karin Henkel sollte „Onkel Wanja“ insze-

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Szenen aus „Trauer ist das Ding mit Federn“ von Max Porter. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling Regie: Christopher Rüping

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Akteure Porträt wenn jemand einen eigenen Plan verfolgt auf der Bühne. Bei ihm habe ich mich getraut, einfach mal zu machen. Das war für mich sehr prägend.“

Anna Drexler hat den renommierten Theaterpreis DER FAUST als beste Darstellerin Schauspiel für ihre Rolle als Krähe erhalten

­ aseinsberechtigung. Was geblieben ist, ist eine existenzielle LeeD re, die zu füllen keiner der Anwesenden in der Lage ist. Anna Drexler war da. Von der ersten Sekunde war sie so präsent, dass sie zum Höhepunkt dieser ohnehin großartigen Aufführung wurde. Kein Wunder, dass Johan Simons sie fest ins Ensemble holte und sie nicht mehr gehen ließ. Diese Begegnung war für beide eine mit Folgen. Irgendetwas passte von Anfang an, oder? „Das stimmt tatsächlich, dass da was gepasst hat“, sagt Anna Drexler heute. „Ich glaube, mir hat sehr gefallen, dass Johan als Regisseur mit seiner großen Erfahrung so was ganz Entspanntes ausstrahlt. Bei ihm hat man auf der Probe das Gefühl, alle Optionen sind offen. Er mag es,

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Jenseits der Bühne war sie die ersten Jahre aber „fast unsichtbar unterwegs“, hatte das Gefühl, es sei ein Irrtum, dass sie hier mitmachen darf. „Ich hätte mich nie zu den anderen in die Kantine gesetzt, hatte das Gefühl, ich muss mich nach der Vorstellung sofort verdünnisieren. Irgendwie war mein ganzes Selbstbewusstsein aufgebraucht, wenn ich von der Bühne kam. Das alles war sehr respekteinflößend für mich, ich habe mich gefühlt wie die Peinlichste auf der Party.“ Das änderte sich, als sie mit ihrem Kollegen Steven Scharf zusammenkam, und der ihr sagte, dass sie mit sich selbst „geize“. Anna Drexler änderte bewusst ihr Verhalten, trat anders auf, ging in Kontakt mit den Leuten. „Ich war ein bisschen erschrocken, weil ich so jemand nicht sein wollte. Manchmal braucht man jemanden, der einen spiegelt und einem beschreibt, wie man auf andere wirkt.“ Mit Steven Scharf hatte sie in Stephan Kimmigs „Liliom“-­ Inszenierung gespielt. Und sich nicht nur auf der Bühne in ihn verliebt. Im Stück spielten sie zwei ohne Job, ohne Zukunft. Unter einer gigantischen Discokugel standen die beiden, klammerten sich aneinander fest. Steven Scharf und Anna Drexler taten nichts und erzählten doch alles. Wie sie da standen, von Gott und der Welt verlassen und doch irgendwie angekommen. Das hat b ­ erührt, war ein großer Moment. „Was machst du hier?“, fragte Liliom. „Ich bin hier, damit du nicht alleine bist“, sagte Julie. Es war ein magischer Moment auf der Bühne. Etwas wie Liebe. Seitdem sind die beiden ein Paar, sie sind zusammen ans Schauspielhaus Bochum gegangen und zu Beginn dieser Spielzeit zurück nach München gekommen, diesmal ans Residenztheater. Doch bevor sie München erst mal den Rücken kehrte, begegnete Anna Drexler hier noch einem neuen Intendanten – Matthias Lilienthal – und einem Regisseur, der für sie prägend werden sollte: Christopher Rüping. Anna Drexler spielte in Rüpings „Der Spieler“ nach Dostojewski, dann in Miranda Julys „Der erste fiese Typ“. „Das ist eine prägende Arbeit für mich gewesen. Ich bin mit ihm extrem über meinen Schatten gesprungen und hab eine Art Metamorphose erlebt“, erzählt sie. „Ich habe nach jeder Inszenierung von Christopher das Gefühl, ich bin eine andere Schauspielerin geworden. Da erschließen sich jedes Mal neue Räume für mich. Das kostet natürlich auch sehr viel Energie und nach der Premiere sind immer tiefe Löcher.“ Nach einer dieser Vorstellungen hat sie oft das Gefühl, sie hat sich „verschleudert“, kann nicht mehr gerade gehen vor Erschöpfung. Wenn Anna Drexler an Rüping denkt, könnte sie „mit Superlativen herumschmeißen“. Besonders wichtig aber scheint ihr, dass bei ihm „jede und jeder die Möglichkeit hat, sich wirklich zu zeigen“. In „Der erste fiese Typ“ erzählen Anna Drexler und Maja Beckmann eine Geschichte von Frauen, in der für Männer kein wirklicher Platz ist. Die kommen nur als Randfiguren vor, als Enttäuscher und Erzeuger. Drexler und Beckmann waren ein Dreamteam, machten

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Foto Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Schüchterne erste Jahre


Akteure Porträt aus nichts viel und aus viel noch viel mehr. Zwei, die sich suchen in einer Welt voller Rollenvorbilder, die mit dem Leben so viel zu tun haben wie ein Kloß im Hals mit einem Frosch im Brunnen. Ein Fest dieser Schauspielerinnen, die – nur konsequent – am Ende in den Bühnenhimmel entschwebten, während ihnen zur Musik von Elton John ein kleiner Astronaut von unten hinterherwinkte.

Nach Bochum zu Johan Simons 2018 ging sie mit Scharf nach Bochum, zu Johan Simons. Nach München war diese Stadt „auf eine Art das Abwegigste“. Aber sie wollte eine Aufgabe. Und sie wollte noch mal mit Johan ­Simons arbeiten. Und: „Es hat sich total eingelöst, was ich mir gewünscht habe.“ In Bochum spielte Drexler wieder in Inszenierungen von Christopher Rüping. In „Das neue Leben – W ­ here do we go from here“ frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears: eine gemeinsame Erkundung, was Liebe ist, was Liebe kann, was Liebe will. Ausgehend von Dantes Jugendwerk über eine unerfüllte Liebe schwingt sich das Ensemble ins Jetzt oder vielmehr ins Zeitlose, erzählt von einem Gefühl der Sehnsucht, der Erfüllung. Sie gehen durch die Hölle und landen schauspielerisch wie musikalisch im Himmel. Und sie spielte „Trauer ist das Ding mit Federn“. Und dieses Stück würde sie eigentlich gerne „für immer“ spielen, sagt sie: „Danach fühle ich

mich irgendwie von innen geduscht und erledigt auf die beste Art und Weise.“ Anna Drexlers Karriere läuft, bislang gab es keine Einbrüche. Sie hat in Steven Scharf einen Partner, der ihr ebenbürtig ist. Spielt nun bereits im dritten Ensemble gemeinsam mit ihm. Die gemeinsame Rückkehr nach München fühlt sich harmonisch an, als würde sich ein Kreis schließen. Sie genießt, dass er weiß, wovon sie spricht, wenn sie von einer Probe spricht. Dass er nicht Versicherungsmakler ist. Trotz all der Harmonie laufen die Zweifel an diesem Beruf in ihr immer mit: Ob sie noch mal mit Christopher Rüping arbeiten kann? Ob sie noch mal jemanden trifft, der sie total begeistert? Und immer wieder der Gedanke, was ist, wenn das nicht passiert. „Ich kann diesen Beruf nur auf eine ganz gewisse Art und Weise machen“, sagt sie. „Wenn das nicht möglich ist, dann müsste ich, glaube ich, etwas anderes machen.“ Zwischen ganz und gar nicht gibt es bei ihr keine Grauzone, sie kann nicht ein bisschen spielen. Das Theater ist ihr Ort, ein „essenzieller und utopischer Raum der Begegnung“. Und inzwischen auch ein Ort, an dem sie sich ihren Raum nimmt, sich „verschleudern will“. Anna Drexler geizt schon lange nicht mehr mit sich. Sie hat zu einer größeren Gelassenheit gefunden: „Ich kann das mitbringen, was ich mitbringe. Ich möchte auf Leute zugehen und ihnen sagen, wenn ich mit ihnen arbeiten möchte. Und wenn etwas nicht sein soll, dann soll es eben nicht sein.“ Momentan aber soll sehr viel sein. T

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Stück Gespräch René Pollesch

Foto picture-alliance / Eventpress Hoensch | Eventpress Hoensch

Der Dramatiker René Pollesch (1962–2024)

Überprüfung der Arbeitspraxis Martin Wuttke über René Polleschs „Der Schnittchenkauf“ im Gespräch mit Thomas Irmer

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Stück Gespräch Stück „Der Schnittchenkauf“ THOMAS IRMER: Mit der Inszenierung von „Der Schnittchenkauf“ an der Volksbühne kommt erstmals nach seinem Tod ein Text von René Pollesch auf die Bühne, kollektiv erarbeitet von Ihnen zusammen mit Kathrin Angerer, Franz Beil, Rosa Lembeck und Milan Peschel. Das kann als eine neue Phase der postumen Pollesch-Rezeption im Theater gelten. MARTIN WUTTKE: Der Text ist zwischen 2011 und 2012 entstanden, also eher älteren Datums. Ich habe mich schon einmal mit dem Text beschäftigt, noch zu seinen Lebzeiten, als wir zum Brecht-Festival in Augsburg eingeladen waren. Jürgen Kuttner hatte uns gefragt – sowohl René als auch mich –, ob wir uns in irgendeiner Weise vorstellen können, bei dem Brecht-Festival mitzu­wirken. Und da fiel mir sofort der „Schnittchenkauf“ von René ein. TI: Dieser Text wurde ja nicht für die Bühne geschrieben, sondern als eine Art theoretische Selbstverständigung, was ihn von den anderen direkt für eine Inszenierung Polleschs geschriebenen Texten unterscheidet. Er entstand außerdem in Zusammenhang mit einer Ausstellung in der Berliner Galerie Buchholz Januar 2012. MW: Also „Der Schnittchenkauf“ bezieht sich auf Brechts „Messingkauf“, einem Werk, das Brecht 1939 im Exil angefangen hat, um seine Theatertheorien zu verschriftlichen. Er hat das bis zu seinem Lebensende weiter betrieben, in unterschiedlichster Form, in Gedichten, in essayistischen Formen, in mehreren Entwürfen, u. a. auch in den „Messingkauf“-Dialogen, worauf sich René­ Pollesch hier im Wesentlichen bezieht. In den „Messingkauf“-Dialogen gibt es eine Passage, wo der Philosoph, der da ins Theater eingeladen ist, danach gefragt wird, was er sucht oder finden möchte. Daraufhin erzählt er eine Geschichte, er käme sich vor wie ein Messingkäufer, der ins Theater kommt und dem Orchester nicht die Instrumente abkaufen will, sondern nur das Messing. Also der sich nicht für den künstlerischen Ausdruck, sondern den Materialwert interessiert und damit einen anderen Blick auf das Theater lenkt. Das ist das titelgebende Motiv bei Brecht; bei René Polleschs „Schnittchenkauf“ gibt es eine Passage – das ist der titelgebende Abschnitt –, in der Franz Beil, der jetzt auch hier daran beteiligt ist, noch als Schauspielschüler einmal ins Theater ging, weil er gehört hat, dass da im Theater Schnittchen verteilt werden. Er hat also ein anderes Motiv, ins Theater zu gehen, und denkt darüber nach, wie das nun ein bisschen merkwürdig und er um­geben von Leuten ist, die eigentlich aus ganz anderen Gründen ins Theater gehen – und er ja sonst auch aus ganz anderen Gründen ins Theater geht. Das benutzt René Pollesch als Konstellation und erklärt, erstaunlich nahe entlang den Entwürfen von Brecht, sein Theaterverständnis. Mir war das erst gar nicht so klar, aber es ist tatsächlich sehr, sehr nah an Brechts Entwürfen mit allen Turning Points im „Schnittchenkauf“. Er orientiert sich an Brechts Lehrstücktheorie und überschreitet diese, indem er aus vielen Stücken, die er bis 2012 gemacht hat, entscheidende Stellen extrahiert, die sein Verständnis von Theater beschreiben. Darüber hinaus formuliert er seine Opposition gegen ein bestimmtes traditionelles Theaterverständnis.

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Entscheidende Stellen, die sein Theater beschreiben, und seine Opposition gegen ein traditionelles Theaterverständnis.

TI: Pollesch bezieht sich dabei auf reale Schauspieler:innen, mit denen er gearbeitet hat. MW: Das sind immer Texte aus vorherigen Arbeiten und immer wieder taucht eine ganz bestimmte Formel auf: Die berühmte Schauspielerin Sophie Rois sagte in dem und dem Zusammenhang, der berühmte Schauspieler Fabian Hinrichs, der berühmte Schauspieler so und so ... Also in dem Fall erzählt Pollesch genau das Gegenteil von dem, was Brecht macht, da spricht nämlich der kluge Philosoph die ganze Zeit, und die Ansprüche, die er an das Theater stellt, die werden jetzt im „Schnittchenkauf“ vom Theater wieder zurückverlangt. Viele dieser Texte entstanden aus dem Zusammenhang der unterschiedlichen Arbeiten, in denen wir mit ihm zusammengearbeitet haben und die er – im weitesten Sinne – zusammenfasst zu einem theoretischen Werk, das jetzt neu zu betrachten und zu überprüfen ist, ob nicht daraus eine Arbeitspraxis entstehen könnte, auch ohne ihn. Wir spielen eben kein Stück nach, sondern wir überprüfen eine Arbeitspraxis. TI: Könnten das auch andere Schauspieler:innen machen, die nicht mit ihm gearbeitet haben? MW: Ich glaube, die Praxis ließe sich übernehmen. Als Praxis einer Erarbeitung, aber nicht mit seinen Texten. Der Grund, warum seine Stücke nicht nachgespielt werden sollen, liegt darin, dass das nicht auf dem Papier vorhanden ist, sondern dass die Aufführungen, die er hergestellt hat, eigentlich zwischen den Leuten entstehen. Die Verbindungen, die Verknüpfungen der einzelnen Texte, also die Bezugnahmen darin, die stehen nicht auf dem Papier. Das ist postdramatisches Theater, die hängen zusammen mit der Begegnung von diesen Arbeitsgruppen, die daran gearbeitet ­haben. Das ist eigentlich der Text – und das ist nicht nur ein Papier. TI: Wie oft haben Sie das erlebt, dass er aus einer Probe heraus gesagt hat, am nächsten Tag komme ich mit einem anderen Text für dich? MW: Das ist ja jetzt das, was nicht mehr möglich ist, das ist ein ganz markanter Unterschied in der Arbeit. Dass es dieses Umbauen von Texten und Umprobieren mit ihm nie mehr geben wird. Man darf auch nicht vergessen: Es sind Spiele! Und insofern ist er natürlich auch ein Mitspieler gewesen. Auch wenn er als Körper nicht auf der Bühne aufgetreten ist, war er als Autor ein Mitspieler. Er hat mitgespielt insofern, als er uns angeschaut hat und die Körper angeschaut hat und unser Vergnügen an bestimmten S ­ achen für die Texte abgeguckt hat. Das war seine Aufforderung an die Schauspieler:innen. Die Texte, die er mitgebracht hat, standen zur Disposition, und so greifen wir auch auf den „Schnittchenkauf“ zu.

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Stück Gespräch René Pollesch Die Probengespräche haben natürlich so etwas wie Theorie produziert, das war der Arbeitsalltag.

TI: Hat er denn auf den Proben in dem theoretischen Sinn zu den Spielenden gesprochen? MW: Das war immer eins als eine Verständigung über den theoretischen Hintergrund und die Praxis und ließ sich gar nicht trennen. Aber René hat da nicht doziert, sondern einfach darüber gesprochen. Wir haben uns mit Soziologie, mit Philosophie und sozialwissenschaftlichen Büchern beschäftigt und darüber diskutiert. Diese Gespräche haben natürlich so etwas produziert wie Theorie, eine Theorie, die sich dauernd bewegt zwischen Praxis und theoretischen Überlegungen. So war der Arbeitsalltag.

TI: Das wollte er uns immer geben für ein größeres Buch, das ­Theater der Zeit noch mit ihm machen wollte. MW: Das fehlt uns, das ist der Missing Link sozusagen, und das wäre dann noch umfassender das Theater einer Gesellschaft gewesen. Das kann natürlich unser „Schnittchenkauf“ nicht leisten und will es auch gar nicht. Also, man muss diesen Text auch verstehen als eine Zwischenbemerkung in seiner Arbeit. „Das kleine Oregano“ müsste man sich jetzt denken, erfinden. T

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Martin Wuttke hat sehr viel mit René Pollesch gearbeitet und gehört zum Leitungsteam der Volksbühne.

Foto picture alliance / Robert Newald / picturedesk.com | Robert Newald

TI: Wird es von hier aus noch eine weitere Entwicklung geben können? Also andere Möglichkeiten, mit seinen Sachen zu arbeiten? MW: Das sehe ich erst mal nicht so. Es ist jedenfalls nicht das Ziel der Übung. Ich könnte mir allerdings vorstellen, ähnliche Arbeitsbedingungen herzustellen. Und das wäre wirklich zu erforschen. Ich glaube, Ansätze davon gibt es bereits bei Leuten, die versucht haben, seinen Arbeitsideen mit solchen Teamentwick­ lungen zu folgen, Schauspieler:innen viel stärker in eigene Rechte zu setzen. In dem Sinne ist es ja schon weitergegangen. Da dieses theoretische Werk im Jahre 2012 abgeschlossen war, ging es auch uns jetzt bei dieser Arbeit darum, das, was wir in der gemein­ samen Arbeit danach noch an Erfahrungen gewonnen haben, mit einzubringen. Das sind ja noch mal zwölf Jahre und wir wissen auch, dass er noch „Das kleine Oregano“ schreiben wollte.

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Theater der Zeit 1. Der Dialog ist ein unverständlicher Klassiker

Der Schnittchenkauf

von René Pollesch

Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstanden hast. Ich weiß es nicht, weil du immer noch von der Liebe redest. Und ich sagte doch, dass die Liebe uns trennt. Und ich glaube, dass es keine eintönigeren Landschaften gibt als die Liebe. Jetzt sagst du vielleicht, es könnte sein, ich hätte gerade ein Problem mit der Liebe. Aber nein, im Gegenteil. Das Wohlwollen ist das große Geheimnis unserer Gemeinsamkeit, das der große Darwin da rausgezogen hat. Das Wohlwollen, das die Verständigungsgrundlage sein soll. Das hat Darwin da rausgezogen. Den Plan. Die Ähnlichkeit der Wesen. Dass der Körper ein gemeinsamer Ausgangspunkt sei, der Menschheit schlechthin. Der Körper ist aber nicht fixiert und alle Ähnlichkeiten gibt es nur auch. Neben den veränderbaren anpassungsfähigen Elementen, die für unsere Existenz wichtig sind. Die Ähnlichkeit unserer Skelette gibt es nur auch. Jetzt zu folgender Geschichte. Ein Schauspielensemble steht kurz vor einer Fünf-Stunden-Fahrt durch eine eintönige Landschaft, zur nächsten Station einer Reise. „Eine Fahrt durch eine eintönige Landschaft“, hatte man die Businsassen vorgewarnt. Man wartet aber noch auf F. Und gleich ist auch die Rede davon, dass man immer auf F wartet, dass F ja ganz gern extravagant ist, und es generell einen Unmut über F gibt. Etwa eine halbe Stunde wartet man und ist froh, dass man so gut zueinander ist und so gut miteinander umgeht. Im Gegensatz zu F. Schließlich taucht er auf, und man fährt los. Dann, nach etwa einer halben Stunde ein Aufschrei. Ein anderer Businsasse hat entdeckt, dass er seine Papiere und seine Geldbörse im Hotel liegen gelassen hat. Man kehrt ruhig um. Und wo wir miteinander zu tun haben, ist nur noch eine eintönige Landschaft.

2. „Der Schnittchenkauf“ Ich wollte mal in einen Theaterabend gehen, weil ich gehört hatte, dass sie dort Schnittchen verteilten. Ich wusste auch, dass ich da billig reinkomme. Aber dann saß ich da drin und es wurden gar keine Schnittchen verteilt. Ich hab dauernd gekuckt, wo denn die Schnittchen sind, und ich war somit natürlich nicht der Zuschauer, den man vor Augen hat in einer Theateraufführung. Ich hatte mich ja auch nicht vor Augen. Ich suchte zwar nach Schnittchen, aber ich hatte ja ebenfalls den Zuschauer vor Augen, der im Theater nicht nach Schnittchen sucht. Ich dachte noch, „Ja, ich weiß, es ist blöd, aber ich suche hier nach den Schnittchen!“ Das Ganze war eine begehbare Theaterinstallation.

© Auszug aus dem Buch: René Pollesch, „Der Schnittchenkauf“, 2011–2012 96 Seiten, Paperback, 17,8 x 11,8 cm Hrsg. von Galerie Buchholz, Berlin, 2012 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds

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Das will ich natürlich auch nicht vor Augen haben, dass man in einer Theateraufführung nach was zu essen sucht. Alle um mich herum denken natürlich, ich bin gekommen, um diesen Theaterabend zu sehen, den man deshalb schließlich auch hergestellt hat! Ich dachte also, „Ich weiß, es ist blöd, das hier ist eine Theateraufführung und ich suche nach den Schnittchen!“ Und ich dachte vielleicht noch, „Ich weiß, es ist blöd, aber ich will hier nachsehen, wie die Leute es geschafft haben, Geld damit zu verdienen, sich auszudrücken.“ Das ist nicht der Grund, weswegen der Theaterabend hergestellt wurde, und nicht der Grund, den alle vor Augen haben, wenn sie ins Theater gehen, aber es ist das, was den Zuschauer, der zum Beispiel ein Schauspieler werden will, beschäftigt.

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Stück René Pollesch Das ist die Illusion, die mich an eurem Theater interessiert. Und da könnte ein

Schauspieler. Und wenn alles gut lief, sah ich, dass die Rede dem Thea-

anti-illusionistisches Theater ansetzen. Es müsste sich damit auseinandersetzen,

ter zu etwas anderem diente, als zur Nachahmung einer Handlung.

dass wir einen Zuschauer vor Augen haben, der der Inszenierung folgt, und

Und, weil ich ja über die Liebe sprechen wollte: auch nicht zur Nach-

dem, was die Theaterkünstler dort hergestellt haben, es aber sein könnte, dass

ahmung einer Liebesgeschichte. Ich sah bei euch nämlich weder

dieser Zuschauer nicht mehr existiert. Auch nicht in einem vollbesetzten Haus.

­Sender noch Empfänger herumlaufen. Und gut war es besonders dann, wenn man einen Menschen sah, der ziellos herumirrte und nicht

2b.

­wusste, an wen er seine Rede richten sollte. Ich musste dann lachen.

So aber suche ich nach der Illusion, mit der ihr hier beschäftigt seid. Der Illu-

Aristoteles irrte auch schon darin, dass uns die Handlungen der Men-

sion, es gäbe einen Zuschauer, der gekommen ist, um eurem Werk zu folgen.

schen auf einer Bühne etwas erzählen müssen. Die Menschen auf der

Wir haben eine desinteressierte Schulklasse im Blick, die vor uns sitzt und die

Bühne müssen ja aus keiner Geschichte heraustreten, auch aus keiner

sich die Decke des Theaters ansieht. Ja, selbst wenn die unsere ganze Aufmerk-

Liebesgeschichte, damit sie uns etwas sagen.

samkeit auf sich zieht, wir haben die Illusion vor Augen, während wir ver­ suchen, sie zur Ruhe zu bringen, wenigstens einer ist noch unter den Zuschau-

Und da man oft im Theater tragische Geschichten sieht, und Gesich-

ern, der die Geschichte, die ihr erzählt, noch nicht kennt und der ihr folgen will.

ter, die uns sagen, woher sie gerade kommen und wem sie entkamen,

Was wäre, wenn dieser Zuschauer nicht existiert? Auch wenn ihn alle vor Augen

will ich jetzt doch ein letztes Mal einen Film als Beispiel heranziehen.

hätten. Sogar alle im Zuschauerraum. Einen Zuschauer, der noch nicht so viel

In dem Hitchcock-Film „Lifeboat“ ( „Das Rettungsboot“), mit Tallulah

versteht wie wir, und dessen ganze Aufmerksamkeit für das Geschehen auf der

Bankhead in der Hauptrolle, geht in den ersten fünf Minuten ein Schiff

Bühne gebraucht wird.

unter, sieht man Großaufnahmen von Wrackteilen, und dann einen Ozeanausschnitt, Treibholz und leblose Körper, und am Ende der Ein-

3.

stellung eben eine Frau in einem Rettungsboot, die von der tragischen Geschichte um sie herum völlig unberührt bleibt. Sie sieht stattdessen darauf, ob sich ihre Strumpfnaht verzogen hat. Danach will der Film

Was nützt Darwin dem Theater?

aber leider niemanden mehr zeigen, der nicht weiß, an wen er seine Die Ähnlichkeit unserer Körper bildet keine Grundlage für eine gelungene Kon-

Rede richten soll.

versation. Es könnte nämlich sein, dass, wenn jemand eine Geschichte erzählt, ein Körper dem andern, dass es nur die eine Hand versteht, und die andere kann der Geschichte nicht folgen. Also die linke Hand versteht die Geschichte, und die rechte hat das Gefühl, sie hat keine Geschichte oder sie ist gerade nicht ge-

5.

Und das kannst du bei uns nicht?

meint. Und kann einfach so über den Rest des Körpers streunen, von dem Teile der Geschichte folgen, und andere Teile folgen dem Streuner. Die eine Hand

Aber warum vermisst du denn das Tragische? Wir haben es doch im-

kann auch nicht aus der Ähnlichkeit zur anderen Hand irgendein Verständnis

mer gezeigt. Es wird gestorben, es wird geliebt, wir zeigen Banken,

ableiten. Und wenn man sie sich genauer ansieht, sind sie sich auch gar nicht

und wir zeigen den Riss in einer Liebe, wie jemandem ein Unglück

ähnlich.

widerfährt, wir zeigen Susanne, wir zeigen jedwede Dramen und Tragödien und Katastrophen von Jürgen und Sabine. Wir haben jedwede

Die Katze gibt es nicht. Das ist Darwin. Und wenn es die nicht gibt, gibt es auch

Liebesgeschichte hier, und es wird die große nicht mehr geschrieben.

keine Geschichte einer Katze. Und deine Hand streunt. Dann reizen Sie sie doch mal! Reizen Sie doch mal Ihre Hand! Und Sie werden sehen, die Seele ist

Dazu würde ich sagen wollen: Oder eine einzige große Liebe.

draußen! Es gibt hier nichts zu bereden und nichts mitzuteilen als Körper, Körper, Körper. Und wenn wir hier Seele sagen, sagen wir nur Seele wegen dem

Aber wir zeigen es in allen Formen, und die Inszenierung gestern, und

Körper, die ist der Körper, das da vor uns! Es gibt nichts da drinnen, was auf das

die morgen, werden dir auch etwas davon bieten. Das wird dein tota-

Kratzen an der Haut als Hoffnung anspringt. Das Kratzen ist draußen. Ja, ich

litäres Herz allerdings nicht höher schlagen lassen.

weiß, du würdest gerne von dem Kratzen an deinem Körper auf ein Inneres schließen, und dir ein Drama erzählen, das du für dein Leben hältst, ja, ich

An den Aufführungen eurer tragischen Stücke konnte ich erkennen,

weiß. Aber es gibt kein Drama.

dass eine bestimmte Funktion fehlte, die ich mit der Tragödie und meinem Lachen verbinde über die Spieler, die nicht wissen, an wen sie

4.

R- und D-Dramatik (Repräsentations- und Darwin-Dramatik)

ihre Rede richten sollen. Im besten Fall hätten die Zuschauer eurer tragischen Stücke anmerken müssen, auch wenn sie noch so berührt waren und geheult haben wie die Schlosshunde, im besten Fall hätten sie sagen müssen: „Das kann keine Tragödie gewesen sein“. Es sind

Oh, ich habe nichts gegen Gefühle, aber an eurem Theatermachen interessiert

dies die Zuschauer, die weinend aus einem Theater kommen und im

mich, dass es zeigen könnte, dass wir nicht lieben können, wenn wir sprechen.

besten, aufgeklärtesten Sinne bemerken: „Das kann keine Tragödie ge-

Ich sah bei euch Menschen einander anreden. Ich sah die Rede eines eurer

wesen sein.“ Was natürlich sehr komisch ist.

36

Theater der Zeit 1 / 2025


Stück „Der Schnittchenkauf“ Ich verstehe. Du meinst, sie fühlten sich unter Niveau berührt. Nun, wenn das stimmt, dann wären nur eure Geschichten schlecht. Aber ich dachte, dass Aristoteles auch schon darin irrte, dass die Handlungen der Menschen uns etwas erzählen müssen.

fangen. „Wenn du“, wie der große Schauspieler Fabian Hinrichs sagte, „nach einem Kuss, den du mir gibst, hinterher noch verliebt kuckst, das ist das, womit ich nichts anfangen kann. Das ist nicht Leben, das ist der Tod.“ Das ist die unmenschliche Gewalt des Kapitals. Die Herauspressung des Mehrwertes.

Tragödie – dieser Begriff müsste für das Auditorium unbrauchbar gemacht werden. Die Zuschauer müssten merken, anhand eurer tragischen Geschichten, dass genau das fehlt.

Das Kapital ist nichts „anderes“, nichts von dem du überrumpelt wurdest. Es klebt an dir, und es trennt dich von dir. Es ist dein verliebter Blick.

6.

Das Beispiel zeigt ganz deutlich, dass mit Verstehen keine Gemeinschaft möglich ist.

Die Menschen auf einer Bühne müssen ja niemals aus einer Geschichte heraustreten, damit sie uns etwas sagen. Der Mensch auf der Bühne sollte ganz im Gegenteil auf den Trümmern einer tragischen Geschichte sitzen können, und er sieht unbeteiligt darauf, ob sich seine Strumpfnaht verzogen hat.

7.

Der Schauspieler sagt zu den Errungenschaften der D-Dramatik, „An eurem Theater interessiert mich, dass es zeigen könnte, dass wir nicht lieben können, wenn wir sprechen.“

8.

Wir brauchen einen Ausweg aus diesem totalen Schweigen um uns herum. Man hört nur Dialoge. Keine Gedanken. Man hört nur, wer da gerade spricht! Irgendwelche Leute sprechen miteinander, und gleich ist ein blindes Verstehen in der Luft, das alle berührt. Und wenn ich sage, dass die sich mit Verstehen nur belästigen, dann hört ihr, es geht um einen Sinn­ verlust oder eine Kommunikationsstörung. Nein! Es geht darum, dass wir bei jedem Dialog in einen unverständlichen Klassiker verwickelt sind.

9.

Wir können uns doch nicht dauernd mit dem belästigen, was nur der Verständigung dient, was nur die Kommunikation sichern soll. Und das machen wir ja auch im Leben. Das machen wir ja auch in Liebesbeziehungen, in Freundschaften, das ist eben der Mehrwert, dass wir zusammen herumstehen und Pizza essen.

D-Typus in der Dramatik

10.

Um ein Küchenstück (one-room-flat-play) zu schreiben, mag man zur Not noch mit Privatphilosophien auskommen. Aber die Dramatik großer Gegenstände wie Darwin, aufgrund der Macht, die seinen Geschichten zukommt, macht es unvermeidlich, dass die Dramatik in diese Wissenschaftsgeschichten eingreift, Darwin durch die Brille von Foucault zurück auf die Füße gestellt wird, oder sich mit eigenen Geschichten von WissenschaftlerInnen verbindet, wie die von Donna Haraway. Die Wissenschaftsgeschichten bei Shakespeare werden nicht rezipiert, sondern nur das ewig Gleiche, und dass man sich schon mal mit Wissenschaft beschäftigen könnte. Anders soll es sein mit der Rezeption der D-Dramatik. Das hier ist anders. In diesem Theater gelingt etwas anderes.

Warum machst du denn immer noch was dazu? Was rechtfertigt denn dieses Engagement im Kapitalismus? Also kurz, was macht den Kapitalismus so wünschenswert? Können wir diesem Schauspieler nicht Kohle ins Gesicht schmieren, damit die Zuschauer wissen, er kommt aus einem Bergwerk? Das ist die Herauspressung des Mehrwertes. Und folgendes ist die Erzählung, die angestrebt werden müsste: Die Körper sind verwickelt in die Produktion von Mehrwert. Sie wollen ja lesbar sein und verstanden werden. Darin sind wir verwickelt, dass wir uns nicht kennenlernen können, ohne dass der andere einem sofort die Familienfotos unter die Nase reibt. Was führt der da auf? denke ich immer. Was will der nur? Was für eine Geschichte will der mir erzählen? Gar nichts! Nichts, als das er auch einen Mehrwert aus sich herauspressen kann, weil er weiß, das da vor mir, er, dieser Körper, kann nicht der Sinn sein. Den muss er immer woanders suchen. In der Herkunft, in den schönen Erlebnissen, die er hatte. Die Verwicklung deines Körpers in den Mehrwert kann ich aber auch hier sehen, hier zwischen uns. Und ich hasse ihn, ich kann nichts mit ihm an-

Theater der Zeit 1 / 2025

11.

Der Schrei nach wissenschaftlichen, exakten Abbildungen. Darwin! Foucault! Unsere Wissenschaft ist die Biologie. Speziell Charles Darwin und Konstantin Mereschkowski. Und über allen thronend Donna Haraway.

R-Dramatik

12.

Erster Akt. Ein Mensch betritt die Bühne. Die weiße, männliche Hete. Was ist das große Projekt? Woran arbeiten alle im Moment, wenn sie nicht schlafen, nicht essen, woran sitzen sie dann? Warum können sie nicht anders und brauchen keinen anderen Motor als den, unsere Seele außerhalb von uns zu suchen?

37


Stück René Pollesch Erster Akt. Erste Szene. Eine Frau betritt die Bühne. Das was unmarkiert bleibt, erscheint sofort: weiß, heterosexuell. Deshalb schafft uns dieser Satz aus der Welt. Und er ist der Anfang von etwas, das von uns künden will. Aber im Gegensatz zu Foucaults Polizeiberichten, in denen er Sätze fand, die bestimmte Leben aus der Welt schafften, „Mme X wurde wegen sodomitischem Größenwahn nach Charenton verlegt“, und hinter denen Leben erscheinen, die gelebt wurden, schafft uns der Beginn eines Dramas aus der Welt. Da hilft es auch nicht, dass wir, angeleitet von Shakespeares Prologen, in der Hahnenkampfgrube die vermeintlichen Felder Agincourts sehen. „Wer da schreibt“, ist nicht die Frage. Und keine Antwort. Da schreibt sich bloß ein Text fort, der nicht kaputtzukriegen ist. Einmal in einem Theaterstück am Off-Broadway in New York sah ich Frauen auftreten, die durch die Tür kamen und nicht automatisch heterosexuell waren ... Die Polizei schreibt die Sätze, die von uns künden. Da gibt es keinen Zweifel. Erster Akt. Ein Mensch betritt die Bühne. Was teilen wir denn mit der weißen männlichen Hete, die da vorne spricht? Spricht die für die Kakerlaken oder wenigstens mal zu denen hin? Ist die plural aus einer reinen Behauptung? Oder könnte die auch singulär plural sein? Wie kann ihre Singularität Plural sein? Spricht die zu der Welt hin oder nur für die Welt? Was heißt denn: zu ihr hin? Was an ihr ist Welt? Und wo ist ihr Wirklichkeitsbezug? Donna Haraway: „Dieser Blick schreibt sich auf mythische Weise in alle markierten Körper ein und verleiht der unmarkierten Kategorie die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden, sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen. Dieser Blick bezeichnet die unmarkierte Position des Mannes und des Weißen.“

13.

Sie haben doch bestimmt von der vierten Wand gehört? Ich bin mir sicher! Sie war etwas, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht existierte. Es war sogar eher ein Begriff für etwas, das ausgerechnet nicht existierte. Man sprach von etwas und nannte etwas die vierte Wand und meinte damit, dass sie eigentlich nicht existierte. Verstehen Sie bis dahin? Ja, ich sehe es. Wie gut. Welchen Vergleich könnte ich da heranziehen? Etwas, das es nicht gibt, das aber sonderbarerweise Körper werden konnte ... Ach ja! Vielleicht wie die Seelendarstellungen auf traditionellen Gemälden.

Die Tradition ist wie immer wesentlich komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint. Das ist ja der Ärger mit der Tradition, sie soll ja unkompliziert sein, aber sie ist ja gerade nicht das, was im Wesentlichen unkompliziert ist. Figuren, die aussehen wie Engel, die aus den Mündern von Menschen streben, und die Seelen darstellen. Dass sie jetzt Körper sind auf diesen Gemälden, sollte man ernst nehmen. Etwas, das Körper wird. ­Etwas, das man im Grunde nicht mit einem Körper verbindet, oder dem Körper. Wir sehen diese Seelenengel oder Engelsseelen und denken an einen Witz, aber wir könnten es ebenso großartig ernst nehmen.

14.

Stellen Sie sich vor, die vierte Wand hätte sich eines Tages materialisiert. Ein Schauspieler käme eines Tages an seinen Arbeitsplatz und fänd eine vierte Wand vor sich, von der er zwar schon gehört hatte (die in seinem Beruf auch eine Rolle spielte), aber die ihm bis dahin wie eine Redewendung vorgekommen war, wie etwas, von dem man zwar sprach, das aber nicht existierte. Man sah doch auf etwas und es meinte einen. Es meinte die im Zuschauerraum. Es ging um eine Ähnlichkeit. Aber welche Ähnlichkeit sollte eine vierte Wand darstellen? Wen sollten die Zuschauer darin sehen, oder die Schauspieler? Am Rande welcher Darstellbarkeit war man angekommen, wenn die vierte Wand, die nie ein Körper war, plötzlich einer wurde? Stellen Sie sich unsere Zeit vor, in der nur noch mit der vierten Wand gespielt wird. Sie ist einfach da und nicht mehr wegzudenken. Vor zweihundert Jahren dachte man, man könnte Theater spielen und den Leuten etwas zeigen, aber wir hier und heute haben die vierte Wand erfunden. Es wird nichts mehr gezeigt. Man dachte einmal, es wäre etwas Gutes, den Leuten, den Zuschauern etwas vorzuspielen. Man hatte zwar die vierte Wand erfunden, aber sie war nur rhetorisch. Es gab sie nicht wirklich. Man meinte etwas ganz anderes damit. Und mit einem Mal wurde ernst damit gemacht. Jetzt könnte man sich fragen, wurde sie von einem Regisseur aufgestellt, der seine Schauspieler nicht mehr sehen konnte oder wollte? War es bei der Probenarbeit so weit gekommen, dass der Regisseur sich eine vierte Wand wünschte, damit er sie nicht mehr ertragen musste? Ihre Kleidung, die Art wie sie sich bewegten, langweilten ihn, und er sah als einzige Möglichkeit seines Schutzes eine vierte Wand. Er tat dann auch alles, um sie zu

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Compagnie de Chaillot & Rachid Ouramdane

Daniel Kötter

Letters Home 14. & 15.01.

Highlights Januar

contre-nature 24. & 25.01.

Der Fall Mutter 30.01. – 01.02.

Roden 31.01. & 01.02.


Stück „Der Schnittchenkauf“ legitimieren und erfand eine Spielweise, die darin bestand, dass die Schauspieler nichts mehr für irgendwelche Zuschauer machten, sondern für sich selber. Natürlich wusste der Regisseur, dass er sie nicht sehen wollte. Aber die Schauspieler, die ihn ja liebten, und sich geliebt fühlten, wussten nicht, was er eigentlich damit meinte. Ja, so ist das mit der Liebe! Was macht man jetzt also, wenn man nicht geliebt wird und anfängt hinter einer Wand Theater zu spielen? Ging es um ihre Körper, wollte er die nicht mehr sehen? Waren die überhaupt zu sehen? In der Zeit, von der wir reden, war es natürlich schon vorgekommen, dass Regisseure ihre Schauspieler zwar sehen, aber nicht mehr hören wollten. Dass sie alles, was aus ihren Mündern kam, für Geschwätz hielten, und sie deshalb hinter eine Glaswand verbannten. Aber so weit wie heute, mit der vierten Wand, war man bis dahin noch nicht gegangen! Auch die Zuschauer waren sehr glücklich darüber gewesen, dass man Schauspieler nicht mehr hörte. Es störte nur noch, dass man sie sehen konnte. Und dann eines Tages, kam ein Schauspieler an seinen Arbeitsplatz, fing an, zu spielen, und merkte plötzlich, dass es keinerlei Reaktionen auf Seiten des Publikums gab. Eisernes Schweigen, aber kein strafendes. Es kam einfach von dieser Seite nichts mehr. Der Schauspieler betrachtete zuerst seinen Körper, weil er dachte, da wäre etwas faul. Aber nein, das war es nicht. Er konnte ihn ja, wie immer eigentlich, nicht sehen. Für seinen Körper war es gar keine so große Veränderung. Aber seine Abwesenheit hatte sich durch die vierte Wand ein für allemal manifestiert.

15.

Richten wir uns gegen die Verteidigung dessen, was nicht verteidigt werden muss! Überall und immer wird so sehr das Innere verteidigt, obwohl es immer nur um das geht und jeder nur das sieht, das Innere. Wenn man in einem Café sitzt und redet über schöne Menschen oder über Geld, gibt es garantiert einen am Nebentisch, der sagt, wichtig wären doch viel mehr die inneren Werte. Aber die müssen gar nicht verteidigt werden. Hier zum Beispiel. Ich halte einen Geldschein vor Sie hin. Was sehen Sie? Den inneren Wert dieses Scheins. Sie sehen nicht das Papier. Das ist ja wohl der Beweis dafür, dass immer nur das Innere, der innere Wert gesehen wird. Und nicht die Körper, auf die er draufgedruckt ist, und die mit ihm herumlaufen

müssen. Wie ein Schauspielerkörper mit irgendeiner Rolle, die auf ihn drauf gedruckt ist. Und wenn der Schauspielerkörper alt geworden ist, kann man ihn auf der Bank umtauschen. Und dann gibt’s einen neuen Schauspielerkörper, und Hedda Gabler sieht wieder wie neu aus, und ist gleich viel wert. Natürlich wollen die Körper auch so sein, aber sie kriegen immer eine Vergänglichkeits- eine Verlustgeschichte erzählt, aber nicht der Klassiker: fünfzig Euro. Der darf immer der Gleiche bleiben. Ich zeige ­Ihnen noch einmal den Geldschein. Das hier ist euer Klassiker. Soviel zum Inneren. Im Zuschauerraum werden es auf alle Fälle weiterhin eine Menge verteidigen, einfach weil es besser ist, wenn es im Zuschauerraum einen Konsens gibt, da stimmt dann einfach diese ungesellige Geselligkeit, da klingt das „wir“ nach Harmonie. Die denken dann im Zuschauerraum, sie sind gegen das Geld, aber leider sehen sie immer nur die inneren Werte, und das ist eben bei einem Stück Papier das, was man aus ihm gemacht hat, einen inneren Wert. Geld! Papier könnte auch als Tapete enden, aber die Superware, die man aus ihm machen kann, ist Geld. Papier kann dann alles sein. Das hat sich das Papier schon immer gewünscht, und da sind wir auch wieder beim Schauspieler. Dieser Körper kann auch alles sein. Ja, natürlich kann er auch das Telefonbuch aufsagen und es wird toll sein. Darauf entgegnet der große Schauspieler Fabian Hinrichs: „Aber das Moskauer Telefonbuch zum Beispiel war von 1931 auf 1932, nach Stalins Säuberungen, ein völlig anderer Text. Und er kann nicht jedes Jahr einen völlig neuen Telefonbuchtext aus­ wendig lernen. Es war ihm ja eigentlich deshalb angeboten worden, das Telefonbuch, weil es ein Klassiker ist.“

16.

Bisher haben wir das endliche, sterbliche Treiben auf dieser Erde aus der Metaperspektive der Unsterblichkeit der Seele betrachtet und beurteilt. Hören wir endlich auf mit diesem christlichen Reflex. Wir brauchen Unsterblichkeit für alle und dauernd. Und zwar die Unsterblichkeit der Körper. Und nicht die der Seelenfotzen. Das nachhallende Wort eines dummen Hörspielsprechers, zu dem er sich antreibt, ist nicht die Seele. Ja, sie wollen sie immer wieder einfangen, diese mittelbegabten Seelenfotzen. Die ganze Welt beseelen mit diesem christlichen Dreck. Aber die wahre ­Wiederauferstehung gibt es nur mit den Körpern. Nur, die sieht ja keiner. Die Körper. Auch nicht, wenn das Licht wieder angeht. Dann sind das auch nur Seelen, die von einer verfetteten Schauspielklasse durch die Gegend getragen werden. Und alle fragen sich, ja, das müssten jetzt nicht

DIE 24. + 25.1. DUNKELHEIT PERFORMANCE

Forum Freies Theater

© Florian Krauß

BILLINGER & SCHULZ

fft-duesseldorf.de


Stück René Pollesch unbedingt Fette sein, aber wenigstens tragen sie Seelen durch die Gegend. Die Körper kommen einfach nicht zu ihrem Recht, deshalb gibt es auch keine einheitlich verfettete Schauspielklasse. Höchstens einen. Ein Fetter darf dabei sein. Den kann man dann mal an Marthaler ausleihen. Allerdings gibt es in Wien einen Jahrgang, wo alle Typen aussehn wie Tobias Moretti. Und das funktioniert dann wieder ganz gut. Wenn vierzehn ­Morettis Seelen durch die Gegend tragen, dann fragt sich keiner, warum die so fett sind. Und die unsterblichen Seelen an so gesunden Körpern kleben. Das ist vielleicht das Zeichen für ihre Unsterblichkeit, ein Wahnsinnskörper ohne Gewicht!

17.

Wann machen wir dasselbe, und wann machen wir etwas anderes? Sie erwarten also, dass ich mich neu erfinde? Es gibt so viele Regisseure, die machen alternierend Tschechow, Shakespeare, Ibsen. Also immer dasselbe. Wenn jemand aber zum Beispiel immer Ibsen macht, ist das nämlich nicht mehr dasselbe. Der macht was anderes. Der D-Typus müsste funktionieren wie die Formel, mit der wir folgendes sofort feststellen können. Fall A: In die Arche Noahs (oder nach einer Beobachtung Brechts vom Rang aus, auch in das Berliner Ensemble) geht immer das Gleiche rein. Die Erzählung heißt Vielfalt. Die natürlich sowieso absurd ist. Aber daran muss sich der Geist nicht aufhängen. Denn es ist mit der Brille von Donna Haraway ganz klar zu sehen: Es geht immer das Gleiche rein: Penis und Vagina. Immer das Gleiche. Je bunter desto grauer. Zwischen dem Gleichen und dem anderen, dem ähnlichen und dem unähnlichen scheint es ein Wahrnehmungsproblem zu geben. Fall B: Eine Regisseurin besetzte einmal in einer Clavigo-Inszenierung alle Rollen mit Frauen, und es wurde begrüßt. Als sie ein halbes Jahr später in einer weiteren Klassikerinszenierung ebenfalls alle Rollen mit Frauen besetzte, sagten viele überrascht, sie würde ja immer das Gleiche machen. Der Punkt ist, sie machte etwas anders, und dann machte sie es noch einmal anders.

18. Anhand einer Darstellung zu sagen, das kenne ich, das kenn ich auch von mir, garantiert nicht, dass es etwas mit einem zu tun hat Wir sind nicht mehr aufgefordert gierig zu sein, sondern kreativ.

19.

Das Auditorium der Kreativen Anti-illusionistisches Theater

In den naturalistischen Aufführungen haben die Zuschauer die Illusion vor Augen, wenigstens ein Zuschauer im Auditorium würde sich noch für die Figuren eines Dramas interessieren oder der Geschichte folgen. Dieser Zuschauer sitzt aber vielleicht gar nicht mehr da, und er ist ganz und gar eine Illusion. Die anderen 99% sitzen dort, weil sie Schauspiel studieren, einen Freund auf der Bühne stehen haben oder an den universellen Wert der Kreativität glauben. Sie denken sich aber als eine Gemeinschaft allein deshalb, weil sie den vor Augen haben, der der Geschichte folgt. Sie sind viele, aber sie wissen es nicht. Sie sind hier wegen der Gier, die das Thema der naturalistischen Theateraufführung ist. Aber es hat sie die Kreativität versammelt. Und das ist ganz und gar nicht zynisch gemeint, das festzustellen. Es geht auch nicht um ein Jammern darüber. Die Frage ist aber, was fängt man jetzt damit an? Zu irgendetwas muss der Kasten doch gut sein! Die ganz großen Themen im Theater wie „Gier“ bekommen es jetzt mit der Universalisierung der ganz kleinen wie „Kreativität“ zu tun. Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung haben zwar noch nicht die Wucht und nicht die Bedeutung bunkern können wie Gier, Hass, Neid, Rache, Liebe, Tod, Schuld, Schicksal, da sie nur in der kurzen Epoche des interaktiven Theaters, als Forderungen nach einer Reform des Kapitalismus, offen ausgesprochen wurden. Dass die Theater vor der „Kreativität“ als großem Thema immer noch zurückschrecken würden, zugunsten von Themen wie zum Beispiel der „Gier“, liegt daran, dass dort alle immer noch darauf trainiert sind, die Probleme so zu identifizieren, dass sie zurückgewiesen werden können.

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JANUAR 2025

NACHTSTÜCK PERFORMANCE

ÜBERNACHTUNG

von O-Team

DIE VERWANDLUNG

THIS IS NOT A LOVE SONG

PERFORMANCE

von Manuel Gerst

C& CENTER OF UNFINISHED BUSINESS LITERATUR

READING SESSION

RACHEL UND ICH PERFORMANCE

von Lulu Obermayer mit Rachel Troy

COSMIC RADIO SHOW mit Muhterem Aras MUSIK

GESPRÄCH

von Braun, Schäfer, Vogel


Stück „Der Schnittchenkauf“

20. Das Stück in Ihrem Spielplan heißt „Gier“. Stellen Sie sich vor, obwohl unsere Darstellungen besser wurden, weniger könnten trotzdem die Zuschauer mit einem Titel wie „Kreativität“ anfangen.

Kreativität ist kälter als die Gier

gegennehmen. Aber fragen Sie sie selbst, die Kreativen, sie wünschen sie sich nicht. Sie wollen vielmehr eine Erzählung über die „Gier“. Sie wollen keine Geschichte hören, die von ihnen kündet. Sie wollen Geschichten über die anderen. Sie wollen Geschichten, die von ihnen künden. Und nicht immer Geschichten über die anderen.

21.

24.

Brechts Lehrstücke richten sich gegen dieses dauernde Rumgeschraube Das Theater und seine großen Themen haben ihre Universalität verloren, und an die von den Künstlern in die Welt gesetzte Figur des Kreativen abgeben müssen. Das Problem bei einem Stück über die Gier ist, dass da unten im Zuschauerraum zwar alle gewillt sind, der Geschichte über die Gier zu folgen, und daraus Konsequenzen zu ziehen, nur muss man sagen, dass die meisten im Publikum nicht unbedingt aufgefordert sind, gierig zu sein. Was sie aber unbedingt sein sollen, ist: kreativ. Und dann haben wir auf dem Theater ein Problem, denn das sind wir ja dauernd. Wir konnten bisher die Gier ganz gut kritisieren und haben nur verpasst, dass gar niemand mehr aufgefordert ist, gierig zu sein.

Nein, das reicht nicht!

22.

Im Grunde reicht es den Anwesenden. Im Zuschauerraum und auf der Bühne. Intendanten reden sich ein, es reicht. Regisseure, Zuschauer und Theaterkritiker habe ich noch nie sagen hören, dass es nicht reicht. „Das reicht nicht!“, sagt aber mein singulärer Zuschauer, der nicht einer unter vielen ist, über das Treiben auf der Bühne. Er ist das Echo im Auditorium eines jeden Theaters. Er hält uns die Illusion eines Zuschauers vom Leib, den wir vor Augen haben, einer dem das reicht.

23.

Was spricht gegen die Erzählung? Antwort: Im Zuschauerraum die Kreativen vermissen keine universelle Geschichte über Kreativität. Und das müsste doch so sein, wenn wir dort sitzend die Erzählungen über uns ent-

THEATER DER JUNGEN WELT

TURBO wird ermöglicht und gefördert durch:

Brecht konnte ein Theater denken ohne Publikum und ein Theater ohne Proben. Also ein Theater ohne das Drama „Probe“ und das „Drama der Endproben“, die Phase also, wo man wahrnehmbar auf die Premiere zusteuert. Natürlich kann man Endproben auch reformieren und sie einigermaßen nett ablaufen lassen, oder man hat von vornherein nur nette Leute um sich geschart. Aber was, wenn alle schon nett genug sind? Fast unerträglich nett? Dietmar Dath würde sagen: „Wir sind schon gut genug.“ Das Problem sind nicht wir. Das Problem sind die Endproben. Und Endproben kann man wirklich nur verändern, wenn man sie abschafft. Und das Publikum. Aber der Gedanke eines Theaters, das einfach das Publikum weglässt, oder die Proben, bringt alle aus dem Häuschen. In London so etwas zu sagen, und dann noch dazu, dass der Gedanke von Brecht ist, ist eine völlig absurde Angelegenheit. London und New York sind aber genau die zwei Orte, an denen ich Theater gesehen habe, und danach sagen konnte, dass die da spielen, dass sie Theater machen. So wie man in Deutschland das Gefühl hat, hier tut man so, als ob man Filme dreht.

Stücke sind Turngeräte

25.

Und alles, was mit ihnen zu tun hat, ist Sport. Schluss damit!

26.

Das „Passionsspiel“ ist das einzige Werk dieses Autors im allgemein ­verbreiteten Sinne von „Werk“ als „Plan“ und „Blaupause“. Das heißt, es wurde mehrere Male aufgeführt. Allerdings immer im Zusammenhang mit dem Autor. Seine Uraufführung erlebte es 1985 in einer Ein-Zimmer-­ Wohnung in Fernwald (bei Gießen), seine Schweizer Erstaufführung vier-

TURBO #2 – INKLUSIVES TANZ- UND THEATERFESTIVAL FÜR JUNGES PUBLIKUM 30. JANUAR BIS 02. FEBRUAR


Stück René Pollesch zehn Jahre später, 1999 in Luzern, die erste deutsche Neuinszenierung fand 2001 im Prater der Volksbühne statt, 2008 wiederentdeckt in der Skala, einer Nebenspielstätte des centraltheaters Leipzig und 2009 im Sternfoyer der Volksbühne, dort zum ersten Mal mit Chor, die nächste Nachinszenierung 2011 in der Galerie Buchholz in der Fasanenstraße, ebenfalls mit Chor.

27. Paragraph nah am Dialog gebaut Weißt du, normalerweise standest du vor meiner Tür mit einer Liebesgeschichte oder irgendjemandem war irgendetwas Furchtbares oder Gutes passiert; und jetzt klingelst du hier und erzählst mir etwas von der Geschichte der Kapitalismuskritik. Oder von Kreativität, und dass die großen Themen weg sind. Aber ich kann nicht damit umgehen. Für mich gibt es die immer noch, die großen Themen. Ich sage sie jeden Tag groß zum Himmel, die Liebe, den Hass, den Tod ... Irgendwohin muss ich meine Rede doch richten. Und der Himmel ist, wenn auch nicht naheliegend, doch ein guter Adressat. Ja, wieso darf ich denn nicht bei dir klingeln und von Kreativität erzählen. Das ist doch naheliegend. Wir sind doch auf einer Bühne.

Die Kreisligisten der Liebe

28.

Der große Schauspieler Bernhard Schütz sagte einmal, als er einen Film sah, es ist immer das Gleiche, man sieht nur Schritt – Schritt – Stolper Der große Schauspieler Bernhard Schütz sagte einmal, „jetzt wo alle spielen, müssen die Schauspieler wieder was anderes werden“. Es gibt keine zeitlose Gier, sondern es gibt diese nie vorher dagewesenen Zusammenhänge, die wir sind, und der Darwinismus musste dafür herhalten, uns die als Naturzusammenhänge zu verkaufen. Ich zum Beispiel sehe uns eher immer zufällig etwas anderes werden. Es gibt keine großen Themen, wir können die kleinen aber wichtig und ewig machen, wenn wir sie nur lange genug hochhalten und gen Himmel sagen. Ein Regisseur denkt immer noch, er hätte der Gesellschaft etwas Neues zu sagen, aber die Regisseure verteidigen vor allem ihre Kreativität. Die nicht verteidigt werden muss.

Das KapiTal der Puppen

29.

Wenn wir hier jetzt „Seele” sagen, sagen wir nur „Seele“ wegen dem „Körper“ Es gibt nur die Körper. Sie wollen Fassbinder, wenn Sie sagen, Sie wollen Margit Carstensen. Das ist das Problem. Sie wollen immer nur Fassbinder sagen. Und das tun Sie auch. Erst wenn Sie verstummen, kann es Körper geben.

42

30. Endstation Meinung (nach einem Vorschlag von Diedrich Diederichsen, vorgetragen von dem großen Schauspieler Martin Wuttke) Martin Wuttke: Es ist alles angerichtet, wie Sie sehen. Ich werde jetzt diesen Text verlesen, wie es der Wunsch des Autors war. Dieser Text stellt keine Meinung dar. Denn dann wäre er nur ein Text unter vielen. Dieser Text ist aber der Text schlechthin. Sie werden, nachdem Sie ihn gehört haben, nicht denken: „Ja, so kann man das auch sehen.“ Oder „Interessant, so hab ich das noch nie gesehen, aber der Text von Herrn Sowieso gestern hat mich auch auf andere Gedanken gebracht.“ Nein! Es gibt keine weiteren und auch keine anderen Gedanken. Andere Gedanken sind Meinungen. Und das ist der Text, den ich auf Wunsch des Autors gleich vortragen werde, ausdrücklich nicht. Wenn das harte Denken der Sphären der Akademien auf uns trifft, soll das nicht länger Endstation Meinung heißen. Stattdessen werden wir beim Verklingen des Textes, bei seinem Ausklingen, jede Meinungskultur losgeworden sein, und unser totalitäres Herz wird wieder höher schlagen. In einem anschließenden Gespräch mit Ihrer Abendbegleitung, wird sich bei Ihnen kein Ekel einstellen über dessen Amtsanmaßung. Er wird sich mit Ihnen über nichts mehr austauschen müssen. Über keine anderen Gedanken eines Herrn Sowieso, die ein bisschen anders sind, nein, Sie können auch niemanden nach einem bisschen Telefonnummer fragen, das ist dann nämlich keine mehr! Die ist dann auch bloß eine Meinung. Meinungen wird es nach dem Verklingen dieses Textes nicht geben. Was es geben könnte, und womit sich der Text gleich auch selbst beschäftigen wird, ist etwas, das noch unter der Ebene der Meinung angesiedelt ist. Vor allem: dessen Ungenauigkeit noch unter der Meinung angesiedelt ist: Der Klatsch. Sie können tratschen, um irgendeine Meinung, die der Text selbst noch nicht eliminiert hat, auszumerzen. Aber auch der Text selbst wird auspacken. Er wird Namen nennen. Es werden sich Bilder, Gerüchte, Intrigen in Ihren Köpfen festsetzen, die Sie nicht mehr loswerden. Und wenn Sie dann nur noch Namen hören, werde ich sie wieder schwärzen oder weglassen. Das Denken wird so sehr verwirrt, bevor es zur Meinung wird, dass es vielleicht endlich bei dem, was uns betrifft, ankommen kann. Auch die Inszenierungen des Autors sind keine Meinung, es sind keine Inszenierungen unter vielen. Schauspieler kucken manchmal schockiert, wenn der Regisseur sagt, der und der Regisseur ist gar kein Regisseur, und das, was er macht, ist schon gar nicht Theater. Und man könnte, sagt er, über die Kollegen auch nicht sagen, die machen ein bisschen Theater, genauso wenig wie man ein bisschen schwanger sein kann oder von jemandem die Telefonnummer ein bisschen haben kann. Gegen den honorigen Herrn, von dem diese Zeilen stammen, sind alle unverbindlichen, schnöseligen Kulturträgerfiguren mittelalte Affen. Um genau das zu erreichen, dass der Text, der hier vorgetragen wird, nicht wieder nur zur Endstation Meinung gelangt, einer Endstation unter vielen, werden Ihnen in diesem Text einige Tratschgeschichten begegnen, weil Klatsch und Tratsch im Nahkampf mit der Meinung, mit Ihrer zum Beispiel, die geeigneteren Waffen sind als zum Beispiel eine andere Meinung.

Theater der Zeit 1 / 2025


Stück „Der Schnittchenkauf“ Dies geschieht alles nach einem Vorschlag von einem von mir sehr geschätzten und verbindlich forschenden Autor. Sie werden in diesem Text Denunziationen begegnen, die aber nur das Ziel haben, die Meinung zu bekämpfen. Und zwar mit etwas, das an Ungenauigkeit noch unter der Meinung angesiedelt ist. Die ungenaueste, unsauberste, vulgärste Ausdrucksform. Die offensivste, offensichtlichste Ungenauigkeit, der Tratsch, der Klatsch und nicht die „Meinung“ im Treppenhaus. Der Tratsch muss gegen die Meinung im Treppenhaus in den Nahkampf geführt werden. Was gleich folgen wird, ist der Text schlechthin! Der Pluralismus sichert sich immer dadurch ab, dass er Ideen nur zulässt, wenn sie als eine unter vielen kenntlich gemacht werden. Dem genau wird sich der Text entziehen. Herr Wuttke hat sich lediglich zur Verfügung gestellt. Nun darf man das ja alles nicht sagen, dass das hier der Text ist und so weiter, und dass es keine Inszenierungen gibt außer denen dieses Autors, aber der Tratsch darf ja auch nicht sein, davon darf ja nicht getratscht werden, dass der und der seine Frau schlägt. Da könnte ja die Hochkultur ihre Unschuld verlieren, wenn wir in den Mülltonnen der Regisseure herumwühlen. Aber damit wird das doch wichtig, wovon nicht gesprochen wird. Das ist doch vielleicht wichtiger als „die Meinung“, das, wovon nicht gesprochen wird, vom Tratsch.

31.

33. Es gibt keinen Sinn, der zwischen zwei Türen liegt Außer einmal, als die große Schauspielerin Sophie Rois zur einen Tür eines Bühnenbildes hereinkam und zur andern Tür wieder hinausging. Wir hatten eine Menge Text und nur eine Aktion. Sophie Rois kam durch die eine Tür, die Arme ausgestreckt, die Augen zu und offen, wie man lässig einen Schlafwandler zeigt, den jeder erkennt, und sie sagte: „Pyjamas haben auch keine Geschichte. Das erzählt einfach niemandem mehr was, sich umzuziehn fürs Bett.“

34.

Eine andere Frage wäre – um die gewöhnliche wegzukriegen: warum etwas nicht mehr funktioniert – eine richtige Frage wäre: „Warum hat es jemals funktioniert?“ Wir können nicht nach einem verloren gegangenen Rezept oder nach einem verloren gegangenen Sinn suchen, das Rad muss immer wieder neu erforscht werden. Wir können uns auf das Rad nicht verlassen. Alles was man uns hinterlassen hat, ist für uns völlig unverständlich. Jede Quelle. Jeder Text. Das denke ich gerade bei einem Dreißiger-Jahre-Farbfilm, bei dem die Leute sich gegenseitig berühren, als wären sie in unverständliche Klassiker verwickelt.

35.

Rede an ein anderes beliebtes Ensemble

Was den Dialog an der Theorie interessiert. Deren Vernichtung

Natürlich weiß ich, ihr seid auch alle miteinander befreundet, und ihr habt Spaß bei den Proben. Und das weiß ich auch, dass ihr durch mich da nicht mehr allzu sicher seid.

Das Theater ist nicht der Ort, an dem Sender und Empfänger herumlaufen. „Ich sah bei euch weder Sender noch Empfänger herumlaufen“, sagt der Schauspieler, und das gefiel ihm. Und hier trafen sich seine Ansprüche und die des Philosophen, der den Schauspieler infiziert hatte und den niemand hinter die Bühne zerren musste, um sie miteinander bekannt zu machen. Der Philosoph war ja auch sonst auf der Straße. Bei b_books oder pro qm. Oder er war Wolfgang Pohrt. „Und ich sah weder Sender auf der Bühne, noch Empfänger im Publikum“, sagt der Schauspieler weiter. Ich sah stattdessen Menschen herumirren, auf der Suche nach etwas. Sie waren aber nicht auf der Suche nach Liebe, sondern auf der Suche nach jemandem, an den sie ihre Rede richten konnten. Aber ganz sicher kein Ohr. Und die Rede war keine Antwort oder Ölspur, sondern wieder ein Ursprung. Die Rede stellten sie vor sich hin und suchten jemanden, dem sie sie wie einen dicken Bauch hinstrecken konnten. Sie führten ihre Rede wie ein Lasso, das sie einem anderen anhängen konnten. So war die Rede auf der Bühne. Es ging ganz ohne neumodische Sender- und Empfänger-Geräte. Es ging ganz ohne Dialog. Der Dialog hat mit dem Theater nichts zu tun. Und das Theater würde diesen Strang wieder aufgreifen wollen, der abgerissen ist. Die Tradition ist wie immer wesentlich komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint. Das Theater wäre nämlich allein der Tradition verpflichtet.

Jetzt könnt ihr sagen: Wovon redet der? Ist er durchgedreht? Warum glaubt er, das Bühnenbild schlechthin vor sich zu haben, nur weil er da eben gerade davor sitzt und der Freund es gebaut hat? Warum? Und warum ist das nicht wegzureden mit eurem „Freundes“ – und „Spaß bei den Proben“– Gequatsche? Warum wisst ihr, dass ich Recht habe? Weil ihr euch dabei ertappt fühltet, mir zu raten, in einer anderen Stadt auf einem anderen Kontinent, wäre auch ein Bühnenbildner zu finden. Weil ihr euch dabei ertappt fühltet, mir zu raten, dass es auf anderen Kontinenten auch andere Stücke gibt. Aber ihr habt nicht recht. In Ordnung. Spaß beiseite. Das kann man ja alles nicht sagen, außer im Spaß. Denn ich will ja mit euch leben und reden, und es gibt da auch Anstrengungen von eurer und auch ein paar von meiner Seite. Ich weiß ja, dass es zutiefst unsympathisch ist, in einem Buch mit einem so schönen Titel solche Dinge zur Sprache zu bringen.

Was sind die neuen Kunstmittel?

32.

Die große Schauspielerin Sophie Rois, die das Bühnenbild nicht mit dem danach entstandenen Stück in Zusammenhang bringen kann, lässt das Stück mit dem Satz beginnen: „Tja, meine Herren!, wir sind im falschen Bühnenbild. Wer ist dafür verantwortlich?“

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36.

Ich muss sehen, dass deine Hände nicht in Gesten verwickelt sind, sondern in die Erfindung von Berührungen, in die Erforschung dieser Werkzeuge. Ich hätte sehen müssen, dass es da nichts zu lesen gab in deinen Blicken, dass die Augen etwas ganz anderes machten, als irgendwas zu signalisieren. Das war vielleicht der Schock, weißt du noch, dieses eine Mal, als ich

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Stück René Pollesch das in deinen Augen gesehen habe. Diesen Blick, der weder Sehen noch eine Geste war. Und es gab da keinen bekannten Grund mehr, warum die Augen existieren, als dieses Rätsel an Intensität. Sie wollen nichts signalisieren, sie wollen nichts sehen. Aus ihnen sprudelt nur der Verlust oder das Rätsel an Intensität.

37.

Woher kommt diese Verachtung für das Benutzbare? Ein Instrument, das für die Schauspieler gedacht war, und jetzt einem neuen Ensemble gezeigt wurde: eine Tür zuzuschlagen und erneut zu klopfen, also eine Szene zu beenden und sie erneut anzugehen, neu zu beginnen, wenn sie misslingt, wird von dem neuen Ensemble verwandelt in die Produktion von Sinn, der über den reinen Gebrauch hinausgeht. Das Training war wohl das Fernsehen. Ich erinnerte daran, dass es nicht darum geht, zu spielen: eine Szene abzubrechen. Das wäre dann keine neue Erfindung. Sondern das will nur auf etwas hinaus, das man kennt. Aber das, was man kennt, garantiert nicht, dass es etwas mit einem zu tun hat. Man denkt aber dauernd, das würde es. Was ist jetzt der Unterschied? Das Instrument war einfach: Wenn die Szene misslingt, nach Ansicht der Schauspieler, haut man die Tür zu und beginnt die Szene erneut. Oder man bezieht sich auf etwas, das jeder kennt: eine Szene abbrechen. Warum tun wir bestimmte Dinge auf der Bühne? Sollten wir sie nicht für uns tun? Sie produzieren so lange einen Mehrwert, bis das Instrument als Instrument verschwunden und nicht mehr zu benutzen ist. Als hätte damit nie jemand etwas anderes gewollt als: Sinn.

38. Darwin hat den Plan da rausgezogen. Er hat wirklich Gott getötet, und damit aufgeräumt, dass wir nach einem Bild geformt wurden Unsere Stücke werden nicht von anderen Regisseuren und Schauspielern nachgespielt. Das war uns ganz wichtig, klarzustellen, dass es hier um eine Theateraufführung geht und nicht um eine Blaupause und einen Plan, mit dem weitere Klone hergestellt werden könnten. Nein, es gibt nur diesen Abend. Literatur nachspielen hat nichts mit unserer Praxis zu tun. Ich hab den Abend nicht „für“ X geschrieben. Das heißt, sie/er war nicht gezwungen, ihn „entgegenzunehmen“, wie das sonst Praxis ist, wenn sich ein ­Autor scheinbar vor Schauspielern verbeugt.

39.

Der Schauspieler braucht auch keinen Raum und kein Vertrauen. Der wichtigste Satz eines Schauspielers, für den Nahkampf mit einem Regisseur ist: du musst mich nicht trösten.

Macht es für euch!

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40.

Um diesen Satz zu verstehen im Theater, muss man einen langen Anlauf nehmen, wie ihn zum Beispiel Brechts Lehrstücke bieten. Macht es für euch! Diesen Satz so zu sagen, dass er auch gehört werden kann, ist derart kompliziert. Er scheint ganz normal zu sein, und verständlich, und zu bejahen, und doch ganz und gar nicht normal, und wird definitiv von einigen verneint. Es wird dann gesagt, „Nein, es geht hier nicht um euch.“ Andererseits ist ein Allgemeinplatz, dass es doch erst einmal um überhaupt jemanden gehen soll. Denn, wenn selbst die Künstler mit der Sache nichts zu tun haben, was soll dann ein Zuschauer mit ihr anfangen. Natürlich haben wir an unseren Theater-Abenden Publikum und wir hatten auch Proben. Am Ende des letzten Abends versucht Fabian Hinrichs zusammen mit dem Chor zu sagen, dass wir es für uns gemacht haben. Was natürlich sehr missverständlich ist. Ein Publikum kann bei so einer Ansage leicht mürrisch werden. Und weshalb die Spieler auch einen Riesenanlauf nehmen müssen, damit man das in der Tragweite verstehen kann, die Brechts Lehrstücke für mich haben, ein Theater ohne Publikum und ohne Proben, mit dem man nach wie vor selbst die ältesten Theaterhasen gegen sich aufbringen kann.

41.

Der Mehrwert. Das Werk dient zur Glorifizierung Gottes oder des Regisseurs Man sieht sehr gut, wann jemand aufhört, etwas für sich zu machen. Ich weiß von mir ja auch, dass das zu sehen ist, wenn jemand am Nebentisch mich mehr interessiert als mein Gegenüber. Oder andersrum. Man setzt sich in ein Café und sieht am Nebentisch zwei Leute miteinander reden. Und obwohl sie weiterreden und sich auch weiterhin in die Augen schauen, ist zu merken, dass einer von ihnen an mich denkt und sein Gegenüber verloren hat. Es hat sich nichts geändert. Die Stimmen wurden nicht lauter, oder aufgeregter, die Blickrichtung hat sich nicht geändert, aber einer der beiden Schauspieler ist nicht mehr mit dem Gespräch beschäftigt, sondern mit mir, einem Regisseur, den er erkannt hat. Dieses Problem eines Regisseurs habe ich tatsächlich nur in der Realität. Ich arbeite nämlich glücklicherweise nie mit Schauspielern zusammen, die etwas für mich machen. Auf unseren Proben, und auch bei unseren Aufführungen gibt es dieses Phänomen nicht. Nur, wenn ich im Café sitze. Es ist tödlich. Es ist grau. Und wenn diese Aufführung im Café uns zum Beispiel zeigen soll, wie wir Menschen so sind, dann muss ich sagen, ich will gar nicht wissen, dass so die Menschen sind. Auf einer Probe sind sie ja nicht so.

42.

Das Anti-Repräsentationstheater kommt ohne Abgrenzung aus Im Anti-Repräsentationstheater sind die Probleme: Repräsentation, Hetero­sexualität, eine unwahre Gemeinschaft. Im Anti-Repräsentationstheater gelten nicht die handelsüblichen Probleme: Rassismus, Sexismus, Kapitalismus. Der Rassismus wird im Anti-Repräsentationstheater zum Problem der Repräsentation. Der Sexismus zum Problem der Hetero­ sexualität und der Repräsentation. Der Kapitalismus wird zum Problem der Mehrwertproduktion, der Produktion von Sinn, dem Problem, dass wir uns mit dem belästigen, was nur der Verständigung dient, was nur die Kommunikation sichern soll, dem Problem einer unwahren Gemeinschaft. Gegen Sexismus hat jeder gelernt „Nein“ zu sagen, das „Nein“ gegen Hetero­sexualität fällt schon schwerer!

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Stück „Der Schnittchenkauf“

43. Der Text ist ein Monolog, der Instrumente enthält, Werkzeuge, die über ihre Benutzbarkeit hinaus, keinen Sinn produzieren, keinen Mehrwert.

44.

Die Schauspieler gehen auf die Bühne, weil sie etwas wissen wollen, das sich nur mit den dort zusammengetragenen Instrumenten ansehen lässt.

45.

Die Instrumente wurden generiert von Theorien, die selbst vor allem ­Instrumente sein wollen.

46.

gunsten der Schauspieler ausgeht. Sie küssen beim curtain call der Schauspielerin die Hand und es heißt nicht, danke, dass du den Abend gerettet hast, es heißt: du bist mein Geschöpf. Einige brauchen keine Geschöpfe. Bei einigen geht nichts zu Ungunsten des Schauspielers aus. Niemals. Sie zeigen das Schauspielertheater, das Gerhard Stadelmaier mit Regietheater verwechselt. Während er das Disziplinarmodell und die väterliche Liebe eines Regisseurs für Schauspielertheater hält. Kuscheln geht nicht, oder immer schlecht für den Gekuschelten aus. Die Liebe trennt immer schön Schauspieler und Regisseur, und das haben einige nicht nötig.

52.

In Ludwigshafen wurde die große Schauspielerin Christine Groß gefragt, was sie denn so mache. Und sie sagte, sie arbeite mit Pollesch. Darauf war die Entgegnung, „Ach, du machst diese Projekte“. Der Mann redete in Metaphern.

Nach dem Benutzen kann alles unheroisch verglühen.

47.

53.

Das hier ist kein Experiment! Sie müssen das auch nicht dazu sagen!

Die gesprochenen Texte repräsentieren keine innere Welt. Die Seele ist außen.

48.

Sag deine Sätze nicht schnell. Sag sie nur schnell nach den Sätzen deines Vorredners. Die Pausen werden so eliminiert, die ein Instrument des Regisseurs sind. Und dem dadurch signalisiert wird, dass er nicht gebraucht wird.

54.

Meine Sprache stirbt jetzt schon aus. Das, was ich rede, wurde mir klar, kann schon in zwei Stunden nicht mehr verstanden werden. Die Sprache, die Sprache, war schon, in einer zehntel-Sekunde, ich, er und wir, meine Sprache, ich, er, meine Sprache weiß schon, die Sprache weiß schon in der nächsten zehntel-Sekunde nichts mehr von mir. Sie wird, sie wird und ich werde in eine ganz andere Richtung. Wir müssen das, leider leider leider, alles neu erfinden. Wir müssen ein, zwei Semester einschieben an einer unkreativen Universität.

49.

Dass der Schauspieler sich für seine Sätze entschieden hat, entlastet ihn davon, so zu tun, als seien es seine Sätze, und als kämen sie aus ihm.

50.

Der Schauspieler, so er auf einem Sofa sitzt, muss sich das Sofa vom Hintern weghalten, um gehört zu werden. Andernfalls sitzen da nur zwei oder drei auf einem Sofa und reden miteinander und stellen sich gegenseitig Pässe aus.

51.

Das Problem, das die Repräsentation darstellt, zeigt sich im Verkennen von Schauspieler- und Regie-Theater Da fällt mir ein kurzer Videotrailer auf der Homepage eines anderen Theaters ein, den ich vor kurzem sah. Er zeigt einen Schauspieler während einer öffentlichen Probe. Und gleich darauf den befreundeten Regisseur des Abends, der ihm während seines engagierten Vortrags das Mikrophon reicht, mit einer Geste, die sagt, ich pass auf dich auf, man hört dich nicht so gut, ich liebe dich, du bist mein Geschöpf. Diese Freundschaftsgeste vernichtet ihn. Das ist vielleicht das Gesicht der Liebe. Viele Regisseure beziehen sich auf diesen Flirt, der in der Luft liegt, und der immer zu Un-

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Schulen des Todes

55.

Wenn ich jetzt an Jonathan denke, an den ersten Punkt, wo er sein T-Shirt hochzieht, die Szene, wo er sich verabschiedet, in dem Lokal, das nie läuft, oder war es der Italiener, dann noch ein paar Punkte bei seinem Fahrradunfall und die Erzählungen und dann der Anruf seiner Mutter und dann seine Beerdigung und wie ich mir den Baum vorstelle, gegen den er fuhr, dann wäre das doch, diese Punkte, die etwas erneut sagen, also wieder sagen, denn es gab ja schon Fahrradunfälle, T-Shirts und Lokale, die nicht laufen, und jedes Nacheinander doch immer wieder neu sagen, d.h. wo kein Punkt aus dem anderen kommt, wie ein Schauspieler, der eine Dialogseite nicht wie eine Ölspur dahinsagt, sondern wie aus Tausenden von Ursprüngen. Das wäre die Schöpfung, das Wiedersagen, statt sie in Originalität zu zersprengen. Dieses Herz, das man ihnen eingepflanzt hat, ist ja ein Wiederschlagen.

Schritt – Schritt – Stolper

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Meistens werden in Krisenzeiten klassische Stücke als die Stücke der Stunde ausgegeben. An die Theater wird herangetragen, sich über eine krisenbedingte Kapitalismuskritik als relevant zu beweisen. Ich werde dann

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Stück René Pollesch leicht trotzfrigide. Man erwartet dann nämlich von den Theatern, weiterhin in Kategorien zu kritisieren, mit denen sich der Kapitalismus schon lange nicht mehr rechtfertigt. Er ist nämlich gar nicht mehr grau und repressiv. Und die im Zuschauerraum sind auch nicht mehr mit ihrer Gier beschäftigt, sondern mit ihrer Kreativität. Aber die hervorgebrachte Kritik endet vor allem in Reformbemühungen. Antike Stücke wie „Die Perser“ taugen also nicht, um sich beispielsweise mit dem Irakkrieg zu beschäftigen? Jeder Zuschauer weiß, dass er Texten zuhört, die nicht jetzt geschrieben wurden. Ich würde niemals sagen, dass auf der Bühne nicht ernsthaft versucht würde, die Stücke ins Heute zu transportieren. Aber allein die Tatsache, dass sie vor allem nicht jetzt gesagt werden, wirkt beruhigend. Es gibt einfach eine riesige zeitliche Kluft zwischen den Texten und den Leuten im Zuschauerraum, die aber gleichzeitig sagt, dass wir deshalb geschichtliche Wesen sind, weil wir immer noch die gleichen sind. Wir sind aber deshalb geschichtliche Wesen, weil wir andere sind. Wenn wir im Theater sitzen würden und uns würde die Differenz interessieren, wie ­Sophie Rois sagt, das fände ich interessant. Wenn man die heutige Finanzkrise damit erklärt, dass die Menschen seit ewigen Zeiten gierig sind, dann verkennt das den Kampfplatz. Ich würde unser Theater als ein Theater beschreiben, das sich nicht auf die Autorität von Texten bezieht. Natürlich bringe ich einen Text zur ersten Probe mit, aber das ist nicht der Text, der später auch auf der Bühne zu hören ist. Der Text kann zu hundert Prozent verworfen werden. Beim ersten Lesen ist also niemand mit der Frage belästigt: Wie soll ich das spielen? Sondern es geht um die Frage: Will ich das sagen? Kann ich den Text gebrauchen? Die Schauspieler können alles verwerfen, weil sie wissen, ich schreibe während der Proben weiter. Für jeden Text, den die Schauspieler schließlich auf der Bühne sagen, für den haben sie sich entschieden. Sie müssen also nicht solange an sich herumschrauben, bis sie einen Satz sagen können. Also keine Reformbemühungen. Theater ist niemals der Text. Der erste Autor unserer Theaterabende ist der Bühnenbildner. Er baut den Raum, und wir beziehen uns auf den. Der zweite Autor bin ich mit einem ersten Text, der dritte ist der Schauspieler, der sich die Texte nicht aneignet, sondern sich für bestimmte Texte entscheidet. So entstehen die Abende. Es ist ja ein Allgemeinplatz, dass ein Film oder ein Theaterabend nur kollektiv entstehen kann. Trotzdem fällt, nachdem jemand vielleicht die kollektive Arbeit im Theater würdigen will, danach immer nur ein Name. Das heißt vielleicht, dass die Begriffe Team, Kollektiv und schließlich Gemeinschaft vor allem wohlwollend gebraucht werden. Man will eine Gemeinschaft, aber man weiß noch nicht wie. Wir kennen im Moment nur ein „Wir“ aus addierten „Ichs“. Und wir ahnen, dass das nicht reicht. Heißt das jetzt, andere Regisseure dürfen die Stücke nicht nachinszenieren, weil es eine kollektive Produktion ist? Doch sie könnten die Stücke inszenieren, wenn sie den Text ebenfalls zu hundert Prozent verwerfen könnten. Aber damit das Stück für das Theater ein Pollesch bleibt, wäre ja jemand da, der das verhindert. Der Intendant, der Dramaturg. Wenn die Schauspieler meinen Text darauf abklopfen könnten, ob sie so etwas sagen wollen, und auch, ihn vollständig ablehnen, weil sie merken, dass sie ihn nicht gebrauchen können, dann wäre das der Beginn, sich mit unserem Theater auseinanderzusetzen. Aber dann brauchen sie meinen Text nicht mehr. Es kann ja kein Pollesch mehr sein, weil sie an dem Text nicht so arbeiten können, wie wir es machen. Mir wird gern vorgeworfen, dass ich eigentlich immer dasselbe mache. Es gibt so viele Regisseure, die machen alternierend Tschechow, Shakespeare, Ibsen. Also immer dasselbe. Wenn jemand aber zum Beispiel immer Ibsen macht, ist das nämlich nicht mehr dasselbe. Der macht was anderes.

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57. Tickets eines Praktikantlungsreisenden For a Theatre without Representation Es gibt natürlich den großen Wunsch, dass uns Brecht noch was zu sagen hat. Das ist der Wunsch der Brechterben und der vielen Theater, die ja irgendwie auch bespielt werden müssen und sollen. Aber so ein richtiges Echo auf die Frage, ob man mit Brecht noch was sagen kann, einen richtigen Aufschrei, erntete ich mal, als ich 1996 am Royal Court Theater in London, vor jungen, internationalen Dramatikern und Regisseuren, Brechts Lehrstücke als ein Theater ohne Publikum anpries und als ein Theater ohne Proben. Ich meine, die kannten und liebten Brecht, so wie er weltweit aufgeführt und neutralisiert wird, aber der Gedanke eines Theaters, das einfach das Publikum wegließ, oder die Proben, brachte alle aus dem Häuschen. Man fühlte sich mit einem Schlag um selbst den kleinsten Nenner gebracht, auf den man sich hier am Royal Court, oder sagen wir lieber: in der gesamten westlichen Theaterwelt einigen konnte. Da sind die Schauspieler und da ist das Publikum, und zwischen diesen beiden stabilen Pfeilern spielen sich die Entscheidungen im Theaterbetrieb ab. Daran muss ich immer denken, wenn Penélope Cruz in einer deutsch-synchronisierten Shampoo-TV-Werbung deutsch mit spanischem Akzent spricht. Werbung muss sich selbst wahrscheinlich immer mit den falschen Entscheidungen belästigen, als so eine Art Dauerlehrstück in Unternehmensfragen. Aber welcher Werbenazi kam denn auf diese Idee? Und warum hatte er sie überhaupt? Und warum hat man im Theater ähnliche Ideen? Und oft nur die! In einem deutsch-synchronisierten Spielfilm spricht ­Penélope Cruz akzentfrei deutsch, aber wenn sie „sie selbst“ ist, dann nur gebrochen. In einem Lehrstück wäre das nicht passiert.

– ENDE –

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Theater der Zeit

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Diskurs & Analyse

Im Essay von Marie Schleef wird die Figur der „schlafende Frau“ infrage gestellt

Essay Thomas Brasch „Selbstgespräch“ Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Franziska Benack „Die Praxis der Gemeinsamkeit“ Serie Post-Ost: Ronja Oehler „Um unsere Träume ein Bauzaun“ Essay Marie Schleef „Sleeping Beauties“

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Diskurs & Analyse Essay

Selbstgespräch Ein bisher unveröffentlichter Essay der Verständigung über Literatur und Theater Von Thomas Brasch

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Diskurs & Analyse Essay Thomas Brasch, als Dichter in verschiedenen Formen und Medien Lyriker, Dramatiker und Filmemacher, wäre am 19. Februar 80 Jahre alt geworden. Das folgende „Selbstgespräch“ ist wahrscheinlich um 1984 geschrieben und blieb unbeendet, als „Textabbruch“ angezeigt. Zu dieser Zeit hatte Brasch insgesamt zehn Theaterstücke geschrieben, einige wurden in der DDR nach der Uraufführung sofort verboten oder gar nicht aufgeführt, andere nach der Übersiedlung nach West-Berlin im Dezember 1976 erst in der Bundesrepublik aufgeführt, wie „Lovely Rita“. 1984 konnte Brasch nach einer fruchtbaren und dabei mit den Theatern nicht konfliktfreien Zeit auf seine wohl wichtigsten und auch schon mehrfach nachgespielten Stücke in diesem Text zurückblicken: „Rotter“ (in der Regie von Christof Nel 1977 in Stuttgart uraufgeführt), „Lieber Georg“ (Bochum 1980, Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff) und das 1983 von Matthias Langhoff in Zürich uraufgeführte „Mercedes“, dazu die beiden Filme „Engel aus Eisen“ und „Domino“. Brasch betrachtet seine Figuren, in den Stücken, die er schon geschrieben hat, und diejenigen, mit denen er noch etwas vorhat, wie Eulenspiegel, mit ihrer Lage in der Geschichte, „über deren Köpfe Geschichte gemacht wird“, und als Teil einer Mythologie, die im besten Fall mit dem Theater erschaffen werden soll. Braschs Mythologie dieser anarchischen, meist aus der Realität erschriebenen Figuren ist vorhanden – jedoch nicht im Theater der heutigen Zeit. Wo sie erscheinen könnten – und durchaus nicht allein zu diesem Anlass seines Geburtstags: sollten. Thomas Braschs heute am meisten zitiertes Gedicht „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber“ entstammt dem ursprünglich fürs Theater geschriebenen Text „Der Papiertiger“. Der hat sich geradezu auf Flügeln frei gemacht von dem, was für Thomas Braschs Theatertexte noch bis zu ihrer Wiederentdeckung und Neuinterpretation wirken sollte. // Thomas Irmer

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Eine Odyssee finden in Deutschland nach Auschwitz und in der Zeit der Filzschicht und in der Zeit der Ideologie als erstarrtem Bewußtsein und fünfhundert Jahre nach der einzigen Revolution, die es gab und die kläglich genug war, der Bauernkrieg. In der Literatur gibt es nichts Neues. Es gibt auch nichts Neues. Das ist nur eine Erfindung einer Gesellschaft, die ständig neue Waren auf den Markt werfen und erzählen muß, daß die 36. Zahncreme neuer ist als die 23. Zahncreme. Es gibt nichts Neues in der Kunst, kann es nicht geben. Es ist auch ein völlig falscher Anspruch an Kunst. Natürlich kann ich sagen, nach »Ödipus« muß man nicht unbedingt ein Stück schreiben, weil danach gibt es nichts Neues. Es gibt wirklich nichts Neues danach. Es gibt nur etwas anderes, in einer anderen Form vielleicht noch mal, immer wieder nochmal in einer anderen Form. Wenn man nach etwas Neuem sucht, dann muß man auf den Supermarkt gehen, aber nicht in die Literatur. Selbst der »Ulysses« von Joyce ist nichts Neues, wenn man sich die »Odyssee« von Homer ankuckt. Es ist immer das Gleiche und das ist es. Und es tritt immer wieder in einer anderen Weise hervor oder geht in einer anderen Weise unter. Es gibt nach Tretjakow zwei Methoden, Kunst zu machen oder Kunst zu sehen. Das eine ist eine touristische Methode, d. h. die Methode eines Touristen, der in ein fremdes Land kommt und sagt: »Was ist hier eigentlich los?« und die Sache von außen betrachtet. Und das andere ist die Eingeborenenmethode, und das ist für den, der Kunst nicht aus der Vogelperspektive macht, die einzig mögliche. Das heißt, ich kann mich nur formulieren aus dem, was ich nun arbeite, was die Methoden, die Ergebnisse oder die Gegenstände meiner Arbeit sind. Ich kann nicht ein Gerüst darüber bauen, ich kann nicht Kunst als den Vollzug eines anderen Gedanken herstellen, sagen, also ich bin gegen den Staat, jetzt werde ich versuchen, einen Gegenstand zu finden, der den Staat angreift, sondern man beginnt sich für eine Zeit, für einen historischen Moment oder für eine Jahreszeit, für eine Figur oder für eine Konstellation zu interessieren aus einem zuerst mal sehr unkontrollierbaren Impetus. Plötzlich interessiert einen dieser Mann, der da 1789 oder 1794 auf einem Pferd sitzt und durch Paris reitet und dann Robespierre in die Kinnlade schießt. Das interessiert einen, man weiß nicht genau warum, und dann fängt man an, das zu entwickeln oder fallen zu lassen. Ich glaube, die Regeln entstehen immer erst – wenn es überhaupt welche gibt – aus der Arbeit und nicht vor der Arbeit. Wenn sie vor der Arbeit entstehen, bleiben sie immer Ideologie, und die künstlerische Arbeit wird der Erfüllungsgehilfe von Ideologie. Bei genügend Talent aber löst sich die Absicht von der Literatur ab, weil sich die Arbeit verselbständigt und nicht mehr der Diener der Absicht ist. Man kann auch mit Absichten, politischen oder aufklärerischen oder psychologischen, ein Buch oder ein Theaterstück schreiben, nur wenn es bei der Absicht bleibt, dann wird es eine Rechenaufgabe, deren Ergebnis ich von vornherein schon kenne, und dafür lohnt die Anstrengung von Kunst nicht. Man kann mit einer Geige nicht versuchen, Leuten die Köpfe einzuschlagen, das wird immer kindisch werden. Die Geige wird immer vor dem Kopf kaputtgehen, das ist einfach das falsche Instrument. Literatur ist für Absichten das falsche Instrumentarium.

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Diskurs & Analyse Essay Kunst legitimiert sich auch dadurch, daß sie etwas Ungeheuerliches erzählt.

Das heißt nicht, daß man sich von jedem Engagement fernhält, also von jeder Haltung zur Gesellschaft. Das ist das, was ich mit Anarchismus meine. Natürlich ist einer der Gründe, warum überhaupt jemand Kunst macht, der, daß er einen Widerspruch nicht mehr aushält, nämlich den zwischen seinem Anspruch ans Leben und dem, was in der Gesellschaft wirklich daraus werden kann. Anarchismus ist erst mal doch die ganz grundsätzliche Infragestellung der durch den Staat repräsentierten Ordnung. Das heißt, Anarchismus nimmt etwas nicht als naturgegeben hin: daß die Organisationsform menschlichen Zusammenlebens durch den Begriff Staat oder Nation endgültig formuliert und endgültig auf den letzten Punkt gebracht ist. Das heißt, das, was von allen sozialdemokratischen oder reformistischen Strömungen als verbesserungswürdig gilt, also den Staat besser zu machen oder demokratischer oder das Mitspracherecht der Leute zu erhöhen, das sind nur Operationen an einem todgeweihten Körper. Die Frage ist doch, ob die Formen des Zusammenlebens, die verschüttet sind, also die urkommunistische oder die ersten Formen der großen Familien oder der Sippen, ob das auf einem höher entwickelten Niveau, also auf einem technisch weiter entwickelten Niveau nochmal möglich ist. Anarchismus ist erst mal die Annäherung an eine dem Menschen gemäße Ordnung oder Unordnung, eine Form des Zusammenlebens, die dieser Gattung gemäßer erscheint als der Staat. Dieses ganz grundsätzliche In-Frage-Stellen hat auch etwas mit Kunst zu tun. Jede Beschreibung beinhaltet die Kritik der Zustände, die da beschrieben werden, sonst gäbe es keine Spannung zwischen den Leuten, sonst gäbe es keine tragischen oder komischen Konstellationen und Ausgänge. Natürlich ist Shakespeare anarchistisch, weil Talent immer anarchistisch sein muß. Jede Literatur hat doch auch für den, der sie macht, und wahrscheinlich auch für den, der sie konsumiert, die Funktion, die Traum hat, nämlich das, was am Tag nicht gelebt wurde, in der Nacht nachzuholen in einer schweren Furcht- oder Wunscharbeit. Je mehr Dinge aus dem Leben herausgedrängt werden, je weniger sich Gesellschaft oder Individuen mit ganz bestimmten Sachen beschäftigen, z. B. mit Tod oder mit Sexualität, einen desto größeren Raum wird dieses Weggeschobene, dieses Weggedrängte im Traum oder in der Literatur einnehmen. Kunst als Darstellung dessen, was vorzufinden ist, oder als Beschreibung der kritikwürdigen oder schönen Zustände, interessiert mich nicht. Dafür finde ich gute Reportagen besser, wirklich gut gemachte Publizistik viel tauglicher, so wie dafür die Fotografie tauglicher ist als die Malerei. In der Beschreibung der Außenwelt, scheint mir, bin ich nur ein Teil eines Prozesses, bin ich auch ein Handelnder-Behandelter, bin sowohl Subjekt wie auf der anderen Seite auch Produkt von Verdrängung. Ich glaube, ein Dichter ist dann gut, wenn etwas aus ihm spricht, sehr oft sehr unkontrolliert spricht, was in der Gesellschaft, in der er lebt, verdrängt, vergessen wird. Vielleicht ist

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große Kunst oft sehr unbeabsichtigte Kunst. Wenn sich jemand, fasziniert von einem Thema oder einer Person, verliert an das Thema oder die Person. Wenn er die Situation, die Sprache und die Methode findet, dann kann es im besten Fall plötzlich werden wie die besten deutschen Volkslieder sind, vielleicht in einer ganz anderen Ebene viel gebrochener von dieser Art Gegenwart, aber dann doch etwas, was bei dem Goethe-Gedicht »Über allen Wipfeln ist Ruh« plötzlich aus ihm spricht, wo völlig leicht eine ganze Zeit in fünf Zeilen gefaßt ist. Das ist das höchste Ideal von Kunst, nicht die Brauchbarkeit, nicht mal der Erfolg. Es ist schön, wenn man viel Geld damit verdient, und es ist auch gut, wenn die Leute es begreifen, aber ich glaube, das höchste Ideal, beim Schreiben zumindest, ist, daß plötzlich etwas so für sich selbst spricht, daß die Absicht uninteressant ist, mit der es gemacht wurde, sondern daß es da ist wie ein Baum, über den man auch nicht diskutieren kann, der ist nun man einfach da. Das ist gleichzeitig das konservative Element, das auch in meiner Arbeit eine Rolle spielt, weil es in einer Weise versucht, ganz in Kunst aufzugehen: in einer idealen Form, was das Versmaß, was die Sprache, was den Gegenstand angeht, daß das plötzlich alles ineinander verschmilzt. Das ist der Widerspruch zu meiner Vorstellung von Anarchie. Daraus ergibt sich eine Reibung, und nur durch diese Reibung kann etwas für mich entstehen. In dem Versuch, etwas zu erhalten und nicht dieser technischen Urgesellschaft, in der wir uns befinden, die die technischen Mittel zur Perfektion gebracht hat und die die Gattung hat verfallen lassen, also auf ein Maschinen- oder Automatenniveau bringt, auf ein Käuferniveau, ein Warenniveau, ein Tauschniveau, daß es davon fast unberührt dann doch wieder etwas formuliert, und auf der anderen Seite die Kenntnisnahme und die heftige Ablehnung von diesen gesellschaftlichen Zuständen. Kunst legitimiert sich auch dadurch, daß sie etwas Ungeheuerliches erzählt, daß sie etwas Außergewöhnliches beschreibt, daß sie etwas, was vielleicht ganz gewöhnlich ist, in einer außergewöhnlichen Konstellation oder Momentaufnahme festhält und dadurch legitimiert, daß z. B. jemand im Theater sitzt, zwischen Leuten, die er nicht kennt und verschlossenen Türen und im Dunkeln, sieht, daß das, was da vorne erzählt wird, so außerordentlich ist und trotzdem etwas mit der eigenen Situation zu tun hat, selbst wenn es hundert, fünfhundert Jahre vorher spielt, den eigenen Fall zu einem ungewöhnlichen macht und dadurch ermöglicht, die eigene Situation ganz fremd anzusehen, sie dadurch besser zu begreifen und sich ihr neu auszusetzen. Dabei interessieren mich die historischen Situationen immer nur als Moment von Gegenwart, wobei Gegenwart nicht die Woche von letztem Sonntag bis heute ist, sondern Gegenwart ist für mich ein etwas weiterer Begriff. Die Zeit, in der ich lebe, ist sowohl von Adolf Hitler wie von Shakespeare geprägt. Sie sind für mich lebendige Figuren. Da alles weiterarbeitet, was von ihnen ausgeht, sind es für mich Gegenwartsfiguren. Auch eine Geschichte, die vor dreißig Jahren passiert [ist], interessiert mich nur unter dem Aspekt, auch meinen eigenen Zustand zu beschreiben oder einen Zustand von Gesellschaft, der mich interessiert, nicht einen historischen Roman oder Fall vorzuführen.

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Diskurs & Analyse Essay Wie oder wo findet man Helden in dieser Art von Gesellschaft, die so arbeitsteilig und mechanisiert ist. Wie weit sind Zustände, sind Geschichte noch abzuhandeln an einem einzelnen Helden. Ist die Kunst der Geschichten über einzelne Figuren eine Kunst des 19. Jahrhunderts, des aufkommenden Bürgertums, da wo der individuelle Held und die private Initiative, der persönliche Konflikt seine große oder größere Schönheit haben. Der Einzelne und seine Tat oder der Einzelne und die Menge wird immer fragwürdiger zu beschreiben in einer Gesellschaft, in der wir sind, ohne daß man Idylle, auch negative Idylle, herstellt. Mich interessiert, eine Art von neuer Mythologie zu schaffen, nicht mehr die Mythologie des vorindustriellen Zeitalters, die sich mit den Herrschenden beschäftigt hat, sondern eine andere Form von Mythologie, in der die Unteren der Odysseus sind. Diejenigen, über deren Köpfe die Geschichte gemacht wird. Figuren wie Rotter und Völpel, Rita und Gladow, Lisa, Lackner, van der Lubbe, Eulenspiegel und Sindbad, sie alle sind Teile einer Arbeit an einer Mythologie. Mit ihnen eine Stadt bevölkern, nach und nach kommen noch andere, die für mich zusammen meinen Blick auf ein Vineta im 20. Jahrhundert zwingen. Und wie es für Homer die Meere oder der ganze Atlas waren, kann es für mich nur eine Stadt sein – Berlin. Aber nur als poetischer Ort, als Erfindung. Es ist nicht der geographische Ort, obwohl er diesem immer wieder ähnelt. Diese Hauptstadt, die keine Metropole ist, die auch merkwürdig provinziell bleibt, diese Stadt ist für mich so wie es für Joyce Dublin ist. Eben nur noch mehr, weil sie in zwei Hälften zerfällt. Aber alles ist gleichzeitig eine Utopie oder eine Vorstellung, nicht die Beschreibung einer Realität. Man schreibt sich seine Realität, man schreibt sich seinen Ort, man mißt ihn für sich aus und schafft ihn, indem man ihn besiedelt mit Figuren. Jede Figur in einem Stück muß richtige Sachen sagen. Wenn sie falsche Sachen sagen soll, gehört sie nicht in ein Stück, sondern au[f]s Kabarett, das brauche ich nicht. Für mich müßte der letzte kleine Mörder vor der Gaskammer im Konzentrationslager Auschwitz noch richtige Sachen sagen, sonst brauche ich ihn nicht darzustellen. Das gibt es auch nicht. Es gibt keinen Menschen, der nicht richtige Dinge sagt. Der schrecklichste, ekelhafteste, kalteste, langweiligste Mensch sagt richtige Sachen. Der letzte Schlagertexter, der sagt »Liebe ist ein Würfelspiel«, hat recht. Ich versuche Leute dort zu beschreiben, wo sie mit ihren richtigen Gedanken und verkrüppelten Utopien in eine Lage kommen, wo dieser Riß zwischen ihren Vorstellungen und dem, was da ist, plötzlich weiter wird und sie ihn spüren. Da fange ich an sie zu beobachten, wenn sie meine Stadt bevölkern. Es beginnt da, wo der Riß sie in zwei Teile zerlegt, in Körper und Kopf Gladow, wenn er hingerichtet wird, in Unterleib und Kopf Rita zwischen den Frauen und dem Offizier, Fastnach[t] in die Teilung sexueller und ökonomi-

scher Interessen. Die Spaltung ist meine Obsession, die Spaltung von Leuten in zwei Teile, die gegeneinander arbeiten, die gegeneinander funktionieren und die einander zerstören wollen, und das in einer Gesellschaft, die gegeneinander arbeitet, die gespalten ist, und noch dazu in einem Land, das eben auch gespalten ist. Und an diesen Stellen, an diesen Rändern dieses Risses sind immer Undeutlichkeiten, immer sehr genau erkennbare Dinge und sehr ungenau beschreibbare Dinge. Beide gehören hinein, nicht nur die Dinge, die man klären und erklären kann, sondern auch die undeutlichen, vulgären, traumatischen Ränder gehören in di[e]ses Spiel um den Riß und um die Spaltung hinein. Sowohl bei Kunst wie bei Kriminalität geht es um die Regelverletzung, egal ob das nun bewußt oder unbewußt passiert. Es treten Figuren he[r]vor aus einem Geflecht von Normen, aus den gesellschaftlichen Vereinbarungen und machen daraus einen Akt der Befreiung. Es sind gar keine romantischen Helden und trotzdem, daß es solche Figuren [Textabbruch]. T

Erscheint in: Thomas Brasch, „Du mußt gegen den Wind laufen“, © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin AG.

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Intendant*in (m/w/d) Das Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) ist ein Schauspieltheater mit einem eigenständigen Kinder- und Jugendtheater. Neben Aufführungen am Standort Tübingen liegt ein Schwerpunkt entsprechend dem Landesbühnenauftrag in einer umfangreichen Gastspieltätigkeit in Baden-Württemberg. Das als Anstalt des öffentlichen Rechts organisierte LTT beschäftigt rund 140 Mitarbeitende. Zum Beginn der Spielzeit 2027/2028 sucht das LTT eine*n Intendant*in (m/w/d)

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Rotter, Rita, Gladow, Eulenspiegel und Sindbad, sie alle sind Teil einer Arbeit an einer Mythologie. Theater der Zeit 1 / 2025


Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #04

Die Praxis der Gemeinsamkeit Von Franziska Benack

„Die Komfortzone ist vorbei“, schreibt meine Vorgängerin Viola Hasselberg in ihrem Beitrag zu dieser Reihe (siehe TdZ 12/2024). Was für treffende Worte! Diese Zeit(enwende), in der wir alle leben, und einige von uns Theater machen, ist nicht komfortabel, sie ist beängstigend. Erschüttert und ohnmächtig blicken wir auf die Welt, die Unüberschaubarkeit der Ereignisse. Plötzlich scheint alles zur Debatte zu stehen, auch das Theater. Wir suchen nach Begrifflichkeiten und Strategien, um damit umzugehen, und verbleiben doch allzu oft in Betroffenheit. Diese Betroffenheit macht kraftlos und müde. In uns wächst die Sehnsucht nach Safe Spaces und Komfortzonen, in denen wir uns zurückziehen wollen. Theater ist das Gegenteil dieses Rückzugs, es hält mit aller Kraft dagegen und an der Anstrengung der ­Gemeinschaft fest.

Franziska Benack wurde 1986 in Frankfurt (Oder) geboren. Während ihres Studiums der Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig fing sie als Regieassistentin am Centraltheater Leipzig unter ­Sebastian Hartmann an und wechselte danach an das Staatstheater Stuttgart unter Armin Petras. Seit 2019 arbeitete sie als Freie Produktionsleiterin für Festivals, Performance- und Filmprojekte (u. a. Düsseldorf, Berlin, Bitterfeld, Bremen) und als Gast für das Theater Bremen, die Volksbühne und das Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie am Staatstheater Cottbus, seit 2022/23 dort im Team mit Armin Petras und Philipp Rosendahl Ko-Schauspieldirektorin und geschäftsführende Dramaturgin.

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Seit Sommer 2021 leite ich, im Team mit Philipp Rosendahl und Armin Petras, die Schauspielsparte in Cottbus. Am einzigen Mehrspartenhaus Brandenburgs mit einem 14-köpfigen-Schauspiel­ ensemble (das allein bis Weihnachten vier Premieren und über 50 Vorstellungen wuppen wird), an einem Staatstheater mit ca. 400 Mitarbeitenden, die, teils seit drei Tagen und teils seit über 30 Jahren, Theater in und für diese Stadt machen. Auch diese Stadt hat in den letzten Jahren mehr und mehr ihre Komfortzonen verlassen. Die Stichwahl des Bürgermeisters, bei der sich der SPD-Kandidat gegen den AfD-Kandidaten durchsetzen konnte, der Krieg in der Ukraine, für den Panzer und Munition auf Güterzügen durch den Cottbuser Hauptbahnhof transportiert werden, an dem monatelang ukrainische Geflüchtete von Cott­ buser:innen mit Sprachkenntnissen, Spielzeug, Kleidung und Zuversicht empfangen wurden, der Strukturwandel mit Investitionen im Wert von 750 Mio. Euro in der Lausitz, die Häufigkeit von Demos in der Stadt oder die Hilferufe aus unzähligen Brandenburger Schulen, in denen sich Lehrkörper und Schülerschaft hilflos fühlen angesichts des Anwachsens von Gewalt und Rassismus unter Jugendlichen – all diese Umbrüche und Erfahrungen sind in die Komfortzonen eingedrungen und haben eine Auseinandersetzung mit dem allzu gern Verdrängten hervorgerufen. Die subjektiven Ängste und die Spaltungen im Verständnis von Realität, die Verunsicherung im Umgang mit Umbrüchen und Erschütterungen wurden immer sichtbarer. Sichtbar wurde auch, dass das Theater

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Foto Marlies Kross

Arbeit in Cottbus


Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #04 nicht die „Blase“ ist, für die wir es so gern halten, auch hier am Theater gibt es Ausgrenzung, Vorurteile und spaltende Kräfte. Wir mussten lernen und lernen noch, wie wir im „Mikro­kosmos Theater“ damit umgehen, wenn uns die rassistischen Angriffe, denen viel zu viele unserer Kolleg:innen ausgesetzt sind, wütend und hilflos machen. Wie wir die zahlreichen jungen Kolleginnen aus allen Bereichen, die gegen das sexistische Klima an so vielen Orten dieser Stadt gekämpft und viel zu oft enttäuscht und verletzt wurden und irgendwann ermüdet aufgegeben haben, endlich besser unterstützen und schützen können. Bis heute bin ich fassungslos angesichts der Diskussionen über nackte Frauenkörper auf der Bühne, bei denen sich zu häufig herausstellt, dass die Akzeptanz dessen von der Kleidergröße der Darstellerin abhängt. Wir sind aber auch ein Theater, an dem wir überrascht lernen, dass der dienstälteste Kollege schon längst dafür gesorgt hat, dass dieses Theater nachhaltig arbeitet, lange bevor der Begriff Nachhaltigkeit in aller Munde war. Cottbus ist weder Komfortzone noch ­Elfenbeinturm. Wie dankbar bin ich für diese Erfahrungen! Es ist die Stadt, in der wir lernen, diese Reibungen und Erschütterungen auszuhalten und in unsere Theaterarbeit einfließen zu lassen, in der wir versuchen, immer wieder den Diskurs zu suchen und ihm nicht mit moralischer Überheblichkeit zu begegnen. Wir können Theater nur für und mit den Menschen machen. Wie in so vielen Bereichen scheint sich die Gesellschaft auch vom Theater zu entfremden, darauf müssen wir Antworten finden. Theater stellt sich der Gegenwart, der Realität, in dem es ihr mit aller Kraft etwas anderes entgegensetzt. Dieses Etwas basiert auf Gemeinsamkeit. Natürlich machen wir auch in Cottbus die Erfahrung, dass die Gemeinschaft im großen Saal am ehesten mit leichten und unterhaltsamen Stoffen herzustellen ist. Theater darf auch Komfortzone sein, in der Geschichten nachvollziehbar erzählt werden und dem Chaos unserer Leben einen Moment der guten Unterhaltung entgegensetzen. Darin hat Theater den Vorteil der Unmittelbarkeit und der Gemeinschaft, mit diesem Vorteil gegenüber anderen Kunstformen könnten wir selbstbewusster umgehen. Weniger selbstbewusst können wir mit der Auswahl unserer Stoffe auf Altbewährtes zurückgreifen. In einer immer fragmentierten Gesellschaft fällt es schwerer, Stoffe und Ästhetiken zu finden, die alle (oder zumindest viele) betreffen und betroffen machen. Auf besondere Weise gelingt das in den Stücken von Philipp Rosendahl. Seine Inszenierungen nehmen all das Unverständliche, Ungreifbare, Unterbewusste, all das Ängst­ liche und Hässliche, aber auch das zaghaft Schöne und Verschüttete in uns und formen daraus neue Bilder. Bilder, die uns betroffen machen können, an einem Ort und zu einer Zeit, in der wir uns dazu verabredet haben, uns treffen zu lassen. So kann sein Theater eine Energie entwickeln, die das Publikum abholt, mitnimmt und anstrengt, in zeitgenössischen und ästhetisch ansprechenden Abenden, die eine ihm eigene Mischung aus harmonischem und durchkomponiertem Theater und menschlicher Brüchigkeit aufweisen können. Für seine aktuelle Produktion „Der Sandmann“ probt dabei gerade das Ballett zusammen mit dem Schauspiel, um für E. T. A. Hoffmanns schwarzes Kunst-

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In der Lausitz ist der Verlust und die Umwälzung von Heimat ein hoch­emotionales Thema.

märchen eine moderne Formensprache zu finden, die auf so viel mehr als nur Worten basieren kann. Die spartenübergreifende Arbeit steht dabei stellvertretend für den Institution gewordenen Widerspruch Mehrspartenhaus. Die Arbeit basiert auf gegenseitiger Kompromissbereitschaft für Produktionsbedingungen und -prozesse der verschiedenen Gewerke und Professionen. Dieser Austausch ist gleichermaßen anstrengend wie bereichernd. Das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung und das Zulassen von Zweifeln ist im Theater selbstverständlich. Diese Strategien des ernst gemeinten Austauschs auf und neben den Bühnen mit Mitarbeitenden und Publikum auszuprobieren und einzuüben ist immanenter Teil unserer Theaterarbeit. Manchmal werden wir dabei überrascht. Bei der Bauprobe zur Inszenierung „Franziska Linkerhand“ plauderte die Technik angeregt mit dem Team um Regisseurin Johanna Wehner über früher und wie das von Brigitte Reimann Erzählte wirklich war, als – auch in Cottbus – in kürzester Zeit große Wohngebiete für die Massen an Werktätigen entstanden sind. Ergänzt wurde diese Sichtweise durch die Perspektive von Studierenden, die von überall auf der Welt kommen, um hier in Cottbus Architektur- und Stadtplanung zu studieren. Überraschend waren deren Stimmen zum Thema Plattenbausiedlung, die endlich mit den zahlreichen Klischees um „die Platte“ brechen und das Konzept befragen, nach seinem Nutzen für das gerade wieder so aktuelle Thema Wohnungsnot. Gerne denke ich an die Seminarleiterin, die ihre Studierenden fleißig ins Theater schleppt, wo sie erstaunlich wenig über die Inszenierungen sprechen, jedoch erstaunlich viel zu sagen haben, zur Lage der Spielstätten im Stadtbild, zu Vor- und Nachteilen unserer Fassadengestaltung und wie sie die vielen Hürden bei Ticketkontrollen, Einlassprozedere und Garderobenabgabe wahrnehmen. Solche Formate und Begleit­ programme zu unseren Stücken empfinde ich nicht nur als unerlässlich für Stadttheater, wir generieren aus diesen Gesprächen auch unseren Spielplan.

Lukas Rietzschels „Raumfahrer“ In der Lausitz, einer Region, die sich seit Hunderten Jahren im Strukturwandel und der ständigen Mischung aus Zuwanderung und Abwanderung befindet, ist der Verlust und die Umwälzung von Heimat ein wiederkehrendes und hochemotionales Thema. Mit „Ich mach ein Lied aus Stille“ von Armin Petras ist ein FünfStunden-Marathon entstanden, der den Begriff Heimat untersucht. Wer auftritt, kämpft, kämpft auch um das Wort, um die Stellung in der Welt, um die Utopie des gemeinsamen Gedankens. Im Theater können wir uns Begriffe und ihre Ideologien temporär aneignen und neu bewerten oder sie hinterfragen. So reist die In-

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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #04 szenierung mit einer Annäherung an den Begriff Heimat durch ein paar Jahrzehnte Brandenburg und dockt dabei auch an die ästhetische Heimat dieses Theaters und seines Publikums an und setzt ihr ein Denkmal. Auch wenn nicht viele den Marathon mitgelaufen sind, berührte mich z. B. das Gespräch mit einem Cottbuser Ehepaar, das sich von dieser Inszenierung so verstanden und gemeint gefühlt hat, dass sie „die Kinder und Enkel aus Berlin holen müssen“, um sich diesen Abend über „ihre Heimat“ anzusehen. Auch mit der Uraufführung von Lukas Rietzschels „Raumfahrer“ haben wir die Narrative von Heimat und deutsch-deutscher Geschichte befragt. Mit der Regie von Paula Thielecke haben wir der dritten Generation Ost eine Bühne gegeben. In den Diskussionen rund um die Inszenierung wurde ein Generationenkonflikt deutlich, zwischen denen die vor und kurz nach der Wende ihre Zeit, ihre Liebe und ihr Geld in diese Region investiert haben, und denen, die zu dieser Zeit geboren wurden und die die immer noch geltenden Ungleichheiten zwischen Ost und West in Fragen der Eigentumsverteilung und der Teilhabe benennen. Ein Konflikt, der unauflösbar blieb, zwischen denen, die sich beschweren, und denen, die Dankbarkeit erwarten dafür, dass alles nicht noch schlimmer ist. Mit der Inszenierung „Das Kraftwerk“, die in Zusammen­ arbeit mit Calle Fuhr, Aram Tafreshian und der Klimaredaktion von CORRECTIV entstanden ist und sich mit den Folgen des Braunkohleabbaus in Cottbus beschäftigt, haben wir eine sehr junge Perspektive auf ein sehr altes Lausitzer Thema geworfen. Heute Abend spielen wir die 20. Vorstellung und so wird das 20. Nachgespräch stattfinden, bei dem unser Publikum, gemeinsam mit Politiker:innen und Lobbyvertreter:innen, Kohlekumpel und Klimaaktivist:innen, Ingenieur:innen und Grundstücksbesitzer:innen mit uns und unserem Ensemble streiten wird, um die Zukunft dieser Stadt und Region, über Wassermangel, Trinkwasserqualität, Strukturwandel und Tourismusträume. Mit der Zeit nehmen die Nachgespräche eine ähnlich wichtige Position für mich und das Ensemble ein wie die Inszenierung selbst. Schon zu Beginn unserer Cottbuser Zeit, für die Premiere von „Two Penny Opera“ in der Regie von Armin Petras, haben wir das Gespräch gesucht. In einem Zirkuswagen vor dem Theater haben wir uns als neue Schauspielleitung vorgestellt und vor allem viele Fragen gestellt. Diese Inszenierung hat sich bis heute ihre sehr besondere anarchische Stimmung behalten, in die Publikum und Ensemble sich gegenseitig euphorisieren. Um diese Lust auf Theater aufzuspüren, zu erweitern und heraus zu locken, braucht es die Auseinandersetzung mit der Stadt. Dafür sollten wir immer wieder Anlässe schaffen, um sich über Theater und die Inszenierungen auszutauschen.

Um diese Lust auf Theater aufzuspüren und heraus zu locken braucht es die Auseinandersetzung mit der Stadt. 54

Bestenfalls geben die Inszenierungen selbst diesen Anlass, allzu oft scheint das „Miteinander-über-Theater-Reden“ aber verlernt oder vergessen. Ich glaube daran, dass die Krise des Theaters, ähnlich wie die Krisen der Gesellschaft, sich nur mit einer wertschätzenden und neugierigen Haltung gegenüber unseren Besucher:innen und Nicht-Besucher:innen, mit großer Offenheit gegenüber der ganzen Stadt bewältigen lassen und wir so relevantes Theater entwickeln können. Dazu braucht es die ernst gemeinte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen der Stadt und eine Anbindung der Bühnenthemen an den Alltag des Publikums und die Realität einer Stadt. Im Moment erarbeiten wir mit der Regisseurin und Autorin Milena Michalek ein von Anna Seghers inspiriertes Stück über Aufstand. Grundlage bilden auch Gespräche mit Cottbuser:innen. Im „Plenum des Trotzes“, „Salon der Klage“ oder „Bankett der Begierde“ wird Material gesammelt, das in die Stückentwicklung einfließt. Gerade habe ich ein solches Gespräch mit einer Schulklasse geführt. Ich habe von 16-Jährigen gelernt, warum sie nicht auf Demos gehen, wie sie Lernen verstehen, wie sie in die Zukunft blicken, worum sie trauern und welche Rituale sie pflegen. Überrascht hat mich deren großer Optimismus und dass die Zeit, um die am meisten getrauert wird, als die Zeit „ohne Social Media und andere Technologien“ benannt wird. Alle haben ein Problem mit Nazis, viele in der Klasse möchten später mal was mit BWL oder im Finanzamt machen, einige wollen ins Handwerk, die meisten sehen sich in therapeutischen Berufen. Alle waren schon mehrmals im Theater, viele standen schon auf Bühnen, meist in Form von Wettbewerben, was ihnen nie gefallen hat. Angst vor der Zukunft haben wenige, alle freuen sich auf die nächste Woche, das nächste Jahr. Niemand wollte gern die Schule bestreiken. All diese Stimmen, ob überraschend oder erwartbar, werden in die Inszenierung einfließen und beeinflussen unser Theater. Die Gespräche wurden sehr gut nachgefragt und mich erreichen regelmäßig Mails und Anrufe mit dem Wunsch einer Fortsetzung dieser Gesprächsformate.

Trost in der Anstrengung Ähnliches haben wir auch bei der Reihe „Anlässe zum Reden über Demokratie“ erlebt. Auf Wunsch des Ensembles haben wir diese Abende im Vorfeld der Wahlen regelmäßig stattgefunden. Ziel war es, relativ niederschwellige Anlässe zu schaffen, um über komplexe Themen wie Krieg, Fragen der Migration oder Visionen für die Zukunft, sprechen zu können. Es kamen nicht nur Bürger:innen, auch die lokalen Politiker:innen vieler Parteien (auch die von den Rändern) sind zu dem Format gekommen, um es auch als Wahlkampfplattform zu nutzen. Oft wurde sehr emotional diskutiert, nie schien mir eine gute Moderation so wichtig wie hier. Welche Wertschätzung für (und Angst vor) der Macht des Theaters erzählt das, wenn ein kleines Eintritt-frei-Format in der Theaterkantine die lokale Politik kurz vor der Wahl anzieht? Eine junge Frau, die dieses Format besucht hat, sprach im Anschluss davon, wie tröstend dieser „Anlass“ für sie war. „Ich hatte danach ein viel besseres Gefühl, das lädt dazu ein, sich auszutauschen, die Leere

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mit Sinn zu füllen. Wenn wir uns hilflos und leer fühlen, müssen wir mit anderen reden, das ist es, was uns Menschen verbindet.“ Die Besucherin hatte also eine Komfortzone im Austausch gefunden. Trost in der Anstrengung, der Auseinandersetzung und in der Gemeinschaft. Diese Erfahrung machen wir immer wieder. Entgegen der überall beschriebenen und gefühlten Spaltung und des Rückzugs auf Komfortzonen steht offenbar der Hunger nach Austausch, die Lust am Diskurs und dem gemeinsamen Erleben. Es geht im Theater eben auch darum, dieses Gefühl zu reaktivieren und immer wieder die Erfahrung zu machen, dass Theater nur als gemeinsames Erlebnis funktioniert. Während sich 600 Leute bei einer Komödie schlapp lachen, sprechen wir ein Stockwerk darunter mit 60 Leuten über die Angst um unsere Demokratie. Während mir morgens eine zehnte Klasse von ihrer Wut darüber erzählt, wegen Klimaprotesten zu spät zur Schule oder zum Sport zu kommen, sitzen am Abend Klimaaktivistinnen in „Das Kraftwerk“ und sprechen verzweifelt darüber, dass niemand ihre Wahrheiten hört. Diese Spannungen und Komplexitäten gehören an so viele Orte in unserer Gesellschaft, vor allem aber ins Theater, wo sie ausgehalten, gefördert und gefeiert werden. Im Theater sind wir erst einmal Expert:innen für Narrative. Aber wir können nicht nur Geschichten erzählen, sondern sie auch temporär erlebbar machen. Wir können Theater als fantastischen Ort oder Ort für Fantastisches verstehen. Für mich sind die Gespräche, die wir mit dem Publikum führen, kleine Utopien, in denen die Praxis des Gemeinsamseins, das Aushalten von Diskursen und komplexen Zusammenhängen geübt und verinnerlicht werden kann. Wie dankbar bin ich für das Cottbuser Ensemble, das all diese kleinen Utopien nicht nur mitmacht, sondern einfordert, weil ihnen wirklich etwas liegt an diesem Theater und der Stadt. Was wir im großen Saal als Publikum und als Theaterschaffende voneinander erwarten, kann im Kleinen bewerkstelligt und eingeübt werden. Das schafft Brücken und Anknüpfungspunkte, Identifikation mit dem Theater, als Herz einer Stadt. In einer Zeit, die von Rückzug und Verbarrikadierung geprägt ist, halten wir mit allen Formaten die Türen und die Herzen offen. Wie die wunderbare Schriftstellerin Margaret Atwood schreibt: „Fürs Erste dürfen wir von der Kunst wohl nur das erwarten, solange es geht; alternative Welten zu schaffen, die sowohl eine kurze Zuflucht als auch neue Einsichten bieten.“ T

Die Lage von Thomas Melle Bewegungsprojekt des Studiengangs Schauspiel 11. – 15.02.2025 Akademietheater

Bayerische Theaterakademie August Everding theaterakademie.de

BEYOND Fr 24.01.2025 Uraufführung

Wie Licht entsteht von Andreas Schäfer

Künstlerische Leitung Bahadir Hamdemir, Jonas Knecht, Rafał Stachowiak Ein installativer Abend über die letzten Fragen

Karten und Infos unter schauspiel-erlangen.de

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost

Um unsere Träume ein Bauzaun Von Ronja Oehler

Nach den Landtagswahlen und im Angesicht der aktuellen Regierungsbildung in Sachsen, Thüringen und Brandenburg laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser Serie meldet sich die Generation Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Die Schauspielerin Ronja Oehler

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Nach Schulschluss waren wir im Ehemals-Kino verabredet. Wir zogen mit einer Bluetooth-Box durch die Straßen. Wir wussten, irgendwen wird das stören, aber der Kick bestand darin, dieses Gefühl zu übertönen und ein Sternburg zu trinken. Ein paar Stunden davor hatten wir den Sportunterricht mit einem kräftigen „SPORT FREI“ begonnen. Unser Geschichtslehrer hatte sich wie jede Woche geweigert, die Vornamen unserer vietdeutschen Mitschüler:innen auszusprechen, und ihnen deutsche Ersatznamen gegeben. Es war kurz vor unserer Jugendweihe, das neue Jahrtausend war genau wie wir 14 Jahre alt und alles war ganz normal. Orte wie das Ehemals-Kino gab es Tausende. Es gab einen Ehemals-Konsum, eine Ehemals-Strumpffabrik, eine Ehemals-Brauerei, eine Ehemals-Apotheke. Es gab unzählige Ehemals-Straßen und Ehemals-Plätze. So viele, dass meine Oma oft murmelte, es sei ein Wunder, dass die Milchstraße immer noch so hieße WIE FRÜHER. Manchmal hatten die Ehemals-Dinge merkwürdige Abkürzungen, die ich zwar nicht verstand, die aber wie alles aus den Mündern der Erwachsenen irgendwie normal klangen. Ehemals-VEB oder Ehemals-EOS waren Worte wie ABM oder HARTZVIER oder NSU. Wir wussten, die Erwachsenen hatten sich von etwas getrennt, noch bevor es uns gab. So sprachen sie auch über die DDR. Das war normal. Es gab eine Zeit vor uns. Und jetzt waren wir dran. Wir verbrachten glückliche Abende im Ehemals-Kino. Schon der Eintritt war ein Abenteuer: Wir umrundeten einige Male das Gebäude, an dem nur noch das K hing. Immer hielt jemand Wache, wenn wir durch eine Masche im Zaun schlüpften. Dann schlichen wir zwischen vertrockneten Weihnachtsbäumen und Sperrmüll zu den Kellerfenstern, die als Einzige nicht mehr mit Spanplatten vernagelt waren. Beim Einsteigen warfen wir unsere Wollschals über die scharfkantigen Scherben, um uns nicht zu schneiden. Im

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Foto Jonas Erler

Wo Träume flackern wie Projektoren Hinter Spanplatten flackert’s Die Zukunft in staubigen Kinosesseln erträumen Als die Leinwand zerriss, begannen wir zu träumen


Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost schwachen Schein unserer ersten Smartphones suchten wir den Weg aus dem ehemaligen Kohlenkeller ins Treppenhaus. Die Plakate in der Eingangshalle kündigten den Kinostart von „Eiskalte Engel“ an. Die Garderoben waren verstaubt – aber wir ließen die Jacken sowieso an, drinnen war es immer dunkel und kalt. Im Ehemals-Kino gab es nur noch ein paar vereinzelte Kinosessel. Ältere Jugendliche trafen sich hier, um geklaute Mountainbikes gegen Meth zu tauschen, wir aber hockten uns in den leeren Saal, kauten Center-Shocks, rauchten Click-and-Roll-Zigaretten vom letzten Familienwochenende in Tschechien und überlegten, wie wir hier wohnen würden. Wie wir hier eine WG gründen würden, wie wir beginnen würden, Konzerte zu organisieren, vielleicht einen Club aufmachen oder einen Secondhand-Laden. Wir malten uns aus, wie die Leute Schlange stehen würden, und waren sicher, dass genau so unsere Zukunft aussehen sollte. Das war unsere Sehnsucht. Wir träumten und glaubten daran. Unsere Eltern hatten sich hier bei „Dirty Dancing“ verliebt. Sie erzählten uns, dass das Kino inzwischen einem Wessi gehörte wie auch die halbe Stadt. Das Problem war nur: Ein Wessi war jemand, den man nicht anrufen konnte. Er war nämlich DRÜBEN. Und DRÜBEN war nie jemand zu erreichen. Wo DRÜBEN anfing und wo es aufhörte, blieb dabei unklar. Es gab ja keine Mauer. Es gab nur den Bauzaun um das Kino und die Spanplatten und irgendwie gingen wir davon aus, dass das so bleiben würde. Alle wussten, der Wessi würde nicht auftauchen. Man munkelte sogar, er sei überhaupt noch nie in der Stadt gewesen. Mir war das unerklärlich. Wie konnte man ein Kino kaufen, ohne je da gewesen zu sein? Wie konnte man ein Kino besitzen, es aber vernageln lassen? Aber so waren sie halt, die Wessis. Männer, denen irgendetwas gehörte, für das sie sich nicht interessierten oder das sie, weil sie zu viel besaßen, einfach vergaßen. Als der Wessi sich lange genug nicht gemeldet hatte, kam allmählich die Idee auf, das Kino abzureißen. Es sollte ein neuer Parkplatz entstehen. Parkplätze waren praktisch. Auf ihnen konnten Autos parken. Sie waren neu und ordentlich und irgendwie auch verbindend. Alle brauchten Parkplätze. Man konnte mit ihnen nichts falsch machen. Sie erinnerten einen an nichts, das einmal da gewesen war. Auf Parkplätzen kamen keine Fragen auf. Man blieb auf ihnen so kurz wie möglich, Randale war (fast) unmöglich und das Beste: Es wuchs nichts, was nicht wachsen sollte. Parkplätze waren der Inbegriff von Gegenwart und Zukunft. KEIN ERINNERN! Als mein Schauspielstudium in Leipzig beginnt, verblassen unsere Kinoträume. Ich träume jetzt mit neuen Menschen, träume auf Probebühnen und springe am Nachmittag in die EhemalsGrube, die jetzt ein glasklarer Badesee ist. Alles ordnet sich neu. Ich spiele: „um Wurzeln zu schlagen/um Wurzeln auszureißen“1. Manchmal denke ich zurück an die Zeit im Ehemals-Kino, in der alles angefangen hat, für mich. Plötzlich tauchen neben den Erinnerungen an die merkwürdigen Abkürzungen, die ich nicht verstand, auch Erinnerungen auf, von denen ich weiß, dass sie unmöglich meine eigenen sein können – weil ich sie nicht selbst erlebt habe. Und dann frage ich mich: Ist das jetzt eine Superkraft oder bloße Verwirrung? Es gibt Erinnerungen, die ich mit vielen in Ostdeutschland aufgewachsenen Freund:innen teile. Sie sind schön und brutal und

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warm und kalt. Genau wie meine Erinnerungen an das EhemalsKino gleichzeitig schön, aber auch richtig beschissen sind. Schön, weil in unseren Träumen alles möglich war, beschissen, weil das nächste Kino, in dem ein Film lief, eine Autostunde weit weg war. Unsere Eltern und Großeltern hofften auf eine Welt DANACH – nach der DDR, POST-OST. Aufgewachsen sind wir, die Kinder und Enkel, dann im Neoliberalismus. Und seit wir an diesem teilnehmen, erleben alle einen global apokalyptischen Dauerzustand. Auch unsere Eltern leben nun schon länger in diesem System, als sie in der DDR gelebt haben. Und die wiederum ist bald genauso lange vorbei, wie es sie gegeben hat. Deswegen erinnern wir uns. Woran habt ihr eigentlich geglaubt, bevor es uns gab? Vielleicht hoffen wir, dass es IM OSTEN ein kollektives Verständnis dafür gibt, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Vielleicht beginnen wir mit der Suche nach einer besseren Zukunft da, wo vor 35 Jahren kein Kapitalismus war. Vielleicht liegen dort die Geschichten vergraben, die wir gerade so dringend brauchen. Beim OSTEN-Festival in Bitterfeld-Wolfen 2024 stehe ich wieder in einem Ehemals-Kino. Beim Audiowalk „(K)EIN STÜCK VON FRÜHER“ von Britt Hatzius halte ich inmitten anderer Besucher:innen eine Bluetooth-Box in die Höhe. Wir starren auf die zerrissene Leinwand. Es flackert. Wir hören einem Kind zu, das mit dem Filmvorführer spricht. Er träumt davon, die Projektoren wieder anzuschmeißen. Und scheinbar gibt es tatsächlich Wiederbelebungspläne. Man hat den Wessi erreicht. „Nach langem Zögern“2 hat er das Kino in eine neu gegründete Gesellschaft überführt, die sich um Sanierung und Wiedereröffnung kümmern will. Und ich denke: Ein bisschen ist es doch das, was ich mir damals gewünscht habe. Später veröffentlichen zwei Kuratoren des Festivals auf Nachtkritik einen Bericht über die Widerstände, mit denen sie konfrontiert waren. Sie erzählen darin, wie gezielt konservative und rechte Akteure die Räume für Kunst- und Kultur immer mehr einschränken und kontrollieren. Und ziehen am Ende mit Hinblick auf künstlerisches Arbeiten und die politische Lage das Fazit: „Viel Zeit haben wir vermutlich nicht mehr.“ Das ist bitter – und mich macht es müde. Dabei sollte es Antrieb sein, wach zu bleiben. Als Theaterschaffende genau zu wissen, was wir erzählen wollen. Mit dem Leben und dem Tod zu SPIELEN. Zu lachen und zu heulen. Wir sollten einander anstecken, danebenliegen und trotzdem weitermachen. Für etwas, nicht gegen etwas kämpfen, weiter fragen, nicht besser wissen und träumen. Wir sollten nicht mit der nächsten schnellen Antwort um die Ecke kommen, sondern so widersprüchlich funkeln, dass da einfach alle mitmachen wollen. Also: Geh rein, wo es noch leer ist! Mach, dass es dort warm wird! Und melde dich, wenn dir das KINO gehört. T

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Häßel, M. und Weber, R. (1987). Arbeitsbuch Thomas Brasch (1. Aufl.). Suhrkamp, S. 281. Czerwonn, F. (2022, 29. Januar). In neue Gesellschaft überführt: Ist das Kino Wolfen jetzt auf dem Weg zur Rettung? Mitteldeutsche Zeitung. https://www.mz.de/lokal/bitterfeld/in-neue-gesellschaft-uberfuhrt-istdas-kino-wolfen-jetzt-auf-dem-weg-zur-rettung-3328175.

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Anatomische Venus. Wachsfigur einer liegenden Frau, Florenz, von Clemente Susini

Sleeping Beauties – und die Vergegenständlichung der Frau Von Marie Schleef

Content Note: Der Text thematisiert geschlechtsspezifische Gewalt und Vergewaltigung

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Im September 2020 wird die damals Mitte 60-jährige Gisèle Pélicot auf eine Polizeiwache in Südfrankreich gebeten. Sie soll sich Videomaterial ansehen. Was sie dort erfährt, wird ihr Leben (und das vieler anderer Menschen) verändern. Es sind Aufnahmen, die sie in einem Zeitraum von zehn Jahren zeigen. Sie selbst erkennt sich in diesen nicht wieder. In ihrem Ehebett liegend, entblößt und teils laut schnarchend, wird sie Video für Video im Beisein ihres damaligen Ehemanns von verschiedenen Männern brutal vergewaltigt. Und das Hunderte Male. Durch das Verabreichen unterschiedlicher Schlaf- und Beruhigungsmittel wurde Pélicot in eine ohnmächtige, unmündige Frau verwandelt, regelrecht vergegenständlicht und wie ein Objekt weitergereicht. Es sind unfassbare Abgründe, die sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Polizeirevier auftun. Dank Pélicots Mut, das Material vier Jahre später in einem großen Gerichtsprozess öffentlich zu teilen, wird dem Diskurs rund um sexualisierte Gewalt und Kon-

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Die Darstellung spielt auf das historische Ideal der Frau an: das Bild der Passivität.

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Diskurs & Analyse Essay

sens im Zusammenhang mit sexueller Interaktion erneute Relevanz verliehen. Mit ihrer Aussage: „Die Scham muss die Seite wechseln“, richtet sie den Blick diesmal allerdings nicht auf die Opfer, sondern auf die über 50 Täter. Prozessbeginn ist Herbst 2024. Ungefähr zur gleichen Zeit laufe ich in Wien durch das Josephinum. Das Museum beinhaltet eine der weltweit eindrucksvollsten Sammlungen anatomischer Wachspräparate aus dem Zeitalter der Aufklärung. In Bologna, im Auftrag des damaligen österreichischen Kaisers Joseph II. (1741–1790) angefertigt, bilden sie bis heute eine der größten und besterhaltenen historischen Sammlungen dieser Art. Das wohl prominenteste Beispiel anatomischer Wachskunst sowie Herzstück der Ausstellung ist das Motiv der „Anatomischen Venus“ – einem aufgerissenen, daliegenden Frauen­körper. Und in Anbetracht der täglichen Berichterstattung

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aus dem Gerichtssaal in Avignon machen sich in meinem Inneren beim Betrachten der Exponate bedrückende Bilder auf. Nach rund 200 Frauenleichen, aus Wachs modelliert, bildet die „Anatomische Venus“ in ihrer Gesamtheit das Abbild der perfekten Frau, geschaffen nach dem Schönheitsideal ihrer Zeit. Gleich in dreifacher Ausführung liegt sie, in einer sargähnlichen Glasvitrine, weich, auf seidenen Kissen. Besonderes Augenmerk gilt ihrer Haut, die ihr eine Illusion vollen Lebens gibt. Sie wirkt keineswegs tot, obwohl ihr Körper bis zum Uterus aufgerissen ist und ihre Brüste zur Seite geklappt sind. Ihre blauen Augen sowie die roten Lippen sind leicht geöffnet, ihre gestreckte, kurvige Pose wirkt etwas angespannt. Ihr Gesicht ist geschminkt, sie trägt eine enge Perlenkette und ihr blondes langes Haar wird von einer Art metallenem Kopfreif geschmückt. Die nackte Figur hat eine erotische Aufladung, wie wir sie aus den berühmten Göttinnengemälden Botticellis und Titians kennen. Sexualisiert wird die Figur nicht nur durch ihre Nacktheit, sondern auch durch ihre sich rekelnde, fast orgasmische Pose. Zusätzlich ist sie schwanger. Denn zur damaligen Zeit wurden Weiblichkeit und Frausein noch mit ihrer Gebärfähigkeit gleichgesetzt. Die Darstellung spielt auf das historische Ideal der Frau an: das Bild der Passivität. Während sie in der Politik in den Haushalt verbannt wurde, wird sie in der Kunst durch Schönheit, Vulnerabilität und Fragilität portraitiert. Stets geformt und gesehen durch den männlichen Blick. Beispielhaft und aufschlussreich ist hier die Betrachtung der Darstellung männlicher Wachskörper. Denn auch sie haben ihren Platz im Josephinum. In heroischen griechischen Götterposen umringen sie die Venus-Exemplare. Ihre Darstellung legt allerdings den Fokus auf das Nervensystem oder den Muskelapparat. Somit wird auch im anatomischen Kontext der männliche Körper als der aktive Körper dargestellt. Das Liegen sowie der Schlaf werden hingegen den weiblichen Exemplaren überlassen. Wachsmodelle dieser Art dienten allerdings nicht nur edukativen, aufklärerischen Zwecken, sondern später auch dem Massenkonsum als Schaustücke auf Jahrmärkten und Wanderausstellungen. Unzählige Zeitungsinserate aus dem 19. Jahrhundert, gesammelt von Joanna Ebenstein, der Gründerin des Morbid Anatomy Museum und Autorin von „The Anatomical Venus“ – eine akribische Sammlung anatomischer Frauennachbildungen –, weisen auf dieses seltsame Phänomen hin. Abseits des Grusels und Interesses an der Studie des Körperinneren boten Wachsfiguren dem Publikum auch die Möglichkeit, einer schlafenden Frau von hohem Stand unrealistisch nahe zu kommen – und dies bereits im 18. Jahrhundert. Ein besonderes Beispiel dieser Art stammt von Philippe Curtius (1737–1794), bekannt als der Ziehvater Madame Tussauds. 1764 schuf er die auf einem Diwan schlafende Figur, die heute als

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Gesicht von „La Venerina“, von Clemente Susini, anatomisches Wachsmodell, Palazzo Poggi, Bologna

„Sleeping Beauty“ bekannt ist. In Fachkreisen wird gemunkelt, dass es sich um niemand anderes als Jeanne Du Barry handelt, die Geliebte des damaligen französischen Königs Ludwigs XV. und Schönheitsideal ihrer Zeit. Das Besondere an der Figur ist ihre eingebaute Mechanik, die ihre Brust auf- und absteigen lässt und ihr somit auch die Illusion des Lebendigen verleiht. Heute ist ihre Nachbildung im Madame Tussaud Museum in London zu bewundern. Allerdings ist sie im Gegensatz zu den Beispielen anatomischer Wachsmodelle nicht hinter Glas gefasst, sondern frei zugänglich. Schlussendlich geht es darum, ihr möglichst nahe zu kommen, sie regelrecht „atmen“ zu spüren. Das Voyeuristische und Verbotene, jemand Fremdes im intimen Moment des Schlafes nahe zu sein und die Vulnerabilität des anderen zu spüren, zeigt sich hier in Form erotischer Aufladung. So scheint der Gedankensprung zum aktuellen Fall Pélicots vom Voyeurismus und Verlangen hin zur sexuellen Straftat zwar als ein gewagter, doch drängen sich in meinem Kopf durchaus Parallelen beim Anblick schlafend wirkender Ganzkörperfiguren aus vergangenen Jahrhunderten auf. Die Ästhetisierung weiblicher Passivität, wie sie in anatomischen Wachsfiguren oder künstlerischen Darstellungen manifest wird, bildet die Grundlage eines Denkens, das Frauen auf ihren Körper reduziert, ein Denken, das sich bis in die heutigen Verbrechen gegen Frauen fortschreibt. Unfassbar ist für mich, wie sich die Angeklagten einbilden können, dass das Bild der schlafenden Frau mit einer Unverletzbarkeit gleichzusetzen wäre. Sprich: Wenn sie schläft, bekommt sie nichts mit und kann demnach nichts Schlimmes erfahren. Schließlich ist sie in ihrer historischen Passivität und Objektivierung gefangen, gleichermaßen auch durch diese geschützt. Eine Vergewaltigung unter Betäubung sei demnach keine, da die Frau angeblich nicht

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darunter leidet.1 Wie sie sich allerdings erklären wollen, dass ­Pélicot laut eigener Aussage drei Mal nach dem Aufwachen gynäkologische Hilfe aufsuchen musste, da ihr Körper sich anfühlte, als hätte sie gerade entbunden, bleibt ein Fragezeichen. Wie sich jahrelange Nebenwirkungen der Medikamente wie eine Demenzerkrankung anfühlen konnten, auch. Und auch wie eine Frau dazu kommt, in aller Öffentlichkeit über sich selbst zu sagen: „Ich bin eine völlig zerstörte Frau.“ So paradox es klingen mag, in der Realität nahmen diese Männer (bis auf Ausnahme ihres damaligen Ehemanns) Pélicot tatsächlich nur im Zustand der Passivität wahr. Für sie existierte diese unfassbar tapfere Frau als aktives Subjekt gar nicht. Zwar wurde sie als schlafend wahrgenommen, allerdings als lebendig und demnach als mündig. Keiner der Männer rief deshalb die Polizei. Im Gegenteil, für sie ist es von Nutzen, sich dieser Illusion hinzugeben, ihr Glauben zu schenken und sich so nicht selbst als Sexualstraftäter betrachten zu müssen. Eines steht jedenfalls fest: Vor dem Gesetz sind sie es. Denn die einst regelrecht vergegenständlichte Frau spricht nun mit all ihrer Subjektivität zurück. Sie möchte, dass der Name Pélicot für immer mit ihr, ihrem Aktivismus und ihrer kämpferischen Haltung in Verbindung gebracht wird und mit Stolz von ihren Enkelkindern getragen werden kann. Und das ist nicht nur ein Zeichen von Stärke, sondern zerstört nebenbei patriarchale Muster, die solche Taten in erster Linie möglich machen. Die „Anatomische Venus“, die „Sleeping Beauty“ und der Fall Pélicot teilen demnach mehr als nur das Bild der schlafenden Frau: Sie enthüllen, wie tief verwurzelt die Ästhetik der weib­ lichen P ­ assivität in unserer Kultur ist, eine Ästhetik, die nicht nur spiegelt, sondern Gewalt ermöglicht. Doch indem Frauen wie Pélicot das Schweigen brechen, wird sichtbar, dass Ästhetik nie neutral ist und dass ihre Dekonstruktion eine grundlegende Voraussetzung ist, um patriarchale Machtverhältnisse aufzubrechen. Denn das, was als angeblich „schön“ inszeniert wurde, trägt die Gewalt patriarchaler Systeme in sich. T

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Bis vor wenigen Jahren spiegelten Gesetzeslücken in Ländern wie Deutschland, den USA oder Frankreich ein patriarchales Verständnis wider, das Frauen im Zustand der Bewusstlosigkeit als unantastbare, aber auch rechtlich schutzlose Objekte behandelte – ein Denken, das Gewalt gegen Frauen faktisch legitimierte und die Täter vor Verantwortung schützte.

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Foto Warburg – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30716594

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Theater der Zeit

Foto B. Soulage

Report

„Au jardin des Potiniers“, Compagnie Ersatz (Brüssel / Metz) + Création Dans la Chambre (Montreal) bei euro-scene in Leipzig

Erlangen Neustart: Aus dem Theater wird programmatisch ein Schauspiel Leipzig Die euro-scene erweiterte ihren geografischen Spielraum auf kontroverse Weise Kyoto Das Kyoto Experiment Festival – die wichtigste japanische FringeInstitution

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„Wir müssen gar nichts!“ Neustart in Erlangen: Aus dem Theater wird programmatisch ein Schauspiel, mit einem Intendanten als Trojaner Von Michael Helbing

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Der Theaterdirektor tritt bedauernd vor den Vorhang. Was ein Schwarzmagier in seinem Varieté unlängst aufführte, erklärt Lichodejew, könne man leider nicht zeigen. Schließlich, es gebe Grenzen, selbst in der Kunst. „Und in diesem Fall ist das auch besser so.“ Dann erzählt er uns aber doch noch schnell ein bisschen was von der Massenhysterie, die entstand, obwohl er selbst gar nicht dabei sein konnte. Denn bevor jene ominöse Truppe um Magier Voland es falsche Rubelscheine regnen ließ und einem Zuschauer auf Verlangen anderer den Kopf abriss, hatte sie ebendiesen Direktor mal eben von Moskau nach Jalta expediert, um in seiner Wohnung, deren Vormieter vertrieben beziehungsweise in Verhörkellern verschwunden waren, an seiner statt Quartier zu nehmen. So beiläufig hier Grenzen der Kunst und des Theaters gezogen werden, so ernst muss man das wohl nehmen. Dieser Aufschlag im soeben von Theater in schauspiel erlangen umbenannten Haus bietet im vergangenen Herbst zwar so einiges an Formen und Mitteln auf, um aus Michail Bulgakows grell leuchtender Satire „Der Meister und Margarita“ das zu machen, was sie selbst als „fulminante Spielzeiteröffnung mit dem ganzen Ensemble“ anpreisen. Sie versagen sich aber auch manches, was gerade damit möglich wäre, z. B., Lichodejew-Darsteller Matthias Redekop mit jener Profession zu präsentieren, mit der er engagiert worden war, um den zeitgenössischen Schauspielbegriff zu erweitern: als Puppenspieler. Demgegenüber dürfen mit ähnlicher Intention neu ins Ensemble gekommene Kolleginnen vergleichsweise deutlich zeigen, was ihres Amtes ist: Die Tänzerin Marie Hanna Klemm legt Gella, Hexe des Satans Voland, stellenweise als mechanische Puppe an, hängt bei musikalischer Gelegenheit, die ihr die Sängerin Hannah Weiss bietet, aber biegsam im schmiedeeisernen, kettenbehangenen Kronleuchter in Form eines Drudenfußes.

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Foto links Ludwig Olah, rechts Apollonia Theresa Bitzan

Das neue Leitungsteam, v.l.n.r. Albrecht Ziepert, Linda Best, Jonas Knecht, Matthias Köhler, Anita Augustin, Markus Karner, Natalie Baudy


Report Erlangen Optisch opulent, ansehnlich und abwechslungsreich, wenn auch konzeptionell nicht allzu zwingend gestaltet, lässt sich dieser vom neuen Hausregisseur Matthias Köhler verantwortete Abend zugleich programmatisch lesen für die damit eingeläutete Ära. Das beginnt schon, nach einem dramaturgisch allerdings entbehrlichen Prolog mit dem Meister und Margarita höchstselbst (Tobias Graupner und Juliane Böttger), mit einer Grundsatzdebatte an den Patriarchenteichen. Rumo Wehrlis an Karl Lagerfeld erinnernder Voland, der mitunter de facto einen Spazierstock in der Hand, ihn spielerisch aber doch mehr im Hintern trägt, beklagt im Disput mit Moskauer Kulturfunktionären, von denen einer bald darauf den Kopf verliert, „die ständige Suche nach der Bedeutung des Werks, anstatt sich einfach daran zu erfreuen“. Die Neuinterpretationen alter Werke nennt er peinlich. „Anstatt einfach die Kunst ganz frei für sich selbst sprechen zu lassen, wird sie auf den Zeitgeist hin untersucht.“ Dergleichen wollten sich Köhler sowie Dramaturgin Natalie Baudy, die diese Bühnenfassung nach Alexander Nitzbergs Übersetzung von 2012 anfertigte und anreicherte, wohl nicht nachsagen lassen. Zeitgeist weht durch ihre Aufführung vor allem in ästhetischer Hinsicht: in der Videospielästhetik etwa, in der Pontius Pilatus (Ralph Jung) und Jesus (Matthias Redkop) über die Leinwand flimmern, oder in lauten elektronischen Klängen. Inhaltliche Querverweise gestattet man sich nur dort, wo damit das Theater selbst gleichsam neu verhandelt wird. Da attestiert man dem Theaterdirektor sexuelle Belästigung, Übergriffigkeiten und permanenten Machtmissbrauch, derweil Volands Katzenmensch Behemoth (Luca Hass) die Ambiguitätstoleranz ins Feld führt. Der nennt die Zuschauer kleine Schnarchnasen und lässt offen, ob das jene im Moskauer Varieté oder im Erlanger Schauspiel meint. Vielleicht blitze ja durchaus mal ein bisschen Wahrheit auf, so des Teufels Stubentiger. „Aber das kaufen Sie nicht mit der Eintrittskarte. Das erledigen nicht wir für Sie. Verstehen Sie das!? Wir müssen nichts, wir müssen gar nichts!“ Derart wird das Publikum gleichsam eingenordet für alles, was da demnächst noch kommen mag. Es wird noch anspruchsvoll und ungewohnt genug werden. Deshalb hätten, so hört man, in Erlangen alle erst einmal aufgeatmet, als es mit Bulgakows faustischem Roman doch noch ein halbwegs „klassischer“ Stoff ins formenreiche Programm schaffte. Was in der Preisklasse k ­ anonischer Positionen sonst noch geboten wird: ab Februar Ibens „Nora“ in der „Remix“-Überschreibung von Sivan Ben Yishai, die Anfang 2024 in Hannover und Berlin herauskam und bald darauf den Mülheimer Dramatikpreis gewann, sowie ab Mai Becketts „Endspiel“ mit Menschen und Puppen, wofür man mit Erfurts Theater Waidspeicher kooperiert und womit das Haus erstmals selbst zum internationalen Figuren.Theater.Festival Erlangens beiträgt, dem es bislang nur Spielstätten zur Verfügung stellte. Für die Saison danach forstet man derzeit Shakespeare-­Stücke durch. Ansonsten sollen aber schon ganz verschiedene Theater­ formen sowie neue Dramatik etabliert werden, nicht zuletzt in Abgrenzung zu Katja Ott, die hier 15 Jahre lang die Intendantin und dabei „vergleichsweise klassisch unterwegs“ gewesen war, so ihr Nachfolger Jonas Knecht. Der Schweizer Regisseur und Puppen-

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Nach innen agiert Jonas Knecht als Primus inter Pares einer siebenköpfigen künstlerischen Leitung.

spieler, zuletzt Schauspielchef in St. Gallen, kam gleichsam mit einem trojanischen Pferd ins mittelfränkische Erlangen, wo er nun, „als Konnex zur Stadt“, nach außen hin den Intendanten gibt und dabei rein strukturell ein Amtsleiter ist. Das Theater ist das Amt 44 in der Stadtverwaltung: „Es ist, Entschuldigung, die Hölle“, sagt Knecht und spricht von fast kafkaesken Formen der Bürokratie. Nach innen agiert Knecht als Primus inter Pares einer siebenköpfigen künstlerischen Leitung. Köhler und Baudy gehören dazu, die Dramaturginnen Linda Best und Anita Augustin sowie Albrecht Ziepert als musikalischer und Markus Karner als

„Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow übersetzt von Alexander Nitzberg, in einer Fassung von Natalie Baudy. Regie Matthias Köhler am schauspiel erlangen

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Ausstattungsleiter. Man arbeite teamorientiert, heißt es über dieses Hybridmodell. Den personellen Aufwuchs regelt man mit 70-Prozent-­Stellen. So arbeitet Köhler aktuell auch gastweise in Köln, Baudy in Ingolstadt, Knecht selbst in Innsbruck. Eine offene Kollektivbewerbung für die Leitung indes hätte bei der Stadt wohl kaum eine Chance gehabt, glaubt Knecht. Der sieht seinen Job vor allem darin, dieses Konglomerat von Amtsstruktur und frei flottierendem Theaterbetrieb funktionieren zu lassen. Er sei hauptsächlich mit Organisation und Kommunikation beschäftigt. Als Regisseur nahm er sich zunächst zurück, bereitet aber, ebenfalls für Februar, seine Inszenierung „Beyond. Wie Licht entsteht“ vor: ein zweiteiliger installativer Abend über letzte Fragen und die höllisch schwere Kunst des Abschiednehmens, nach Andreas Schäfers Text „Die Schuhe meines Vaters“. Mit dem Tod konfrontiert, stellen darin zwei Figuren Fragen, denen Zuschauer dann nachhängen können, mit Musik, Licht, Laser, Video,

Szenen aus „Mind the Gap“ von Jenke Nordalm und Julie Paucker. Eine Produktion der KULA Compagnie in Koproduktion mit dem schauspiel erlangen und der Helferei Zürich

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Klang, ohne Text und Darsteller. Knechts Vision: „Zeit verbringen im Theater, ohne mit Text bombardiert zu werden.“ Aber so ganz nebenbei muss der neue Intendant jetzt „irgendwie dieses Scheiß-Budget zusammenhalten“. Dabei dachte Knecht, er komme nicht nur in eine zu St. Gallen vergleichsweise offene und neugierige Stadt mit viel mehr Stolz und Selbstbewusstsein – was sich bislang einzulösen scheint –, sondern auch in eine der reichsten Städte Deutschlands, wo sich mal mehr aus dem Vollen schöpfen und das Theater ein bisschen ausbauen ließe. Zwei Tänzer, zwei Puppenspieler, zwei Sänger hätten dem Schauspielensemble neuer Prägung demnach auch ganz gutgetan. Nun ist man aber mit einem riesigen Haushaltsloch konfrontiert. Der 112  000 Einwohner zählenden Universitätsstadt fehlen prognostizierte 150 Mio. Euro bei der Gewerbesteuer. „Das tangiert uns enorm“, so Knecht mit Blick auf die nächste Saison. „Wir sind im Moment noch ein bisschen ratlos, wie das gehen kann. Es wird ziemlich hart!“ Auch sonst läuft nicht alles nach Plan. Nach einer Förderab­sage vom Literaturfonds liegt einstweilen das „Drama-Atelier“ auf Eis, eine Werkstatt für szenisches Schreiben, die man absehbar mit den Theatern in Ingolstadt und Bamberg (wo demnächst John von Düffel übernimmt) etablieren will; Nürnbergs Schauspiel, wo Lene Grösch auf Jan Philipp Gloger folgen wird, kommt womöglich noch hinzu. Und ob es gelingt, die transnationale KULA-Compagnie (siehe TdZ 10/2024) längerfristig etwas enger ans Haus zu binden, so wie es der Plan war, ist auch eine bislang unbeantwortete Frage des Geldes. Da sind also unerwartete Stolperfallen aufgetaucht, weshalb der Titel des neuen KULA-Stücks „Mind the gap“, das im Herbst in Erlangen herauskam, bevor es ins Züricher Kulturhaus Helferei weiterwanderte, eine zusätzliche Bedeutung erhielt. Vorsicht, Stufe, das ist insofern wörtlich zu nehmen, als eine Treppe zur Ausstattung nicht nur dieser Produktion gehörte. Markus Karner hat gleich für die gesamte erste Saison in der Studiobühne Theater in der Garage einen allerdings veränderlichen Einheitsraum geschaffen: Eine Art Tool-Box aus OSB-Platten hellt den üblicherweise in Schwarz gehaltenen Ort auf, mit Stellwänden, Verblendungen oder eben Stufen. „Mind the gap“, ein von Jenke Nordalm und Julie Paucker inszeniertes Diskurstheater, weihte das ein. Schon sprachlich bedeutet die Produktion das Gegenteil von Barrierefreiheit: Vier Schauspieler, Nadia Migdal (Israel), Péter Hajnalka (Ungarn), Romaric Séguin (Frankreich) und Edris Fakhri (Afghanistan), verständigen sich in sechs Sprachen, um, so das Setting, in einem Modellversuch den Bürgerrat für ein zukünftiges Europa zu simulieren. Kulturelle Unterschiede und Vorurteile sowie Interessenkonflikte sind auszugleichen, Regeln des Zusammenlebens auszuhandeln. Es geht, nicht selten auf die komödiantische Tour, um Kinder, Ehe, Religion, ums Kaffeetrinken und um Fußball. Noch immer fand KULA keine theatrale Form, die trotz allgemeinen Sprachgewirrs Übertitel entbehrlich machte. Es gibt mal wieder mehr zu lesen als zu sehen. Man wird mit Text bombardiert, mit Spielen eher weniger. Und unterm Strich ist das so absichtsvoll appellhaft auf Verständigung angelegt, dass deren Grenzen und Konfliktlinien kaum Konturen annehmen. Einmal abgesehen von Grenzen, die sich Kunst hier selbst setzt. Aber in diesem Fall ist das durchaus nicht besser so. T

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Fotos links Ludwig Olah, rechts René Schindler

Report Erlangen


Szenen aus „basis for being ‫ “نسگر‬von Sina Saberi

Brennender Schatten Die Leipziger euro-scene erweiterte ihren geografischen Spielraum auf kontroverse Weise Von Nathalie Eckstein

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„Was auf dem Spiel steht.“ Das war das Motto des diesjährigen euro-scene-Festivals in Leipzig Anfang November. Wirksamer Werbespruch auf den T-Shirts des Teams bei den elf Tanz-, Theater- und Performanceveranstaltungen und gleichzeitig Motto der Marathonlesung am Tag der Festivaleröffnung. Auf dem Spiel stand also einiges und leider vielleicht mehr noch, als Christian Watty, seit drei Jahren Leiter des Festivals, zunächst noch gedacht haben mag. Mit seiner Kuration hat Watty eine weitreichende Debatte ausgelöst. Hier noch einmal von vorn. Watty hat mit dem internationalen Programm der euro-scene, deren Fokus in der Vergangenheit unter der Leitung von Ann-Elisabeth Wolff allein dem Namen nach stärker auf europäischen Arbeiten lag, eine Öffnung gewagt. Dass das Festival am Tag der US-Wahl eröffnete, bedurfte seiner Reaktion, wie er im Gespräch sagt. Ab zwölf Uhr mittags wurden Dokumente universeller Menschenrechte gelesen. Diese Texte universeller Wertvorstellungen beschwören allerdings bereits ein Dilemma herauf: „Weil sie eben von Menschen geschrieben wurden, die privilegiert in bestimmten vorrangig europäischen Ländern gelebt haben und einem bestimmten Menschheitsbild der Aufklärung unterliegen, das viele Menschen gleichzeitig ausschließt“, gibt Watty zu bedenken. Dennoch glaubt er an universelle Werte, auch, um eine Debatte möglich zu machen: „Für mich als Privatperson, als Bürger, als Mensch, der zwei Pässe hat, einen deutschen und einen französischen, ist es unvorstellbar, nicht reisen zu können, oder nicht sagen zu können, was ich denke.“

Oben: „Crowd“ von Gisèle Vienne Unten: „Dance is not for us“ von Omar Rajeh / Maqamat

In einer der Linien des Programms, das einen Fokus auf eine Region legt, „die seit dem späten 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund europäischer Kolonial- und Geopolitik als Naher und Mittlerer Osten bezeichnet wird“, wie es im Programmheft heißt, hatte Watty die Theaterarbeit „And here I am“ von Ahmed Tobasi, produziert vom Freedom Theatre Jenin (FTJ) und inszeniert von der britischen Regisseurin Zoe Lafferty, zum Festival eingeladen. In der Produktion, die international tourt, erzählt der Autor seine eigene Lebensgeschichte. Aufgewachsen in einem Flüchtlingscamp in der Westbank, schloss er sich dem Dschihad an, wie die taz berichtete, gelangte schließlich nach Norwegen, absolvierte eine Schauspielausbildung, verfügt mittlerweile über einen norwegischen Pass und arbeitet heute als Künstlerischer Leiter am Freedom Theatre des (mutmaßlich durch die Hamas) ermordeten Juliano Mer-Khamis, dem legendären Gründer des FTJ. Watty gesteht offen Fehler ein: „Ich hätte sagen sollen, es ist ein arabischer Fokus“. Denn eine israelische Produktion ist nicht eingeladen. Und mehr noch: Die Gruppe Artists Against Antisemitism veröffentlichte ein Statement, in dem das Festival „für eine fatale Entwicklung im deutschen Kulturbetrieb“ stehe und die Kampagne des Theaters der „Cultural Intifada“ beschreibt. Die Konklusion der Gruppe: „Antisemitismus wird geduldet, als legitime Position normalisiert und trotz aller Lippenbekenntnisse von staatlich finanzierten Kulturinstitutionen wie dem Goethe-Institut und dem Schauspiel Leipzig gefördert. Die Kritik an islamistischer Unterdrückung durch libanesische und iranische Stimmen während des Festivals wird so unterlaufen.“ Die Debatte war selbstredend groß. Schließlich wurde die Produktion wieder ausgeladen, Grund war der Beschluss „Gegen jeden Antisemitismus!“ der Ratsversammlung der Stadt Leipzig vom 26. Juni 2019. „Durch den Beschluss sind die Kultur­ einrichtungen der Stadt verpflichtet, sich insbesondere von jeglichen Boykottaufrufen gegenüber Israel zu distanzieren“, hieß es in der Presseerklärung des Festivals. Die Jahrestagung vom deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI), bei der Zoe Lafferty hätte sprechen sollen, wurde verschoben, nur der Preis an die transnationale KULA Compagnie wurde (ausgerechnet) am 9. November verliehen. Spricht man mit Watty über die Einladung, die Kritik und die Ausladung, wirkt er sichtlich angefasst. Es wirkt wie grenzenlose Naivität mehr als wie Mutwillen. Watty betont: „Ich suche die künstlerischen Produktionen nicht nach den religiösen oder politischen Überzeugungen der Künstler:innen aus, in erster Linie überzeugt mich die künstlerische Arbeit. Ich kenne aber natürlich Fälle, in denen diese Arbeiten letztlich politisch instrumentalisiert werden.“ Aber seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Sachlage verändert und kuratorische Unbedarftheit hat Konsequenzen. Zurück zum weiteren künstlerischen Programm: Als ein zweiter kuratorischer Faden ließe sich sicher der Körper, sein Ausgeliefertsein genauso wie seine Möglichkeiten beschreiben. „Harmonia“, die gefeierte Arbeit der ungarischen Choreografin Adrienn Hód mit dem Ensemble Unusual Symptoms am Theater Bremen, arbeitet sich auf der Metaebene am Tanz ab, erzählt ihn aber von

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Foto links oben Estelle Hanania, unten Giuseppe Follacchio/Orbita Spellbound, rechts Jörg Landsberg

Report Leipzig


Report Leipzig

„In den Debatten darf die Unsicherheit nicht dominieren“, sagt Christian Watty.

„Harmonia“ von Unusual Symptoms / Theater Bremen / Adrienn Hód

den Möglichkeiten her. Aufwärmen, Dehnen, Faszienrollen, alles zu Beginn der etwa 90-minüten Arbeit bereits Teil des Bühnengeschehens. Die Grenzen sind offen, das Publikum sitzt um die Bühne herum, die nach vorn durch eine Ballettstange begrenzt ist. In wechselnden Konstellationen werden die Dehn-, Streck- und Aufwärmübungen des mixed-abled Ensembles zunehmend artistischer und tänzerischer. Skulpturen aus Menschen(paaren) formieren sich, lösen sich wieder, finden sich neu. In einem zweiten Teil, die Kleidung des Casts ist hier weitestgehend nach und nach abgelegt worden – eine weitere Referenz auf den Tanz und dessen Nacktheit, wie wir von Florentina Holzinger wissen –, findet eine Art Showdown in Duett- und Solotänzen statt, die trotz der zunehmenden Erschöpfungsästhetik energiegeladen sind und für Applaus im Saal mit offenem Licht sorgen. In „Dance is not for us“ setzt sich Omar Rajeh tänzerisch mit seiner verlorenen Heimatstadt Beirut auseinander. Der libanesische Choreograf lebt mittlerweile in Frankreich. Die Sehnsucht nach seiner Heimat bleibt. „Haustrum Haustorium“, eigentlich der Name einer räuberischen Schneckenart, ist die neueste Arbeit von Post-Organic Bauplan und fragt nach der Interaktion zwischen menschlichen Akteur:innen und Robotern im performativen Kontext. Überhaupt: Teilhabe, Inklusion und Immersion bleiben Themen des Programms: „Ubuntu Connection“ und „Basis for being“ luden das Publikum zum Mittanzen ein, auf der großen Bühne des Schauspiel Leipzig zeigte Silvia Gribaudi in „R.OSA“ in der Tradition von Aerobic Freude an Bewegung, und Gisèle Viennes „Crowd“ bildete zum Abschluss des Festivals in einer

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von einer Darstellung gelösten, besonderen Performance mit 15 Tänzer:innen Rauschzustände in der Dramaturgie einer Party. Ihr außergewöhnliches Verstörungstheater, in dem sich die Tanzenden zunächst traumgleich in Zeitlupe, teils aber auch perfekt synchronisiert – ohne dazu einen Impuls aus der Musik nehmen zu können – bewegen, stellt Fragen nach Zeit, Linearität und ­Erzählen selbst. Ein weiteres kleines Highlight bildete „Au jardin des Poti­ niers“ der französischen Compagnie Ersatz gemeinsam mit ­Création Dans la Chambre aus Kanada im Leipziger Westflügel, in der das Publikum durchs Bühnenbild durch mit dem Kopf in eine Miniaturlandschaft schaut, wie dort ein Tag aus Pop-up-­ Blumen, schwirrenden Insekten, magischen Lichtern und Gewitter vonstat­tengeht, mit viel Liebe zum Detail und einer konsequenten Ästhetik. Watty sagt zum Schluss: „In den Debatten darf die Unsicherheit nicht dominieren. Wir brauchen mehr Ambiguitätstoleranz.“ Die Vorkommnisse rund um die Einladung von „And here I am“ möchte er aufarbeiten und denke dabei z. B. an das Projekt „Trialog“ von Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann, die an deutschen Schulen Gesprächsräume schaffen, um mit Schüler:innen über Israel, Palästina, den Krieg sowie die Auswirkungen für das muslimische und das jüdische Leben in Deutschland zu sprechen. Die kulturpolitischen Gemengelagen warfen jedoch ihren Schatten auf das ganze Festival. Und mehr noch, die Debatte verweist auf größere kuratorische Fragen, vor der auch andere international arbeitende Festivals zukünftig stehen werden. T

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Report Kyoto

Eine Wette auf die Zukunft Das Kyoto Experiment Festival – die wichtigste japanische Fringe-Institution

Melati Suryodarmo, „Sweet Dreams Sweet“, 2024

Eine schneeweiße Sahnetorte geschmückt mit einem Klecks roter Sauce und schwarzen Kerzen in Form einer Fünfzehn. Darunter eine unleserliche Signatur, die an eine kritzelartige Unterschrift erinnert, dabei aber unlösbar wirr erscheint: Wer sich im Oktober 2024 durch Kyoto bewegte, begegnete immer wieder diesem Motiv, das eineinhalb Jahrzehnte des Kyoto Experiment Festival zelebriert. Es ist auch ziemlich kawaii, was in Japan nicht nur „süß“ bedeutet, sondern aufmerksamkeitspolitisch auch „sozial relevant“. Seit seiner Gründung durch Yasuke Hashimoto im Jahr 2010 hat sich Kyoto Experiment (KEX) als bedeutende Drehscheibe für Theater-, Tanz- und spartenübergreifende Performance in der Kansai-Region etabliert. Seit 2020 wird das Festival vom Trio Yoko Kawasaki, Yuya Tsukahara und Juliet Reiko Knapp geleitet. Gemeinsam haben sie das ursprüngliche

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Konzept des Festivals erweitert, sodass neben den Showcases und Performances auch Raum für künstlerische Forschung (im Format „Kansai Studies“) und die Diskussion gesellschaftlicher Logiken und Utopien (im Format „Super Knowledge for the F ­ uture“) entstanden ist. Obwohl kuratorische Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, setzt das Modell auf ihre jeweiligen Stärken: Künstler Tsukahara (des Kollektivs Contact Gonzo) in der Dramaturgie, die langjährige KEX-Produktionsleiterin Kawasaki in der Organisation und die zweisprachig japanisch-britisch aufgewachsene Knapp in der internationalen Kommunikation. Organisatorisch bleibt das Modell den Prinzipien eines Fringe-Festivals treu und agiert dezentral an verschiedenen Spielorten der Stadt, u. a. bespielt es das ROHM Theatre Kyoto, Kyoto Art Center, Kyoto Performing Arts Center und Theatre E9 Kyoto.

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Foto links Courtesy of Kyoto Experiment, Mitte Yuki Moriya. Courtesy of Kyoto Experiment.

Von Freda Fiala


Report Kyoto geschaffen für die Gefahr durch rechtsnationalistische Internettrolle und algorithmisch beschleunigte Hasspropaganda. In Gesprächen wird häufig höflich ein Moment des „Übergangs“ attestiert, um das Wort Krise zu vermeiden. Oft kommt dabei die Rede auch auf das seit dem erzwungenen Abgang von Chiaki Soma kuratorisch geschwächte Tokyo Festival, das als Gegenspieler von Kyoto Experiment in der Kanto-Region starke Erwartungen an seinen neuen künstlerischen Leiter Toshiki Okada (ab 2025) richtet. Synchron mit zahlreichen intra-asiatischen Bemühungen, Netzwerke und damit die Zusammenarbeit und Ko-Produktion zu stärken, hat auch KEX seit 2020 seinen regionalen Fokus intensiviert. Melati Suryodarmos „Sweet Dreams Sweet“ eröffnete das Programm an einem ungewöhnlich heißen Herbsttag. Aufgeführt auf der Dachterrasse des Rathauses und umgeben von Sonnenschirmen tragendem Publikum interagierten die Performerinnen als vollverschleiertes, weiß gekleidetes Kollektiv mit Yves-Kleinblauen Farbwannen. Suryodarmo, die selbst lange in Deutschland lebte, verankert ihre Referenzen geschickt zwischen der westlichen Geschichte der Performancekunst und dem gelebten Erfahrungshorizont ihrer indonesischen Wurzeln – so sind, im Kontrast zu Klein, die weißen Kostüme eine Referenz auf die Schuluniformen, die in Indonesien jeweils am ersten Wochentag getragen werden mussten. Die mehrere Stunden dauernde Performance, die 2013 erstmals während der Jakarta Biennale gezeigt wurde, hat sich seither in unterschiedlichen Konstellationen weiterentwickelt. Hier in Kyoto wurde sie in Zusammenarbeit mit Studierenden der Bildhauereiklasse der Kunstuniversität realisiert, und doch wirkte sie in ihrem formalistischen Widerstandsanspruch bereits etwas anachronistisch. War daher die Entscheidung, „Sweet Dreams Sweet“ im Außenraum und unter der sengenden Mittagssonne zu zeigen, Absicht? Schließlich ist Suryodarmos Werk geprägt von Versuchen, den eigenen Körper in Grenzerfahrungen zu testen. Daraufhin befragt wiegelte sie jedoch ab – die Hitze sei Zufall gewesen, auch wenn die Situation sie zumindest an die traditionellen, im Außenraum stattfindenden Tanzformen Javas erinnere.

Japanische Kolonialgeschichte Situation der Programmierung Für die Programmierung wählt das Trio jedes Jahr einen Begriff, der als Impuls für neue Perspektiven auf das Festival dienen soll. 2024 lautete er „ē tto ē tto“, ein japanischer Ausdruck, der ähnlich wie das deutsche „ähm“ Unsicherheit, aber auch Raum für Reflexion und Entscheidungsfindung schafft. Die subtile Kraft dieses Ausdrucks lässt sich als spielerische Spitzfindigkeit verstehen – als eine Anspielung, die, wie so oft in Japan, einen politischen Kommentar im Gewand eines Umwegs präsentiert. Dies scheint besonders bedeutsam, da am letzten Festivaltag richtungsweisende Parlamentswahlen in ganz Japan stattfanden. Die vermeintliche Vorsicht der Anspielung sollte jedenfalls nicht täuschen: Während Kyotos zeitgenössisches Festival bislang von Aktivist:innen verschont blieb, hat die politische Eskalation der Aichi Triennale 2019 („After ‚Freedom of Expression‘?“) ein neues Bewusstsein

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Als erste Eigenproduktion des Festivals präsentierten Nanako Matsumoto und Anchi Lin (Ciwas Tahos) „Sticky Hands, Stitched Mountains“ im Theatre E9 Kyoto. Als materialästhetische Übersetzung glich die Bühne ihrer dialogischen Auseinandersetzung einer Ausstellung: Unter den sorgfältig ausgewählten Objekten fanden sich Pflanzen wie der Kampferbaum, der sowohl in Japan als auch in Taiwan heimisch ist; über einem Wasserbecken hingen Gartenhandschuhe, und handgeschöpfte Papierbahnen verwiesen auf die Dokumentationsmethoden der japanischen Kolo-

Künstlerische Forschung auf der Suche nach alternativen Formen der Geschichtsschreibung. 69


Oben Shinichi Anasako / Pijin Neji with Tentenko, „Stand By Me“ Unten Yasuko Yokoshi / Aichi Prefectural Art Theater, „Lynch (A Play)“

nialherrschaft in Taiwan – insbesondere gegenüber den indigenen Gruppen, zu denen auch Lin gehört, deren Vorfahren Atayal sind. Matsumotos und Lins queerfeministische Auseinandersetzung mit den japanisch-taiwanischen Beziehungen und der Kolonialgeschichte, basierend auf panökologischer Forschung und einer queeren Lesart der Erzählungen von Temahahoi, einer Atayal-­ Legende, und Yamamba, einer japanischen Mythologie, war die erste Ko-Produktion des KEX mit dem Taipei Performing Arts Center (TPAC) und zeigte die Möglichkeiten künstlerischer Forschung auf der Suche nach alternativen Formen der Geschichtsschreibung und persönlicher Begegnung. Szenisch könnte sich dieses Konzept jedoch bis zur nächsten Premiere in Taipei 2025 noch weiterentwickeln, um die überbordende Anzahl an autofiktionalen Referenzen für die Bühne dramaturgisch zu übersetzen. In der zweiten Festivalhälfte „geisterte“ die Neuproduktion „Stand By Me“ durch die Horikawa Oike Galerie – ein Auftragswerk der Künstler Shinichi Anasako und Pijin Neji in Zusammenarbeit mit der bei der jüngeren Generation beliebten Musikerin

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Tenenko. „Stand By Me“ entwickelt sich – mit Anspielungen auf Stephen King – zu einer Coming-of-Age-Satire, die sich um die Frage dreht, wie man in einer von Krisen beherrschten Welt, in der die Probleme größer erscheinen als die möglichen Lösungen, erwachsen und handlungsfähig werden kann. Die Handlung spielt kurz nach einer Naturkatastrophe, am selben Tag ereignet sich auch ein Mord in einem Café. Daraufhin entfalten sich die Begegnungen der Untoten in einer kuriosen Unklarheit. Besonders unterhaltsam wird es, als sie, auf der Suche nach Antworten beschließen, ein Noh-Theater zu besuchen. Dort erklärt ihnen eine Noh-Performerin mit höflicher Zurückhaltung, dass auch die Tradition keine universelle Lösung bietet – das Publikum ist ob der skurrilen Konfrontation der Ausweglosigkeit bereits in bedrücktes Lachen ausgebrochen. Die Verquickung von ehrfürchtiger Tradition und Tabubruch integrierten Anasako und Neji auch in die Raumdramaturgie: Ein Performer verlässt am Ende die Galerie durch den rückwärtigen Ausgang und tritt hinaus auf die Straße – wie eine Brücke in eine andere Dimension, ähnlich dem Abgang über die traditionelle Brücke des Noh-Theaters. Ein künstlerischer Höhepunkt war die Adaption „Lynch (A Play)“, choreografiert von der in Kyoto lebenden Yasuko Yokoshi, aufgeführt am finalen Festivalwochenende. Zusammen mit den Performer:innen Masaru Kakio, Alain Sinandja und Nanako ­Komatsu näherte sich Yokoshi darin dem sprachgewaltigen Werk des zeitgenössischen Autors Yoshiro Yodo Hatori an. Zwar soll der Autor angeblich jeden Abend im Theater anwesend gewesen sein, hält jedoch seine Identität aus politischen Gründen geheim – möglicherweise weil das Stück zahlreiche Szenen der japanischen Kolonialgeschichte thematisiert, ein in Japan nach wie vor tabuisiertes Thema. Das Prinzip der Verflechtung wird von Yokoshi konsequent fortgesetzt – dabei entsteht eine symbolische Landschaft, die den Kontrast zwischen kultureller Tradition und postmoderner Vermischung offenbart und selten in dieser Direktheit auf der japanischen Bühne zu sehen ist. Wie sie in anderen Kontexten bereits mit traditionellen Bewegungsmustern gebrochen hat, setzt sie hier das Spiel der kulturellen Zeichen fort. Unvollständige, „unperfekte“ Noh-Masken, die ansonsten von Amateur:innen getragen werden, kommen zum Einsatz, Sprechchöre hinterfragen die Grenzen des individuellen Körpers und seine Ansprüche auf Authentizität. Persönliche Einblicke in die medizinische Akte der in Hiroshima geborenen Yokoshi leiten die formale Logik des Stückes schließlich in eine dichte Reflexion über kollektive Verantwortung und die Ambivalenz des Fortschritts. Es bleibt nur zu hoffen, dass diese abgrundtief kluge Produktion einmal auch in Europa touren wird.

Überall politische Untertöne Fast die Hälfte des KEX-Performanceprogramms 2024 bestritt das Festival „Dance Reflections“, das von Van Cleef & Arpels gefördert als frankophiles Festival im Festival fungierte. Kuratiert von Serge Laurent, kontrastierte es die oft rätselhaften Arbeiten, die das KEX-Programm prägten, und umfasste leichter verdauliche Produktionen wie „Soapéra, an installation“ von Mathilde Monnier und ­Dominique Figarella sowie den Pseudo-Rave „Room with a View“

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Foto links oben Tomo Wakita. Courtesy of Kyoto Experiment., unten und rechts Ryo Yoshimi. Courtesy of Kyoto Experiment

Report Kyoto


Report Kyoto von (LA)HORDE x Rone mit dem Tanzensemble des Ballet National de Marseille. Andererseits wurden auch Choreografien zu Loïe Fullers Serpentinentanz (Ola Maciejewska: „Bombyx Mori“ und Loïe Fuller: „Research“), jedoch ohne jeden Bezug zur problematischen Geschichte von Fullers Künstlertourneen gezeigt, auf denen Fuller die japanischen Künstlerinnen Sada Yakko und Hanako gnadenlos unter dem Deckmantel eines „globalen“ Japonis­mus in Europa vermarktete. Die asymmetrische Arbeitsweise dieses Programmteils könnte man als typisch für „Europäer:innen bezeichnen, die visumsfrei einreisen und sich dann so verhalten, als seien sie noch immer der Maßstab aller Dinge“. Einmal mehr gibt sie Anlass, jene Infrastrukturen zu hinterfragen, die normative Sichtbarkeiten künstlerischer Positionen behaupten. Zumindest das Programmheft reflektierte auf diese Perspektive, indem es die Dance-Reflections-Inhalte auf schwarzen Seiten präsentierte und damit klar vom übrigen Festivalprogramm abgrenzte. Die Entscheidung, diese dennoch als zentralen Teil des KEX-Programms aufzunehmen, könnte als Versuch interpretiert werden, die internationale Präsenz und Bedeutung des Festivals zu stärken, auch wenn dies mit der Herausforderung verbunden ist, die künstlerische Integrität in einem von kommerziellen Interessen geprägten Rahmen zu wahren. Bei genauerem Hinsehen begleiten politische Untertöne das gesamte Festival, jedoch verstehen es dessen Direktor:innen, diese nicht offensiv herauszustellen. Auf lokaler Ebene mag ein weiterer Grund dafür sein, keine ungewollten Protestaktionen der extremen Rechten zu provozieren – eine Realität, mit der Kunstschaf-

fende in Japan derzeit leben müssen. Für den kuratorischen Erfolg und die gut verkauften Aufführungen verantwortlich war in diesem Jahr, neben einer indirekten und zugleich einladenden Sprache, jedoch auch die Zugänglichkeit des Programms. Trotz steigender Kosten hält KEX seine Ticketpreise stabil und bietet u. a. Kinderbetreuung während der Vorstellungen für rund neun Euro pro Abend an. Formate zur Kontextualisierung der Performances und für Diskussionen tragen ebenfalls dazu bei: Vorträge von Expert:innen aus verschiedenen Branchen („Super Knowledge for the Future“) und die Präsentation der diesjährigen künstlerischen Forschungsprojekte („Kansai Studies“) ergänzen das Festival um weitere experimentelle Dimensionen. U. a. zeigte Ophelia Jiadai Huang aus Shanghai darin die interaktive Ausstellung „Future Dictionary“, die Begriffe für die zeitgenössische Praxis von Künstler:innen und Kurator:innen der Region (Ost-)Asien erarbeitete. Anderntags wurde in einem Vortrag das Argument starkgemacht, dass die Zukunft fundamental ungewiss und instabil ist. Daher sind präzise Vorhersagen von vornherein unmöglich – und jede Entscheidung ist nichts anderes als „eine Wette“. Oder wie man in Kyoto, zwischen dem Festival, einem Nintendo-Museum und zahllosen Tempeln sagen könnte: „ein Experiment“. T Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung des Programms „Critics in Residence @ Kyoto Experiment 2024“, organisiert von der Delegation der Europäischen Union in Japan and gefördert mit Mitteln der Europäischen Union.

Yasuko Yokoshi / Aichi Prefectural Art Theater, „Lynch (A Play)“

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Französischsprachige Theaterstücke Herausgegeben von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Marina Skalova: Erinnerst du die Sätze

» Niemand kommt da unbeschadet raus, so viel ist sicher.«

Scène 24

Marcos Caramés-Blanco: Gloria Gloria

Marthe Degaille: Beteigeuze

» Hast du schon mal überlegt, dass du vielleicht seit dem Tod deiner Schwester eine Depression hast?« Antoinette Rychner: Arlette

Scène 24 Neue französisch­ sprachige Theaterstücke Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand (Hg.) 364 S., 25 €

Die 24. Ausgabe der Anthologie SCÈNE widmet sich Fragen von Geschlechtskonstruk­ tion und genderbasierter, struktureller Ge­walt. Acht Texte von Autor*innen aus Frankreich, Belgien, der Schweiz und Québec machen das Private zum Politischen – oft aus einer queeren Perspektive. Vom experimentellen Prosastück zur (nicht nur sprachlichen) Zurichtung weiblich gelesener Körper über lesbische Science-Fiction-Szenarien bis hin zu feministischen Überschreibungen klassischer Theatertexte ist dabei sowohl thematisch als auch formal große Vielfalt geboten. Gemeinsam ist allen Stücken ihr intersektionaler Ansatz: Soziale, ökologische, antikapitalistische und sexuelle Revolutionen werden zusammengedacht und auf die Bühne gebracht – mal agitatorisch-sprachspielerisch, mal performativ versponnen und mal mit feinironischem Humor. Antoinette Rychner: Arlette Marie Henry: Norman ist (fast) normal Marie-Ève Milot und Marie-Claude St-Laurent: Illegal Marina Skalova: Erinnerst du die Sätze Marcos Caramés-Blanco: Gloria Gloria Marthe Degaille: Beteigeuze David Paquet: Immer Frühlings Erwachen MarDi: Penthesile:a:s (Amazonenkampf)

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Ausschnitt aus einer Fotografie mit Blick von der Kurfürstenbrücke (heute Rathausbrücke) auf die Spree und das Gebäude von Circus Busch im Hintergrund (ca. 1930).

Zirkuskunst in Berlin um 1900 Einblicke in eine vergessene Praxis

Während unserer Recherchearbeit in diversen Archiven stießen wir in den Werbeteilen von Artistik-Fachzeitschriften aus der Zeit um 1900 auf zahlreiche Anzeigen von Künstler:innen. Unzählige freischaffende Artist:innen traten um 1900 als Solokünstler:innen, als Duos, Trios oder auch in größeren Formationen in Berlin auf. Sie spielten in längst vergangenen und verschwundenen Spielstätten wie Circus Renz, Circus Schumann, Circus Busch, im Wintergarten, in Theatern mit den Namen Apollo, Belle-Alliance, Central, Walhalla oder im berühmten Berliner Überbrettl und in zahlreichen Festsälen, Tanzlokalen sowie auf Sommerbühnen. Diese freischaffenden Künstler:innen bewegten sich gekonnt zwischen verschiedenen Bühnen und Aufführungsformaten, die bis heute im akademischen Kontext als nicht untersuchenswert empfunden werden. Denn die Arbeits- und Auftrittsorte dieser Künstler:innen galten und gelten bis heute als Stätten der sogenannten niederen Künste und ihre Praxis schlichtweg als Nicht-Kunst. Die Anzeigen in den Fachzeitschriften belegen auch, dass sich diese Künstler:innen nicht nur über die Gattungs-

grenzen hinweg bewegten, sondern ohnehin äußerst mobil waren: Sie arbeiteten transnational und interkontinental und waren in neu gegründeten, teils international vernetzten Berufsverbänden organisiert. Länder- und kontinentübergreifende Vernetzung sowie eine mehrsprachige Berufspraxis gehörten für Artist:innen um 1900 also zum Selbstverständnis. In ihrer künstlerischen Praxis wagten sie oftmals technische und gesellschaftliche Experimente. Dinge, die wir in der Regel bekannten Avantgarde-Künstler:innen und vor allem der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zuschreiben – oder mit unserer heutigen Praxis in der sogenannten freien Szene verbinden. Aus dem Vorwort von För Künkel und Mirjam Hildbrand För Künkel, Mirjam Hildbrand: Zirkuskunst in Berlin um 1900 Einblicke in eine vergessene Praxis, Schweizer Broschur im Großformat 250 S., 36 €

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Fotos oben Mitte © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: GE 2005/180 VF. Otto Bloom, rechts unten President and Fellows of Harvard College, BRGA.24.145., rechs oben Wiki Commons

Mit Texten von Marcos Caramés-Blanco, Marthe Degaille, MarDi (Marie Dilasser), Marie Henry, Marie-Ève Milot / Marie-Claude St-Laurent, David Paquet, Antoinette Rychner, Marina Skalova

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» Weißt du, ich hab heute Nachmittag meine Chefin abgemurkst, mich schockiert nix mehr.«

Scène

Neue französischsprachige Theaterstücke

» Männer schicken Sonden / in die Bäuche von Frauen / und ins All.«


Analyse des Epischen Theaters

RECHERCHEN 170 Matthias Rothe Tropen des Kollektiven Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater 260 S., 22 € (Print oder digital)

Die künstlerische Arbeit am Theater ist unmittelbar kooperativ und immer auch Arbeit an ihrer eigenen Form. Theatermacher:innen in der Weimarer Republik haben dies voraussetzend versucht, im mitlaufenden Verweis auf ihr Tun eine bessere, nicht kapitalistische Gesellschaft real und imaginativ vorwegzunehmen. Wieso endete dieser Versuch in einem Lob der großen Produktion statt in einer Befreiung von ihr? Oder in einer naiven Verwendung rassistischer Stereotypen? „Tropen des Kollektiven“ beantwortet diese Fragen, indem es ein solches Scheitern von Utopie am Beispiel des Epischen Theaters – der Piscator-Bühne, der Truppe 31, der Versuche-Gruppe, zu der Bertolt Brecht gehörte – nachvollzieht. Weil das Buch nach dem Verwertungsregime künstlerischer Arbeit schlechthin fragt, gelten die Antworten, die es gibt, nicht nur für die Theateravantgarde.

Walter Gropius, Total Theater for Erwin Piscator, Berlin, 1927

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In der linken Hälfte differenziert Rembrandt in „Christus heilt die Kranken“ (1647–49) die Nebenfiguren noch weiter aus. Es gibt einen jungen Mann in reicher Tracht, den die Erzähltheorie seit Franz K. Stanzel einen „Reflektor“ nennt.

Nebenfiguren Die Nebenfigur ist keine Nebensache, aber das bedeutet nicht, sie zur heimlichen Hauptfigur zu erklären. Stattdessen gilt das Interesse dieses Bandes der Frage, welche Funktionen Nebenfiguren innerhalb einer Handlung, einer Partitur, eines Tableaus oder einer Szenografie einnehmen und wie die Wahrnehmung des Auftrittskontexts durch ihre Anwesenheit beeinflusst wird. Nebenfiguren werden innerhalb von Konstellationen etabliert und ihrerseits eingesetzt, um Konstellation zu modellieren: als Respondierende oder Kommentierende, als Instanzen der Intervention und immer wieder als Instanzen des Blickes. Sie konstituieren sich relational, sekundär und als Effekt einer Betrachtung, die nicht auf solitäre Akteure, sondern auf eine je spezifische repräsentationale Ordnung gerichtet ist, an der Nebenfiguren durch ihre Auftritte Anteil haben.

RECHERCHEN 171 Nebenfiguren Herausgegeben von Stefanie Diekmann und Dennis Göttel 268 S., 22 € (Print oder digital)

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Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. ­Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 17.2. Zirkuskunst in Berlin um 1900, Chamäleon Berlin 16.6. SPUREN. Stücke aus Afrika africologneFESTIVAL, Köln

Bücher in Vorbereitung Klaus Zehelein: Autobiographie Schwerpunkt Marionette Weltempfänger Peter Carp Matthias Warstat: Interventionen politischen Theaters Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

Wie kleine Spielstätten und sogar eine Galerie im Theater entstanden Wiederaufbau und Rekonstruktion des Karl-Marx-Städter Schauspielhauses 1976–1980 Von Annette Menting

Vorplatz am Schauspielhaus Chemnitz, 2023

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Anstelle des kleinen Eingangs am Altersheim sollte das Schauspielhaus mit dem Wiederaufbau einen markanten Zugang bekommen; Rudolf Weißer akzentuiert diesen in besonderer Form: Er beginnt bereits mit der Gestaltung eines neuen Vorplatzes, denn der neue Theatereingang sollte „ins Blickfeld treten und dementsprechend nach vorn gezogen werden“, erklärte der Architekt. „Eine kleine runde, drei Stufen angehobene Vorfläche, begrenzt von einer geschwungenen Porphyrwand mit Vordach, bildet die Eröffnung, von der aus das Theater erschlossen wird, sowohl vom Park als auch von der Zieschestraße aus.“1 So entstand ein Ort des Ankommens und Verweilens, der sich mit seiner Rundform in verschiedene Richtungen orientiert. Der Vorplatz wird zur Hälfte von geschwungenen Wänden eingefasst, die sich aus der schrägverlaufenden Eingangsfassade entwickeln. Das Abweichen von den orthogonalen Bauformen findet sich nur im Eingangsbereich und hebt ihn als besonderen Ort hervor. Zugleich korrespondieren Platzfigur und Wandelemente mit dem Bild von Spielfläche und Kulissen.2 Dieser intime Platz unterscheidet sich deutlich von dem urbanen, repräsentativen Theaterplatz des frühen 20. Jahrhunderts im Stadtzentrum und schafft mit seiner einladenden Gestalt und angenehmen Proportionierung einen qualitätvollen Ort, der auf die Lage am Park reagiert. Weißer hatte sich dieser Situation besonders gewidmet und so einen Kontrapunkt zum dominanten Bühnenturm gestaltet. Der Materialwechsel zu rot-grauem Porphyr unterstützt die Akzentuierung gegenüber dem Sichtbeton-Turm und den Putzfassaden der übrigen Anbauten. Außer dem Vorplatz konnten auch mit einem Gartenhof neue Außenanlagen entstehen, da der frühere, behelfsmäßige Dekorationslager-Schuppen abgebaut war. Dieser Garten diente dem Publikum während der Spielpausen und den Theatermitarbeitern während der Produktionspausen. Mit dem Betreten des Foyers gelangte das Publikum in ein Raumkontinuum,

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Foto theaterraum. Menting, Fotograf Louis Volkmann

Publikumsbereiche: Außenräume und multifunktionales Foyer


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das den Saal an drei Seiten umgab und verschiedene Funktionsbereiche aufnahm: Kasse, Empfang, Garderobe, Pausenfoyer; und als neues Angebot gastronomischer Publikumsversorgung war ein Imbissraum entstanden. Die Konzeption eines Foyertheaters und eines Ausstellungsfoyers erklärt sich aus der künstlerischen Praxis des Ensembles: Mit dem Hinweis auf die jüngsten Erfahrungen in der Interimsspielstätte theater oben wurde ein weiterer Spielort für das Theater in die Aufgabenstellung eingebracht. Der Wunsch nach einer Experimentierbühne entsprach dabei den zeitgenössischen Tendenzen. Und so resümiert das Institut für Kulturbauten später: Fast alle Schauspielbühnen haben sich in Eigeninitiative diese zusätzliche Spielmöglichkeit geschaffen. Dabei wurden Kellerräume, Foyers, Probebühnen oder andere geeignete Räume mit einfachen technischen Mitteln ausgerüstet und unkonventionell hergerichtet. Diese Spielstätten mit ihrer intimen Atmosphäre erfreuen sich nicht nur bei uns, sondern international großer Beliebtheit. Wahrscheinlich deshalb, weil die gewünschte Kommunikation zwischen Schauspieler und Publikum schneller zustande kommt und intensiver erlebt wird.3 Das Foyertheater befand sich im Übergang von Eingangs- und Ausstellungsfoyer – als ein Raumbereich, der mittels variabler Anordnung von Podium und Zuschauerplätzen unterschiedliche Konstellationen ermöglichte: vom Vis-à-vis der Darstellenden und des Publikums bis zur Anordnung mit zentralem Podium und dreiseitig umgebenden Zuschauerplätzen. Über zusätzliche Deckenleuchten, die in der Lamellendecke integriert waren, konnten die verschiedenen Spielsituationen beleuchtet werden. Das Ausstellungsfoyer konnte anstelle des früheren Eingangsfoyers an der Saalrückseite entstehen, da die neuen Saalzugänge an die Längsseiten verlegt und die Saalrückwand geschlossen waren. So entstand ein großzügiger Galerieraum mit Hänge- und Aufstellflächen für bildnerische Arbeiten. Während in anderen Theater- und Kulturbauten an dieser Stelle oftmals großformatige, architekturgebun-

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dene Kunst dauerhaft installiert war, wurden in dieser Kleinen Galerie Wechselausstellungen gezeigt. Diese Programmierung geht auf den Austausch von Schauspieler:innen und bildenden Künstler:innen seit Anfang der 1970er-Jahre zurück. „Im alten Haus gab es bereits Ausstellungen, also schon vor dem Brand. Peter Sodann und Dietmar Huhn haben seit etwa 1972 diese Ausstellungen gemacht; nach 1975 hat Huhn die Galerie im Foyer bis 1990 allein fortgeführt.“4 Dietmar Huhn war seit 1970 in Karl-Marx-Stadt engagiert. 1971 kam Peter Sodann an das Theater – er hatte die Galerie-Idee vom Erfurter Theater mitgebracht. Die Kleine Galerie im früheren Eingangsfoyer organisierten die beiden Schauspieler zunächst gemeinsam, bis Sodann 1975 als Schauspieldirektor ans Magdeburger Theater wechselte und Dietmar Huhn die Galerie, bis zu seinem Wechsel an die Volksbühne 1990, allein weiterführte. „Es war die beste Ausstellungsmöglichkeit im Bezirk“, sagt Dietmar Huhn. In der ersten Ausstellung wurden Arbeiten von Lutz Voigtmann gezeigt, der 1967 bis 1974 am Städtischen Theater in Karl-Marx-Stadt als Leiter des Malsaales und ab 1974 freischaffend als Künstler tätig war. Dietmar Huhn pflegte Verbindungen zu bildenden Künstler:innen in Karl-Marx-Stadt wie zu den Clara Mosch-Künstlern Thomas Ranft und Michael Morgner. Die Künstler trafen sich im Theaterclub an der Carolastraße und durch die Foyer-Ausstellungen auch im Theaterhaus. Die Kleine Galerie, die sich im alten Haus entwickelt und etabliert hatte, wurde somit als Programm für das neue Schauspielhaus übernommen.5

Parallelproben zur Hauptbühne und eine bessere Ausnutzung der Probezeiten möglich waren. Dem Eingang zur Probebühne wird durch eine geschwungene, porphyrbekleidete Wand, die sich auf Materialität und Formensprache des Haupteingangs bezieht, ein architektonischer Akzent verliehen. Seit Frühjahr 1989 wurde die Probebühne gelegentlich auch als zusätzlicher Spielort genutzt für experimentelle, kleine Stücke genutzt – so beispielsweise Tadeusz Różewicz‘ „Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung“ in der Regie von Martin Meltke. T

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Albert/Bräutigam/Franke: „Der Wiederaufbau des Schauspielhauses in Karl-Marx-Stadt“, 1978, S. 19. Zum Entwurf der Eingangssituation fand ein Austausch zwischen Rudolf Weißer und Peter Koch statt: „Er war schon angefangen. Und ich habe gesagt: Machen Sie die Wände doch wie eine Kulisse um den kleinen Vorplatz, da könnte man vielleicht später sogar mal einen Anbau, ein Café, anschließen. Da hat er das Modell gebaut und meinte, das können wir so machen.“ Vgl. Koch: Der Architekt im Gespräch, 9.2.2024. Bräutigam/Sonnenberg/Zimmermann: Bühnentechnik, 1982, S. 16. Hartwig Albiro im Gespräch, Kapitel 7.1 dieser Publikation. Huhn, Dietmar: Telefonat mit der Autorin am 9.5.2022, unveröffentlichte Transkription.

Probebühne Ein für die Theaterarbeit wichtiger Raum entstand mit der Probebühne im neuen Magazinanbau. Der etwa 10,70 mal 11,80 Meter große Raum war zwar im Verhältnis zur Hauptbühnengröße als Probebühne zu klein, doch glich seine Lage unmittelbar am Schauspielhaus diesen Mangel aus und war ein großer Gewinn gegenüber der früheren externen Probebühne. Das neue Raumangebot verbesserte die Produktions- und Arbeitsbedingungen, da

Annette Menting Schauspielhaus Chemnitz. Zwischen Zeiten und Räumen Verlag Theater der Zeit Berlin 2025 256 S. mit Abb., € 38

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Magazin Bericht

Anlaufstelle Internationalität Thomas Engel, scheidender Direktor des Internationalen Theaterinstituts Deutschland, im Gespräch mit Yvonne Büdenhölzer

1988 habe ich nach der Promotion als Theaterdramaturg gearbeitet und ein ehemaliger Kommilitone fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mich auf seine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu bewerben. Das habe ich gemacht und erlebte dann zum Ende der DDR eine ziemlich interessante Phase. Ich kam zwar nicht als sogenannter Reisekader in Betracht, habe aber ständig interessante Leute getroffen, insbesondere aus Skandinavien und den USA, die im DDR-Theater den politischen Umbruch erleben wollten. Und wie hast du die Zusammenführung von Ost- und West-ITI erlebt? TB: Konkret gar nicht, ich war wieder am Theater, als Dramaturg. Ehemalige persönliche Mitglieder des DDR-ITI wurden 1991 per Zuwahl ins gesamtdeutsche ITI aufgenommen, das ist aber ein Kapitel für sich. Ich habe mich ein Jahr später beim neu eingestellten ITI-Direktor beworben, ein Österreicher namens Peter Knotz. Knotz war der Meinung, dass ein Ostdeutscher und ein Österreicher im westdeutschen ITI vielleicht funktionieren könnten.

Thomas, du kamst 1988 zum ITI, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Zentrum des Internationalen Theaterinstituts in der DDR und ab 1992 am gesamtdeutschen ITI, dessen Geschäftsführender Direktor du seit 2003 bist. Mich interessieren deine ersten Erfahrungen im DDR-ITI. TB: Ich habe mit dem ITI schon 1983 beim 20. Weltkongress in Ost-Berlin meine ersten Erfahrungen gehabt. Als Studenten der Theaterwissenschaft an der HumboldtUni haben ein paar von uns als Hilfskräfte beim Kongress gejobbt und fanden diese Veranstaltung grundlangweilig und theaterfern. Aber wir trafen interessante Leute, u. a. den damals jüngsten Intendanten der Bundesrepublik, Manfred Beilharz.

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Das ITI ist die Stelle, die transnationale Informations- und Beratungsarbeit für Künstler:innen leistet. Wer sind momentan die Zielgruppen des deutschen ITI? TB: Nach wie vor Menschen, die nach Deutschland kommen, sich für Theater in Deutschland interessieren, hier vielleicht arbeiten und leben wollen und für die wir eine persönliche Anlaufstelle bilden. Gleichzeitig auch für diejenigen, die von Deutschland aus international Kontakte suchen. Digitalität ist dabei eine Chance; Informationen stehen immer zur Verfügung und es braucht weniger Reisemittel, um miteinander ins Arbeiten zu kommen.

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Foto Tom Sachs

Thomas Engel, scheidender Direktor des Internationalen Theaterinstituts Deutschland, und Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Suhrkamp Theaterverlag und Präsidentin des ITI – Zentrum Deutschland

Werfen wir einen Blick auf unsere von Polykrisen geprägte Gegenwart. Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen für das ITI? TB: Dass wir 70 Jahre zurückgeworfen sind, dass der Gründungszweck des ITI, den Krieg aus den Köpfen rauszukriegen, so essenziell geworden ist. Und wir sind eine multi- und transkulturelle Einwanderungsgesellschaft geworden, die die gesamte Internationalität im Brennspiegel abbildet.


Magazin Bericht Wo liegen aus deiner Sicht die Schwerpunkte in der europäischen bzw. weltweiten Vernetzung? TB: Man muss persönliche Kontakte halten, muss sich Arbeitsfelder und Themen suchen, die man gemeinsam bearbeitet. Es ist eine Riesenchance, dass das ITI als weltweites Netzwerk nicht nur die Hotspots bedient, sondern vor allen Dingen auch die Areale und Regionen, die nicht im Zentrum stehen. Und in den meisten Ländern sind nicht Topinstitutionen und repräsentative Staatsgebilde im ITI, sondern Freie Theater, unabhängige, manchmal private Kulturinstitutionen, Leute, die den Freiraum haben, nicht als staatliche Repräsentant:innen agieren zu müssen. Der Hauptvorteil des ITI ist, dass es in politischen Eiszeiten immer Türen aufhalten und informelle Kanäle schaffen und pflegen konnte. Diese geschützten Neben- und Hintertüren sind entscheidend, weil sie Alternativen zur offiziellen Politik sein können. Du hast als Direktor mit deinem Team zahlreiche Projekte realisiert. „Theatre in Conflict Zones“, „Deconfining“, „My Unknown Enemy“, um nur einige zu nennen. Was ist aus deiner Perspektive wichtig für eine zeitgemäße Weiterentwicklung dieser Projekte? TB: Wir operieren ja zu 100 Prozent auf Projektbasis, müssen laufend Projekte entwickeln, beantragen, abrechnen. Was sich dabei auszahlt, ist, einen langen Atem zu haben. Keine Strohfeuer, die nach einem Jahr verbrannt sind. Wir haben es geschafft, Projekte strategisch aufeinander aufzubauen und daraus mit den beteiligten Menschen einen dynamischen Gesamtorganismus zu schaffen, der sich gegenseitig stützt, voran-

bringt, befruchtet und damit trotz Projektitis auch ein kompetentes soziales Gebilde ist. Hast du ein Lieblingsprojekt? TB: „My Unknown Enemy“ war so ein Glücksfall, aus dem dann später das ständige ITI-Forum „Theatre in Conflict Zones“ wurde. Gestartet haben das Alexander Stillmark, Nora Amin und ich kurz nach dem 11. September 2001 als Begleitprojekt zu Theater der Welt 2002. Da zeichnete sich zum ersten Mal dieser globale NordSüd-Riss bei internationalen Theaterbegegnungen ab. Für uns war zu diesem Zeitpunkt wichtig, diese bequeme Idee von der unpolitischen Welt-Theater-Familie nach dem zu befragen, was uns vielleicht trennt. Die verschütteten Feindbilder zum Thema künstlerischer Recherchen zu machen. Diesen Konflikt dann an einem dritten Ort zu thematisieren und in Proben und Diskussionen auszutragen, auf belastbare Konflikthaftigkeit zu insistieren, fand ein gutes Echo. Über Theater der Welt 2005 haben wir das Projekt bis in den Sudan getragen. Dieses ITI-basierte internationale Festival hat sich immer weiterentwickelt, transformiert. Wir hatten mit Chiaki Soma zum ersten Mal eine außereuropäische Kuratorin. Wir werden 2026 in Chemnitz ein kuratorisches Team haben, das aus acht unterschiedlichen Regionen bestehen wird und multiglobale Perspektiven mitbringt (siehe TdZ 12/2024). Was ist aus deiner Sicht wichtig, um Theater der Welt in die Zukunft zu führen? TB: Theater der Welt muss in die Provinz. In den achtziger und neunziger Jahren hat es Internationalität in die großen Theatermetropolen geholt. Inzwischen haben sich transkulturelle Stadtgesellschaften mit

sehr diversen kulturellen Angeboten entwickelt. Diese Entwicklung fehlt in den kleineren und mittleren Städten. In Zeiten der Fremdenfeindlichkeit und Klaustrophobie, die mit der Globalisierung einhergeht, ist das eine Riesenaufgabe. Finanziell ist Theater der Welt eine Herausforderung, weil einer solchen Stadt nicht die Mittel zur Verfügung stehen, die Stuttgart, München oder Hamburg hat. Dafür braucht es eine andere Lastenverteilung und an dem Brett bohren wir schon eine Weile. Zum Ende des Jahres wirst du nach 32 Jahren das ITI verlassen und Juliane Zellner wird als neue geschäftsführende ­ Direktorin deine Nachfolge antreten. Ich habe mir als Präsidentin des ITI 2022 das Ziel gesetzt, den Vorstand, diverser, jünger und weiblicher zu machen. Was wünschst du dem ITI? TB: Dass wir unsere ITI-Akademie, mit einer jüngeren Mitgliedschaft, weiter voranbringen. Ein Wechsel zwischen Generationen mit unterschiedlichen Prämissen, anderen Lebensbedingungen, Lebenserfahrungen, Weltsichten, ist kein Selbstläufer. Und das ITI ist nicht per se attraktiv, nur weil es weit über 70 Jahre alt ist. Man muss sich weiterhin permanent überlegen, wie sich diese Institution, die ja auch ein großartiges Labor ist, immer wieder häuten und neu erfinden kann. T

Yvonne Büdenhölzer leitet den Suhrkamp Theaterverlag und ist Präsidentin des ITI – Zentrum Deutschland.

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Demnächst

Zeitgenössische Theaterformen | Film | Performancepraktiken

07. Januar 2025 | ADK Foyergespräch »Zur Situation der Theatermachenden in Russland« Mit Emil Kapeliush und Marina Solopchenko

Schauspiel

(Bachelor of Arts)

Regie

(Bachelor of Arts)

Dramaturgie

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31.O1.2O25 www.adk-bw.de

O9.O3.2O25 Änderungen vorbehalten

(Master of Arts)

31.O3.2O25

↓ Mehr Infos

13. Januar 2025 | »Montags an der ADK« »Inklusion im Theater – Kulturelle Teilhabe vor, auf und hinter der Bühne« Mit Matthias Nagel und Frederic Lilje (Theater JES, Stuttgart) 18. Januar 2025 (Premiere) | Schauspiel Stuttgart Nord »I LOVE HORSES (genau wie michael kohl haas)« Regie: Merle Zurawski, Bachelorarbeit


Magazin Bücher

Anfangszeiten der Inklusion Das autobiografische Buch der RambaZamba-Gründerin Gisela Höhne Von Christine Boyde

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Gisela Höhne hat das erste inklusive Theater RambaZamba und die Kunstwerkstatt SONNENUHR e. V. (Vereinsgründung gemeinsam mit Klaus Erforth) im Berliner Osten begründet. In Asien werden die Kinder mit Trisomie 21 „Sonnenkinder“ genannt. Die Autorin legt ein außergewöhnliches Buch ihrer Lebensgeschichte mit ihren zwei Söhnen Moritz und Jacob vor – einem Leben zwischen Abgründen und Lichtblicken. Sie schreibt beeindruckend authentisch, einfühlsam und aufrichtig. Das erste Kapitel, der 1. Akt: die „Geburt des Prinzen; ein Hexenkind“, beschreibt die Geburt des Sohnes Moritz (ein gemeinsames Kind mit Regisseur Klaus Erforth) im Jahr 1976 als einen alles verändernden Schicksalsschlag. Es ist ein Kind mit dem sogenannten Down-Syndrom. Gisela Höhne muss ihren Beruf als Schauspielerin aufgeben, studiert Theaterwissenschaft, wird Regisseurin und Theaterleiterin. „Prinz Weichherz“ heißt 1991 ihre erste Inszenierung. Moritz lehrt sie ein anderes ­Sehen, fordert Geduld ein und viel, viel Zeit. Gisela Höhne nimmt die Lesenden mit auf ihre Entdeckungsreise, schult den anderen Blick, der die Perspektive ändert. „Die Mühen der Ebenen“ beim Aufbau des Vereins und des Theaters werden eindrücklich beschrieben. Alles war Neuland und nur möglich in der Zeit des Umbruchs 1989/90. In einer Zeit „des nicht mehr und noch nicht“. Das Buch ist ein wichtiger Baustein der Erinnerungskultur. Und zugleich beschreibt es ganz persönlich die Emanzipation der Frau Gisela Höhne. Gut, dass sie den Mut, die Kraft und die Ausdauer dazu hatte. Es ist eine sehr persönliche Bereicherung von Lebens- und Theatergeschichte. Der Untertitel „Theater und Leben zwischen Tiefen und Höhen“ ist sehr treffend. Die Widmung auch in Dankbarkeit und Demut geschrieben. „Ich widme dieses Buch den Schauspielern des Theaters RambaZamba, meinen beiden Söhnen, die mich auf so unterschiedliche Weise lebendig halten …“ Auf diese Weise erfahren wir, was sie alle und das Theater geprägt hat. Dieses erzählende Theaterbuch ist nicht in Kapitel geteilt, es ist zu Recht in Akte und Zwischenspiele gegliedert. Sehr präzise schildert Gisela Höhne die Entwicklung des Theaters, die Inszenierungsarbeit, die Arbeit mit den Schauspieler:innen und die Widerstände. Ihre Leistung auf diesem Spezialgebiet des Theaters ist nicht hoch genug zu schätzen. Das Besondere dieser Erfahrungen wird geprägt durch die Macher:innen,

durch ihre Sicht auf die Dinge des Lebens, die sich fokussiert auf das Wesentliche. Es bedarf Geduld, einen anderen Umgang mit Zeit, Empathie und Verständnis. Die Arbeit mit Menschen mit einer anderen geistigen Orientierung oder einer körperlichen Beeinträchtigung ist eine Schule fürs Leben: Jeder Mensch ist es wert, dass ein Buch über ihn geschrieben oder ein Film über ihn gedreht wird und jeder Mensch verdient Achtung und Anerkennung. Im Sinne von Beuys ist auch jeder Mensch ein Künstler. Im Theater RambaZamba und in der Kunstwerkstatt SONNENUHR erlebt das Publikum außergewöhnliche Momente, die berühren, ohne anzurühren, eine ungewöhnliche Sinnlichkeit, einen direkten Dialog und eine Entschleunigung. Es ist eine Gabe, so ein Theater zu machen, und eine außergewöhnliche Leistung. Es ist harte Arbeit mit einem großen Gewinn. Dieses Buch macht Mut, wieder Visionen zu entwickeln, Hoffnung zu schöpfen; die Zeit nach der Sonne zu richten und das „Unperfekte“ zu lieben, das Leben zu lieben. Dieses Buch ist auch theatergeschichtlich in Deutschland ziemlich einmalig, beschreibt es doch die Ent­ stehung und Entwicklung, den Erfolg und das Sein des inklusiven Theaters RambaZamba als geglückten Modellversuch. T Gisela Höhne: Dann mit RambaZamba. Theater und Leben zwischen Tiefen und Höhen (mit Fotos von Sibylle Bergman), Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 352 S., € 24

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Theater der Zeit 1 / 2025


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Autorinnen / Autoren 1 / 2025 Franziska Benack, Dramaturgin, Cottbus Christine Boyde, Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, Berlin Yvonne Büdenhölzer, Leiterin Suhrkamp Theaterverlag, Berlin

Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing, Stefan Keim, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Dimitra Theodoraki-Krönung (Hospitanz) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Freda Fiala, Performance-Researcher und Kuratorin, Wien

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de

Juliane Voigt, Kritikerin und Autorin, Stralsund

Thomas Flierl, Architekturtheoretiker und Kultursenator a.D., Berlin Anne Fritsch, Kritikerin, München Volker Gebhart, Autor, Düsseldorf Yaël Koutouan, Theaterwissenschaftlerin und Kritikerin, Mainz Tom Mustroph, Journalist und Kritiker, Berlin Iwona Nowacka, Übersetzerin, Szczecin Ronja Oehler, Schauspielerin, Bielefeld Marie Schleef, Regisseurin, Berlin Wolfgang Schneider, Prof. em., Hildesheim

Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 80. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2025. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 04.12.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit

Vorschau 2 / 2025

Foto Florian Thoss

tdz.de

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2025 Im Februar jährt sich die russische Totalinvasion in der Ukraine zum dritten Mal. Das ukrainische Künstler:innenkollektiv Prykarpattian Theater hat mit seinem Projekt „Theater of Hopes and Expectations“ auf die Frage, welche Kunst in Zeiten des Krieges angemessen ist, mit einem Haus für vor dem Krieg geflohene Menschen in Deutschland und der Ukraine konkret geantwortet. Wir stellen das Projekt im Kunstinsert vor.

Theater der Zeit 1 / 2025

Außerdem ein Porträt der Schweizer Dramatiker:in Leonie Lorena Wyss, derzeit Hausautor:in am Nationaltheater Mannheim und dort u. a. mit der Schiller-Fortschreibung „Räuber*innen“ beschäftigt.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Elisabeth Maier

Politiker bieten immer wieder großes Theater, in Österreich entwickelt sich das aber, wie Sie es in „Die Chronik der laufenden Entgleisungen“ formulieren, seit Sebastian Kurz zur Satireshow. Wie lässt sich das erklären? THOMAS KÖCK: Durch die landesbedingte sehr enge Verflechtung von Medien und Politik, einem Haberertum, wie es in Österreich heißt, parteipolitische Kaderschmieden, die einen Typus von Politiker:innen produzieren, die nicht mehr repräsentieren (außer sich selbst), sondern funktionieren, und natürlich den Wunsch bestimmter Parteien, demokratische Institutionen lächerlich zu machen und sie dadurch zu delegitimieren. Das ist ja das erklärte Ziel rechtsextremer Parteien. Das Buch bietet eine Analyse, wie es zum Aufschwung der Rechten kommt. Was hat fehlendes Klassenbewusstsein damit zu tun? TK: Alles eigentlich – es sind nicht nur Rechtsextreme, die zum Aufschwung kommen, sondern autoritäre neo- oder anarcholiberale Überzeugungstäter:innen wie jetzt in den USA – das ging immer Hand in Hand. Die gesellschaftlichen Widersprüche wurden spätestens mit dem dritten Weg der europäischen Sozialdemokratien nicht mehr politisiert, alle schworen sich darauf ein, dass es nur noch eine Klasse gäbe und überall dort, wo die demokratische Marktwirtschaft auftritt, über kurz oder lang alle gesellschaftlichen Widersprüche verschwinden würden.

Thomas Köck ist einer der wichtigen politischen Dramatiker im deutschsprachigen Theater. Er wurde 1986 im oberösterreichischen Steyr geboren. Köck wurde durch Musik sozialisiert, studierte dann Philosophie in Wien und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. 2018 und 2019 gewann er den Mülheimer Dramatiker:innenpreis. In dem Buch „Die Chronik der laufenden Entgleisungen“ hat er ein Jahr vor den Nationalratswahlen in Österreich die politischen Ereignisse dokumentiert. An den Münchner Kammerspielen ist seine Inszenierung von „proteus 2481“, ein Satyrspiel von Aischylos, zu sehen.

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Mit dem Ibiza-Skandal und anderen Entgleisungen ist Österreich ein Sonderfall. Betrachtet man aber die Politik in Europa, tun sich Parallelen auf. Wie weit ist Österreich da eine Blaupause für das, was auf Europa zukommt? TK: Das ist vielleicht zu viel der österreichischen Ehre – was sich allerdings beobachten lässt, ist, dass die Idee demokratischer, europäischer Gesellschaften aus dem 20. Jahrhundert in einem Wandel begriffen ist. Und das ist für viele Menschen auch nicht nachvollziehbar, weil die demokratische Marktwirtschaft lange Jahre als das Ende der Geschichte gepriesen wurde. Und das waren Strukturen, die aus der Erfahrung von Krieg, Zerstörung, Flucht, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Armut rührten – und die Idee von Teilhabe und Umverteilung resultierte aus diesen Erfahrungen.

Mir scheint, dass da mittlerweile nicht mehr viel historisches Bewusstsein übrig ist. Das ist dann schon wieder sehr österreichisch. „Das würde Dir doch auf der Bühne kein Mensch mehr glauben“, ist im Buch zu lesen. Stößt da das Medium an Grenzen? TK: Trump etwa ist ja seine eigene Farce, dem kannst du dann schlecht auf der Bühne mit einer Farce als Korrektiv, als Überzeichnung und Überhöhung begegnen. Da liegt alles auf der Hand. Was mich mehr beschäftigt, ist die Frage, wen man wie adressiert bekommt und wer überhaupt noch zuhört. Und worauf. Eine zersplitterte und nach allen Richtungen erregte Gesellschaft, in der alle in Konkurrenz zueinander stehen und sich nur noch an ihren Ellbogen orientieren, macht mir größere Sorgen. Ich sehe all die Clowns eher als Symptome einer Zeit, die keine Lösungen mehr sucht, sondern die Eskalation in alle Richtungen. Als regieführender Autor sind Sie eine der wichtigsten Stimmen der politischen Dramatik. Die Klimakatastrophe ist ein Leitthema. Motive aus der Antike denken Sie in unser Heute weiter. Was lässt sich aus der Vergangenheit für das heutige Theater lernen? TK: Seit 2300 Jahren ist bekannt, wie Demagogen und aufstrebende Tyrannen demokratische Wahlen gewinnen, wird über Gefühle, ihren Missbrauch und Politik gesprochen – gelernt haben „wir“ daraus offensichtlich nicht viel. Deshalb weiß ich nicht so recht, wie das mit den Lehren aus der Vergangenheit so ist. Ich mag es, in der Vergangenheit zu graben, aber eher um für die Zukunft etwas abzuleiten und die Geschichte neu zu denken. Da interessiert mich eigentlich immer zu schauen, was so auf der Strecke geblieben ist – denn Geschichte wurde schließlich geschrieben meistens von den Sieger:innen, insofern kann sie auch umgeschrieben werden. Und Theater wurde nun mal unter freiem Himmel gespielt, dabei wurden Gött:innen herbeigesungen und singende, tanzende Geister hereingerufen, im Satyrspiel gab es Chöre als Protagonisten, die in die Handlung eingriffen. Wer die Welt aus der Bühne ausklammert, darf sich nicht wundern, wenn irgendwann die Welt, die verhandelt werden soll, nicht mehr mit der Welt zusammenkommt, die verhandelt werden will. T

Theater der Zeit 1 / 2025

Foto Max Zerrahn

Was macht das Theater, Thomas Köck?


Die Glasmenagerie

� BASEL

Schauspiel Ab 30.1.2025

Inszenierung: Jaz Woodcock-Stewart

theater-basel.ch/ dieglasmenagerie


Bunt, unterhaltsam, gelegentlich ernst, manchmal laut, manchmal leise – in jedem Fall vielfältig: Mehr als 1000 Veranstaltungen wird das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 umfassen. C YOU IN CHEMNITZ 2025!


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