Theater der Zeit Ukraine Theater zwischen Krieg und Exil
Mit
Anastasiia Kosodii Stas Zhyrkov Prykarpattian Theater Noam Brusilovsky Rabih Mroué Simone Saftig Hannah Stollmayer Heiner Müller
Februar 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de
Vielstimmigkeit der Dramatik Porträt Leo Lorena Wyss
Foto Christian Kleiner
Theater der Zeit Editorial
Der Essay der ukrainischen Dramatikerin und Regisseurin Anastasiia Kosodii auf S. 18
Mit den Wahlen am 23. Februar steht auch in der Kulturpolitik viel auf dem Spiel. Die Ausrichtung der einzelnen Parteien ist indes nicht immer klar definiert und umfassend bekannt. Beim Bündnis BSW wusste man lange nicht, für welche Art von Kulturauffassung die neue Links-Partei überhaupt steht. Ihr kulturpolitischer Sprecher in Sachsen ist der ausgebildete Opern regisseur und Musikwissenschaftler Ingolf Huhn, der drei Theater in diesem Bundesland als Intendant leitete. Das würde man eine einschlägige Fachkompetenz nennen, wie sie selten in Parteien anzutreffen ist. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, denn die Positionen des BSW in Sachen Kultur bewegen sich noch in einer Phase der Ausdifferenzierung und können dabei regional recht unterschiedlich ausfallen, wie TdZ-Sachsen-Redakteurin Lara Wenzel feststellt. Auch beim Thema Ukraine fallen Meinungen und Beurteilungen zunehmend auseinander. Was vor allem in der Berichterstattung deutscher Medien in letzter Zeit auffällt: Kultur kommt nicht vor, geschweige denn das Theater.
Theater der Zeit 2 / 2025
Im Schwerpunkt sprechen der Regisseur Stas Zhyrkov und die Dramatikerin Anastasiia Kosodii über die schwierigen Bedingungen des Theatermachens dort und ihre Exilerfahrungen hier. Zhyrkov erinnert zudem an die Geschichte des ukrainischen Regisseurs Andrij Zholdak, der vor 20 Jahren das Land unter Druck verließ. Einst die größte Hoffnung eines neuen ukrainischen Theaters war er zugleich einer der kontroversesten Regisseure mit seinen Schönheit und Gewalt auf extreme Weise verbindenden Inszenierungen. Heute arbeitet Zholdak, der seit Langem in Berlin lebt, vor allem im internationalen Musiktheater. Hannah Stollmayers Zeitenwende- Essay thematisiert die Proteste in Georgien und zieht als Schlussfolgerung für ihren Beitrag in dieser Serie, dass es eine Dramaturgie der Solidarität geben müsse. Die georgische Theaterszene hat in den letzten Jahren eine kleine Blütezeit erlebt, trotz finanzieller Härten und auch rasanter politischer Auseinandersetzungen in dem Land am Kaukasus. Dort weiß praktisch jede und jeder, was langfristig und insgesamt auf dem Spiel steht. Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de Thomas Irmer
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Theater der Zeit
Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil 12 Gespräch Alles total anders
Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov im Gespräch mit Thomas Irmer
18 Essay Solidarität und Waffen Exil und Theaterarbeit – Erfahrungen einer ukrainischen Dramatikerin Von Anastasiia Kosodii
Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier unter tdz.de/ukraine Dominika Hebel in „Apropos Schmerz (Denken Sie an etwas Schönes)“ von Leo Lorena Wyss. Regie Caroline Anne Kapp am Nationaltheater Mannheim
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Theater der Zeit 2 / 2025
Foto links oben Apollonia T. Bitzan, links unten Christian Kleiner, rechts Lukas Marvin Thum
Franz Beil, Milan Peschel, Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Rosa Lembeck in „Der Schnittchenkauf“ von René Pollesch an der V olksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Inhalt 2 / 2025
Akteure 22 Kunstinsert Der Notfall als Prinzip Wie ein „Theater“ zur transformativen Kulturinstitution wurde Von Elisabeth Bauer
28 Porträt Angst und Schmerz kriechen aus jeder Silbe
Stück
Ästhetik und politischer Aktivismus: Mit Sprachkunst zelebriert Leo Lorena Wyss die Vielstimmigkeit der neuen Dramatik Von Elisabeth Maier
36 Stückgespräch Von Tiefseeterror und Mega-Mamas
35 Nachruf Ermöglicher riskanter Kunst Nachruf auf den legendären Chemnitzer Regisseur und Schauspielleiter Hartwig Albiro Von Hasko Weber
Diskurs & Analyse 54 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Dramaturgie der Solidarität Von Hannah Stollmayer
Simone Saftig über ihr Stück „Modern Mermates“, Weiblichkeitsvorstellungen unter Wasser und Schreiben als Literaturwissenschaftlerin Im Gespräch mit Lara Wenzel
39 „Modern Mermates“ Von Simone Saftig
Magazin 4 Bericht Kunstfreiheit, Kürzungen und UkraineUnsolidarität Von Lara Wenzel
6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken
Report 58 Frankreich Existenzielle Melancholie „Quatre Murs et un Toit“ und „A little bit of the moon“, zwei Inszenierungen über Exil und Unbehaustheit von Rabih Mroué Von Eberhard Spreng
Von Sabine Leucht, Nathalie Eckstein, Stefan Keim und Otto Paul Burkhardt
8 Kolumne Krankheitsbedingt verschoben Von Noam Brusilovsky
66 Vorabdruck Zirkuskunst um 1900 68 Bücher Heiner Müllers Bilder-Schreibung Von Florian Vaßen
70 Bericht Jugend auf 16 GB Von Thomas Irmer
72 Was macht das Theater, Anne-Cathrin Lessel? Im Gespräch mit Michael Helbing
1 Editorial 71 Autor:innen & Impressum 71 Vorschau
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Ingolf Huhn, deutscher Regisseur, Theaterleiter und Politiker (BSW). Seit 2024 ist er Mitglied des Sächsischen Landtags
Kunstfreiheit, Kürzungen und UkraineUnsolidarität Die kulturpolitischen Positionen des BSW werden in Sachsen allmählich erkennbar Von Lara Wenzel
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Auch dort, wo man sie nicht wählen kann, blickt Sarah Wagenknecht von den Wahlplakaten. Das BSW hängt wie keine andere Partei am Charisma einer Frau und ihren polemischen Zuspitzungen. Spätestens seit den Landes- und Kommunalwahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist die im Herbst 2023 gegründete Partei jedoch gezwungen, sich in ihren Positionen auszudifferenzieren. In Kommunen und Ländern treten außenpolitische Forderungen notwendig in den Hintergrund, dafür muss sich das Bündnis in der Bildungs- und Kulturpolitik stärker profilieren. Im sächsischen Landtag übernimmt nun ein erfahrener Theatermann die Rolle des kulturpolitischen Sprechers. Als ehemaliger Intendant an drei Theatern im Freistaat ist Ingolf Huhn mit der Theaterlandschaft und ihren Problemen vertraut. Eines davon ist die Pleite, die den Theatern in Freiberg-Döbeln, Annaberg-Buchholz, Bautzen, Görlitz-Zittau und Chemnitz droht. Weil sich die im Kulturraumgesetz geregelte Landesförderung nicht automatisch an Preissteigerungen und Personalkostenaufwüchse anpasst, stehen die Häuser 2025 womöglich vor der Insolvenz. Um die Situation zu verbessern, fordert Huhn einen Umbau des Gesetzes: „Die zentrale Aufgabe ist, das
Kulturraumgesetz zu dynamisieren, also die zur Verfügung stehenden Mittel in Gleichklang mit den Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst jährlich zu erhöhen. Und damit verbunden muss sein, auch die Trägerkommunen und -landkreise in die Lage zu versetzen, ihren eigenen Anteil in gleicher Weise zu erhöhen.“ In ihren Programmen und Äußerungen verteidigt das BSW die Bedeutung der Kultur und der Kunstfreiheit und legt großen Wert auf die stabile Förderung ihrer Kulturinstitutionen. „Kunst ist sui generis eine Einrichtung des Diskurses; dies zu stärken wäre ein wichtiger Teil der Bemühungen um einen menschlicheren Umgang miteinander, für einen Zustand, der mit Brecht hieße: ‚daß der Mensch dem Menschen ein Helfer sei‘“, formuliert Huhn die Aufgabe der Kunst angesichts wachsender demokratiefeindlicher Einstellungen. Vor diesem Hintergrund überraschte im Dezember die Nachricht, dass das BSW in Leipzig einen Antrag einbrachte, um in der Freien Kultur zu sparen. 330 000 Euro Förderung sollten für die Kulturzentren Conne Island, Werk 2 und naTo im Haushalt gestrichen werden. Diese Orte, an denen Lesungen, Konzerte und Auf führungen der Freien Szene stattfinden, würden durch „ideologisch verengte Programmpolitik“ zur „gesellschaftlichen Spal tung“ beitragen, heißt es im Antrag. Mit scharfer Kritik antworteten Politiker:innen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke und betonten deren Bedeutung für die Demokratiebildung und die Freie Szene. „Gerade wer die Praxis der Cancel Culture anprangert, sollte doch ein Interesse daran haben, Kommunikationsräume für den Diskurs offenzuhalten“, kommentierte Mandy Gehrt (Die Linke) den Vorschlag. Ein paar Tage später ruderte die Fraktion zurück, aber auch der veränderte Haushaltsantrag, über den am 12. März entschieden wird, hält an Kürzungen fest. Begründet wird dies u. a. mit der „Cancel Culture“ die in den Institutionen gepflegt werden. Die Sorge um die „zunehmende Verengung des Meinungsspektrums“, so das Programm, zieht sich als Motiv durch die kulturpolitischen Forderungen. In Verteidigung der Kunstfreiheit warnt Huhn vor der Einführung einer Antidiskriminierungsklausel in Förderanträgen, wie sie für kurze Zeit in
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Foto picture alliance/dpa | Robert Michael
Magazin Bericht
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Wie sich die Versprechen von wirtschaftlicher Prosperität und einer gestärkten Theaterlandschaft in die Praxis übersetzen lassen, wird sich Antrag für Antrag zeigen. Berlin bestand. Dieses Bekenntnis gegen jegliche Form der Diskriminierung und für eine vielfältige Gesellschaft wurde aufgrund rechtlicher Bedenken bereits nach einem Monat wieder abgeschafft. Das BSW sieht in dieser Klausel eine „Verpflichtung auf politische Bekenntnisse“, die Künstler:innen eingehen müssten, um Förderung zu er halten. Im Interview mit dem mdr führt Huhn dazu aus, das würde „weit über das hinausgehen, was Bekämpfung von Anti semitismus ist“. Auf die Frage, wie mit Diskriminierung im Kunst- und Kulturbetrieb umzugehen sei, verweist Huhn im Gespräch mit Theater der Zeit auf die im Grundgesetz verankerten Rechte. In ihren kulturpolitischen Forderungen beruft sich das BSW auf den Schutz der Kunst- und Meinungsfreiheit. Dabei geht es besonders um den „Respekt vor der individuellen Freiheit“, die durch ein Fehlen von äußeren Zwängen bestimmt ist. „Maulkorb oder Meinung“, so der letzte Wahlslogan, sind die absoluten Pole, auf denen sich diese Idee von Freiheit bewegt. Diese Forderung schließt jedoch noch nicht ein, dass alle die Möglichkeit haben, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Im Gegenteil hat es das BSW zum Programm gemacht, eine Vergrößerung der Teilhabe an diesen Freiheiten als Nullsummenspiel darzustellen: Wenn andere etwas gewinnen, muss ich etwas verlieren und meine individuelle Freiheit einschränken. „Jede Unterstützung für Migranten oder die Ukraine lässt Wagenknecht als Trade-off erscheinen, der dem Staat die Mittel entzieht, in Schulen oder Bildung zu investieren“, beschreibt der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey diese Austeritätslogik. Dieser vom BSW inszenierte Kampf um Ressourcen und Privilegien ist in antiwestliche Ressentiments eingebettet: „In Äußerungen und Social-Media-Beiträgen des BSW fällt auf, dass sie beim Sprechen über
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die Ukraine immer wieder dasselbe Framing bedienen: Sie nennen die Ukraine korrupt und bezeichnen alle Parteien, die als Verbündete des angegriffenen Staates auftreten, als Kriegstreiber. So wiederholen sie systematisch russische Desinformationsnarrative“, erklärt der Soziologe Felix Schilk. Neben der Forderung, die Ukraine nicht mehr zu unterstützen, liegt der Fokus im Wahlprogramm auf der Stärkung der nationalen Wirtschaft. Kulturpolitik sei kein Thema, mit dem sich das BSW besonders profiliert, ordnet Schilk die junge Partei ein: „Bei dem BSW handelt es sich um eine neue und unübersichtliche Partei, die sich auf kommunaler, Landes- und Bundesebene noch ausdifferenzieren muss.“ Das Label des Linkspopulismus passt für Schilk jedoch nicht. Ihre Wahlkampfziele, Deutschland zu einem modernen, wettbewerbsfähigen Industriestaat und einer „gerechten Leistungsgesellschaft“ zu transformieren, wie es im Kurzwahlprogramm heißt, stehen dem Ordoliberalismus näher, meint der Sozialwissenschaftler. Ziel dieser liberal-konservativen Denkrichtung ist, die freie Entfaltung des Wettbewerbs zu sichern und Eingriffe demokratischer Institutionen in die Wirtschaft zu reduzieren. Wie sich die Versprechen von wirtschaftlicher Prosperität und einer gestärkten Kultur- und Theaterlandschaft verbinden und in politische Praxis übersetzen lassen, wird sich auf kommunaler und Landesebene Antrag für Antrag herauskristallisieren. Dass diese Kulturpolitik von einem Ideal individueller Freiheit bestimmt ist, in dem Gender-Sternchen als Bevormundung ausgelegt und die „Cancel Culture“ als Bedrohungsszenario geriert, zeigt sich schon jetzt. Damit bedient die Partei bewusst die Verlustängste, die im Kulturkampf von rechts auch von der AfD und Teilen der CDU geschürt werden. Sowohl Sarah Wagenknecht als auch Katja Wolf, die Thüringer Ministerin für Finanzen und stellvertretende Ministerpräsidentin, kündigten an, sich mit „vernünftigen“ Vorschlägen der AfD befassen zu wollen. In Leipzig brachten auch die CDU und die AfD Kürzungsanträge für die Freie Szene ein. Es bleibt abzuwarten, welche „vernünftigen“ Koalitionen sich im März bei der Abstimmung darüber ergeben. T
www.tobs.ch
Neue Körper am Ende der Welt Ein Sportstück Marion Rothhaar Regina Dürig
Ab 01.02.2025 Stadttheater Solothurn & Biel
DUNST von Benjamin Burger
Ab 11.2.2025, Uraufführung
„Leaks. Von Mölln bis Hanau“, Text und Regie von Nuran David Calis am Schauspiel Frankfurt
Schauspiel Frankfurt
Grimmiger Humor als Waffe „Leaks. Von Mölln bis Hanau“ von Nuran David Calis (UA) – Regie Nuran David Calis, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Anna Sünkel, Video und Recherche Karnik Gregorian
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ewalt von rechts wird in Deutschland noch immer verharmlost, das „Einzeltäter“-Narrativ nur variiert, während das Schüren von Ressentiments gegen Menschen migrantischer Herkunft und Geflüchtete inzwischen bei allen Parteien zum Alltagsgeschäft gehört. Also, dürfte sich Nuran David Calis gedacht haben, legen wir mal eine Schippe drauf und kapern das Interesse der Leute mit einem Format, das auch die Sesselpupser zu Hause am Wegdösen hindert. Auf die Bühne der Kammerspiele des Schauspiel Frankfurt kommt ein Mix aus Heute Show, zeigefingrigem Polit-Kabarett, Karnevalsitzung und Rocky-Horror-ClownsShow. Krass as krass can, und angerührt, um dem Publikum gehörig auf die Nerven zu gehen. Nun, zumindest das gelingt, denn Christoph Bornmüller, Katharina Linder, Viktoria Miknevich und Wolfgang Vogler schenken sich da nichts. Sie tragen in „Leaks. Von Mölln bis Hanau“ bunte Haare und Klamotten und viel weiße Schminke im Gesicht, und den Zustand ihrer Gebisse mit und ohne Goldzahn-Blitzen kann man in aller Ruhe überprüfen, denn das Dauergrinsen legen sie nur ab, wenn sie kleinkindlich quengeln oder pseudo-cool abtanzen. Ihr hässlicher Ritt durch die hässliche Geschichte des deutschen Nachkriegs-Rechtsradikalismus beginnt bei der Stunde null, und worum
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Deutschland 1945 warb, war „Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen“. Fünf Jahre später wird das BfV ins Leben gerufen, um die Demokratie wehrhaft zu machen gegen ihre Feinde von innen. Das ging nach hinten los! Fünf symmetrisch aufgebaute Screens zeigen Bilder etwa von Hans Globke, Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze und Chef des Bundeskanzleramts in Adenauers „schöner neuer Altherrenrepublik“, oder von dem ehemaligen NPD-Landesvorsitzenden Tino Brandt, der einen Teil des Geldes, das er beim Thüringer Verfassungsschutz verdiente, an Beate Zschäpe und ihre Uwes weitergeleitet hat. Auf einem Video sieht man den V-Mann-Führer Andreas Temme durch ein Kasseler Internetcafé spazieren, an der Leiche seines Inhabers Halit Yozgat vorbei, von der er später nichts gewusst haben will. Einige der Herrschaften tragen in den Videos rote Nasen und ihre Namen werden von den vier Clowns auf der Bühne im Chor herausgejuchzt, die ohnehin mit viel Hallo, Helau und Gezappel alles begrüßen, was den maroden Zustand der deutschen Legislative, Judikative und Exekutive beglaubigt. Der Begriff „grimmiger Humor“: Für Momente wie diese wurde er erfunden. // Sabine Leucht
Franz Beil, Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Rosa Lembeck und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ von René Pollesch (UA)
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Pollesch ohne Pollesch
„Der Schnittchenkauf“ von René Pollesch (UA) – Bühne Leonard Neumann, Kostüme Tabea Braun, LiveKamera Jan Speckenbach
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ch wollte mal in einen Theaterabend gehen, weil ich gehört hatte, dass sie dort Schnittchen verteilten. Ich wusste auch,
dass ich da billig reinkomme. Aber dann war ich drin und es wurden gar keine Schnittchen verteilt“, sagt Franz Beil in einem Rattenkostüm in die Livekamera auf der Hinterbühne. „Ich habe dauernd geguckt, wo die Schnittchen sind, und ich war somit natürlich nicht der Zuschauer, den man vor Augen hat in einer Theateraufführung.“ Diese titelgebende Szene aus Polleschs theatertheoretischen Schriften „Der Schnittchenkauf“, eine Abarbeitung an Brechts „Szenen aus dem Messingkauf“, kommt zehn Monate nach seinem Tod und ohne seine Regie zur Premiere. Die Ausgangsfrage, die Pollesch beschäftigt: Den Zuschauer, der wirklich Interesse hat an der Theaterkunst, den gibt es nicht. Das wird gleichsam Ansatzpunkt für das Ende von Repräsentation innerer Zustände in der Darstellung auf der Bühne. Denn, wie Martin Wuttke in einem SafariOutfit mit Tierprint erklärt: „Die Ähnlichkeit unserer Körper bildet keine Grundlage für eine gelungene Konversation.“ Pollesch ohne Pollesch? Es klingt nach ihm, es sieht alles nach ihm aus. Was also weitermachen mit dem Erbe, wie also umgehen mit dem Verlust und dem Nachlass? Die Antwort, die das Volksbühnen ensemble zu finden scheint, ist die, Polleschs Poetologie hochzuhalten und auf der Bühne weiterleben zu lassen. Themen wie die bereits angesprochene Repräsentation und Darstellbarkeit von Zuständen werden genauso behandelt wie die vierte Wand, der Text, Semantik und das Bühnenbild und der Kapitalismus. Eine Poetologie des postdramatischen Theaters also, ohne Illusion und ohne kapitalistischen Verwertungsanspruch. Ohne Perspektive auf eine Interimsleitung und in einer komplizierten kulturpolitischen Situation, in der sich die Volksbühne befindet, fällt das Fehlen von Pollesch in dieser emotionalen Auseinandersetzung mit seinem Tod umso mehr ins Gewicht. So gilt der brandende Applaus am Ende dann nicht nur dem Ensemble und dem Team, sondern auch Pollesch, der eine sichtbare Lücke hinterlässt, die seine Schauspieler:innen im besten Sinne mit dem füllen können, was sie haben: seiner Arbeit. Denn, das ist der Schlusssatz: „Dieses Herz, das man ihnen eingepflanzt hat, ist ja ein Wieder schlagen.“ // Nathalie Eckstein
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Foto links oben Laura Nickel, unten Apollonia T. Bitzan, rechts oben Tobias Kruse/Ostkreuz, unten Björn Klein
Magazin Kritiken
Magazin Kritiken
Risto Kübar, Marius Huth, Jing Xiang Fumiyo Ikeda und Katrijn Friant in „Give up die alten Geister“ in der Regie von Benjamin Abel Meirhaeghe
Schauspielhaus Bochum
FeelgoodGeisterbahn „Give up die alten Geister“ von Benjamin Abel Meirhaeghe, Regie und Kostüm Benjamin Abel Meirhaeghe, Bühne Jozef Wouters, Kostümmitarbeit Una Güth, Lichtdesign Nicolaas de Rooij, Ruben de Snoo, Choreo grafie Fumiyo Ikeda
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here was a house in Bochum-Süd, they called Haus Rechen. Ein Adelssitz ist es gewesen, wurde 1944 durch Brandbomben zerstört, und dann wichen die Trümmer den neu gebauten Kammerspielen. Der Schauspieler Risto Kübar zeigt im Publikumsraum, wo die Wände gestanden haben. Warum er das auf Englisch erzählt, ist ebenso rätselhaft wie manches andere an diesem höchst seltsamen Musiktanztheaterabend. Die Aufführung wirkt wie ein improvisiertes Ritual. Die einzelnen Elemente haben zwar in sich eine hohe bis sogar höchste Qualität. Doch sie stehen desperat nebeneinander, einzig verbunden durch einen gemeinsamen Geist. So könnte es aussehen, wenn eine Sekte eine Nummernrevue entwirft. Der Schauspieler Marius Huth rezitiert einen Text der feministischen Fantasyautorin Ursula K. Le Guin. Es ist eine alternative Geschichte der Urmenschen. Nicht die Männer mit ihren phallischen Speeren haben laut Le Guin für die Ernährung gesorgt, sondern zu 80 Prozent die sammelnden Frauen. Aber in den Höhlenmalereien wurden schon damals vor allem die scheinheroischen Kerle ver ewigt, denn Jagen, Töten und Gefahr schien schon vor Jahrtausenden spannender zu sein als Rupfen und Zupfen. Warum Marius Huth diese Geschichte ausschließlich mit
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einer engen weißen Unterhose bekleidet vorträgt, ist wieder eines dieser Rätsel. Regisseur und Autor Benjamin Abel Meirhaeghe geht es um den Verlust der Magie. Den ganzen Abend wabert und pulsiert ein Klangteppich durch den Raum, garniert durch einige Popsongs. Das Ensemble tanzt dazu, meist unkoordiniert. Zwei Pianistinnen sorgen für musikalische Höhepunkte. Katrijn Friant und ihre Schülerin (seit dem vierten Lebensjahr) Maya Dhondt spielen Ausschnitte aus Mozarts „Requiem“ in einer Klavierfassung. Man hört und spürt in ihrer fesselnden Interpretation, wie nah sie sich sind. Sie scheinen jede Note gemeinsam zu atmen und auszuströmen, spielen aus einem Guss und in einem Fluss. Allein die beiden lohnen den Besuch. Doch da ist noch mehr. Wenn irgend etwas auf der Bühne nicht so richtig funktioniert – das kommt oft vor –, lächeln sich die Performer:innen an. Die Atmosphäre ist von einer großen Freundlichkeit geprägt, von tiefem Respekt – und war es schon zu Beginn des Abends bei der Bühnenführung. Vielleicht liegt darin die Utopie. Die Aufführung ist ein sanfter Appell, die alten Geister der Konkurrenz und des Egoismus aufzugeben und sich zu öffnen für das Glück der Gemeinschaft, bei aller Unperfektheit. Um so etwas zu erleben, gehe ich gern ins Theater. Und habe „Give up die alten Geister“ genossen. // Stefan Keim
„Im Ferienlager“ von Olga Bach, Regie Jessica Glase am Schauspiel Stuttgart
Schauspiel Stuttgart
Allgemeine Gereiztheit „Im Ferienlager“ von Olga Bach (UA), Regie Jessica Glause, Bühne Jil Berter mann, Kostüme Florian Bruder, Musik Joe Masi, Chorleitung Amelie Erhard
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iemlich merkwürdig, dieses Sommercamp. Die Jugendlichen weigern sich partout, englischsprachige Songs anzustimmen. „Wir fühlen uns nicht wohl damit“, monieren sie im „Awareness“-Tonfall und schieben den Vorwurf „Kulturelle Aneignung“ nach. Aus dem Radio wird der Hitler-Putsch 1923 vermeldet, während Gruppenaußenseiter Emil gerne Beyoncé singt und das „voll fly“ findet. Klar, derlei Stolperstellen lassen aufhorchen. Das Publikum muss im Geist die verquirlten Zeitebenen erst mal sortieren: hier 1920er Jahre und Deutschtümelei, dort Wokeness und Jugendsprache? Bach jongliert virtuos mit falschen Fährten und angedeuteten Spuren. Vordergründig geht es um eine Jugendfreizeit auf dem Land nahe Mannheim, in zweiter Ebene um die schleichenden Problemzonen bestimmter Milieus der Weimarer Republik, in dritter Schicht unausgesprochen auch um aktuelle Debatten über die Erosion demokratischer Strukturen. Die Regie belässt diese vage Mehrdimensionalität. Die Jugendlichen treiben rhythmische Sportgymnastik, singen heimisches Liedgut, formieren sich aber auch zu okkulten Prozessionen. Die Bach’sche Figur des ketterauchenden Heimleiters Heinrich (charmant dämonisch: Sebastian Röhrle) ist zwar eine Anspielung auf Emil Molt, Zigarettenfabrikant und Mitgründer der ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart. Doch andere Textpassagen erinnern an Sektenclans, an Querdenkerforen, an Esoterikkreise. Der Erzieher wird verdächtigt, einen französischen Offizier ermordet zu haben. Kurz, unter der scheinbar achtsamen Oberfläche dieses Ferienlagers („sie weinen immer zusammen“) brodelt, kocht und zischt es gewaltig. Jessica Glause vermeidet optisch historische Konkretionen, erzählt das alles in einer fast zeitlosen Sphäre. Zwar ähnelt das Bühnenbild, eine riesige Kuppel irgendwo zwischen Sternwarte und Tempel, entfernt an das erste Goetheaneum (1920) von Rudolf Steiner. Doch in Glauses Regie könnten die Jugendlichen auf der Bühne im Kurzhosenoutfit alles Mögliche sein, ein düsterer Schwarzhemdentrupp, ein verspieltes Cheerleaderteam, Täter und Opfer zugleich. Glauses Inszenierung realisiert Bachs Mischung aus Thriller, Musical und Zeitdiagnose kühl und unaufgeregt. Sicher, es geht auch anders. Expliziter. Doch in mehrdeutigen Bildern trifft sie das Kipplige, Unruhige, Bedrohliche – damals wie heute // Otto Paul Burkhardt
Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken
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Krankheitsbedingt verschoben Von Noam Brusilovsky
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„Lieber Noam, ich war auf der Webseite vom Theater und konnte deinen Premierentermin auf dem Spielplan nicht mehr finden. Was ist los? Findet die Premiere noch statt?“ Diese und ähnliche Nachrichten erreichen mich seit ein paar Wochen ständig. Kurz vor der Spielzeitpause treffe ich mich bereits mit meiner Agentin, und wir überlegen, wie ich dem Theater mitteilen soll, dass ich derzeit nicht arbeiten kann und die Premiere vorerst ausfallen muss. Ich verabrede mich mit dem Dramaturgen, der die Produktion hätte betreuen sollen. Auf dem Fahrrad bereite ich mich auf das Gespräch vor und lasse alle möglichen Szenarien durch meinen Kopf gehen. Wir setzen uns auf den Platz vor dem Theater, und ich lasse die Bombe platzen. Der Dramaturg versucht, einige konstruktive Vorschläge zu machen, bietet an, bestimmte Aufgaben zu übernehmen oder andere Personen zu engagieren, die mich bei der Arbeit unterstützen könnten. Doch ich weiß, all das übersteigt gerade meine Kapazitäten. Momentan schaffe ich es nicht und bin selbst von mir enttäuscht. „Nein, es tut mir leid“, sage ich entschieden. „Wir müssen die Produktion verschieben.“ Das Jahr 2024 kann ich nur als beschissen bezeichnen. Nach einer Reihe katastrophaler Ereignisse in meinem Leben fand ich mich in einer schweren depressiven Phase, die mir so noch nie begegnet ist und die mich für eine gute Weile nicht arbeiten ließ. Hinzu kommt, dass der Krieg in meiner Heimat immer noch andauert, sich in meinen Kopf frisst und kaum Raum für Hoffnung lässt. Meinem Therapeuten erzähle ich von wiederkehrenden Träumen über Bombardements, Terroristen und davon, dass ich entführt werde und mich in Geiselhaft befinde. Natürlich beziehen sich diese Träume auf den realen Krieg, der mir den Schlaf raubt, und wenn ich mal schlafe, träume ich davon. „Ich glaube, dass der Krieg nur eine Folie ist“, sage ich zum Therapeuten. „Ich denke, ich träume von etwas anderem und dass diese Bilder mir etwas anderes sagen wollen.“ Als der Therapeut mich nach meiner Deutung dieser Träume fragt, seufze ich und sage: „Es fühlt sich so an, als befände ich mich in einem anderen Krieg. Ich fühle mich wie in Geiselhaft – aber nicht in der, von der ich in den Nachrichten höre, sondern als hätte man mich aus meinem eigenen Leben herausgerissen. Ich fühle mich deplatziert.“ Auch wenn meine Entscheidung, die Premiere zu verschieben, gut durchdacht ist,
fällt es mir schwer, sie zu treffen. Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird, und frage mich, wie so etwas ausgerechnet mir passieren konnte – mir, der bisher immer so fokussiert arbeiten konnte. Was werden Kolleg:innen sagen, wenn sie davon erfahren? Sollte ich mir Sorgen um die anderen Produktionen machen, die noch bei mir in der Pipeline sind? Der Dramaturg kann mich gut verstehen. „Es tut mir wirklich leid“, sagt er mitfühlend. „Wir können die Premiere gern verschieben.“ Dafür bin ich ihm sehr dankbar. „Nur eine Sache noch“, fügt er vorsichtig hinzu. „Falls uns die Presse danach fragt, werden wir die Premierenverschiebung begründen müssen.“ Wie oft habe ich von Produktionen gehört, die aus „künstlerischen Gründen“ abgesagt wurden. Jeder, der am Theater arbeitet, weiß, dass sich hinter diesen harmlos klingenden Worten die schlimmsten Konfliktgeschichten von Niederlage, Zensur und Scheitern verbergen. Von stattgefundenen Premieren liest man ständig in der Presse. Über das Nichtstatt gefundene hingegen wird nur selten gesprochen. Die Geschichten von Regisseur:innen, die an Burn-out leiden, in Konflikt mit einer künstlerischen Leitung, einem Ensemble oder – noch schlimmer – mit sich selbst geraten, dringen kaum an die Öffentlichkeit. Sowohl das Theater als auch die Künstler:innen fürchten sich davor, die wahren Gründe für einen Ausfall öffentlich bekannt zu machen. „Bloß keine künstlerischen Gründe!“, sage ich zu ihm. Der Dramaturg schlägt „krankheitsbedingt“ vor, und da uns keine adäquatere Beschreibung für die Situation einfällt, entscheiden wir uns dafür. Krankheitsbedingt it is. Und es fühlt sich schrecklich an. „Schädige ich nicht mein eigenes Bild in der Theaterwelt mit dieser Kolumne“, frage ich eine befreundete Kollegin kurz vor der Textabgabe. „Nein“, sagt sie, „du bist nicht der Erste, dem es in unserem Umfeld passiert. Auf der Bühne verhandeln wir ständig Krisen. Der Konflikt gehört sogar zum Gründungs mythos unserer Kunst. Uns als Theaterschaffenden fehlen bloß die Worte, die es uns ermöglichen würden, aufrichtig über unsere eigenen Krisen und Konflikte zu sprechen.“ T Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka, der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel und ihnen folgend die Schriftstellerin Terézia Mora und Anna Bertram.
Theater der Zeit 2 / 2025
Foto links Lea Hopp, rechts RambaZamba Phillip Zwanzig, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Kaserne Basel Mirco Leuenberger, Brechtfestival Augsburg Fabian Schreyer, Sophiensaele Berlin Dominique Brewing
Magazin Kolumne
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präsentiert RambaZamba Theater, Berlin Jetzt wird ermittelt: Der bekannte Schauspieler und Regisseur Milan Peschel inszeniert „Mord im Regionalexpress“ am RambaZamba Theater. Alle Infos unter rambazamba-theater.de 22.2. (Premiere) 23.2., 25.2. und 26.2.
Brechtfestival Augsburg Vom 1.2. bis 2.3. bietet das Brechtfestival Augsburg unter dem Motto „Die große Methode“ ungewohnte Perspektiven auf das Schaffen Bertolt Brechts sowie einen intensiven Austausch mit der Augsburger Stadt gesellschaft. 1.2. bis 2.3.
Mélissa Guex in der Programmreihe „All by Myself“
Kaserne Basel „All by Myself“: Solo-Performances von Baptiste Cazaux, Mélissa Guex, Antje Schupp, Gosia Wdowik, Viktor Szeri und Krõõt Juurak. Alle Infos unter kaserne-basel.ch 7.2. bis 22.2.
Franziska Kleinert in „Mord im Regionalexpress“ (Regie Milan Peschel)
Sophiensæle Berlin Die Performance „Rachel und ich“ von Lulu Obermayer erzählt von einer 20-jährigen transatlantischen Freundschaft, von Erinnerung und von den Nachwirkungen des Holocaust für die sogenannte dritte Generation. 5.2. und 6.2.
„STRICKEN“ von Magda Korsinsky
Chamäleon Berlin Eine opulente Reise in die Zirkuswelt um 1900. För Künkel und Mirjam Hildbrand geben in einem großformartigen, reich bebilderten Band Einblicke in eine längst vergessene Praxis. 17.2. (Buchpremiere)
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Wie klingen queere Harmonien und transige Oszillatoren?
Ballhaus Naunynstraße, Berlin Mit über 30 Vorstellungen zählt Magda Korsinskys „STRICKEN“ zu den erfolgreichsten Produktionen im Repertoire des Ballhaus Naunynstraße. Eine einmalige choreografische Perspektive auf Schwarze deutsche Geschichte. 5.2. bis 8.2.
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Thema Ukraine Theater zwischen Krieg und Exil
Elias Nuriel Kohl und Fabian Mair Mitterer in „Future Macbeth“ von Pavlo Arie und Stas Zhyrkov am Berliner Ensemble
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Theater Theater der der Zeit Zeit 2 / 2025
Theater der Zeit 2/ 2 /2025 2025
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Foto Jörg Brüggemann
Stas Zhyrkov kam im Frühjahr 2022 nach Deutschland, wo er zuletzt am Berliner Ensemble „Future Macbeth“ des ukrainischen Dramatikers Pavlo Arie und Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch als groteske Version des schottischen Königsdramas inszenierte (Bilder hier und auf den folgenden Seiten). Zhyrkov, der gute Kontakte in die Theaterszene der Heimat unterhält, erklärt, wie das ukrainische Theater drei Jahre nach der Totalinvasion für sein Publikum existiert und mit welchen Schwierigkeiten es zu kämpfen hat. Anastasiia Kosodii, Dramatikerin und Autorin (siehe auch TdZ 06/2023), schreibt von ihren Erfahrungen hier und dort. Elisabeth Bauer, Slawistin und Journalistin beim Projekt „Ukraine verstehen“ stellt im nachfolgenden Kunstinsert das „Theater of Hopes and Expectations“ der Künstlergruppe Prykarpattian Theater vor.
Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil
Foto Jörg Brüggemann
Alles total anders Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov im Gespräch mit Thomas Irmer
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Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil Wie ist die derzeitige Situation des Thea ters in der Ukraine? STAS ZHYRKOV: Es gibt ganz verschiedene Aspekte für Antworten auf diese Frage. Schauen wir zuerst auf das Publikum. Nahezu alle Vorstellungen in Kyjiw sind ausverkauft, egal, was gespielt wird. Bei den meisten Vorstellungen handelt es sich um Komödien, in der Mehrzahl ukrainische Komödien oder Stücke mit viel Musik und Gesang. Da geht es nicht um problematisierend dokumentarische Darstellungen oder so etwas. Kollegen erzählen mir, die Leute wollen im Publikum sitzen und das Gefühl haben, dass sie mit jemandem sprechen. Sie wollen eine normale Unterhaltung in dieser schrecklichen Zeit, auch im Sinne eines warmen, herzlichen Gesprächs. Sich dafür gut anziehen und bei einem Glas Wein für einen Moment das Gefühl normalen Lebens zu haben, fast wie eine süße Droge. So ist es in Kyjiw, Lwiw oder Iwano-Frankiwsk, also Städten, die mit Angriffswarnung besser verteidigt werden können. In Odessa, Charkiw oder Dnipro ist die Situation schon ganz anders, was Theater als Normalität angeht. In Charkiw, das ja dicht an der Grenze zu Russland liegt, wollen die Behörden eigentlich nicht, dass sich so viele Menschen in einem Gebäude zusammen aufhalten. Zu welchen Zeiten finden die Vorstellun gen statt? SZ: In der Regel um sechs Uhr abends. Vorher war die Anfangszeit für die meisten Theater um sieben. Schon daran merkt man also, dass es nicht ganz normal ist, ins Theater zu gehen. In den meisten Städten gilt, dass man nach 23 Uhr nicht mehr auf der Straße sein soll.
Emil Kollmann, Eszter Demecs, Greta Geyer, Fabian Mair Mitterer, Antonia Siems, Magdalena Gräslund, Elias Nuriel Kohl in „Future Macbeth“ von Pavlo Arie und Stas Zhyrkov am Berliner Ensemble
Wer besucht die Theater? Sind es durch die Einberufung der Männer mehr Frauen? SZ: Es sind natürlich mehr Frauen im Publikum, aber das war auch schon vorher so. Männer könnten auf dem Weg ins Theater an einem Checkpoint kontrolliert werden, was einige vielleicht vom Theaterbesuch abhält. Wie ist die finanzielle Situation der Thea ter? Welche Zuwendungen erhalten sie?
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Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil Das größte Problem des ukrainischen Theaters sind die Folgen des sowjetischen Theatersystems einschließlich der Nachwirkungen in der postsowjetischen Kultur.
SZ: Da hat sich eigentlich nicht viel geändert. Die großen Theater der Kategorie Nationaltheater erhalten 100 Prozent von dem, was sie vor der totalen Invasion bekamen. Kleinere Stadttheater etwa 80 Prozent. Aber auch hier müssen wir auf die sehr verschiedenen Bedingungen in einzelnen Städten des riesigen Landes schauen. In Charkiw, wo ein normaler Spielbetrieb nicht mehr stattfinden kann oder soll, sind die Mittel entsprechend geringer geworden. Auch für das dort sehr gute Puppentheater z. B. Die Theater aus Charkiw treten in anderen Landesteilen auf und müssen sich mit Minigeldern über Wasser halten. Was offensichtlich auch ein Problem mangelnder Solidarität ist. Die Ungleichheit der Bezahlung für die Arbeit in den Theatern ist auf jeden Fall ein Riesenproblem der Gerechtigkeit geworden. Und nicht nur das. Den großen Nationaltheatern fällt es leichter, ihre Schauspieler und ihr technisches Personal vom Militärdienst zurückzustellen, die zudem ein Vielfaches an Geld im Vergleich zu anderen verdienen. Das ist aufs Ganze gesehen alles nicht sehr gerecht.
„Bad Roads“, sechs Geschichten über das Leben und den Krieg von Natalia Vorozhbyt. Regie Tamara Trunova
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Es gibt ein Kulturministerium, das dieser Idee nicht folgen wollte oder konnte. Der jetzige Minister kommt aus dem diplomatischen Dienst, nicht aus der Kultur mit den jetzt wichtigen Aufgaben für das Theater mit seinen verzweigten Strukturen. Was mit den Theatern geschieht, wurde mehr oder weniger den Regionen überlassen, ohne einen größeren Plan der Verantwortlichkeit für das Ganze. So kann das, was über Kyjiw mit seinem im jetzigen Alltag aktuelle Bedürfnisse bedienenden Theater in der Hauptstadt bekannt ist, darüber hinwegtäuschen, was anderswo problematisch ist, worüber sicher auch gesprochen werden muss.
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Fotos links Anastasia Mantach, rechts Jörg Brüggemann
Was hätte man denn anders machen kön nen? SZ: Einige der Theater aus diesen Gebieten nahe der sich in 2022 bald abzeichnenden Front hätten komplett evakuiert werden müssen, um sie zu erhalten. Natürlich auch mithilfe der anderen größeren Theater. Oder einer größeren Koordination. Jetzt ist es dafür zu spät.
Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil Sie selbst haben bis zum Frühjahr 2022 das Left Bank Theater in Kyjiw geleitet als einer der jüngsten Intendanten des Landes. Das von Natalka Vorozhbyt geschriebene und von Tamara Trunova 2019 inszenierte Stück „Bad Roads“ wurde in Deutschland und Europa vielfach gezeigt und gleichsam zur Visitenkarte des Left Bank bzw. eines neuen ukrainischen Theaters noch vor der Totalinvasion. SZ: „Bad Roads“ läuft dort immer noch wie auch einige meiner Inszenierungen und ich halte mit Tamara engen Kontakt. Es gibt eine neue Intendantin, Olesya Zhurakivska, eine in der Ukraine sehr bekannte Schauspielerin, die das Theater in dieser Zeit auf Kurs hält. Mit dem Left Bank Theater wollten wir etwas Neues und vor allem einen klaren Bezug zum Theater in Europa bzw. dessen System der Theaterstrukturen. Wozu am Ende – und am Anfang all dessen – auch die Ausbildung gehört. Das größte Problem des ukrainischen Theaters sind die Folgen des sowjetischen Theatersystems einschließlich der Nachwirkungen in der postsowjetischen Kultur der Ukraine. Es gibt bis heute weder eine radikale Reform des Systems noch grundlegende Änderungen in der Ausbildung von Schauspielern und Regisseuren gab es. Es herrscht auch wenig Bewusstsein dafür, dass sich das ukrainische Theater, das in einer kurzen Phase nach der Revolution von 1917 in seinem eigenen Modernismus mit internationalen Anbindungen, mit Les Kurbas als dem wichtigsten und bis heute immer neue Generationen inspirierenden Avantgardisten, auf eigene Wurzeln besinnen kann. Stattdessen Tschechow-Sturheit und immer wieder Stanislawski in den Schulen. Der ukrainische Regisseur Andrij Zhol dak, obwohl wie damals zur späten Sowjetzeit üblich wie die meisten Regie schüler aus allen Teilen des Imperiums am GITIS in Moskau ausgebildet, bezog sich auf Les Kurbas und feuerte, damals in beiden Ländern Ukraine und Russland möglich, sein phantasmagorisches De konstruktionstheater auf ein dafür völlig unvorbereitetes Publikum. In Charkiw wurde er 2005 deshalb bedrängt, sein
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Oben: Fabian Mair Mitterer und Elias Nuriel Kohl Unten: Antonia Siems, Emil Kollmann, Elias Nuriel Kohl, Eszter Demecs, Greta Geyer und Fabian Mair Mitterer
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Sie selbst hatten es leichter, konnten in verschiedenen Theatern mit Ihren selbst entwickelten Stücken, meist zusammen mit dem ukrainischen Autor Pavlo Arie, darüber sprechen, wie sich die Unter stützung und das Verständnis für die Ukraine in Deutschland gerade anfühlt. Erst warm, dann zögernd und jetzt gera de gar sehr verhalten. Ihre neueste Insze nierung, „Future Macbeth“ am Berliner Ensemble, reflektiert diesen Dialog nicht mehr und ist vor allem eine überbordend verspielte Groteske. SZ: Vielleicht. Aber Deutschland ist immer noch das Land, das die Ukraine am meisten unterstützt in Europa. Für das Theater weiß ich es im Moment nicht, für mich selbst auch nicht. T
Der ukrainische Theaterregisseur Stas Zhyrkov
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Andrij Zholdak wollte die Verbindung zum europäischen Theater und damit auch eine Veränderung des Theaters in der Ukraine.
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Foto By RomanDeckert - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=153824110
Theater und das Land zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Heute ist er eine Legende in der Ukraine, obgleich Jüngere nichts mehr von ihm sehen konn ten. Zholdak wollte die Verbindung zum europäischen Theater und damit auch eine Veränderung des Theaters in der Ukraine. Er wusste, dass wir mehr oder weniger postkolonial provinziell waren, ein Teilland, dessen kulturelle Eliten in Moskau und Leningrad ausgebildet wurden, um diesen Status aufrechtzuerhalten. Aber genau diese Sache steckt in uns, in unseren Theaterakademien, in der Diskussion unseres Theaters und letztlich auch in meiner eigenen Situation als Konflikt mit dem Theater in der Ukraine, meinem Zuhause. Wir, die Theater in den einzelnen Städten der Ukraine, hätten sehr viel mehr Kooperationen mit Theatern in Europa gebraucht und auch selbst entwickeln müssen. Gerade in diesen Jahren des Krieges.
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Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil
Solidarität und Waffen Exil und Theaterarbeit – Erfahrungen einer ukrainischen Dramatikerin Von Anastasiia Kosodii
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Foto Christian Kleiner
Die ukrainische Dramatikerin und Regisseurin Anastasiia Kosodii
Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil Flughafen nahm, hielt am Zoologischen Garten. Ich blickte aus dem Fenster und sah Menschen, die Bier tranken und Zigaretten rauchten, auf dem Gehweg sitzend. Der Wind wirbelte Müllhaufen auf und jagte sie über den Platz. Ich atmete erleichtert auf: Es war fast wie zu Hause. Ich dachte: Ich glaube, ich kann hier leben. Fünf Jahre später hatte ich gerade die Fenster meiner Mietwohnung in Kyjiw mit Klebeband abgeklebt, als ich meine erste Luftschutzsirene hörte. Ein tiefes, beunruhigendes Brummen erfüllte die Stadt und forderte mich dazu auf, in den Keller zu gehen, wo Betonstaub und Rohrleitungen begrenzten Schutz versprachen. Eine Woche später war ich in Berlin, verwirrt wie eh und je, mit einem kleinen Koffer voller praktischer Dinge – nichts davon nostalgisch, sondern wirklich notwendige Sachen. In der Abenddämmerung des April stand ich vor der Wohnung eines Freundes eines Freundes und dachte: Ich glaube, ich werde hier leben müssen. Jetzt bin ich seit drei Jahren hier.
Welches Stück kann den Krieg erklären?
Ich kam 2017 zum ersten Mal nach Berlin. Es war Mai, die Sonne wärmte bereits mit einer gewissen Unerbittlichkeit, und ich war von der Logik des öffentlichen Nahverkehrs sowie von meinen eigenen Erwartungen an eine völlig andere Welt (es war meine erste Reise nach Europa) eingeschüchtert. Der Bus, den ich vom
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„2022 haben mich viele Theater wegen ukrainischer Stücke kontaktiert“, sagt Lydia Nagel. „Ich habe ihnen eine Liste der existierenden Übersetzungen geschickt, die ziemlich lang war, was einige überrascht hat. Z. B. gibt es Natalka Vorozhbyts ‚Bad Roads‘ seit 2019 in deutscher Übersetzung. Der Verlag hat das Stück auch seit 2019 aktiv beworben, aber es führte zu keinen Inszenierungen.“ Lydia Nagel übersetzt seit 2009 Texte ukrainischer Dramatiker:innen ins Deutsche. Wir lernten uns 2015 (glaube ich?) beim Festival „Woche des zeitgenössischen Dramas“ in Kyjiw kennen. Damals schien die Zusammenarbeit mit deutschen Theatern wie ein Wunschtraum: Selbst ukrainische Theater waren nicht an zeitgenössischen ukrainischen Texten interessiert und zogen „sichere“ Klassiker vor. In dieser Hinsicht hat sich vieles geändert. Ich erinnere mich an ein Gespräch im letzten Sommer, bei einer Party nach einer Lesung mehrerer ukrainischer Texte in Berlin. Ein Theaterregisseur trank einen
Hier ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass man über Situationen im Krieg mit Humor sprechen kann.
Schluck Bier und sagte dann: „Wissen Sie, es ist so seltsam, dass dieses Stück (‚Was man im Dunkeln hört‘ von Andriy Bon darenko) so viel schwarzen Humor hat. Ich glaube nicht, dass die Dramaturgen deutscher Theater so etwas von ukrainischen Stücken erwarten.“ „Hier ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass man über Situationen im Krieg mit Humor sprechen kann“, nickt Lydia, als ich ihr von diesem Gespräch erzähle. „Ich habe das immer wieder festgestellt, wenn Texte vom Balkan diskutiert wurden. Obwohl meine Freunde aus Sarajevo z. B. sagten, dass es einfach eine Überlebensstrategie war.“
Kooperation und ihre Perspektiven zwischen hier und dort Auf der Bühne des Studio R im Gorki Theater stehen schwarze Säcke mit EUAufklebern. Ich hoffe, das ist kein Hinweis auf Leichensäcke, denke ich: zu platt. Aber dann öffnen die polnischen Dragqueens und die ukrainische Sängerin die Säcke – und deren Inhalt entpuppt sich als „humanitäre Hilfe“. Lacklederstiefel, rote Perücken, Satinkleider, Kindermasken – alles, was die Bedürftigen brauchen. „Danke, Europa! Danke für eure Hilfe!“, rufen die Schauspieler:innen, während sie sich pinke Boas über die Schultern werfen. Das Publikum windet sich: Jeder versteht, worum es geht. „Fucking Truffaut“ ist ein gemeinsames Projekt des Maxim Gorki Theater und des Teatr Dramatyczny in Warschau. Es ist ein Werk über den Krieg, das jedoch Truffauts Aussage zu widersprechen scheint, dass „jede Kunst (Film) über Krieg immer kriegsverherrlichend sein wird“. „Als wir anfingen, an dem Stück zu arbeiten, mit einer Künstlerresidenz in
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Thema Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil Dresden war es sehr heiß, und irgendwann entschieden wir, dass wir losziehen und mit Leuten sprechen mussten“, sagt Roza Sarkisian, die Regisseurin des Stückes. „Also begannen wir mit einer Person, die am Stück beteiligt war, und fragten sie: Wenn morgen in Deutschland ein Krieg ausbrechen würde, was würdest du tun? Sie sagte, das sei unmöglich. Wir sagten: Stell es dir vor! Aber sie konnte es nicht.“ Nachdem das Produktionsteam in diesen Gesprächen auf eine Mauer des Schweigens gestoßen war, beschlossen sie, nach neuen Wegen der Kommunikation zu suchen, u. a. durch die Szenografie. Die schwarzen Säcke mit humanitärer Hilfe lagen in Rozas Warschauer Wohnung, zurückgelassen von einem ehemaligen Nachbarn. Der Inhalt der Säcke war genau der gleiche wie im Stück: Badeanzüge, Schlitten, abgelaufene Suppengewürze ... Es war offensichtlich, dass die Spender:innen dieser Dinge es gut meinten, aber keine Vorstellung von der Realität des Krieges hatten. „Ich hatte die Idee, ihnen diese Vorstellung zu vermitteln, und dafür ein EUSiegel darauf zu kleben. Denn wenn man eine Tasche mit einer ukrainischen Flagge sieht, ist das irgendwo weit weg. Und wenn man ihr eigenes Logo darauf klebt, funktioniert es anders, die Botschaft kann verstanden werden. Denn jeder hat Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Erfahrungen mit einem Leichensack, auch wenn es kein Sack aus dem Krieg ist ...“, sagt Roza Sarkisian.
Theatermachen in der Ukraine Es ist August 2024, und wir telefonieren mit Olga Puzhakovska, der Direktorin des Lesya Ukrainka Theater in Lwiw. Wir sind kurz davor, das Stück „The Traveller’s Playlist“ herauszubringen, das auf der Biografie eines ukrainischen Soldaten mit dem Rufzeichen Adler basiert. „Ich sage Ihnen gleich direkt, dass Sie auf der kleinen Bühne spielen werden“, sagt Olga zu mir. „Wir versetzen jetzt unser gesamtes Repertoire dorthin. Auf der großen Bühne ... das ist nicht sicher.“ Ich begreife, was sie meint: Die Russen zielen mit ihren Raketen auf Stromund Heizkraftwerke, was zu neuen Wellen
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von Stromausfällen im ganzen Land führt. Theater und andere Institutionen kaufen Generatoren und tragbare Heizgeräte, aber deren Kapazität reicht für eine große Bühne nicht aus. Das Problem liegt jedoch nicht nur in den Stromausfällen. Am Morgen des 4. September wache ich von einer Explosion auf, die den Himmel zerreißt. „Es sind nur Feuerwerkskörper“, denke ich, was natürlich nicht stimmt (ich bin in Lwiw). „Es muss ein Atomkrieg sein“, denke ich später, was ebenfalls nicht stimmt – ich habe nur die Warnungen verschlafen, dass iranische Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen auf die Stadt zufliegen. An diesem Morgen werden acht Menschen in Lwiw sterben, sieben davon zusammen. Ich werde nicht losgehen, um zu sehen, wohin die Einschläge trafen, aber ich werde einen zufällig sehen: In der Konowalez Straße, voller stiller österreichisch-ungarischer Villen, werde ich zunächst von einem Fahrzeug der Nationalgarde überrascht, dann von einem Baum mit Kinderspielzeug drumherum, dann von einem gelben Band und schließlich vom Skelett eines Gebäudes. Dann werde ich begreifen, dass es von einer der russischen Kinschal-Raketen am Mittwochmorgen getroffen wurde. Wir treffen uns mit den Schauspieler:innen zur Vormittagsprobe, zerknittert und aufgelöst nach dem morgendlichen Beschuss. „Ich rauchte auf dem Balkon und sah die Raketen fliegen“, erzählt Schauspieler Rostik. „Ich rannte aus dem Haus und fiel einfach zu Boden, ich wusste nicht, wo ich mich verstecken sollte“, sagt Schauspielerin Nastia. „Wollen wir die Probe absagen?“, frage ich, und wir entscheiden gemeinsam, dass wir das nicht wollen. Wir sind ja alle schon hier. Also müssen wir arbeiten. Wir werden die Ereignisse dieses Morgens zum Teil der Aufführung machen. Die Figuren, die alle aus verschiedenen Gründen in den Laden in der Nähe ihrer Häuser kommen (Zellophanfolie für zerbrochene Fenster, Futter für eine Katze, eine Flasche Wein zur Beruhigung der Nerven), sprechen eigentlich nicht miteinander, sondern vielmehr mit sich selbst über die Preise neuer Plastikfenster,
ihren Zorn über die ersten Nachrufe auf Facebook, ihre Sehnsucht nach weiter östlich gelegenen Orten, in die sie unbedingt zurückkehren wollen, sobald sie befreit sind, und über ihre verängstigten Katzen.
Eine Frage der Sprache Nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse – deutscher, georgischer, österreichischer, amerikanischer – machen die Menschen auf Partys in Berlin immer häufiger Witze darüber, das Land zu verlassen und vor einem großen Krieg zu fliehen. Den Witzen folgen Diskussionen: Wenn wir gehen, wohin sollten wir gehen? Selbst die entlegensten Ecken der Welt scheinen keine gute Wahl: Entweder ist dort eine rechtsgerichtete Regierung an der Macht oder interkontinentale Raketen reichen auch dorthin. Ich glaube – so erinnere ich mich –, dass wir irgendwo auf der Evakuierungsroute von Kyjiw nach Lwiw, um den 27. Februar 2022, in einem Flüchtlingszentrum in Chmelnyzkyj angehalten haben. Es war bereits Abend, und wir mussten ein paar Stunden warten, bis jemand aus der Stadt sich freiwillig meldete, um unsere Gruppe von vier Erwachsenen, einem Kind und drei Katzen für die Nacht aufzunehmen. „Guten Appetit!“, sagte ein lächelndes Mädchen und reichte mir einen Teller mit heißem Borschtsch. Ich nahm ihn entgegen und dachte – oh nein. Ist das wirklich mir passiert? Der Borschtsch verbrannte meine Zunge, und von diesem Moment an vermied ich es, darüber nachzudenken, was es bedeutet, auf dieser Seite der Verteilung von Freundlichkeit zu stehen. Ich will es auch jetzt nicht. Dramatiker:innen lernen, sensibel mit Worten umzugehen, ein wenig länger über sie nachzudenken, als wir es uns normalerweise im Alltag leisten können. Daher schlage ich als abschließende Übung vor, dass wir – gemeinsam – über vier Wörter (Ausdrücke) nachdenken. Schließlich ist Solidarität oft das Einzige, was das Böse in Schach hält. Solidarität und Waffen. Das sind die Wörter: „Krieg in der Ukraine“ „Pazifismus“ „Gebürtig aus Russland“ „Frieden“ T
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Theater der Zeit
Foto Prykarpattian Theater
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Das Modell des „Theaters“ in der Ausstellung „What Cannot Be Lost“, Teil des Programms des ukrainischen Pavillons auf der 18. Architekturbiennale in Venedig (21. August bis 17. September 2023)
Kunstinsert Ein ukrainisches „Theater“ als transformative Kulturinstitution Porträt Ästhetik und politischer Aktivismus: Leo Lorena Wyss Nachruf Regisseur Hartwig Albiro
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Der Notfall als Prinzip Wie ein „Theater“ zur transformativen Kulturinstitution wurde Von Elisabeth Bauer
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Foto links Elisabeth Bauer rechts oben Nikita Sereda, rechts Mitte Elisabeth Bauer, rechts unten Prykarpattian Theater
Links: Der Ausstellungspavillon auf der Finissage im Düsseldorfer Volksgarten, 30. Oktober 2022 Rechts oben: Installation der von der Oper Wuppertal gespendeten Bühnendekorationen, 17. August Rechts Mitte: Detail des Ausstellungspavillons, bestückt mit gespendeten Bühnenbildelementen. Finissage, 30. Oktober 2022 Rechts unten: Das Symposium „Nova Generatsiia: before and after“ im Ausstellungsraum, 15. Oktober 2022
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Lena Honchar (links), ihre Enkelin Vika und Tochter Inna im Dorf Sloboda Kuchars‘ka in der Kyjiwer Region. Zusammen mit zwei weiteren Kindern sind sie die Bewohnerinnen des neuen Hauses
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Foto links oben Prykarpattian Theater, Mitte Livyj Bereh, unten Elisabeth Bauer. Rechts Elisabeth Bauer
Oben: Abbau the Pavillons im Düsseldorfer Volksgarten, Ende 2022 Unten: Das aufgebaute Grundgerüst im Dorf Sloboda Kuchars‘ka, Kyjiwer Region, Januar 2023
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Der in ein Wohnhaus transformierte Ausstellungspavillon im Dorf Sloboda Kuchars‘ka in der Kyjiwer Region. September 2023
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Herbst 2022 im Düsseldorfer Volksgarten: Ein farbenfroher Pavillon steht auf weitläufiger Wiese, vom Geäst alter Bäume eingerahmt. Über drei Monate hinweg – vom 8. August bis 30. Oktober 2022 – war die hölzerne Konstruktion mit polymorpher Fassade ein politischer Ausstellungsort ukrainischer Kunst im unfreiwilligen Exil. Das in den ersten Wochen des russischen Angriffskriegs gegründete Kollektiv Prykarpattian Theater baute mit institutioneller Unterstützung von der Kunststiftung NRW eine transformative Architektur im öffentlichen Raum, in der Fragen nach der Möglichkeit von Kunst in Kriegszeiten Tag für Tag neu ausgelotet wurden. Die Kollektivmitglieder – Filmemacher Yarema Malashchuk und Rō man Khimei, Performancekünstlerin Tereza Yakovyna, Grafiker Ostap Yashchuk sowie Bildender Künstler Ivan Bazak – erklärten im Austausch mit Kuratorin Ania Kołyszko und Kurator Nikita Sereda den Notfall zum Prinzip. „In diesen Zeiten fühlt es sich viel angemessener an, Kunst zu machen, die sozial engagiert ist“, sagte Kołyszko in einem im Sommer 2022 geführten Interview.
Sozial engagierte Kunst in Transformation Die Schöpfer:innen des „Theater of Hopes and Expectations“ entschlossen sich gegen einen fixierten Projektentwurf – zugunsten eines dynamischen, partizipatorischen Programms. Ein Schlüsselwerk politischer Konzeptkunst diente dabei als Inspiration: Mit „The Emergency Will Replace the Contemporary“ entwickelte Thierry Geoffroy/Colonel Ende der achtziger Jahre ein Kunstformat, das dem Jetzt – künstlerischen Positionen, die auf politische und soziale Notfälle aufmerksam machten – einen Raum bieten sollte. Nutzte Colonel das bildstarke Motiv des Zelts für seine „Notfallräume“, bediente sich das ukrainische Kollektiv dem bedeutungsträchtigen Bild des Hauses/Pavillons/Theaters. Das „Theater“ im Düsseldorfer Parkraum bot ukrainischen Kulturschaffenden sowie künstlerischen und dokumentarischen Artefakten einen Schutzraum, in dem flexibel auf Herausforderungen und Konsequenzen der Kriegsrealität eingegangen werden konnte: Geplant wurde von Ausstellung zu Ausstellung, es fanden Workshops oder Abendveranstaltungen wie Konzerte, Panelgespräche und Filmscreenings statt.
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„Theater“ als vielgestaltige Metapher „Ganz am Anfang ging es um das Mariupol-Theater als Symbol für die attackierte ukrainische Kultur“, sagte Kołyszko. „Was auch immer Russland angreift – Museen und Theater stehen neben der Zerstörung fragiler Infrastruktur mit an erster Stelle.“ Bei dem Bombenangriff auf das Mariupol Drama-Theater am 16. März 2022, das sich in der belagerten Stadt in einen zentralen Hilfsstützpunkt verwandelt hatte, wurden einer Recherche zufolge bis zu 600 Schutzsuchende getötet. Der Düsseldorfer „Theater“- Pavillon, in seiner Grundstruktur an den Mariupoler Theaterbau angelehnt, steht in dieser Lesart für die existenziell bedrohte ukrainische Kultur – als warnendes Erinnerungszeichen dafür, dass die Zerstörung (im-)materieller Kulturgüter der Ukraine
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Foto links oben Prykarpattian Theater, unten Elisabeth Bauer
Prykarpattian Theater Das Kunstkollektiv Prykarpattian Theater eint die Verbindung zur westukrainischen Stadt Kolomyja (Iwano Frankiwsk Oblast’) in den Vorkarpaten. Gegründet 2022 zu Beginn der russischen Totalinvasion, fanden die Mitglieder bereits einige Monate zuvor für die „Independence Day Exhibition. Claudio, Edik, Serhii, etc.“ in Lwiw’ zusammen. 2022–23 realisierten sie in Düsseldorf das Projekt „Theater of Hopes and Expectations“ und weitere Ausstellungen von Kyjiw bis New York.
Akteure Kunstinsert g estoppt werden muss. Das Kollektiv forderte dazu auf, sich nicht nur mit der Ukraine zu solidarisieren, sondern tiefgehend auseinanderzusetzen: vom Publikumsplatz aufzustehen, um Teil einer kunstpolitischen „Performance“ zu werden. Dabei steht die Theatermetapher in Kollektiv- und Projektnamen für ein vielschichtiges Spiel mit Wirklichkeitsbezügen, Inszenierung und Performativität. Von Anfang an war klar, was das Projekt nicht sein sollte: eine Repräsentation der Ukraine, auf deren Rücken deutsche Ukraine-Politik (theatralisch?) ausgetragen werden könnte. Das Kollektiv setzte – subversiv-performativ – eine temporäre „Kulturinstitution“ in die hiesige Kulturlandschaft hinein, in der Ukrainer:innen die Diskussion über die Ukraine selbst anführten, um ihr Verständnis einer umsichtigen Kulturarbeit in Kriegszeiten zu praktizieren. Der Projekttitel greift dieses Spannungsverhältnis auf, zieht die abstrakte „Hoffnung“ und konkrete „Erwartung“ auf ein Ende der Katastrophe hinzu. Schon der Name Prykarpattian Theater bedient sich auf ironische Weise des Theaterbegriffs: Gegründet in Kolomyja in den Vorkarpaten (Ukr. Prykarpattja), spielen die Kollektivmitglieder mit ihrer regionalen Identität, denn nicht alle kommen wirklich aus jener westukrainischen Region – und eine Theatergruppe sind sie ebenso wenig.
Verlorene, imaginierte, transformierte Häuser Auf der Finissage sind im Pavillon, sukzessiv mit von Theatern gespendeten Materialien ausstaffiert und dekoriert, Exponate der fünf vorhergegangenen Ausstellungen zu sehen, etwa hölzerne Fenster- und Giebelelemente zerstörter ukrainischer Dorfhäuser. Die Volunteer-Initiative Livyj Bereh hatte sie in abgelegenen ukrainischen Dörfern gefunden, gesichert und vorsichtig nach Düsseldorf katapultiert. Im Raum sind zudem vielgestaltige Hausmodelle aus Karton verteilt, in Workshops des Prykarpattian Theater in Kolomyja, Düsseldorf und Tscherniwzi entstanden. Binnenvertriebene, Menschen mit und ohne Fluchterfahrung waren eingeladen, ihre teils für immer verlorenen Häuser in materielle Erinnerungsformen zu gießen oder ein zukünftiges Zuhause zu imaginieren. In einer zweiten Projektphase verwandelte sich das „Theater“ selbst in ein Hoffnung spendendes Wohnhaus: Auf Initiative von Livyj Bereh wurde das massive Grundgerüst – eine Konstruktion aus tragenden und verstrebten Balken – in seine Einzelteile zerlegt und im Dezember 2022 von Düsseldorf aus in die Ukraine transportiert. Möglich gemacht durch eine mediale Spendenkampagne, in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Architekturbüro MNPL Workshop und lokalen Baupartnern entstand ein neues Zuhause für eine Familie, die bei russischem Artilleriebeschuss ihr Haus ver loren hatte. Am 2. Januar 2023 begannen die (Um-)Bauarbeiten.
Wenn Kunst ins Leben eingeht Anfang September 2023: Im Dorf Sloboda Kuchars’ka (Kyjiwer Oblast‘) werden letzte Arbeiten an einem ebenerdigen Wohnhaus getätigt, die Fenster mit schützenden Rahmenabdeckungen versehen. Olena Honchar führt zu ihrem neuen Haus, das aufgrund der modernen Materialien aus der ruralen Dorfumgebung heraus-
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In einer zweiten Projektphase verwandelte sich das „Theater“ selbst in ein Hoffnung spendendes Wohnhaus.
sticht: kleine, teils windschiefe Holzhäuser in verblichenen Farben hinter eklektisch aneinandergereihten Holzzäunen – umgeben von Gemüsegärten, Obstbäumen und Maisfeldern. Hier wohnt Großmutter Olena mit Tochter Inna und drei Enkelkindern. Die Rentnerin zeigt auf die Spuren des alten Fundaments, geht die Länge des inexistenten Hauses ab. „Hier stand es: vier Zimmer, eine große Veranda. Am 11. März sahen wir es in Flammen stehen. Nach 40 Minuten war nichts mehr übrig.“ Am 16. März wurden Frauen und Kinder evakuiert, auf ihrer Flucht kamen sie in einem Luftschutzkeller in Malyn und einem Lyzeum in Schytomyr unter, bevor sie schließlich in Byschiw (Lwiw‘ Oblast‘) von einer Freundin empfangen wurden. Olena führt hinein in das Haus, das die Familie im Sommer beziehen konnte – über einen kleinen Flur in den Hauptraum, der als Küche, Ess- und Wohnzimmer fungiert. Boden und Wände sind holzverkleidet, ein traditioneller Feuerherd, weißgetüncht, steht in der Ecke. Drei weitere Zimmer und ein kleines Bad gibt es. „Es soll eine Art Museum gewesen sein – bunt und aus Holz, wie unser altes Haus. Ich werde Wladyk und Ksenija mein Leben lang dankbar sein, dass sie uns dieses Haus gebaut haben“, sagt sie über Wladyslaw Šarapa und Ksenija Kalmus von Livyj Bereh mit Tränen in den Augen. Die Idee des vormaligen Kunstpavillons, mehr als ein White Cube in der Parklandschaft zu sein, wurde zur Vollendung geführt.
Der Appell lebt weiter Seit Projektende wird die Idee des „Theaters“ weitergetragen: Der dringliche Appell, den Ausnahmezustand – den ersten offenen Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg – ernst zu nehmen und Taten folgen zu lassen, behält in Form einer Projektdokumentation seine Gültigkeit. Auch wenn nichts die militärische Unterstützung internationaler Partnerländer ersetzen kann, illustriert das „Theater“ mitsamt seiner Transformation, dass künstlerische Praktiken imstande sind, solidarische Wirkkräfte zu aktivieren, wenn sie am meisten gebraucht werden. T Eine Publikation mit Texten verschiedener Autor:innen und Künstler:innen über das Projekt „Theater of Hopes and Expectations“, herausgegeben von Ania Kołyszko, ist geplant und wird voraussichtlich 2025 erscheinen.
Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert
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Akteure Porträt
Angst und Schmerz kriechen aus jeder Silbe Ästhetik und politischer Aktivismus: Mit Sprachkunst zelebriert Leo Lorena Wyss die Vielstimmigkeit der neuen Dramatik Von Elisabeth Maier
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Akteure Porträt In der männlich dominierten medizinischen Forschung ist Endometriose nur ein Randthema.
Foto Hanna Fasching
Den Schmerz, über den niemand spricht, kleidet Leo Lorena Wyss im neuen Stück in tränenschwere Worte. Da greift Wyss ein Thema auf, das auch in der Medizin oft ein Tabu bleibt. Hinter dem Fachbegriff Endometriose verbirgt sich das Leiden von Menschen, die jeden Monat schreckliche Regelschmerzen haben. Doch kein Arzt, keine Ärztin hört zu, wenn sie von den „Messerstichen“ spricht, die nach Wyss’ Worten „wie zwei Eisschollen den Rücken auseinanderreißen“. Als Hausautor:in des Nationaltheater Mannheim hat Wyss den Text „A propos Schmerz. Denken Sie an etwas Schönes“ geschrieben. Die Sprachkunst des/ der Hausautor:in fasst nicht nur das Leiden in eine poetische, mit starken Klangfarben aufgeladene Sprache. Der/die 27-jährige Aktivist:in schlägt zugleich kämpferische Töne an. Denn es sei kein „unabwendbares Frauenschicksal“, das Betroffene jeden Monat vor Schmerzen außer Gefecht setzt. Vielmehr gebe es Defizite in der Forschung. In der männlich dominierten medizinischen Forschung ist Endometriose nur ein Randthema. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass weltweit etwa 190 Millionen Menschen von Endometriose betroffen sind. Dennoch stehen Ärzt:innen hilflos vor ihren Patient:innen. Wyss ist selbst betroffen. Das macht ihren Text sehr authentisch. Dennoch gelingt ihr das Kunststück, das Thema auch aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Die Protagonistin Anna Blume geht auf deren Anraten joggen – auch wenn sie der Schmerz im Unterleib zerreißt. Ihre Angst, bis zur Bewusstlosigkeit in der Krankheit zu versinken, kriecht in Wyss’ Text aus jeder Silbe. Dennoch schafft sie den Balanceakt, immer wieder spielerisch leicht auf das Thema zu blicken. Da bringt sie eine populäre Filmfigur. Bergdoktor Hans Gruber, der zur besten TV-Sendezeit für jedes Leiden Rat weiß, gräbt sich in Annas schmerzträumende Fantasien. Doch in „A propos Schmerz“ ist auch er mit seinem Latein am Ende.
Leidensgeschichte mit politischem Diskurs
Leo Lorena Wyss, Hausautor:in am Nationaltheater Mannheim
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Sensibel und sprachstark tastet sich das vierköpfige Mannheimer Ensemble in Wyss’ vielstimmige Textpartitur hinein. Regisseurin Caroline Anne Kapp lenkt den Fokus auf den Körper, der an der unheilbaren Krankheit zu zerbrechen droht. Da befreit sie den Text auch von manchem Ballast. Klug konfrontiert sie in der Uraufführung die Leidensgeschichte mit dem politischen Diskurs, den Wyss klar und unverblümt aufs Tapet bringt. Die männlich dominierte Sicht, dass es eben keine Heilung für die Krankheit gebe, haben sich auch die Ärztinnen zu eigen gemacht: „Wissen Sie, wir Frauen / wir müssen die Kraft aus dem Schmerz schöp-
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Akteure Porträt „Die Brüste wachsen, und mit ihnen das Verlangen. Aber nicht nach Sebastian.“
fen / nach den Kindern wird’s besser / versprochen.“ Doch da bezieht Wyss klar Position und konstatiert, dass bei diesem vermeintlichen „Frauenthema“ viel zu wenig in die medizinische Forschung investiert wird. Daran krankt das System. Den Text hat Wyss als Mannheimer Hausautor:in geschrieben, im mondänen Wohnturm Collini-Center am neuen Stück arbeitend und dabei aus den oberen Stockwerken auf die Industriestadt an Neckar und Rhein schauend. Dabei ist künstlerische Isolation der jungen Dramatiker:in, die in Wien an der Universität für Angewandte Kunst bei Kollegin und Professorin Gerhild Steinbuch Sprachkunst studiert, eigentlich fremd. Deshalb hat Wyss als Hausautor:in ein neues Gesprächsformat geschaffen, das der Krankheit Endometriose ein Forum gibt. In der Reihe „Queer Doc“ im Studio Werkhaus lud sie Expert:innen ein. Dabei interessieren sie besonders die Erfahrungen, die genderqueere Menschen machen, die an Endometriose erkranken. Sie sind in der Medizin weiterer Diskriminierung ausgesetzt. Darüber mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ist Leo Lorena Wyss ein Anliegen. Zuhören ist eine von Wyss’ großen Stärken. Im direkten Austausch wird nachgehakt, der direkte Augenkontakt gesucht und genau nachgefragt, was das Gegenüber bewegt. Im Gespräch ist es Wyss wichtig, die Themen auch kontrovers zu diskutieren. So denkt Wyss sich leicht in andere Gedankenwelten hinein. Das hat Leo Lorena Wyss dazu bewogen, sich aktiv für andere zu engagieren. Als queere:r Autor:in hilft die/der Dramatiker:in in Wien jungen Menschen, ihre Identität zu finden. In der politischen Bildungsarbeit sei es wichtig, „über Themen zu sprechen, die viele in ihren Familien nicht zur Sprache bringen dürfen“. Die Ängste und Sorgen der jungen Menschen finden sich in den Texten. Neben dem Studium und dem eigenen Schreiben nimmt sich Wyss für diese Kommunikation sehr viel Zeit. Angesichts der politischen Lage und des Rechtsrucks in der österreichischen Gesellschaft fürchtet Leo Lorena Wyss allerdings, dass die finanzielle Unterstützung für diese Projekte wegfallen könnte. Angesichts der neuen politischen Konstellation ziehe da eine große Gefahr auf.
Queere Identität Was es für junge, queere Menschen bedeutet, ihre eigene sexuelle Identität zu entdecken und sie doch nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht leben zu dürfen, hat Wyss im Stück „Blaupause“ reflektiert. Poetisch und sprachgewaltig klingen die Sätze: „Die Brüste wachsen, und mit ihnen das Verlangen. Aber nicht nach Sebastian. Dreizehn Cousinenköpfe nicken und wippen und essen und trinken und schauen und hören genau, was passiert. Vor Scham unter den Pilz in der Suppe getaucht. Bum Bum Eis
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Foto Christian Kleiner
Akteure Porträt
Dominika Hebel, Rahel Weiss, Daniel Krimsky und Maria Helena Bretschneider in „Apropos Schmerz (Denken Sie an etwas Schönes)“ von Leo Lorena Wyss. Regie Caroline Anne Kapp am Nationaltheater Mannheim
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Lara Sienczak, Claudia Kainberger und Laura Dittmann in „Muttertier“ von Leo Lorena Wyss, Gewinnertext des Retzhofer Dramapreises 2023. Regie Mia Constantine am Burgtheater Wien
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Fotos Karolina Miernik
Akteure Porträt
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Der Blick in die Psyche einer jungen, queeren Person, die sich an ihre sexuelle Identität herantastet, funktioniert auch auf rein sprachlicher Ebene.
Krieg und Frieden S C HAU S P I E L
und Melonen und auf einmal blau und Frühlings Erwachen.“ Mit dem Stück gewann sie den Autor:innenpreis 2023 des Heidelberger Stückemarkt und den Retzhofer-Dramapreis. Die bildgeflutete Sprachkraft und die Konsequenz der Texte heben Wyss von vielen anderen Zeitgenoss:innen ab. Regisseurin Hannah Frauenrath hat in ihrer Uraufführung am Theater der Stadt Heidelberg den Rhythmus und die besondere Melodie, die „Blaupause“ prägt und auszeichnet, kongenial auf die Bühne gebracht. Das Coming-of-Age-Stück verortet sie auch visuell im Bühnenraum und mit den Kostümen von Laura Immler in einer Traumwelt. Jeremy Heiß hat eine Musik komponiert, die Sprachbilder sachte ins Surreale gleiten lässt. Der Blick in die Psyche einer jungen, queeren Person, die sich an ihre sexuelle Identität herantastet, funktioniert auch auf rein sprachlicher Ebene. In der Regie von Henri Hüster hat der Norddeutsche Rundfunk ein Hörspiel produziert, das den Rhythmus dieses Dramas schön zum Klingen bringt. Wie musikalisch Leo Lorena Wyss mit der Sprache arbeitet, zeigt die Partitur von Sophia Kennedy, mit der das Hörspiel unterlegt ist, besonders schön und stimmig.
von Leo Tolstoi in einer Fassung von Martin Laberenz unter Verwendung der Neuübersetzung von Barbara Conrad / ab 14 Jahren
Vielstimmig schreiben Autor:innenschaft ist für Leo Lorena Wyss immer vielstimmig. Der männlich dominierte „Geniekult“ hat für Wyss im Schreiben längst ausgedient. In die Stücke fließen Erfahrungen von Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebenswelten ein. Für die Schillertage 2025 blickt Wyss mit Beata Anna Schmutz, der Leiterin des Mannheimer Stadtensemble, aus einer neuen Perspektive auf Friedrich Schillers Erstlingsdrama „Die Räuber“. Mit Frauen aus Mannheim untersucht das Ensemble, wie das gemeinschaftliche Erbe auch heutige Generationen prägt. „Ein problematisches Drama“, wie Wyss bekennt. „Leo Lorena Wyss löst den Konflikt von den zwei konkurrierenden Brüdern und schreibt damit die Narration im Sinne einer ‚Verschwesterung‘ fort“, bringt Beata Anna Schmutz das Konzept auf den Punkt. Dazu begebe sich das Mannheimer Stadtensemble nicht nur auf die Spuren des literarischen Erbes der Stadt, sondern werde auch den Käfertaler Wald und den Karlsstern als Ort neuer Bündnisse erforschen. Für die Leiterin des Stadtensemble ist die Arbeit mit Wyss besonders spannend, „weil sie mit den Spieler:innen aus der Stadtgesellschaft ästhetische Konzepte weiterentwickelt“. Seit 2019 realisiert die deutsch-polnische Dramaturgin und Theaterregisseurin mit Bürger:innen künstlerisch innovative Projekte.
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ab 22.02.
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Als Dramatiker:in auf queere Themen reduziert zu werden, ist für Leo Lorena Wyss ein Problem. In einer Podiumsdiskussion zur neuen Dramatik am Tübinger Institut für Theatrale Zukunftsforschung (ITZ) im Zimmertheater brachte Wyss diesen Konflikt zur Sprache, der in der Theaterszene immer wieder zu beobachten ist. Dabei sperrt sich Wyss’ Dramatik eigentlich gegen solche Klischees. Denn die Stücke verhandeln existenzielle Probleme von Menschen, die alle berühren. Das zeigt das Drama „Muttertier“, das am Burgtheater Wien uraufgeführt wurde. Die Uraufführung von Mia Constantine im Vestibül hat 2024 den Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Bester Nachwuchs Autor:in“ gewonnen. Da blickt Wyss auf eine dysfunktionale Familie, unter deren Hass drei Geschwister leiden.
Sinnliche Poesie
Theater Performances Konzerte Workshops Diskurse Lesungen Theaterführungen Installationen Partys
Die extreme Familiengeschichte spielt die Tübinger Bühne, die neue Dramatik auf vielen Ebenen pflegt, nach. Magdalena Schönfeld hat das gesellschaftskritische Familiendrama an der intimen Bühne in der Studierendenstadt inszeniert. Für die KoIntendantin Corinna Huber ist Wyss’ „eine der starken Stimmen in der neuen Dramatik“. Huber und Intendant:in Peer Mia Ripberger haben Wyss bereits für eine Folge der Theaterserie „Im Taumel des Zorns“ gewonnen. Das Projekt, an dem sechs Autor:innen eine Serie auf die Bühne brachten, erregte bundesweit viel Aufmerksamkeit. Die gemeinsame Arbeit mit Kolleg:innen an dem Projekt hat Wyss Spaß gemacht. Nicht nur das Spiel mit dem filmischen Spannungsbogen war da herausfordernd. Wyss hat auch in dieser Produktion den Kontakt zur Praxis gesucht, und in einem Bestattungsinstitut Interviews geführt. Denn Wyss tat in der Krimihandlung gesellschaftspolitische Tiefenschärfe auf. So hat sie die Kapitalisierung des Todes und die Marktmechanismen des Bestattungswesens im Serienteil reflektiert. Ihre Sprachkunst trennt Wyss nie vom politischen Kontext. Inhaltlich steht Leo Lorena Wyss für ein zeitgenössisches Theater, das die engen Horizonte der Geschlechterrollen durchbricht. Die innovative Kraft dieser neuen, sprachgewaltigen Dramatik macht Lust auf ungewohnte, ästhetisch ausgefeilte Bühnenkunst, in der sinnliche Poesie und eine klare politische Haltung kein Widerspruch sind. T
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Akteure Nachruf
HARTWIG ALBIRO
Ermöglicher riskanter Kunst Nachruf auf den legendären Chemnitzer Regisseur und Schauspieldirektor Hartwig Albiro
Foto rechts picture alliance/dpa/Städtische Theater Chemnitz gGmbH | Ernesto Uhlmann
Von Hasko Weber
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Inzwischen liegt es viele Jahre zurück, dass ich Hartwig Albiro als Oberspielleiter an den Städtischen Bühnen Karl-Marx-Stadt kennengelernt habe. Damals, Mitte der Achtziger, zeichnete sich das gesellschaftliche Endstadium einer Republik, die im Begriff stand, einen ökonomischen Wettlauf zu verlieren und politisch zu erstarren, bereits deutlich ab. Keine Freiheit, nirgends! Oder doch? Meine studentische Hoffnung, im Theater einen Ort für mich zu finden, der Kunst, Selbstverwirklichung und Anarchie zulassen würde, erfüllte sich immerhin. Das Karl-Marx-Städter Theater unter der Leitung des sensiblen und klugen Gerhard Meyer erwies sich als ein wundersam freier Raum. Im neu errichteten Schauspielhaus, wie eine Insel direkt hinter dem Park der Opfer des Faschismus gelegen, leitete Hartwig Albiro das spannend besetzte Ensemble. Er war Regisseur und als besonderer Kenner der Commedia dell’Arte und der Stücke von Carlo Goldoni an vielen Theatern ein gefragter Künstler. Er war aber vor allem ein fleißiger Kümmerer, dem es um die Belange und Bedürfnisse seiner Leute ging. Hartwig Albiro interessierte sich für die Menschen in seinem Haus und steckte gemeinsam mit ihnen unter einer Decke, wenn es darauf ankam. Seine Nahbarkeit war die Quelle für ein geschütztes Miteinander und gegenseitiges Vertrauen. Ganz aus seiner persönlichen Haltung heraus hat sich Hartwig Albiro für sein Theater eingesetzt. Mit Mut und mit Witz. Uraufführung eines Gegenwartstücks? Den Genossen von der Bezirksleitung hatte Gerhard Meyer bereits nahegebracht, dass es inhaltlich um die Betonung humanistischer Werte und keinesfalls um das tragische Scheitern sozial ausgegrenzter Individuen ging. Hartwig Albiro stellte zusätzlich klar, wie hervorragend das Ensemble Figuren verteidigt, die offenbar keinen Platz mehr fanden im System des realen Sozialismus. Konfliktanalyse, Brecht, Dialektik – darum sollte es uns doch schließlich gemeinsam gehen? Die Genossen gaben nach. Unser Publikum dankte es dem Theater, das den
feinen Geist der Perestroika zu verströmen begann. Hartwig Albiro konnte vermitteln und das war unter den vorherrschenden Verhältnissen eine hohe, manchmal riskante Kunst. Dabei ist er geschickt vorgegangen und hat uns allen den Rücken freigehalten. Er brachte Verständnis auf für unsere Probebühnen-Revolutionen, unser großes Maul in der Kantine und stellte sich schützend vor uns für viele ästhetisch relevante und gesellschaftskritische Aufführungen auf der Bühne. Hartwig Albiro ist ein bescheidener und im besten Sinne großmütiger Chef gewesen. Viele der Regisseurinnen (!) und Regisseure überflügelten mit ihren Arbeiten bald seine eigenen Inszenierungen. Sie waren frecher, lauter, verrückter, provokanter. Frank Castorf, um den wichtigsten Künstler in diesem Zusammenhang zu nennen, stellte alles auf den Kopf, aktivierte das gesamte Haus, spielte es auch leer und eröffnet uns bis dahin ungekannte Freiheiten. Hartwig Albiro hielt das nicht nur aus, sondern trug es engagiert mit und setzte sich umfänglich dafür ein, dass diese neuen Ansätze in seinem Haus langfristig zur Entfaltung kommen. Er bewies über die gesamte Zeit seiner Arbeit als Oberspielleiter eine bemerkenswerte Größe, eine selbstlose Zurückhaltung und einen Respekt vor der Arbeit und dem Erfolg seines Ensembles. Wie selten diese Eigenschaften in den Leitungsebenen unserer Theater geworden sind, stimmt mich mit dem Tod von Hartwig Albiro nachdenklich. So viel Freiheit, überall! Hartwig Albiro lebte für das Theater und ist als Regisseur immer einer Suche nach Wahrheiten verpflichtet geblieben, auch als die Mauer gefallen war. Er wirkte später, bis in seine letzten Tage hinein, als Aktivist für die Kunst und die Kultur, als Zeitzeuge der Wende, als beherzter Demokrat, als umtriebiger Geist, unermüdlich und persönlich interessiert an den Menschen, mit denen er zusammen war. Hartwig Albiro ist 93 Jahre alt geworden. Am 31. Dezember 2024 ist er verstorben. Ich habe ihm einen großen Teil meines Selbstverständnisses als Künstler und Intendant zu verdanken. T
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Von Tiefseeterror und Mega-Mamas Simone Saftig über ihr Stück „Modern Mermates“, Weiblichkeitsvorstellungen unter Wasser und Schreiben als Literaturwissenschaftlerin im Gespräch mit Lara Wenzel
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Foto By Ranjith-chemmad - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59940741
Stück Gespräch Simone Saftig
StückMermates“ Gespräch Stück „Modern LARA WENZEL: Du arbeitest als Dramatikerin, Theaterkritikerin und Literaturwissenschaftlerin. In dir verbinden sich drei verschiedene Perspektiven auf Theater als Kunstform. Wie unterscheidet sich für dich der Blick, wenn du dich dem Thema aus der einen oder anderen Richtung näherst? SIMONE SAFTIG: Die sind alle in mir verschmolzen. Wenn ich mir ein Theaterstück angucke und weiß, ich sitze da als Kritikerin, dann bedeutet das, dass ich mir diese Brille aufsetze. Aber ich schalte alles andere nicht komplett aus und es befruchtet sich gegenseitig. Wenn ich beim Schreiben eines Theaterstücks da rüber nachdenken würde, wie man das als Literaturwissenschaftlerin analysiert, gäbe es eine Blockade. Als Literaturwissenschaftlerin spricht vor allem der Text zu mir, als Autorin lasse ich den Text sprechen. LW: Im Theater musst du deinen Text und seine Interpretation in andere Hände übergeben, damit er inszeniert wird. Wie geht es dir damit, deine Theaterstücke loszulassen? SISA: Ich glaube, Theresia Walser hat mal gesagt, dass ein Theaterstück anders als ein Roman nicht zwischen zwei Buch deckeln geschützt ist. Du gibst es raus, damit sehr viele kluge und kreative Menschen weiter darüber nachdenken. Das finde ich das Tolle daran. LW: Gerade steckt ihr mitten im Probenprozess am Theater Kiel, wo dein Stück „Modern Mermates“ beim Autor:innenwettbewerb Textflimmern gewonnen hat. Darin schaust du dir die Meerjungfrau als Mythos und Popfigur an. Was interessiert dich an Figuren wie der Sirene oder Nixe? SISA: Vor ein paar Jahren gab es diese große Disney-Neuverfilmung von „Arielle“, nach der die Figur noch mal einen riesigen Aufschwung erlebt hat. Der Mythos überdauert und wird immer wieder neu interpretiert. Z. B. im Mermaiding, wo Menschen sich Schwanzflossen anziehen und im Pool schwimmen, oder in der Serie „H2O – Plötzlich Meerjungfrau“, die in meiner Jugend ein großes Ding war. All diese Abbildungen und Interpretationen haben immer den perfekten Body-Mass-Index. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie Frauenkörper dargestellt werden. Selbst bei Fabelwesen orientiert man sich an Schönheitsidealen. LW: Aber deine Mermates wehren sich im Stück dagegen, dem Bild der Meerjungfrau zu entsprechen. SISA: Sie sind unzufrieden damit, dass ein menschengemachtes Bild von ihnen existiert, das sie idealisiert und fetischisiert. Das sind keine Jungfrauen und sie sehen nicht aus wie Arielle. Deshalb ist ihre Selbstbezeichnung auch Mates, also Buddies, Gefährt:innen, Kumpel. Gleichzeitig habe ich versucht, dass die Sprache neutral bleibt. In Kiel werden die Mermates von zwei weiblich gelesenen Schauspielerinnen gespielt, aber das muss nicht sein. LW: Die Mermates und andere Wasserwesen versuchen, gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen, aber sowohl der legale Weg als auch ein Anschlag scheitert. Damit lässt du die Leser:innen hoffnungslos zurück.
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Wir nehmen die Mermates mit nach Hause und wenn wir die Dusche aufdrehen, prasseln ein paar Mermates-Tropfen auf unser Gewissen. ein.
SISA: Für mich war dieses hoffnungslose Ende alternativlos. Gerade weil es so ein heiteres Stück ist, wollte ich nicht, dass man nur beschwingt aus diesem Abend rausgeht und sich auch noch freut, dass die Natur über die Menschheit gesiegt hat. Es ist weder die Aufgabe eines Theaterstücks, die Realität abzubilden, noch sie zu verschleiern. Deswegen war mir dieser Ausgang wichtig, in dem aber trotzdem ein kleiner Funke Hoffnung schimmert durch den Abgesang der Mermates. Obwohl sie umgebracht werden, kommen sie nochmals zu Wort. Das ist an der kleinen Meerjungfrau orientiert, die immer noch in der Gischt und den Wellen des Meeres weiterlebt und ihre Mission verfolgt. Wir nehmen die Mermates mit nach Hause und wenn wir die Dusche aufdrehen, prasseln ein paar Mermates-Tropfen auf unser Gewissen ein. LW: Du setzt dich nicht nur mit sexistischen Klischees unter dem Meeresspiegel auseinander. In „brüh im lichte dieses glückes“, das im Herbst 2024 Premiere in der Theaterfabrik in Düsseldorf feierte, geht es um die Popikone Sarah Connor und Mutterschaft. Was hat dich an der Verbindung interessiert? SISA: In der Bild-Zeitung habe ich mal diese Schlagzeile gelesen über die „Mega-Mama“ Sarah Connor. Das hat mich irritiert, weil ich mir dachte, warum wird jetzt Sarah Connor als Aushängeschild der perfekten deutschen Mutter verwendet und will sie das überhaupt? In Zusammenarbeit mit einem Kollektiv, vier Müttern und mir als einzige Kinderlose, haben wir das Thema inhaltlich bearbeitet. Und irgendwann ging es immer um die Kinder, weil sich an der Erziehung eines Kindes ganz beispielhaft alles manifestiert, was einen politisch und gesellschaftlich umtreibt. Weil ich super gerne popkulturelle Bezüge herstelle, wurde die Mega-Mama Teil des Stückes. Außerdem war „Naughty but Nice“ von Sarah Connor eines meiner ersten Musikalben. Auch um das Theater von seinem intellektuellen staubigen Image zu befreien, baue ich gern diese Verknüpfungen ein. LW: Im aktuellen Stück gibt es auch viele popkulturelle Bezüge, z. B. wenn die Mermates über Fußfetischisten auf OnlyFans sprechen. Machst du dir Sorgen, dass zu viel Popkultur die Halbwertszeit deiner Texte verringert und sie in ein paar Jahren nicht mehr verstanden werden? SISA: Im Kulturbetrieb und der Wissenschaft ist man von vielen prätentiösen Menschen umgeben. Es ist mir immer ein Anliegen, diese damit ein bisschen zu ärgern. Meine Stücke sind vielleicht nicht zeitlos, aber ich schreibe, was ich selbst gern sehen würde. Wenn Theaterbesucher:innen, die vielleicht keine
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Stück Gespräch Simone Saftig Auf der Bühne kommt es mir auf den Sound an. Mit Wortkombinationen, die über ihren Laut Spaß machen.
Foucault- Referenzen verstehen würden, meine Sarah-Connor- Zitate verstehen, freut mich das.
LW: Am 26. Januar fand die Premiere der „Modern Mermates“ statt. Hast du schon andere Projekte in der Pipeline? SISA: Im letzten Jahr habe ich mit dem Regisseur Marvin Wittiber das Projekt „Allein im Rosa Winkel“ realisiert, bei dem wir uns mit der Verfolgung von homosexuellen Menschen während des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und mit jungen Erwachsenen und Jugendlichen in einem Workshopformat einen Theaterabend kreiert haben. Im Februar folgt „Nach dem Rosa Winkel“ über die Zeit nach dem Dritten Reich und wie es mit dem Paragraf 175, der Homosexualität bis 1994 kriminalisierte, weiterging. Das Projekt führen wir als Ko-Produktion mit dem Theatermuseum Düsseldorf und u. a. in Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf durch. Außerdem schreibe ich gerade an einem Kinderstück, was mich vor ganz neue, aber sehr schöne Herausforderungen stellt. T
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Simone Saftig geboren 1993 in Dortmund, ist Literaturwissenschaftlerin, Kulturjournalistin und freie Autorin. Für ihre Kurzgeschichte »Raufaser blues« wurde sie 2019 mit dem „LesArt. Preis der jungen Literatur“ ausgezeichnet. Ihr erstes Theaterstück, „Talent Pool“, feierte im September 2023 Premiere in der Theaterfabrik Düsseldorf. Im Herbst 2024 folgte ihr zweites Stück „brüh im lichte dieses glanzes“ und im Januar 2025 wurde „Modern Mermates“ am Theater Kiel uraufge führt (Regie: Johannes Ender).
Foto Lukas Marvin Thum
LW: Neben dem kreativen Schreiben promovierst du auch noch über zeitgenössische Dramatik. Wie unterscheiden sich deine Schreibroutinen? SISA: Der wichtigste Unterschied beim literarischen Schreiben ist für mich die Intuition. Es ist weniger verkopft und manchmal habe ich eher das Gefühl, dass meine Finger formulieren anstatt meines Gehirns. Es ist viel körperlicher und sinnesgesteuerter. Das tut total gut, wenn man sich ansonsten oft mit Theorien und Analysen herumschlägt. Gerade auf der Bühne kommt es mir viel auf den Sound an. Ich suche also nach einer Sprache, die klingt, und Wortkombinationen, die über ihren Laut Spaß machen und eine eigene kleine Erzählung transportieren. Sonst habe ich noch keine etablierte Schreibroutine, aber wenn du jeden Tag schreibst, hast du keine Angst mehr vor dem weißen Blatt. Als würde man jeden Tag ins Fitnessstudio gehen und einen Muskel trainieren. Mir macht es Spaß, zwischen den Genres zu oszillieren. Dann nutze ich the best of both worlds: den Wissensbackground aus der Literaturwissenschaft und die bildhafte Sprache aus dem journalistischen Schreiben. Das verknüpfe ich so miteinander, dass im besten Fall Poesie entsteht.
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Theater der Zeit
Stück Modern Mermates Simone Saftig
Personenverzeichnis AMPHINOME, Mermate THETIS, Mermate DIRK, Delfin SEPHNA, Meeresgöttin LAURY, Tourist:in HARRY, Tourist:in
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Stück Simone Saftig
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Prolog Sephnas körperlose Stimme aus dem Tiefseereich. Schattengewächse. In den Tiefen, am Abgrund, dort wo Mensch nicht ist. Gefallene Götter. Verwundete Kriegerinnen. Auf der Erdkruste ausgestreckt, in Ruhe, in Stille, in Kälte gewickelt, zurückgezogen in eine Welt, die keiner kennt. Hinabgesunken in das Reich der Auferstehung. Hier suhlen wir uns im Erzschlamm, lecken wir Wunden, suchen Frieden oder sammeln Kräfte, erschöpft vom Kampf gegen alles Eingedrungene. Unentdeckt und vom Aussterben bedroht. Geheime Wesen im Unerschlossenen. Unser Habitat. Unser Königreich. Das letzte Fleckchen Erde. Vergessene Helden aus anderen Zeiten, einst verehrt und angebetet bis unsere Stimmen zitterten, brachen, schließlich verstummten, weil niemand mehr hörte. Wir sind durch Öl getaucht, haben Plastik gefressen, uns in Netzen verloren. Verklebte Federn, verstopfte Organe, verwundete Flossen. Mussten zusehen, wie es schmutziger wurde, alles, immer versiffter, es uns verschlang, den Atem nahm. Der Boden: Lava. Die Luft: Staub. Der Ozean: Plörre. Doch manchmal fällt ein Funke hinab ins Schwarz unserer Welt und blüht kurz auf bei unserem Anblick: den schillerndsten Wesen der Meere, die hier ruhen und zusehen in ohnmächtigem Wissen, umtanzt von Leben im Schleier der Nacht, dessen Schönheit sich niemand auch nur vorstellen kann.
SZENE 1: HARRY UND LAURY Harry und Laury fläzen sich am Ostseestrand in typischer Touri- Montur. Sie lutschen Bonbons und lassen die Verpackung ungeniert fallen. Ein Bonbon flutscht unbemerkt in die Wellen. HARRY Laury, ich komm nicht an den Caipirinha. LAURY Harry, dein Finger ist nur einen Zentimeter weit vom Glas entfernt. HARRY Laury, ich komme nicht ran. LAURY Harry, du musst dich nur ein wenig strecken. HARRY Laury, ich kann mich nicht strecken. LAURY Harry, dir fehlen nur wenige Zentimeter. HARRY (totally schockiert) Laury, ist das Glas doch weiter weg als einen Zentimeter? LAURY Harry, es sind vielleicht zwei Zentimeter. Es sind vielleicht drei Zentimeter. HARRY Laury, es sind vielleicht drei Zentimeter? Das ist zu viel. LAURY Harry, du musst dich nur ein bisschen bewegen. HARRY Laury, ich kann mich nicht bewegen. Ich muss entspannen. LAURY Wir bestellen dir einen neuen Caipirinha, Harry. HARRY POOLBOY, einen Caipirinha bitte, direkt in die Hand, bitte mit Partyschirmchen, bitte, POOLBOY! Liegen stumm. LAURY Ich kann mich nicht entspannen, wenn du atmest, Harry. HARRY Ich atme nicht, Laury. LAURY Kannst du bitte dennoch etwas leiser atmen, Harry. HARRY Ich atme leiser, Laury, du sollst dich entspannen, Laury. Wo © Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG
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bleibt mein Caipirinha?
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Stück „Modern Mermates“ LAURY Ich werde gleich wohl ein paar Bahnen ziehen, Harry. HARRY Laury, bist du dir sicher, Laury, es ist anstrengend Bahnen zu ziehen, Laury. LAURY Du hast recht, ich werde vielleicht einfach liegen, Harry. HARRY Wir haben es verdient zu liegen, Laury.
SZENE 2: SCHWANZFLOSSENPORNHUB Die Mermates entdecken das Bonbon. AMPHINOME (lutscht das Bonbon und analysiert) Mmmh, ich würde sagen: Butter, Sahne, Salz, Aromen, Süßungsmittel … geil! THETIS Und die Verpackung? AMPHINOME Schmeckt nicht. THETIS Wohin damit? AMPHINOME (happy) Oh, ins Haar vielleicht? Als Schmuck. So wie bei Arielle, die geht doch auch so steil auf alles, was von da oben kommt. THETIS Bitte nicht! Dieser ganze Hype um Arielle geht mir voll auf den Sack. Was für ne verklärende Story! I mean: Warum sich so ins Zeug schmeißen für irgend so nen Dude mit Füßen? Und wenn sie sich dann verwandelt? Ich meins ernst, ich kann da nicht hingucken, mir wird da richtig schlecht, wie sie so auf ihre Beine und Füße guckt. Da wo vorher ihre schimmernde Schwanzflosse war! AMPHINOME Wusstest du, dass Menschen richtig so einen Fetisch mit Füßen haben können? Die lecken sich die dann gegenseitig oder schicken sich Fotos und so. Von ihren Füßen. Ich find‘s wirklich heftig … THETIS Ich kotze. Mir tut das richtig weh zu sehen, wie Arielle ihre Schwanzflosse eintauscht gegen die Dinger! AMPHINOME … und manche machen sich so Internetprofile, da stellen sie dann ihre Füße rein und andere zahlen Geld dafür, damit die Zugriff drauf haben. THETIS Ich hab nie verstanden, warum genau da jetzt zehn Zehen dran sein müssen? Wofür braucht man zehn von denen? Und dieser kleine rechts und links außen. Wie so ein STUMMEL. Hallo, ich bin’s, ein kleiner Zehstummel und ich häng hier so ab neben den anderen ZEHEN außen in meiner kleinen käsigen Mickrigkeit, meiner fleischigen unnötigen Existenz! AMPHINOME … also manche stehen zum Beispiel voll darauf, wenn man mit den Füßen irgendwas ZERQUETSCHT. Dann kannste ne Anfrage stellen zum Beispiel so: Hey, ich find deine Füße mega geil. Könntest du dir vielleicht die Nägel rot lackieren und dann auf eine KETCHUPTUBE treten mit deinem obergeilen Fuß?! THETIS JA! Das auch! Warum lackieren die dann die Nägel? Auf den Füßen? Hä? Warum genau macht man die jetzt bunt? Um von ihrer Stummeligkeit abzulenken einfach? AMPHINOME Die verdienen da so 800 oder so, ich mein pro Video einfach mal so, zack. Aber du hast halt so eklige Fußfetischisten in deinem Posteingang. THETIS Ich hatte mal so’n Fisch, der sich da an meiner Schuppe so richtig so anwelsen wollte, wenn du verstehst. So festsaugen. AMPHINOME Eeww! Amphinome fotografiert ihre Flosse. THETIS Was machst du? AMPHINOME Ein Foto von meiner Flosse. Für OnlyFans. THETIS Damit ziehst du hundertpro so Meeresbiologen und so Typen mit Segelschuhen und so fünfzigjährige Spongebobfans an, das ist dir schon klar, oder?
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AMPHINOME Underwatermoneyflow, ich machs für Cash. Mach du mal ein Foto aus der Perspektive, bitte. THETIS Die werden dich eh nur für so nen bekloppten Menschen halten, der sich ne Schwanzflosse überzieht und im Pool seine Bahnen schwimmt. Dieser Kult ist so hilarious. AMPHINOME Mermaiding nennen die das. THETIS Die wollen so dringend wie wir sein einfach, also beziehungsweise wie ihre Vorstellung von uns. Wie so dieser klassische menschliche „Wassermann“-Typ, weißt du wie ich mein? AMPHINOME (nerdig) Bei den Menschen ist das sogar ein Sternzeichen. Wie Fische. Oder Krebs. Oder JUNGFRAU. THETIS Und deswegen fühlt sich der ein oder andere im Januar geborene Mann als „WASSERMANN“ und sagt dann in seinem All-Inclusive-Teneriffa-Urlaub so Sachen wie: Ich schwimm noch ne Runde, ich bin ein WASSERMANN. Guck mal Schatz, ich bin Triton, oh, jetzt bin ich eine Wasserleiche, guck, guck mal, ich schwimm an der Oberfläche mit dem Rücken obeeen, ich kann nen Köpper, guck mal, ich kraule, ich kann eine Minute unter Wasser die Luft anhalten, hey Schatz, ich nehm dich und döpp dich unter Wasser bis du fast kotzen musst hehehehhehe, guck mal, ich kann ne Rolle unter Wasser, oh nein, ich hab Wasser in der Nase, aaaargh schau, meine Algenfrisur, ich bin schon wieder Tritooooon, meine Badehose bedeckt gerade so meine großen Eieeeer, auf einer Skala von 1 bis 10 wie sexy findest du meine Speedo? Ich steige aus dem Meer wie ein echter Wassermann, SO SEXY und greife mir verwegen ins Haar, aua, eine Muschel, ich hab mir meinen ZEH geschnitten aua ein Steinchen, und hier hat mich eine Qualle erwischt mimimimi, hast du was zum Kühlen da? Kann ich deine kalte Coke nehmen, aua, das tut so weh, ich geh nie wieder schwimmen. „Ich bin eine echte Wasserratte!“ NEIN, du bist ein Mensch. Komm klar. Mal ehrlich, die sind doch OBESSED, oder? AMPHINOME Wir sind gewissermaßen die Projektionsflächen ihrer Sehnsüchte. THETIS (weiter auf ihrem Film) Und ständig denken sie sich irgendwelche Geschichten über uns aus, weil wir hier unten Leben, im Dunkeln, im Unbeherrschten, im WILDEN WASSER. Und wir sind fußlos und wunderschön, mit Mini-Taille und Knackarsch, glockenklaren Stimmen, Schauma- Werbehaar, wir leben in leuchtenden Korallenriffen, die vor Potenz blühen, ein Lebensraum voller shiny Algen und shimmering Anemonen, voll romantisiert, ist klar – als wäre hier irgendwas besser als oben. AMPHINOME Irgendwann haben sie dann aber den Überblick verloren, was sie jetzt in welcher Sage über wen erfunden haben. Arielle ist doch zum Beispiel eine Fusion aus Meerjungfrau und Sirene, der ihre SirenenStimme von der superbösen, aber übercoolen Tante Ursula geklaut wird, damit sie sich in ihrer Liebesmission … THETIS … mit diesem Fußtypen Eric … AMPHINOME … nicht verständigen kann. Was aber kein Problem ist, weil Arielle ist natürlich HINREIßEND und kriegt Eric auch ohne Erinnerung und Stimme rum – THETIS Sexistischste Story ever! Überhaupt, wir existieren in der gesamtem Menschenwelt ja nur als NARRATIV … AMPHINOME … Nixen, Wasserfrauen, Sirenen, Nymphen … THETIS Am besten gefällt mir ja das Image der Nixen: voll die Bad Asses unter den Meereswesen. In den menschlichen Geschichten ertränken sie Fischer und kidnappen Kinder und so. AMPHINOME Oh, oder die Sirenen! Bärtige Fabelwesen aus Mensch und Vogel oder Mensch und Fisch! Wie cool?
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Stück Simone Saftig THETIS Voll der wichtige Punkt, das mit dem Bart. AMPHINOME Ja, wo ist der eigentlich geblieben? Ich mein, GENDERFLUIDITÄT ist hier unter Wasser völlig normal. Es gibt schließlich Fische, die wechseln ständig ihr Geschlecht. THETIS Ja, so wie Ken. AMPHINOME Du meinst Lippfisch-Ken? THETIS Genau. Ken wechselt doch immer wieder spontan das Geschlecht, je nach Umgebung und Laune. Erst letztes Wochenende am Wrack als Partygag: Sau witzig. AMPHINOME Oh, oder, wie heißt noch mal der Ex von deiner Freundin Aquania, dieser Clownsfisch? THETIS Nemo. AMPHINOME Ja genau, ich hab‘ Nemo letztens gesehen und Nemo ist mittlerweile weiblich. THETIS Ach krass, ist die Matriarchin der Gruppe gestorben? AMPHINOME Sieht so aus – Haifischattacke, das reinste Blutbad – und Nemo ist jetzt deswegen Girl und hat die Führung übernommen. Wie GUT ist das?! THETIS Ich find ja, wir Meerjungfrauen kommen in den ganzen Mythen und Sagen ehrlich gesagt am schlechtesten weg. Wir sind halt die, die irgendwie immer auf Erlösung warten? So wie Arielle eben. AMPHINOME Stimmt schon. THETIS Echt unsexy. Allein die Bezeichnung „Meerjungfrau“ – puh. AMPHINOME Wir sind doch Mermates! THETIS Kumpel, Gefährt:innen. AMPHINOME M–A–T–E–S THETIS Weg von diesem MAID, MAID. AMPHINOME JUNGFRAU, JUNGFRAU. THETIS NÄ!
SZENE 3: DIRK Auftritt Dirk. Dirk ist ein ziemlich abgefuckter Delfin. Die Mermates haben diesen Monolog von Dirk vermutlich schon 2538-mal gehört. DIRK Also ich wäre ja froh über ein bisschen mehr Heldenmythos. Ganz ehrlich, was ist denn von uns übriggeblieben? Wir Delfine, wir werden behandelt wie Fischotter. Oh schau, wie süß, ein kleiner Delfin so wie Flipper, guck doch mal, wie lieb der guckt. Spring doch mal, kleiner Delfin so wie Flipper! Sprüh doch mal so eine kleine Fontäne aus deinem Rücken heraus! „Mit Delfinen schwimmen“
steht auf Platz 1 auf schätzungsweise jeder zweiten Bucketlist von Mona und Sophie und Lisa. Ja okay, wir haben von Natur aus ein freundliches Gesicht, aber deswegen sind wir noch lange nicht jedermanns best Buddy, okay? FUCK IT! Ich persönlich habe Demeter, eine verdammt noch mal OLYMPISCHE GÖTTIN, jahrelang, ach was JAHRZEHNTELANG, über den saronischen Golf getragen, ich war ihre stärkste Kraft, ihr bester Mann, ICH war ihr öffentlicher Nahverkehr UND ihr engster Vertrauter, bester Berater. Bis ich plötzlich nicht mehr gut genug war. Alle sprechen immer über Haiattacken, dabei gibt es mindestens genauso viele Delfin attacken, aber über uns hat halt kein verdammter Spielberg einen Film gedreht. Wir sind fucking RAUBTIERE! THETIS Raubtiere also, ja? (mitleidiger Blick) DIRK Naja, du weißt doch, mein Rücken. Da war was geklemmt vielleicht oder so, es tat nur kurz weh – Sportverletzung, nichts weiter, aber heutzutage wird man ja direkt ausgetauscht … ALS WÄR MAN VIEH. Dabei könnte ich noch! Ich könnte noch! Ich könnte locker! Könnte locker jede Meer-Göttin tragen und VERTEIDIGEN. THETIS Rückenprobleme hin oder her, es gibt doch gar keine Götter mehr, die man chauffieren könnte. Seit die Menschheit ihre Gottheiten abgeschrieben hat, leben die doch eh zurückgezogen am Meeresgrund und machen ihr Ding. Poseidon schmeißt zwar krasse Partys, aber mehr als Vollsuff und Kater kannste von dem auch nicht mehr erwarten …
SZENE 4: DIE ANKLAGE Zwischen Dirk und Amphinome gibt es diesen VIBE. AMPHINOME Hi Dirk. DIRK Moin Amphinome. AMPHINOME Hi Dirk! DIRK Moin Amphinome! AMPHINOME Hi Dirk! DIRK Moin Amphinome! THETIS Hi Dirk! DIRK Hi Thetis! THETIS Jetzt kriegt euch mal ein. Man könnte meinen, ihr seid Seepferdchen: Once in love always in love. Mir wird übel. DIRK Bullshit, Seepferdchen sind notorische Fremdgänger. THETIS Passt ja … Peinliche Pause. THETIS Also?
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Nebenan / Zblízka
Unabhängige Kunst aus der Slowakei 05. – 08.02.
Highlights Februar
œsterreichisches ensemble fuer neue musik Musik versus Barbarei 14.02.
Devid Striesow & Stefan Weinzierl Die Blechtrommel 15. & 16.02.
raster. soundtrack europe 20 — 25 Electronic Music Selection 21.02.
Stück „Modern Mermates“ DIRK Was also? THETIS Na, hast du sie dabei? DIRK Meinst du etwa … die? Holt Papiere hervor. AMPHINOME Da ist sie ja! THETIS OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, es ist so gut, dass du da rangekommen bist! DIRK Ich hab euch schon immer gesagt: Delfintherapie ist der Schlüssel zur Menschheit. THETIS Wobei ich mich echt frage, warum ausgerechnet du irgendwen therapieren solltest. DIRK Entschuldige mal, habt ihr noch nie meine balsamierende DelfinAura gespürt? AMPHINOME Doch! THETIS Nein! Jetzt lies endlich vor! DIRK (räuspert sich) Also, ich verlese die Anklageschrift, die wir (stolz) mit unserer anonym eingereichten Anzeige erzielen konnten: Herr Anselm Elsling, geboren am 21.01.1972 in Lübeck, verheiratet, Staatsangehörigkeit: deutsch, Inhaber der Hotelkette BEACH VIEW PARADISE wohnhaft Moltkestraße 13, 24105 Kiel wird angeklagt, in der Zeit vom 01.01.2023 bis zum 31.12.2023 am Strandabschnitt 22a bis 35c im Distrikt B1 A bis D, 1. in der Absicht, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, den Lebensraum vieler Meereswesen durch ordnungswidrige Müllentsorgung beschädigt zu haben 2. wider besseres Wissen durch Unterlassung von Säuberungsaktionen die Kontamination eines gesamten Meeresabschnitts vorangetrieben zu haben 3. wider besseres Wissen durch Verzicht auf umweltschonende Maßnahmen und sichtbare Verbote das umweltschädliche Verhalten der Besucher*innen seiner Hotelkette gefördert zu haben 4. zur Vergiftung und daraus resultierenden Krankwerdung von Meereswesen in 138 Fällen beigetragen zu haben 5. durch das Beifügen von Mikroplastik und andere Abfalleinheiten in die Nahrungsatmosphäre den Tod von 53 Meereswesen verschuldet zu haben THETIS Wunderbar, Dirk, ganz wunderbar!
AMPHINOME Und furchtbar, ganz furchtbar! THETIS Hoffentlich nageln sie den Elsling so lange darauf fest, bis seine EKELHAFTEN FÜßE zu schwitzen beginnen. DIRK 53 Tötungsdelikte. Dafür sitzt er lebenslänglich, oder? AMPHINOME Vor allem, wenn wir jetzt noch Beweise liefern! THETIS Hast du die Objekte dabei? DIRK 1: Tote Schildkröte mit blutunterlaufenen Augen. AMPHINOME Check! DIRK 2: Farblose Koralle, tot. AMPHINOME Check! DIRK 3: Abgeschnittene Haifischflosse. AMPHINOME Check! DIRK 4: Halber Babypinguin in Coladose, Todesursache Mikroplastik. THETIS Symbolbild. AMPHINOME Check! DIRK Die nächsten sind schwer verdaulich. AMPHINOME (über Pinguin) Also von diesem Babypinguin sind halsabwärts nur noch Gedärme vorhanden, also ich weiß nicht, ob es viel schlimmer werden kann. THETIS Lass sehen! DIRK Hier ist ein Seehundkopf mit ausgestochenen Augen, schwer zu sagen, ob das was mit Fischfang oder Satanismus zu tun hat. AMPHINOME (betroffen) Check. DIRK Okay Leute, hier ist ein Foto von nem Delfinleichnam an der Küste von Tokyo, die Brüder und Schwestern werden da von Kriegsschiffen zu hunderten ins Riff gedrängt, um zu verrecken, eine TREIBJAGD, damit mehr Fische für die Fischer übrigbleiben. AMPHINOME Sorry, Mann. DIRK Schon gut. THETIS Und die Haifischflossen? DIRK Chinesische Delikatesse, schmeckt nach nichts. DIRK Ich brauch noch ‘ne Kippe. AMPHINOME Echt jetzt? Du hast mir versprochen aufzuhören! DIRK Nur, weil du immer genörgelt hast. Beleidigte Stille. DIRK (überspielt die Verlegenheit) An der deutschen Ostseeküste machen Zigarettenkippen ungefähr neun Prozent aller Müllfunde aus. Wenn die hier schon in Massen reingespült werden, dann kann ich die auch noch rauchen. Und überhaupt: Wir Delfine haben mittlerweile Mikroplastik im Atem. Was macht da noch ne Fluppe aus. THETIS Word.
HOT WALK KEREN LEVI
PERFORMANCE
7. + 8.2.
PREMIERE
Forum Freies Theater
fft-duesseldorf.de
Stück Simone Saftig DIRK Oder ich werde in naher Zukunft vom nächstbesten Fischer mit der Harpune erwischt, dann kann ich meine letzten Tage auch noch im RAUSCH genießen, mich meinen Süchten hingeben. Flirtversuch mit Amphinome AMPHINOME So bestimmt nicht, Dirk. DIRK Versuch war’s wert. THETIS Alles klar, sind alle Objekte protokolliert? AMPHINOME Ja. THETIS Wir sortieren und beschriften sie und du nimmst sie mit zur nächsten Therapiestunde, Dirki! AMPHINOME Wir adressieren sie direkt ans Gericht, du legst sie am Beckenrand ab und dann drücken wir alle Schwanzflossen, dass es in die richtigen Hände fällt! THETIS DAS WIRD BIG! Zu schade, dass wir Anselms Gesicht nicht sehen können, wenn er seine sockensandalige Kundschaft vom Strand schmeißen muss. DIRK Mal gucken, ob ihm das Knastessen genauso mundet wie Schrimps und Schaumwein! THETIS Das wird ein Fest! Ein Präzedenzfall! Zuerst Elsling und dann die ganze abgefuckte Touriküste, erst hier, und dann in der ganzen WELT. Spürt ihr es, diese leichte Vibration? Das sind die Vorboten der Revolution! Amph, hast du noch das Papier? Dieses Bonbonpapier von vorhin? AMPHINOME Hier! THETIS Das bewahren wir auf. Das wird ein historischer Tag. Wir rahmen diese fucking Plastikverpackung ein und schreiben ihr ein Requiem! AMPHINOME Dirk, los, du hast nicht mehr viel Zeit! THETIS Und danach musst du rausfinden, was vor Gericht passiert! Für die SIEBEN WELTMEERE! AMPHINOME & DIRK FÜR DIE SIEBEN WELTMEERE!
SZENE 5: HARRY & LAURY Harry und Laury. Nach wie vor auf ihren Liegen, sie haben sich kein Stück bewegt. LAURY Hörst du das, Harry? HARRY Was soll ich hören, Laury? LAURY Etwas, Harry! Ich kann mich nicht entspannen, Harry! HARRY Was ist es denn Laury? LAURY Eine Fliege, Harry! HARRY Ich möchte aber keine Fliege hören, Laury.
LAURY Ich möchte auch keine Fliege hören, Harry. HARRY Die Fliege übertönt das Meeresrauschen, Laury. LAURY Ich höre das Meer auch nicht mehr rauschen, Harry. Ich höre nur die Fliege, Harry. HARRY Es ist keine Fliege, Laury, ich bin mir sicher, es ist keine Fliege, es ist ein stoßendes Geräusch, Laury, es ist ein abstoßendes Geräusch, Laury. LAURY Ein Seehund, Harry, es ist ein Seehund, ich höre es doch, es heult, Harry. HARRY Warum heulst du, Laury. LAURY Ich heule nicht Harry, es heult, Harry. HARRY Hör auf zu heulen, Laury, hör auf zu heulen. LAURY Harry, ich denke es ist weg, Harry. HARRY Aber ich höre es doch. LAURY Aber es ist das Meeresrauschen, es wird das Meeresrauschen sein, Harry. HARRY Jemand muss das abschalten, Laury, wir schalten das jetzt ab, Laury.
SZENE 6: RADIKALER MYTHOS DIRK Habt ihr schon mal Delfine kotzen sehen? THETIS Hast du schon mal Mermate-Kotze gesehen? Die glitzert im Dunkeln. DIRK Echt? THETIS Natürlich NICHT! DIRK Ich möchte so dringend erbrechen, was für eine RIESENGROßE Scheiße. Ich kann diesen indolenten Schnarchnasenfressen-Richter einfach nicht fassen: „Da die Beweislage nicht eindeutig ist und der Angeklagte einen umfangreichen Plan zur Verbesserung der Umweltsituation an seinem Privatstrand HOTEL BEACH VIEW PARADISE vorgelegt hat, werden alle Anklagepunkte gegen Herrn Anselm Elsling vonseiten der Staatsanwaltschaft fallengelassen.“ WHAT THE FUCK! THETIS Seit wann werden irgendwelche dilettantischen und offensichtlich nicht ernst gemeinten Pläne vor Gericht als Strafminderung zugelassen? AMPHINOME Strafminderung? Es gibt keine Strafe, gar KEINE!!! DIRK Keine Strafe für Elsling. Keine Strafe für irgendwen. Die einzige Strafe, die auf dieses Pack wartet, ist, dass sich das Meer in baldiger Zukunft das nimmt, was ihm zusteht. Ihre Länder schluckt. Bis dahin: Suff und Maßlosigkeit.
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THEATERRAMPE.DE
FEBRUAR 2025
SPAFRICA IMAGINALE 2025
PERFORMANCE
von Julian Hetzel & Ntando Cele
THIS IS NOT A LOVE SONG
THE TAMILIZATION OF AHILAN RATNAMOHAN von Ahilan Ratnamohan
PERFORMANCE
SOLIDARITÄT IM GEDENKEN UND ERINNERN 2025 COMMUNITY
GESPRÄCH
FILM
von Ülkü Süngün
WOLFGANG TANZ
PERFORMANCE
von backsteinhaus produktion
Stück „Modern Mermates“ THETIS Die Füßler hocken weiter mit ihren fetten Ärschen am Strand und brennen sich ihre ganze verkackte Epidermis weg, dann pellen sie sich und hinterlassen ihre ranzigen Schüppchen in unserem Lebensraum, überall hier ist es voller Mensch, sie hinterlassen ihre Fußnägel, ihre Hautschuppen, ihre Rotze, Spucke, sie pinkeln in unser Zuhause, sie kacken manchmal sogar, sie nehmen ihre BOOMBOX mit ins Wasser, sie spielen VENGABOYS auf voller Lautstärke oder noch schlimmer: DAVID GUETTA und dann heulen sie rum, weil sie irgendeine Qualle erwischt. Dann setzen sie sich wieder mit ihren Wabbelärschen auf den Sand, vergraben ihre ekelhaften Füße in den Leichen von Korallen und Muscheln, machen sich ihr DESPERADOS auf und sagen sowas wie „Herrlich“ und keine Sau interessiert, was hier unten vor sich geht. Sie sehen von Weitem die Wälder brennen und halten es für eine Lichtershow oder sagen höchstens „Huch“ oder „Ach du Schreck“ und dann: „Gut, dass es da drüben brennt und nicht bei uns“. Daraufhin nehmen sie ihre quietschgrelle Luftmatratze, ihre „LUMA“ und lassen sich treiben auf der Meeresoberfläche und das Letzte, was wir sehen, bevor wir sterben, ist ein überdimensionales Pizzastück aus Gummi, auf dem Konstantin oder Florian während seiner „Workation“ in den wohlverdienten Feierabend FLOATET. AMPHINOME Die machen einfach weiter und scheren sich nen Dreck um uns. (pure Verzweiflung) Sind wir denen denn wirklich scheißegal? DIRK Es ist ekelhaft. (fängt an sich zu betrinken, nach oben) Wisst ihr was, Menschen? Was ihr könnt, kann ich schon lange! Dann mach ich einfach mit bei euren exaltierten Sinnesfreuden. EAT THIS! (ext seinen Drink) THETIS Wie NAIV sind wir eigentlich gewesen, als könnten Argumente auch nur IRGENDWAS bewegen? Beweise und Fakten? Dass ich nicht lache! Die Menschen schützen sich gegenseitig, weil am Ende ja auch der eigene Urlaub gefährdet sein könnte. DIRK Dass sie sich verabschieden müssen … THETIS …von langen Strandspaziergängen AMPHINOME (findet langsam wieder ihre Mitte) … von entspannten Bahnen bis zur nächsten Boje … DIRK … von einem kühlen Bier mit den Füßen im warmen Sand … THETIS … von der ausgiebigen Strandlektüre eines preisgekrönten PAGETURNERS … AMPHINOME …von Salz auf den Lippen und Sonnencreme im Haar … DIRK …von Fischbrötchen und Paella mit Weißweinschorle am Rand der Promenade … AMPHINOME … von feuchten Handtüchern und eiskalten Fantadosen.
THETIS Aber ihr Life is a Party und denkt ihr wirklich, sie turnen die Music down, damit die Sause weitergehen kann? Sie verzichten auf rücksichtslosen Hedonismus und FUN FUN FUN? Auf die volle Dröhnung? Für UNS? Pause. DIRK (lallt schon ein bisschen) Sicher nicht. Trinkt. AMPHINOME Wenn man sie nicht mal auf rechtlichem, ich meine menschlich rechtlichem, Wege zur Vernunft bringen kann, dann wars das wohl. Aus, Schluss, Vorbei, Tschüss schöne Welt! THETIS Nee, Amph, das Gegenteil: Dann ist das der Anfang! DIRK Was meinst du? THETIS Na, ich meine, dass wir es selbst in die Hand nehmen müssen. Es ist unser Lebensraum, den sie Tag für Tag mit ihrem Hedonismus verschandeln! AMPHINOME Es ist unser Zuhause. THETIS Es wird Zeit, dass sie uns endlich zuhören. AMPHINOME (vernünftig) Du hast recht, Thetsi. Sie müssen uns endlich zuhören! Vielleicht, wenn wir ihnen die Beweise noch einmal … THETIS (redet sich in Rage) Das ALLES hier, müssen sie sehen, sie müssen endlich hingucken. HINGUCKEN, verdammt noch mal! Auf den Tod, der sich sanft auf die Wasseroberfläche legt, immer tiefer dringt … DIRK Was machen Menschen denn, wenn sie wütend sind? Was verändern wollen? AMPHINOME Sie protestieren. THETIS Sie führen Kriege! AMPHINOME (beschwichtigend) Oder streiken. Sitzstreik, Generalstreik, Hungerstreik… THETIS Das Problem mit den Streiks ist: Wir arbeiten nicht für die! DIRK (ziemlich angetrunken) Doch, das tun wir! Wir halten ihr Ökosystem am Laufen und bespaßen ihre Kinder, damit Mami und Papi am Wochenende mal nicht Bauklötze bauen und Mandalas ausmalen müssen. Das geht raus an alle Schwestern und Brüder in Sea World: Seid langweilig! Schwimmt nicht rum. Guckt nicht süß. Vermehrt euch nicht. Fresst nicht. Sterbt! Mal sehen, wie lange sie noch gaffen, wenn ihr alle mit dem Bauch nach oben schwimmt. Flipper, Bro, ich konnte dich nie besonders gut leiden, aber R.I.P. THETIS Das geht raus an Willy, an Knut und an Pulpo Paul. Wir denken an euch. AMPHINOME Stimmt schon, wir brauchen wahrscheinlich mehr Aktivismus!
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Änderungen vorbehalten
Regie B. A.
Bewerbungsfrist
→ → 09.03.2025
Zeitgenössische Theaterformen Film | Performancepraktiken
Dramaturgie M. A.
Bewerbungsfrist
→ → 31.03.2025
Stück Simone Saftig THETIS Wir müssen uns radikalisieren! Wie die Sirenen, die sie sich ausgedacht haben! DIRK (etwas abgelöscht) Ihr wollt wirklich ihre Kinder kidnappen? THETIS Und Fischer ertränken! DIRK Klingt spaßig. AMPHINOME Also ich weiß nicht. Wir vergreifen uns vielleicht mal im Ton. Vielleicht sind wir vulgär, ja. Geschenkt. So what. aber wir sind doch keine Attentäter. Wir sind doch grundsätzlich freundliche Wesen. DIRK (quatscht dazwischen) Kann man beim Radikalisieren Dosenbier trinken? THETIS Vielleicht braucht es andere Mittel. AMPHINOME Aber wir sind doch friedliebend, freundlich. Wir könnten unsere Stärken ausspielen. Wir sind laut. Wir können laut sein. Wir müssen lauter sein. Wir müssen einfach lauter sein, wir müssen unsere Stimmen erheben. Immer und immer wieder und lauter, wir müssen schreien, wir müssen ihnen die Scheiße um die Ohren hauen. DIRK Ach, das bringt doch nichts, wenn niemand zuhört. THETIS Hier unten hört uns niemand! Unser Schmerz ist für die da oben doch nichts weiter als Blubberblasen! DIRK Stimmt, von hier unten steigt unsere Not nur auf wie ein feuchter Taucherfurz. Rülpst. THETIS (konspirativ) Deswegen müssen wir sie mit ihren eigenen Waffen schlagen: mit einem Attentat. Wir treten an mit den Geschichten, die sie erfunden haben. Die Geister, die sie riefen. Die Sagen, die sie erzählen. Wir lassen alles Schlechte wahr werden, was sie uns Meereswesen jahrhundertelang angedichtet haben. Wir müssen jetzt was tun, bevor es zu spät ist. (zu Amphinome) Du bist ein Herzensmate. Mein Lieblingsmate. Dich brauchen wir auch! AMPHINOME Oder wir könnten es mit einer neuen Klage versuchen. Mit nem besseren Anwalt. THETIS Ich hab kein Bock mehr auf Versuche. Ich hab Bock auf radikale Mythologie. Leckt mir die Schwanzflosse, ihr Fischfresser, es reicht! Amph, du bist doch auch wütend? AMPHINOME Natürlich bin ich wütend. THETIS (zu Dirk) Und du bist wütend? DIRK Falls ich zu einer solch expressiven Gefühlsartikulation überhaupt noch fähig bin, ja. Wut. Unterwasserwut. Bisschen gedämpft. Aber da. Schau mir in die Augen, Kleines, sie lodern. THETIS Das ist gut. Das ist sehr gut. Amphinome, wie wütend bist du? AMPHINOME Ich bin sehr wütend. THETIS (spielerisch) Wie wütend bist du? AMPHINOME Ich hab‘s doch gesagt. THETIS Zeig es mir, ich will es sehen! (piekst sie neckend) AMPHINOME (muss ein bisschen grinsen) Ich bin wütend. THETIS Wie wütend bist du? AMPHINOME Ich bin wütend! THETIS WIE WÜTEND BIST DU? AMPHINOME (insistierend) ICH BIN WÜTEND! DIRK (zu Amphinome) Also bist du dabei? AMPHINOME DA KANNST DU GIFT DRAUF NEHMEN! DIRK Oh yeah! Wir brauchen Delfinattacken, meinetwegen auch Hai attacken, und Kidnapping und Sirenengesänge und kalte Fischerherzen! EAT THIS MENSCHHEIT. Ein Pakt wird geschlossen.
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SZENE 7: LAURY UND HARRY LAURY Ich will eine Makrele, Harry. HARRY Dann nimm dir eine Makrele, Laury. LAURY Ich vertrage keine Makrelen, Harry. HARRY Magenschonende Makrelen, Laury. LAURY Gibt es magenschonende Makrelen, Harry? HARRY Es gibt alles, was du willst, Laury, alles, was du willst, magenschonende Makrelen, Laury, magenschonende Makrelen. LAURY Oder vielleicht werde ich lieber etwas Vegetarisches haben, ein delikates Algentartar, Harry. HARRY Ich denke ich werde Austern haben, Laury. Oder Linguine, Laury. LAURY Oder vielleicht nehme ich Haifischsuppe, Harry. HARRY Gute Wahl, Laury, Haifischsuppe, Laury. LAURY Die isst man ja so selten, Harry. HARRY Die schmeckt nur im Urlaub so gut, Laury. LAURY Im Urlaub muss man sich auch was gönnen, Harry. Pause. LAURY Da, ein Kreuzfahrtschiff, Harry, es sticht auf hohe See, Harry. HARRY Die Menschen winken, Laury, sie fahren in den Urlaub, Laury. LAURY Ich will auch in den Urlaub fahren, Harry. HARRY Aber du bist im Urlaub, Laury. LAURY Oh HARRY Wir fahren auch mal mit dem Kreuzfahrtschiff, Laury, gräm dich nicht, Laury. LAURY Wir könnten nach diesem Urlaub mit dem Kreuzfahrtschiff fahren, Harry, direkt im Anschluss, Harry. Auf dem Schiff gibt es eine Crew, Harry, die alles für einen macht, Harry. HARRY Und einen Pool, Laury, und einen Fitnessraum, Laury. LAURY Der Kapitän gibt Massagen, Harry, er massiert einen, Harry. HARRY Und eine Sahnetorte, Laury, eine Sahnetorte mit leuchtenden Kerzen, Laury. LAURY Und der Kapitän massiert auch die Füße, Harry. HARRY Und ein Buffet, Laury, mit Meerestieren in exotischen Gewürzkrusten, Laury. LAURY Und er nimmt die Füße in den Mund, Harry, er küsst die Füße, Harry. HARRY Und es gibt Sonnenliegen, Laury, auf denen können wir liegen, Laury, endlich liegen. LAURY Endlich liegen, Harry, wir sollten dringend liegen, Harry. HARRY Die Liegen an Deck sind viel softer als hier, Laury, frottee-soft, Laury. LAURY Es ist hier nicht auszuhalten, Harry, ich halte es nicht aus, Harry. HARRY Ich buche uns das Schiff, Laury, ich hole uns hier raus, Laury. Bald schon werden wir auf soften Liegen liegen, Laury, frottee-soft, Laury. LAURY So unverhofft soft, Harry, so oft soft, so unverhofft oft soft, Harry. HARRY Endlich entspannen, Laury, endlich entspannen, wir entspannen soft, Laury, so oft so soft, Laury.
SZENE 8: NACHT DIRK In der Nacht sind alle Fische Schatten. In der Nacht sind Meer und Himmel eins. Alles fließt ins Schwarze. Unsere Dunkelheit dringt hinauf in die Luft. Alles ist Wasser. Ich gehe nachts spielen. Es ist das Einzige, das mir noch etwas entlockt. Meine Melone habe ich schon auf, wenn ich ins
Theater der Zeit 2 / 2025
Stück „Modern Mermates“ Casino schwimme. Roulette, Poker, Blackjack. Aber meistens spiele ich CRAPS. Angstschweiß und Adrenalin. Eine berauschende Kombination im Angesicht des bevorstehenden Todes. Und danach: Kommt die Traurigkeit. Was will man mit einem depressiven Delfin, der nicht mehr glänzt? Sie wollen doch alle nur unsere Unschuld, wir sind Hochglanztiere, aber der nutzt sich ab in dem ganzen Dreck hier unten. Wie kann ein Tier ohne Schuppen nur so verwahrlosen? AMPHINOME In der Nacht sind alle Fische Schatten. In der Nacht sind Meer und Himmel eins. Ich denke manchmal nachts an Dirk. Er ist nicht mein Typ und er raucht zu viel und verzockt sein ganzes Geld aus seiner Zeit als Showgirl in irgendso nem Korallencasino am Riff. Er hat zwei uneheliche Kinder und nicht mehr alle Zähne. Aber nachts fällt mir auf, dass ich ihn doch irgendwie mag. Er mir gefällt. Er hat seinen Glow verloren, seinen Sparkle, aber glitzernde Delfine waren mir ohnehin schon immer unheimlich. Skrupellose Showgirls, Zirkusbären des Wassers und hintenrum Arschlöcher vom Feinsten. Ein rauer Delfin ist mir lieber als einer, in dem man sich nur spiegeln kann. THETIS In der Nacht sind alle Fische Schatten. In der Nacht sind Meer und Himmel eins. Die Finsternis frisst alle Beweise und schluckt unsere Geheimnisse. In der Nacht schwimmen die Scheuen hervor hinter Korallen, Anemonen, Muschelfeldern, Kraut und Klippen. Aal, Waller, Karpfen, Quappe, Hecht, Zander, Meerbrasse, Scholle, Seezunge. Nachtaktiv. Nachtangler ködern mit Rotwürmern, Tauwürmern, Calamari-Tentakeln und Wobblern. Schleppnetze werden ausgeworfen. Langleinen heruntergelassen. Bis einer anbeißt. Fischer verziehen sich ins Schwarz. Dunkelheit wird Geborgenheit, Finsternis deckt zu und umarmt, verschleiert und verschluckt. Die, die getötet werden. Und die, die töten.
SZENE 9: KILL ‘EM IN THE NAME OF Vorbereitung des Angriffs. THETIS Zielort? DIRK Felsen, 4,3 km südöstlich vom aktuellen Standort. AMPHINOME Check! THETIS Equipment? DIRK Güldner Kamm, HINREIßENDER Haarschmuck, Spiegel, Proviant (Algentartar, Calamari frittiert), Hustenbonbons. AMPHINOME Check! THETIS Zielobjekt? DIRK Fischkutter Carmen. AMPHINOME Check. THETIS Route? DIRK Ausgangspunkt Fischereihafen Möltenort, Ziel Bornholm. Die Strecke führt in etwa einem Kilometer Entfernung am Felsen vorbei. AMPHINOME Auf dem wir sitzen und singen. Check! DIRK (konspirativ) In der Nacht sind alle Fische Schatten. THETIS In der Nacht sind Meer und Himmel eins. ALLE (stimmen in Schlachtruf ein) In der Nacht sind alle Fische Schatten. In der Nacht sind Meer und Himmel eins. Auf dem Felsen. AMPHINOME Das ist sau unbequem. THETIS Ich weiß nicht wohin, mit meiner Schwanzflosse! AMPHINOME Dirk, wie sieht das von unten aus? DIRK Heiß! AMPHINOME Im Ernst jetzt!
Theater der Zeit 2 / 2025
DIRK Nein, im Ernst, ihr seht krass aus, alle beide! THETIS Geht das mit der Schwanzflosse so? DIRK Im Leuchtturmlicht schimmert sie sogar. AMPHINOME Mir bohrt sich voll so‘n Stein in die Hüfte, Thetis, wie lange müssen wir jetzt hier hocken? THETIS Na, bis einer kommt, du Blitzbirne! AMPHINOME Lass mal schnell anfangen, bevor ich noch Krämpfe kriege. THETIS Nimm mal bitte deine Flosse aus meinem Gesicht, ja?! AMPHINOME Kannst du nicht noch ein Stück rutschen? THETIS Ja, wohin denn? Ich fall hier eh schon halb runter! AMPHINOME Ich sitz doch auch nur mit halber Arschbacke hierdrauf! DIRK Habt ihr schon angefangen? THETIS & AMPHINOME NEIN! THETIS Amphinome meckert nur! AMPHINOME Du meckerst doch selbst! DIRK Jetzt reißt euch mal zusammen da oben. Ich schwimm los. AMPHINOME Pass auf dich auf. THETIS Hast du den Kamm? AMPHINOME Hier. Wer fängt an? THETIS Keine Ahnung, ich kanns versuchen. Kämmt sich die Haare. THETIS So? AMPHINOME Wirf die doch mal so über die Schulter! THETIS So? AMPHINOME Ja, das sieht Hammer aus! THETIS Hab lange nicht gekämmt, um ehrlich zu sein. Hier klebt noch Alge von Poseidons Geburtstag. Stimmübungen.
SZENE 10: DEEP BLUE OCEAN THETIS DA! Dahinten kommt was! Oder? AMPHINOME Ist das Dirk? THETIS Er springt. Wow, not bad. Elegante Pirouette! AMPHINOME Er hat es doch noch drauf! THETIS Hörst du wie er schnattert? AMPHINOME (in love) Er singt. THETIS Quatsch nicht, Wale singen. Delfine pfeifen. AMPHINOME Er pfeift. Wunderschön pfeift er. THETIS Immerhin scheint es zu funktionieren. Da! Da kommt was! AMPHINOME Okay, it’s Showtime. Gib mir auch noch mal den Kamm! THETIS Jetzt mach aber schnell. DA! Amph, guck! Guck da drüben! Ein Kreuzfahrtschiff Amph, es ist kein Kutter!!! Es ist ein fucking Kreuzfahrtschiff! AMPHINOME Oh, was? THETIS Ein Kreuzfahrtschiff! Medienwirksamer geht’s doch gar nicht! AMPHINOME Ich weiß nicht, Thetis, es sind so viele! THETIS So viele was? AMPHINOME Na, so viele Menschen! THETIS Und unten im Wasser? Da sterben auch Tausende. Und zwar wegen denen! AMPHINOME Das kannst du doch nicht gegeneinander aufrechnen? THETIS Die bringen uns um, Amph! AMPHINOME Ja, aber nicht so direkt, eher so aus …Versehen? THETIS AUS VERSEHEN? BULLSHIT! Aus Ignoranz!
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Stück Simone Saftig AMPHINOME Und jetzt sollen wir das gleiche tun, ja? THETIS Was hast du denn plötzlich? Sie haben sich das mal wieder selbst eingebrockt. AMPHINOME Thetsi, ich weiß echt nicht … THETIS Wenn es jetzt nur ein Fischer wäre und kein ganzes Kreuzfahrtschiff, dann wär‘s nicht so schlimm, oder wie? AMPHINOME Nein, doch, nein. THETIS Wusstest du, dass auf einer einwöchigen Mittelmeer-Kreuzfahrt pro Passagier so viel CO2 produziert wird wie ein DURCHSCHNITTSDEUTSCHER in einem ganzen Jahr durch die Benutzung von Auto, Bus und Bahn verursacht?! AMPHINOME Du hast ja recht. THETIS Du musst jetzt singen! Ich weiß nicht, wie lange das Schiff noch hier ist! Amph, du hast die Sirenenstimme von uns beiden!
SZENE 11: SIRENENGESÄNGE STRESSED SEESTERN Seestern Seestern hast du Stress? Stress, weil es so heiß ist? Seestern, Seestern, ist dir heiß? Hitzestress, so heißt das Hitze Hitze waltet hier In deinem Habitat Zwei Grad können tödlich sein Jetzt braucht es guten Rat Twinkle twinkle little Star Solange du noch kannst Solang du was zu fressen hast Schlags dir in den Wanst Twinkle twinkle little Star Du schöne Stachelhaut Kuck mal, kleines Kalkskelett Des Siriuses Wasserbraut Kleiner Seestern stress dich nicht Vielleicht kannst du es schaffen Heißer wird’s und du gleich mit Versuche nur nicht hinzuraffen THETIS Das Schiff bleibt stehen, es funktioniert, wir haben sie, hör nicht auf zu singen! Amphinome singt, wird aber immer leiser. ROBBENBABY ZUM ABENDBROT Kommet zu Tisch bei Kerzenlicht Gestärkte Servietten und Rübenkraut Wenn die Gabel in die Kinder sticht Das Messer dem Kleinen die Rübe einhaut Ein Robbenbaby auf dem Teller Mit leeren Augen blickt’s Im Kerzenlicht dir ins Gesicht Dein Herzchen pumpt gleich schneller Fettige Haut und saftiges Fleisch Robben schmecken lecker
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Mit Kräuterkruste und Sauce Hollandaise Und frischem Brot vom Bäcker Schmausi Schmausi Schmausi Schmatz Robbenfetzen zwischen den Zähnen Yummi Yummi Schmackofatz Und Robbenrülps aufs Sabberlatz THETIS Da! Jetzt kommt es näher! AMPHINOME Thetis, ich kann das nicht, die ganzen Menschen, wie viele sind das auf dem Schiff? THETIS Weiß nicht, 5.000? 6.000? Sing! AMPHINOME Ich kann nicht, 6.000 Leichen, Thetsi! Du willst sie wirklich alle töten? THETIS Amph, ich bitte dich, wir sind kurz vorm Ziel. AMPHINOME Ich will nicht, Thetsi. THETIS (außer sich) Das fällt dir ja früh auf! AMPHINOME Ich meine es ernst, Thetis, ich will das nicht, wir sollten das nicht tun! THETIS Bitte, Amph, bitte, ich flehe dich an! AMPHINOME Achtung, ich springe! THETIS Was? AMPHINOME Geh aus dem Weg, Thetis. Ich springe! THETIS Das Schiff entfernt sich, Amph, es tuckert einfach weiter! Du musst jetzt singen! AMPHINOME (entschieden) NEIN! Es ist vorbei, Thetis! Das Kreuzfahrtschiff tuckert gemütlich weiter.
SZENE 12: HARRY & LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY LAURY HARRY
Liegst du soft, Laury? Ich liege soft, Harry. Gefällt es dir an Deck, Laury? Es sind viele Poolboys hier, Harry, so viele Poolboys. Und sehr viele Speisen, Laury, sehr viele delikate Speisen. Calamari, Harry, Calamari! Thunfischsteak, Laury, Thunfischsteak! Algentartar, Harry, Algentartar! Kaviar, Laury, Kaviar! Sprotten im Ganzen, Harry, Sprotten im Ganzen! Meeräschenrogen, Laury, Meeräschenrogen! Forellen-Pâté, Laury, Forellen-Pâté! Garnelen in Lake, Laury, Garnelen in Lake! Hummerbutter, Harry, Hummerbutter! Seeigelsuppe, Laury, Seeigelsuppe! Fischrogenpaste, Harry, Fischrogenpaste! Tintenfischtinte, Laury, Tintenfischtinte!
SZENE 13: SEPHNA Amphinome und Thetis sind wieder unter Wasser, aufgewühlt und außer Atem. THETIS (den Tränen nah) Warum hast du nicht weitergesungen? Das war unsere einzige, unsere letzte Chance! Siehst du nicht, was sie uns antun?
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Stück „Modern Mermates“ AMPHINOME Doch, ich sehe es. Ich sehe, wie hier alles stirbt. Aber das ist lange noch kein Grund unschuldige Menschen zu töten. Das bist doch nicht du, Thetsi! THETIS (versucht sich selbst zu überzeugen, es gelingt ihr aber nicht so recht) Revolution geht nun mal nicht ohne Opfer. AMPHINOME Wir haben uns verrannt. (behutsam) Thetsi … THETIS (am Ende) Ich will doch einfach nur, dass all das Schöne nicht kaputt geht. AMPHINOME (traurig) Ach Thetsi, ich doch auch nicht. Dirk taucht auf. DIRK Ladies! AMPHINOME (erleichtert) Du! Du! Du! Du Arschloch-Delfin! THETIS Wo bist du gewesen, Dirk? DIRK Es tut mir leid, ich konnte das nicht … THETIS (abgelöscht/zynisch) Und das fällt dir mitten in der Aktion ein, du schlaues Tier! DIRK Ich musste weg! AMPHINOME Dirk, du stinkst, wo bist du gewesen? DIRK Ich war spielen AMPHINOME Nicht schon wieder! DIRK Craps. AMPHINOME Craps also. DIRK Ich komm nicht davon los. Ist doch eh alles scheiße, guckt mich an: ein glanzloser Delfin, das muss man erstmal schaffen mit dieser reflektierenden Haut! Ich muss zurück ins Showbusiness, da war ich wenigstens wer … AMPHINOME Untersteh dich! Du hast hier doch aufgeregt rumgeplantscht und gebrüllt „Ich bin ein Raubtier! Ich fresse alles und jeden nja nja nja!“ Was ist mit unserem Plan? DIRK Ende, es ist das Ende, wir sind am Ende, ich bin schon lange am Ende, guck mich doch an! AMPHINOME Aber … DIRK Wir machen uns noch ein paar schöne Jahre, Monate, Tage, was auch immer und überlassen den Menschen einfach ihren katastrophalen Haufen Erde. Es gibt Snacks, Gambling und wunderschöne Wesen, mit denen man seine Existenz auskosten kann, ohne Gefahr zu laufen, ein Revolutions-Burn-out zu erleiden. Nutz die Zeit besser, um jemandem deine Liebe zu gestehen. THETIS (erschöpft) Ja. AMPHINOME Was? THETIS Ist doch egal jetzt. Wir haben es verkackt, das war’s. Dirk hat recht. AMPHINOME Thetsi, du kannst doch nicht aufgeben? Nicht du! THETIS Siehst du doch. AMPHINOME Thetsi, es ist noch nicht so weit. Wir geben nicht auf. Ich weiß, dass du das nicht willst. THETIS Und wie machen wir das? Das mit dem Nichtaufgeben? AMPHINOME (geht ein Licht auf, redet sich in Rage) Ich glaube, wir haben einen Denkfehler. Wir denken die ganze Zeit gegen die Füßler. Wir sollten anfangen mit ihnen zu denken. Wir sind auf sie angewiesen. Wir müssen ihnen eine echte Chance geben. Wir müssen sie überzeugen! THETIS Aha. Und wie gedenkst du das zu tun? Amphinome beginnt mit einer rituellen Anrufung. THETIS Was machst du da? AMPHINOME Ich rufe sie. DIRK Wen?
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AMPHINOME SIE! THETIS Wen meinst du, verdammt noch mal? AMPHINOME Na, wenn man die Menschheit nicht mit Fakten überzeugen kann, dann brauchen sie offensichtlich irgendwas, woran sie glauben können. DIRK Glauben? THETIS (wird neugierig) Amph, wen rufst du? AMPHINOME Na Sephna! DIRK/THETIS SEPHNA?! Auftritt Sephna gerne mit viel Glamour und Show. SEPHNA Wer will was von mir? AMPHINOME (happy) Sephna! SEPHNA Begrüßt man so eine Meeresgöttin? DIRK/THETIS Sephna! SEPHNA Kniet und küsst die Aalhände! THETIS Dich gibt es noch? SEPHNA Allmächtige! THETIS Dich gibt es noch?! Fordernder Blick von Sephna. THETIS … Allmächtige? SEPHNA Das will ich wohl hoffen, Fischchen. Und jetzt küsst. Die drei küssen sicherheitshalber die Aalhände. SEPHNA Also: Was ist euer Anliegen? Und jetzt kommt mir bitte nicht mit Weltfrieden und Vergebung der Sünden, dafür bin ich nicht zuständig. Andere Abteilung. Und bitte formuliert eure Absichten simpel und klar, ich habe es satt, Schachtelsätze auseinander zu dröseln. Ach, und vergesst die korrekte Ansprache nicht, Herrin, Goddess, Gebieterin, Allmächtige, sowas in der Art. AMPHINOME Wir haben in der Tat ein wichtiges Anliegen. SEPHNA Delfin! Es ist unbequem hier bei euch. Bring mir Bourbon und Blubberblasen! DIRK Wir haben keine Blubberblasen. SEPHNA Dir fällt schon was ein. AMPHINOME (räuspert sich, ungewohnt selbstsicher) Liebe Goddess, die Meere sterben und die Menschen haben nichts Besseres zu tun, als ihre fleischig-käsigen Füße hochzulegen und die Augen zu schließen, weil’s sonst blendet. Alle wissen Bescheid, aber keiner hat Bock zu verzichten. Und wir baden das hier im wahrsten Sinne aus. So lange bis wir dran ersticken. SEPHNA Ich weiß. Ich sehe das, Fischchen, ich sehe das. Aber die Menschen haben keine Ehrfurcht mehr vor ihren Göttern. Ganz schön ironisch, oder? Schließlich haben sie uns doch selbst erfunden. Tja, ihre Götzen haben jetzt Touchscreens. Ihre Hölle ist ein überfüllter Supermarkt am Samstagnachmittag. Entschuldigt, aber ich kann nichts tun. AMPHINOME Wir brauchen Veränderung, Gerechtigkeit. Wir wollen nicht hier unten in aller Stille an den Fehlern anderer sterben. THETIS Ach, ist das so? AMPHINOME Ja natürlich ist das so, du dickköpfige Mate! THETIS Selber! AMPHINOME Ich darf ja wohl mal die Methoden hinterfragen?! THETIS Solange du nicht die Sache hinterfragst. AMPHINOME Ich muss doch auch nicht immer mit allem einverstanden sein! THETIS Und ich auch nicht! AMPHINOME Nee, musst du nicht! THETIS Nee, du auch nicht!
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Stück Simone Saftig SEPHNA (abgelenkt zu Dirk) Die Blubberblasen könnten etwas intensiver sein. Du hast beim Craps gestern dein Kapital verzockt, Delfin? Falls du einen Job brauchst, dein Whirlpool gefällt mir. DIRK (zu sich) Woher weiß die das? SEPHNA Ich bin eine verdammte Göttin. Ich höre alles, Flipper. DIRK Pff, Flipper. Ich brauche mal ne Kippenpause. THETIS (zu Sephna) Also kannst du uns nicht helfen? War ja klar. AMPHINOME Du bist doch die Mutter des Meeres, die Göttin des Zorns! SEPHNA Und der Wasserpumpen! DIRK Gibt auch für alles Göttinnen mittlerweile … SEPHNA Richtig, ich bin die Königin der Tiefe und der Stürme! AMPHINOME Herrin Sephna, du kannst da doch bestimmt was drehen! Du warst doch selbst mal ein Mensch, oder? Vielleicht kannst du ja mit ihnen connecten … SEPHNA Vielleicht war ich mal ein Mensch, ja, aber dazugehört habe ich deshalb noch lange nicht, Fischchen. Ich sag euch mal eins, ganz unter uns: Als mich meine Brüder damals über Bord geworfen haben, das war der tragischste Moment meines Lebens – und der beste! DIRK Bei manchen ist das Glas aber auch immer halb voll … SEPHNA Im Ernst, Delfin, ich erklär dir jetzt mal was: Ich hab’s mir bequem gemacht auf dem Meeresgrund. Alles, was da schwabbelt und kräuselt, selbst die dunkelsten Gestalten, sind mir lieber als die Füßler da draußen. Ja, vielleicht frisst man sich hier unten auch mal gegenseitig auf, aber das ist der Circle of Life und was da oben abgeht? Circle of Death, wenn ihr mich fragt! AMPHINOME (überzeugt) Das ist der Spirit, den wir brauchen! SEPHNA Wisst ihr, was das Schlimmste ist? Die Ohnmacht. Jahrhundertelang fristet man sein Dasein als Meeresgöttin, will die Menschheit mit der Natur verbinden und was wird einem entgegengebracht? Nichts (wenn man Glück hat) und Abfall (wenn man Pech hat). Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen vergessen sogar, dass es eine Natur gibt. AMPHINOME Ohnmacht? Sephna, ich bitte dich, du hast doch das Sagen! Wie soll auch nur ein Füßler vor dem Meer niederknien, wenn sogar du aufgegeben hast? SEPHNA Aufgegeben? Erzähl keinen Unsinn, kleines Fischchen, eine Göttin gibt niemals auf! THETIS Du bist also noch eine von uns? SEPHNA Hör mal gut zu, Mate: In dieser Brust schlagen die Herzen aller Meereswesen gleichzeitig, seit dem Tag, an dem mich die Füßler verhöhnt und verstoßen haben. THETIS Und du findest, das Herz aller Meereswesen sollte seine Zeit am Meeresgrund verplempern, ja? SEPHNA Entschuldige, ich verplempere keine Zeit?! THETIS Das hört sich aber ganz danach an. SEPHNA Wurdest du schon mal enttäuscht? So richtig enttäuscht? Von deiner eigenen Familie? So sehr, dass es dir das Leben gekostet hat? THETIS (mit versöhnlichem Blick zu Amphinome) Nein. SEPHNA Und wurdest du schon mal mit der Mission beauftragt, völlig egozentrische Lebewesen auf etwas aufmerksam zu machen, das ihnen selbstverständlich und unendlich erscheint? THETIS (kleinlaut) Nein. SEPHNA Da hast du’s. Meinst du, ich hocke da unten rum und drehe Flösschen, weil mir das so gut gefällt? AMPHINOME Ich kann verstehen, dass du enttäuscht bist, aber: Du bist verdammt noch mal eine Meeresgöttin, Sephna! Du gehörst nicht ins Dunkel, du gehörst ins Rampenlicht!
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SEPHNA (hooked) Rampenlicht sagst du, ja? THETIS (geht schmeichlerisch auf Amphinomes Plan ein) Es kann nicht hell genug für dich strahlen. SEPHNA Naja, es gab ja Zeiten, da hat man viel von mir erzählt … vielleicht müsste man die Story hier und da etwas aktualisieren, den Zeitgeist treffen und ein wenig am Auftritt feilen … DIRK (klinkt sich ein) Vielleicht kommt es auf die Inszenierung an. THETIS Du hast es doch bestimmt noch drauf. SEPHNA Natürlich habe ich es noch drauf, Fischchen. AMPHINOME Na dann – worauf warten wir noch? THETIS (jetzt euphorisch) Wenn die Menschen dich wieder respektieren, hören sie dir zu! Wenn sie an dich glauben, werden sie das Meer schützen. Die Idee ist brillant. Amph, du bist brillant! SEPHNA (nachdenklich) Ja, gut, vielleicht habt ihr recht! (motiviert sich selbst) Ich bin die Herrscherin der Wellen! Ich bin die mächtigste Gewalt – in your face, Menschheit. Es wird Zeit für ein Comeback der Naturgeister! Und ihr: kommt mit! AMPHINOME Meinst du wirklich? SEPHNA (kommt in Fahrt) Kniet nieder, erzieht eure Kinder in Ermahnung der Herrin. THETIS YOU GO GODDESS! Wir sind dabei! AMPHINOME Ja? Sind wir? Und wie? SEPHNA Religion ist Performance: Gebt mir Music, Rhythm, Groove. Ich steige aus dem Wasser empor, rechts und links von mir ihr, ihr springt in die Höhe und ruft: Die Göttin ist zurück! Die Göttin ist zurück! Sephna, die Allmächtige! Sephna, die Mutter der Meere! Ich brauche euch alle drei als Support da oben! AMPHINOME Und wofür genau? SEPHNA Na, für eine legendäre Show, was glaubst du denn, Fischchen? Ich brauche ein neues Outfit. Etwas mit Algen und Glitzer. Irgendetwas Glitschiges. THETIS Wir können dir was zusammenstellen! SEPHNA Also seid ihr dabei? DIRK Wer fragt eigentlich mich mal? THETIS Ach komm schon, Dirki, ohne dich geht doch eh gar nix. Menschen starren stundenlang aufs Meer und flippen völlig aus, wenn sie auch nur die Spitze deiner Rückenflosse sehen. Dirk ist geschmeichelt. SEPHNA Na dann, legt los, zack zack, das Meer rettet sich nicht von alleine, ihr süßen Fischchen! Delfin! Mehr Bourbon und Blubber und lass mich an deiner Zigarette ziehen. I AM BACK. Die Mates verpassen Sephna ein neues Outfit. SEPHNA (betrachtet sich) Nicht schlecht, Fischchen, nicht schlecht. Also let’s go: Heute ist Fischmarkt am Ufer, wir haben also viel Publikum, perfekt für eine kleine Messe. Wir missionieren sie und machen sie zu unserer Herde. Wir waren lange genug unter Wasser, es wird Zeit für ein bisschen frische Luft, was meint ihr? Delfin: Du drehst Pirouetten! Mates: Ihr macht den Background. It’s Showtime.
SZENE 14: OBERFLÄCHE Die Sephna-Performance beginnt. Sie spricht zum Publikum. SEPHNA Menschen! (räuspert sich) MENSCHEN! Mein Name ist Sephna. Ich bin die Herrscherin der Meere, der mächtigste aller Naturgeister. Die Mutter der Wellen und Stürme, die Königin des Todes. Einst
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Stück „Modern Mermates“ war ich ein Mädchen von Land und fuhr mit meinen drei Brüdern im Ka-
DIRK Die Leute interessiert es nicht.
jak hinaus aufs Meer, um nach dem Tod des von mir geliebten Vaters
Sephna spritzt mit Wasser.
dessen Asche zu verstreuen. Und als auf offener See die Asche die Wogen
DIRK Eine Wasserschlacht. Sehr furchteinflößend. Wow, so tief sind wir
des Wassers erreichte, erschien uns des Vaters Geist. Er verkündete uns
gesunken.
seinen letzten Wunsch und machte mich zur rechtmäßigen Erbin seiner
SEPHNA AMEN! AMEN! AMEEEEN! SEHT DER LEIB GOTTES,
Fischerei, da ich schon als junges Mädchen das Wohl des Meeres über die
DER HINWEGNIMMT DIE SÜNDEN DER WELT!
Gier des Menschen stellte. Mein Vater war gleichermaßen bekannt für
DIRK Wow, jetzt wird’s verzweifelt.
seinen gütigen Umgang mit Mutter Natur und den besten Kabeljau der
AMPHINOME Hey, wartet! Schaut doch mal, sie sehen zu uns herüber!
Stadt. Als meine Brüder den Geist sprechen hörten, wurden sie zornig,
THETIS
hatten sie doch längst einen Plan geschmiedet, nach dem der älteste Bru-
DIRK Ihr habt recht. Sie formieren sich, es werden immer mehr.
der Kolja die Fischerei erben und seine zwei Brüder gleichermaßen ent-
SEPHNA (voll aus dem Häuschen) Eine Herde! Eine Herde! Kommt
lohnen wollte. Des Vaters umsichtigen Fischfang plante Kolja zu ersetzen,
her, meine kleine Herde!
sodass das Glück des Fisches dem Profit eines wachsenden Unternehmens
AMPHINOME Es hat geklappt, Sephna! Sie kommen zu uns, sie wollen
weichen sollte. Blind vor Gier nach Reichtum und Luxus sahen die Brüder
dir zuhören! Ich wusste, dass es klappt!
nur einen Ausweg: Hinfort mit mir, der durch den Geist beschworenen
THETIS
Erbin. Freundin der Tiere. Anwältin der See. Zunächst schnitten sie mir
DIRK Traut euch ruhig, wir beißen nicht!
die Zunge heraus, auf dass ich, sollte ich überleben, nichts von alledem
SEPHNA Es sind so viele. Und sie kommen immer näher!
erzählen könnte. Dann stießen sie mich, ohne dass ich mich wehren konn-
AMPHINOME Hey, schön dass ihr da seid! Wir haben euch noch so viel
te, über Bord. Mit letzter Kraft klammerte ich mich am Bug fest, doch die
zu sagen!
(euphorisch) Wir haben sie! Amph, wir haben sie am Haken!!!
(überschäumend) Wir haben es geschafft! Hey, hier drüben!
Brüder schnitten meine Hände vom Körper. Und als ich in die See stürzte,
SZENE 15: HARRY & LAURY
wuchsen dort wo die Hände waren, Seeigel, und dort wo die Finger waren, lange Aale. Und auch dort, wo die Zunge saß, wuchs ein Aal. Denn das Salzwasser mit all seinem Leben ließ dies Unrecht nicht geschehen. Und während ich in die Unterwelt des Wassers hinabsank, formierte sich das
LAURY Was ist das, Harry, siehst du das auch, Harry?
Meer für meine Rache. Jede Unterwasserseele stürzte sich auf das Kajak,
HARRY Was meinst du, Laury, ich sehe nichts, Laury!
das die drei Brüder trug, und verschlang es mitsamt seinen Insassen, die
LAURY Da vorne im Wasser, Harry, ein Protest, Harry!
seit jenem Tage nie mehr gesehen wurden. Ich hingegen lebte weiter am
HARRY Ich sehe sie, Laury, eine exaltierte Person, Laury!
schwarzen Meeresgrund.
LAURY Und Menschen mit Schwänzen, Harry, Menschen mit Schwän-
Hier herrsche ich und entscheide über Leben und Tod. Jeder hat mich
zen! Sind das Aale an ihren Händen, Harry, lauter Aale?
zu fürchten. Ob Mensch, ob Tier, ob Meereswesen. Aber ich bin eine ge-
HARRY Laury, schau nicht hin, Laury.
rechte Göttin. Mein Zorn treffe nur diejenigen, die Unrecht tun. Jene Men-
LAURY Woher kommt der Lärm, Harry? Was passiert nur, Harry, siehst
schen, die die Meere vermüllen, die Luft verpesten und maßlos konsumie-
du das Harry?
ren. Die mehr Fische fangen, als es ihnen erlaubt ist. Die keinen Respekt
HARRY Vom Hafen, Laury, vom Hafen, eine Meute versammelt sich am
vor den Meereswesen haben. Auch euch soll mein Zorn treffen. Ich bin
Dock.
Sephna, ich bin alle Lebensform, ich bin die Natur, ich bin ihr.
LAURY Zerschlägt die Meute den Protest, Harry?
Menschen, ihr seid ein Teil von uns. Auch ihr seid Natur. Wann begreift
HARRY Ja, Laury. Das sind bestimmt Radikale, Laury.
ihr das? Was euch umgibt, ist keine Umwelt, es ist Welt. Wir sind alle eins.
LAURY Radikale mit Fischschwänzen, Harry, Radikale mit Fischschwän-
Ihr habt den Glauben an mich verloren, wie ihr den Glauben an die Natur
zen!
verloren habt. Nehmt diese kleinen Armbänder als Zeichen meines Kultes
HARRY Da muss man schon handeln, Laury, da muss man was tun,
und Symbol eurer Anerkennung meines Zorns. (Mermates und Dirk wer-
Laury.
fen Armbänder à la „Swiftie-Bänder“). SEHT MICH AN, BETET MICH
LAURY Sie töten die Radikalen, Harry, sie töten sie!
AN! ICH BIN SEPHNA. DAS IST DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA!
HARRY Nein, sie unterbinden nur, Laury, sie unterbinden.
SEHT MICH AN, BETET MICH AN, ICH BIN SEPHNA. DAS IST DER
LAURY Aber sie haben Gewehre, Harry, sie haben Gewehre!
BEGINN EINER NEUEN ÄRA! SEHT MICH AN, BETET MICH AN.
HARRY Es sind Harpunen, Laury, es sind Harpunen.
ICH BIN SEPHNA. DAS IST DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA! [wahl-
LAURY Ein Blutbad, Harry, tu was, ein Blutbad! Mir vergeht der Appe-
weise Wdh.]
tit.
(Findet keinen richtigen Abschluss) AMEN!
HARRY Wir müssen hier weg, Laury, es ist nicht auszuhalten, Laury!
Und nun: Kommt her, meine Kinder und lasset uns sprechen.
LAURY Du hast recht, Harry, aber ich kann mich nicht bewegen, Harry.
Hallo?
HARRY Ich kann mich ebenfalls nicht bewegen, es ist so soft, so frottee-
Hallo?
soft!
Hallo?
LAURY Morgen, Harry, morgen bewegen wir uns, Harry.
AMPHINOME Was ist los?
HARRY Ja, Laury, morgen, Laury, morgen.
THETIS Die reagieren nicht. SEPHNA Wie können sie es wagen, diese blöden Trottel?!
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Stück Simone Saftig
SZENE 16: DER ABGESANG
Und dem Scheitern in glorreicher Verve So werden sie Amphinome, Thetis, Sephna, Dirk
Es lebten einst in den schaumigen Wogen der See
CHOR
Stets in eurem Sinne sein
Zwei Mermates so schön, weil sie waren wie sie waren
DIRK
Und haben doch als Schaumschlag des Meeres
Auf ihre Weise bezaubernd
Ihren größten Wunsch noch erfüllt
So wie es ein jeder ist
DAS IST DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA.
CHOR
Und mit ihnen ein Delfin der lasterhaft zwar AMPHINOME
Aber mit strahlendem Herzen Und unbescholten das tat Was er für richtig hielt Eine Meeresgöttin der von menschlicher Hand
THETIS
Furchtbares Unrecht widerfahrn
– ENDE –
Die in den Schwärzen des Meeres Wartete darauf, dass jemand an sie glauben könne So lebten sie missverstanden vom menschlichen Blick SEPHNA
verkehrt übersetzt in eine Welt Die ihrer nicht im Ansatz entsprach Und so ihren Ausschluss bedeuten musste Niemand hörte ihre Klage Niemand sah ihre gewaltige Kraft
DIRK
Niemand glaubte an ihr Recht Und so entledigte man sich ihres lästigen Anrufs Verändern wollten die Wesen die törichte Welt Zum Guten wenden der Menschen Sinn
AMPHINOME
Retten, was ihnen teuer war Doch sterben mussten sie des Wandels statt Und euch bedauern sie zutiefst
CHOR
Denn schon bald kommt der bittre Tag An dem ihr erwachet in Gewissheit Des peinigenden Schicksals, das euch blüht Und wenn auch ihr letzter Schwimmzug getan So sind sie verschwunden nicht Sondern Meeresschaum der eure Füße umspielt
THETIS
Und Wellengang der eure Körper trägt Und ewig sprechen wird die See Von ihren heldenhaften Taten
SEPHNA
Ihren tapferen Versuchen
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Theater der Zeit
Foto picture alliance / Anadolu | Mirian Meladze
Diskurs & Analyse
Georgische Bürger:innen demonstrieren mit pro-europäischen Plakaten sowie georgischen, amerikanischen und EU-Flaggen, während sie weiterhin gegen die Entscheidung der Regierung protestieren, die Gespräche über die EU-Mitgliedschaft auszusetzen, in Tiflis, Georgien
Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Hannah Stollmayer „Dramaturgie der Solidarität“
Theater der Zeit 2 / 2025
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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #05
Dramaturgie der Solidarität Von Hannah Stollmayer
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Foto privat
Hannah Stollmayer ist Dramaturgin und Autorin. Sie studierte Germanistik, Soziologie und Theaterwissenschaft und erhielt ein Doktorandenstipendium der Universität Hamburg. Von 2018 bis 2020 war sie Dramaturgieassistentin und Produktionsdramaturgin am Thalia Theater Hamburg. 2020/21 wechselte sie an das Stadttheater Konstanz. Seit der Spielzeit 2024/25 ist sie unter der Intendanz Hartmann/ Heine leitende Dramaturgin für Schauspiel am Hessischen Staatstheater Wiesbaden.
Theater der Zeit 2 / 2025
Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #05 Das Unfassbare noch einmal benennen: Am 24. Februar 2025 jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine zum dritten Mal. Und es wird immer noch gekämpft. Der Angriffskrieg ist mittlerweile in einen Abnutzungskrieg übergegangen. Seit drei Jahren verlieren Menschen ihr Zuhause. Seit drei Jahren verlieren Menschen ihre Zukunft. Seit drei Jahren verlieren Menschen ihr Leben. Seit drei Jahren ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Dieser Ausnahmezustand hat neben den politischen Fragen bezüglich Waffenlieferungen, Aufrüstung und Beitrittsverhandlungen mit EU und NATO ebenfalls zu einer grundlegenden Frage geführt: Was ist Europa heute? Was hält „unser“ Europa zusammen? Wer gehört dazu? Wer nicht?
Vor einem Jahr Letztes Jahr war ich Anfang Februar in Tiflis, Georgien. Das Vaso Abashidze Professional State New Theatre Tbilisi, das bis zu seinem Umzug in ein aufwendig renoviertes Theatergebäude im Jahre 2021 als Vaso Abashidze State Music and Drama Theatre bekannt war, hatte zum ersten Mal zu einem viertägigen Showcase eingeladen. Unter der Intendanz von David Doiashvili zählt das Vaso Abashidze New Theatre zu den renommiertesten Staatstheatern in Georgien und ist vor allem bei einem jüngeren Publikum zwischen 20 und 40 Jahren sehr beliebt, wie ich an diesen Tagen erleben konnte. Das Programm des Showcase umfasste Inszenierungen von Klassikern, zeitgenössischer Dramatik und Romanadaptionen von unterschiedlichen georgischen Regisseuren. An Round tables konnten wir uns mit internationalen Theaterschaffenden über das Gesehene unterhalten, über Produktionsbedingungen in europäischen und außereuropäischen Ländern austauschen und während einer Stadtführung, gemeinsamen Essen oder eines Besuchs bei einer Kinder- und Jugendtanzgruppe die Stadt und die Menschen vor Ort etwas kennenlernen. So weit, so typischer Theater-Showcase. Allerdings lag hier noch etwas anderes in der Luft. Wenige Tage zuvor war der Ministerpräsident Irakli Garibaschwili von seinem Amt zurückgetreten, um sich als Vorsitzender der Partei Georgischer Traum für die Parlamentswahl im Oktober 2024 aufzustellen. Der russlandfreundliche georgische Milliardär Bidsina Iwanschwili, Mitbegründer der genannten Partei, war wieder auf der politischen Bildfläche erschienen und unterstützte den Parteivorsitz von Garibaschwili. Iwanischwili gilt als politischer Strippenzieher hinter den Kulissen, und die georgischen Theatermacher:innen, mit denen ich sprach, beobachteten diese Entwicklung mit großer Sorge. Georgien war erst seit kurzer Zeit Beitrittskandidat für die Europäische Union, der Wunsch von vielen – vor allem jüngeren – Georgier:innen, zu Europa zu gehören, war groß. Die Erinnerungen an die Sowjetzeit, an die Bürgerkriege nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre, an den kurzen Krieg gegen Russland 2008 waren nach wie vor sehr präsent. Das zeigten z. B. die Inszenierungen von Mikheil Charkviani (bekannt für seine Performance
Theater der Zeit 2 / 2025
Nino Haratischwili: „Europa, deine Ränder schmelzen, und die Albträume kriechen über die Schutzmauern.“
„Exodus“ bei den Wiener Festwochen 2018), die wir im Rahmen des Showcase-Programms sehen konnten: In „Bunker“ nach dem Roman von Iva Pezuashvili und „Dying as a Country“ von Dimitri Dimitriadis setzt sich Charkviani mit Kriegserfahrungen und Traumata im Kontext der Gegenwart Georgiens auseinander. In einem Gespräch brachte er die gegenwärtige Situation auf den Punkt: Die Generation Z beziehungsweise Alpha wird seit vielen Jahren als erste Generation ohne kriegerische oder kriegsähnliche Zustände in Georgien aufwachsen können. Auf einer Makroebene spüren seine Inszenierungen den Fragen nach, welche Rolle dieses Land auf der Grenze zwischen Europa und Asien einnehmen kann, wohin politische Mächte es ziehen und wie sich die Bevölkerung positionieren möchte. Dass dieses Theatertreffen ein ziemlich konkret politisches Anliegen verfolgt, wurde gegen Ende des Showcase nochmals deutlich. Bei einem offiziellen Empfang mit der (mittlerweile ehemaligen) georgischen Staatspräsidentin Salomé Surabischwili wurden nicht nur Hände geschüttelt und kleine Häppchen verspeist, sondern auch mehrfach auf die verbindende Kraft von Kunst und Kultur verwiesen. Die repräsentativ agierende Präsidentin Surabischwili ist bekanntermaßen pro-europäisch eingestellt und wirbt aktiv für einen EU-Beitritt Georgiens. Ein Treffen mit Theaterschaffenden wirkt da wie Tropfen auf den heißen Stein. Allerdings sind es ebendiese Begegnungen, die zu einer Verbundenheit führen können. So verabschiedete der georgische Dramaturg Dr. Levan Khetaguri uns mit den Worten: Freundschaft zeige sich nicht in den schönen Momenten, die wir gemeinsam verbringen, sondern in den schwierigen Momenten, in denen wir auf Beistand und Unterstützung angewiesen sind. Was er meint? Eine Zeit, in der Georgien auf die Hilfe Europas angewiesen sein wird. Dann, wenn Russland näherrückt.
Heute Die Lage in Georgien hat sich seitdem massiv verschärft. Im März beginnen die Proteste in Tiflis. Menschen gehen zu Tausenden auf die Straße und schwingen die europäische Flagge. Ihr Protest richtet sich gegen einen 2023 gescheiterten und nun wieder vorgelegten Gesetzesentwurf, der besagt, dass unabhängige Medien und andere Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sich als „ausländische Agenten“ deklarieren müssen. Trotz der anhaltenden großen Proteste der Zivilbevölkerung wird das Gesetz im Mai 2024 verabschiedet. Durch das Gesetz ist es der Regierung möglich, auf sämtliche Daten der ausländisch geförderten NGOs inklusive
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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #05 Wir im Theater können über nationale Grenzen hinausdenken und arbeiten.
ersonenbezogene Informationen zuzugreifen. Das Gesetz nach p dem Vorbild eines ähnlichen Gesetzes in Russland gilt als Vehikel, (regierungs-)kritische Stimmen zu marginalisieren. Zudem wirkt es sich negativ auf die Beitrittsverhandlungen mit der EU aus. Mikheil Charkviani und ich bleiben während der wochenlangen Proteste in Tiflis in Kontakt. Ihm graut vor den anstehenden Parlamentswahlen im Oktober 2024. Er und viele seiner Theaterkolleg:innen leisten politische Arbeit, indem sie in ländliche Gegenden fahren und dort mit Menschen über die Demonstrationen in der Hauptstadt sprechen. Dass sie für Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit, für die Demokratie auf die Straße gehen. Dass sie für ihre Zukunft in Georgien streiten. Am 2. September 2024, kurz vor den Parlamentswahlen, frage ich ihn über WhatsApp, was ihm Theater bedeutet, vor allem angesichts der aktuellen Situation in Georgien. Er schreibt: „Theatre is my voice in a toxic environment filled with political, ecological, and social challenges. It’s a powerful tool that confronts oppressive systems, amplifies brave voices, and engages with those fighting for democracy. Here, where freedom is under attack, theatre stands as a political act, drawing thousands who crave courage and truth. It’s both my weapon and my refuge, the one thing I can carry with me if forced to leave. Theatre is resistance, community, and hope in the battle for a better future.“ Wenige Wochen später scheitert das pro-westliche Oppositionsbündnis an den Wahlen. Die Partei Georgischer Traum bleibt an der Macht und verfolgt ihren pro-russischen Kurs. In Tiflis wird demonstriert, u. a. gegen ein Gesetz, dass LGBTQIARechte einschränkt. Europäische Flaggen werden wieder geschwungen. Es kommt zu Gewalt. Die Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstrierenden ein. Das Wahlergebnis wird angezweifelt, auch internationale Wahlbeobachter:innen berichten von Verstößen und Einschüchterungen. Es nützt nichts. Die Partei Georgischer Traum stellt die Regierung. Und der Traum vom EU-Beitritt rückt in weite Ferne. „Durch ihre anti-europäische Wende hat der ‚Georgische Traum‘ den EU-Beitrittsprozess Georgiens bewusst auf Eis gelegt und damit faktisch ausgesetzt. In der EU sollten wir aufgrund der immer autoritäreren Politik des ‚Georgischen Traums‘ nun auch über eine förmliche Suspendierung des georgischen Beitrittsprozesses beraten“, fordert Außenministerin Annalena Baerbock (Presse mitteilung Auswärtiges Amt: Außenministerin Baerbock zur Lage in Georgien, 26. Dezember 2024). Am 29. Dezember 2024 wird Salomé Surabischwili von ihrem Nachfolger Micheil Kawelaschwili als Staatspräsident abgelöst. Er wurde von seiner Partei Georgischer Traum in das Amt
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gewählt. Zum ersten Mal hat nicht das Volk seinen Präsidenten in einer direkten Wahl bestimmt, sondern die amtierende Regierungspartei.
Morgen
Die in Georgien geborene Autorin Nino Haratischwili bittet in einem Gastbeitrag in der FAZ Europa um Hilfe für Georgien. Sie schreibt: „Europa, deine Ränder schmelzen, und die Albträume kriechen über die Schutzmauern. Die Welt zieht eine immer engere Schlinge um dich“ (Nino Haratischwili: Europa, wir brauchen dich, FAZ, 4. Dezember 2024). Nicht nur, dass die Menschen vor Ort Solidarität für ihr Streben nach Freiheit und Demokratie brauchen, das europäische Miteinander kann sich nicht darauf ausruhen, die Grenzstaaten als Schutzwall zu verstehen. Was ist Europa heute? Wer gehört dazu? Das entscheiden nicht nur Grenzübergänge, sondern auch geteilte Werte mit einzelnen Menschen. Ich schreibe diese Zeilen zu Beginn des neuen Jahres. Gerade hat das Vaso Abashidze New Theatre seine Vorstellungen für die ersten Januartage abgesagt. Der Schauspieler Andro Chichinadze wurde inhaftiert. Ihm wird die Beteiligung an gewaltsamen Protesten im November und Dezember vorgeworfen. Andro Chichinadze, der von seinen Kolleg:innen geschätzt und als friedlich beschrieben wird, spielt u. a. in Mikheil Charkvianis Inszenierung „Dying as a Country“. Ich möchte diesen Titel nicht wörtlich nehmen. Wir im Theater können über nationale Grenzen hinausdenken und arbeiten. Und deshalb bleibe ich im Austausch mit meinen georgischen Kolleg:innen. Und nutze diese Gelegenheit, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Denn eine Dramaturgie der Zeitenwende beinhaltet für mich eine Dramaturgie der Solidarität. T
Weitere Texte zur Serie Dramaturgie der Zeitenwende finden Sie im Dossier unter tdz.de/zeitenwende
Theater der Zeit 2 / 2025
Theater der Zeit
Foto Christophe Berlet
Report
„Quatre murs et un toit“ von Lina Majdalanie und Rabih Mroué am Festival d’Automne in Paris
Frankreich „Quatre Murs et un Toit“ und „A little bit of the moon“, zwei Inszenierungen über Exil und Unbehaustheit von Rabih Mroué
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Foto Cyril Marcilhacy - ITEM/LUMENTO
Report Frankreich
Rabih Mroué ist ein libanesischer Performancekünstler, Regisseur, Autor, Schauspieler und Bildender Künstler
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Report Frankreich
Existenzielle Melancholie Mit „Quatre Murs et un Toit“ und „A little bit of the moon“ zeigt Rabih Mroué zusammen mit Lina Majdalanie und Anne Teresa De Keersmaeker in Paris gleich zwei Arbeiten, die sich mit Exil und Unbehaustheit im Getöse der Welt befassen Von Eberhard Spreng
Rabih Mroué sitzt in der Mitte der Vorderbühne, richtet einen strengen Blick ins Publikum, greift nach Akten und Papieren und verliest Fragen, die der Ankläger des Komitees für unamerikanische Umtriebe am 30. Oktober 1947 dem deutschen Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht stellte. Die wichtigste: „Sind Sie Mitglied der Kommunistischen Partei oder waren Sie es zuvor?“ Am 30. Oktober 1947 wurde Bertolt Brecht vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe zitiert. Dieses Ereignis bietet Anlass für eine neue Arbeit des Autors, Künstlers und Performers Rabih Mroué: „Quatre Murs et un Toit“, die in Paris uraufgeführt wurde und unter dem Titel „Vier Wände und ein Dach“ zunächst am Mousonturm in Frankfurt gastiert und im Frühsommer beim Festival Performing Exiles in Berlin gezeigt wird. Wie immer zusammen mit Lina Majdalanie erforscht Mroué auf der Bühne Schnittflächen zwischen Dokument und Fiktion und sondiert den Hallraum zwischen der ideologischen Intoleranz der McCarthyZeit einerseits und aktuellen politischen Eingriffen in künstlerische Freiräume andererseits. In „Vier Mauern und ein Dach“ rückt das Bühnensetting das Publikum selbst in die Position des vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe gestellten deutschen Dramatikers. Die Frage nach seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und viele weitere Fragen gehen an einen Autor, der zu diesem Zeitpunkt bereits sein Ticket für die Ausreise aus den USA in der Tasche hatte. Brecht wusste um die ideologische Aggressivität der McCarthy-Ära, die für zahlreiche Hollywoodkünstler das Ende ihrer Karriere bedeutete. Einer von ihnen war der Drehbuchautor und Regisseur Herbert Biberman, der Antworten auf die Fragen des Komitees verweigerte und auf die Blacklist gesetzt wurde –
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Berufsverbot für den jüdischen Künstler, dem eine Ermittlungsbehörde irrtümlich Antisemitismus vorwarf. Der Fall Biberman veranlasst Mroué und Majdalanie zu kreativen Spekulationen, die bis ins Heute reichen: der Antisemitismusvorwurf heutiger Behörden, der selbst Jüd:innen treffe und sich in Zensur, Cancel-Culture und Streichung von Subventionen äußere. Die gescheiterte Antisemitismusklausel des Berliner Kultursenators Joe Chialo wird nicht erwähnt, drängt sich den deutschen Zuschauenden aber als Beispiel für aktuelle Zensurmaßnahmen auf. Äußerst clever öffnen die beiden immer wieder Assoziationsräume, ohne eindeutige Positionen zu beziehen. Im Dreieck der Erfahrung von Zensur und Verfolgung im Libanon, in den USA der fünfziger Jahre, im heutigen Europa der gesellschaftlichen Polarisation entstehen zahllose unbeantwortete Fragen: Was dürfen Künstler:innen heute sagen? Was denken? Was verbindet Brechts Exilerfahrung mit der Gegenwart? Wie funktioniert Repression und Verfolgung des freien Redens und Denkens im Libanon und wie in der westlichen Welt?
Was denken? Was verbindet Brechts Exilerfahrung mit der Gegenwart?
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Foto links Christophe Berlet, rechts Christophe Berlet et Valentine Perrin Morali | Photo de répétitions
Zitat
Szenen aus „Quatre murs et un toit“ von Lina Majdalanie und Rabih Mroué am Festival d’Automne in Paris
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Report Frankreich
„A little bit of the moon“, Tanzperformance von Rabih Mroué mit Anne Teresa De Keersmaeker
Immer wieder kehrt die Produktion aber zu Brechts Exil in den USA und dem Komiteegeschehen zurück, belegt durch Fotos der Betroffenen und kurzen Videos mit Ausschnitten der damaligen Anhörungen auf einer großen Videoleinwand. Zwischenzeitlich spielt Henrik Kairies am Klavier und singt: „Lob des Lernens“ von Brecht und Eisler sowie das „Solidaritätslied“. Interessant ist die neue Arbeit des Performanceduos nicht nur aufgrund ihrer thematischen Resonanzräume, sondern auch aufgrund ihrer Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Elementen: Mit KI sei ein Foto generiert worden und das Audio einer Erklärung, die Brecht für seinen Anhörungstermin vorbereitet habe. All das wirkt plausibel als Dokument, die Fiktion trägt die Maske des Authentischen. Das Publikum darf rätseln: Was ist historisch verbrieft, was Erfindung?
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Immer mehr greift der Abend im zweiten Teil aus ins Allgemeine der Exilerfahrung, dies aber in einer ruhigen Atmosphäre milder Reflexionen. Was ist Heimat? Was ein sicherer Ort für die Denkräume und Gefühlswelten von Künstler:innen? Reichen die titelgebenden vier Wände und ein Dach dafür aus? Eine quasi existenzielle Melancholie ergreift die Bühne und den Saal. Das Publikum, das in seiner großen Mehrheit keinerlei Exilerfahrungen gemacht haben dürfte, wird einbezogen in eine umfassende Meditation über das Gefühl der Unbehaustheit. Ob es im Getöse der Welt einen sicheren, privaten Raum überhaupt geben und welche Darstellung ihm auf der Bühne zukommen kann, haben Mroué und Majdalanie immer wieder untersucht. In der Pariser Werkschau wurde so auch „Photo-Romance“ von 2009 noch einmal gezeigt, in dem ein Remake von Ettora
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Morali | Photo de répétitions
Foto Christophe Berlet et Valentine Perrin
„A little bit of the moon“ von Rabih Mroué und Anne Teresa De Keersmaeker
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In einen regelrecht planetarischen Zusammenhang stellt Rabih Mroué seine Reflexionen über das ewige Exil des Menschen.
Scolas „Ein besonderer Tag“ aus der Mussolini-Zeit auf den Libanon des Jahres 2007 trifft. Am Tage von Massendemonstrationen machen sich zwei Menschen auf den Weg aus der vorformulierten Politik ins Unbekannte der eigenen Existenz. In „33 RPM and a Few Seconds” untersuchten sie die kommunikationstechnischen Überreste eines gerade erloschenen Lebens. Ein bekannter libanesischer Menschenrechtsaktivist hat sich gerade umgebracht, die Nadel seines Plattenspielers knackt in der Auslaufrille vor sich hin, ein Computerbildschirm flammt mit einem Facebook-Kommentar auf, dann klingelt das Smartphone. Das Heer digitaler Maschinen eines toten Menschen werkelt weiter. Nichts ist spannender als die Abwesenheit, als Fragen, die ohne Antwort bleiben. Auf symbolischer Ebene endet die Hoffnung des arabischen Frühlings, der mit dem Selbstmord des tunesischen Straßenhändlers Mohamed Bouazizi begann, im fiktiven Selbstmord des von vergeblicher Politik enttäuschten libanesischen Menschenrechtlers. Wie immer zielen Rabih Mroués Performances aus dem politischen Gemeinplatz und seinen wohlfeilen Begründungszusammenhängen in das private Geheimnis. Zu sehen sind immer auch persönliche Tragödien im politisch erhitzten Geschwätz der Welt. In einen regelrecht planetarischen Zusammenhang stellt Rabih Mroué seine Reflexionen über das ewige Exil des Menschen in der zweiten Pariser Uraufführung. Zusammen mit der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker entstand „A little bit of the moon“. Die beiden begegnen sich auf weiter Spielfläche, um die das Publikum ein großes Oval bildet. Wie zwei sehr unterschiedliche Planeten und immer wieder begleitet von zwei umherwandernden Lichtkegeln umkreisen sie sich, kreuzen ihre Bahnen. Dann greifen die beiden unvermittelt zu Querflöten und üben ein Duett von Wilhelm Friedemann Bach. Später tanzt die berühmte Choreografin zu Querflötenimprovisationen des libanesischen Performers. Dann erzählen beide von frühen künstlerischen Erfahrungen zu Beginn der 1980er Jahre. Die eher kleine Arbeit „A little bit of the moon“ ist ein Werkstattformat, ein Experiment für die Erprobung von Schnittflächen bei der Begegnung von ganz unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten. Das ist in schönen Momenten kindlich verspielt, in weniger schönen künstlerisch inkohärent und dramaturgisch beliebig. In Paris endet es mit der Einladung ans Publikum, sich zu Nina Simones „In the Evening by the Moonlight“ auf der Bühne zum Tanz zu versammeln. Zwar ist auch da jeder allein in seinem existenziellen Exil, aber dieses Gefühl lässt sich mit dem Blick auf die Planeten und im Tanz für Momente überwinden. T
Brechtfestival
21.2.-2.3.2025
Das NRW KULTURsekretariat (NRWKS) ist ein selbstverwalteter Zweckverband der theater- und orchestertragenden Städte und des Landschaftsverbands Rheinland in Nordrhein-Westfalen. In den 50 Jahren seines Bestehens hat sich das NRWKS als Ermöglicher und Katalysator künstlerisch-kultureller Prozesse zwischen Kommunen und dem Land NRW einen Namen erworben. Das NRWKS hat seinen Sitz und seine Geschäftsstelle in Wuppertal. Das NRW KULTURsekretariat sucht spätestens zum 01.08.2025 eine*n
Direktor*in (w/m/d) Die vollständige Stellenausschreibung finden Sie unter nrw-kultur.de/bewerbung Bitte bewerben Sie sich bis zum 16.03.2025. Gefördert durch :
Theater der Zeit 2 / 2025
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Neuerscheinungen aus dem Verlag
Generation what?!
ixypsilonzett winterheft 2024/25 Generation what?! Katrin Maiwald und Nikola Schellmann (Hg.) 52 S., € 9,50 (Print oder digital)
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Schauspielhaus mit Zuwegung von der Zieschestraße, im Vordergrund die Bronzeskulptur Ringende von Siegfried Krepp, 2023
Schauspielhaus Chemnitz Zwischen Zeiten und Räumen
Diese Arbeit betrachtet die wechselvolle Geschichte des Schauspielhaus Chemnitz in multiperspektivischer Weise, indem Architektur und theaterkünstlerische Praxis miteinander verbunden werden. Sowohl Entwurfsprozesse der Spielorte als auch exemplarische, dort praktizierte Aufführungsweisen aus den letzten 50 Jahren werden untersucht. Die Spielorte und Aufführungen entwickelten sich in vielschichtigen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontexten der DDR-Zeit, den ersten postsozialistischen Dekaden und der Gegenwart, zwischen verschiedenen Zeiten und Räumen. Heute befinden sich Schauspiel und Figurentheater erneut in einer Übergangssituation, da ihr gemeinsames Haus bauliche Veränderungen erfahren soll und die Theater Chemnitz zugleich im Kontext der Kulturhauptstadt Europas 2025 stehen. Ein umfassenderes Forschungsprojekt zu „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“ bildet den Rahmen dieser Darstellung – insofern sind übergreifende Fragen zum Theater ebenso von Interesse wie spezifische Aspekte des Schauspiel-
haus Chemnitz. Die Untersuchung konzentriert sich nicht allein auf eine Zustandsaufnahme des Gebauten, sondern zugleich auf Konzepte, Gebrauchsweisen und Transformationen. Damit rückt nicht nur das spätmoderne Theaterhaus von Rudolf Weißer in den Fokus, das in einem einzigartigen urbanen Kontext steht: als Anbau an ein Altenpflegeheim und umgeben von einem Stadtpark. Zugleich erweitert die Beobachtung von Architektur und Raum als Prozess eine objektorientierte Perspektive und bezieht verschiedene Akteure, Praktiken und zeitliche Bedingtheiten ein. Aus der Einleitung von Annette Menting Buchpremiere am 6. April, Theater Chemnitz
Schauspielhaus Chemnitz Zwischen Zeiten und Räumen Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung 256 S., € 38
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Fotos oben theaterraum. Menting, Fotograf Louis Volkmann, rechts unten Georg Soulek, rechts oben Fabian Hammerl
In den letzten Jahren wird viel über Generationenwechsel, Generationenkonflikt, Generationengerechtigkeit und -dialog gesprochen. In diesem winterheft wird genauer nachgefragt: Geht es eigentlich um einen Generationen- oder Gesellschaftskonflikt? Auch in den Darstellenden Künsten finden und fanden in den letzten Jahren viele Umbrüche durch u. a. Generationenwechsel in den Leitungen der Theaterhäuser oder Sparten sowie in diesem Jahr innerhalb des ASSITEJ-Vorstands und der KJTZ-Leitung statt. Dem Theater für und mit jungem Publikum ist die Begegnung verschiedener Generationen quasi per se eingeschrieben. Aber was genau ist mit dem Begriff „Generation“ eigentlich gemeint? Und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Altersdiversität, Adultismus und Ästhetik? Der wissenschaftliche Beitrag des winterhefts beschäftigt sich mit der sozialen Praxis des Generation-Werdens sowie Konzepten von crip time und queer time, die normativen Vorstellungen von Zeitlichkeit widersprechen. Um das Verhältnis von jungen Menschen und Erwachsenen auf, vor und hinter der Bühne geht es in Artikeln zum Publikum, zu Theaterproduktionen und einer digitalen Bühne. Wie intergenerationelle Räume gestaltet werden können, beschreiben Praxiseinblicke in ein mehrgenerationelles Stadtensemble und die Vermittlung einer Kunsthalle. Zuletzt blicken wir auf uns selbst und laden scheidende ASSITEJ-Vorstandsmitglieder und KJTZLeitung zum Gespräch.
Theater der Leere
All you can read
RECHERCHEN 172 Teresa Kovacs Theater der Leere Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch 226 S., € 22 (Print oder digital)
Theater der Leere macht die Katastrophen des technowissenschaftlichen Zeitalters zum Ausgangspunkt für die Annäherung an das Theater und zeigt, dass die Leere im zeitgenössischen Theater mehr ist als ein bloßes Nichts. Im Gegenteil, sie ist das Potenzial und die Möglichkeit einer radikalen Transformation des Theaters selbst. In der Hinwendung zur Leere verschränkt Kovacs Debatten über Transformation und Zukunft mit der Reflexion über die komplexe Beziehung zwischen Theater und den Naturwissenschaften und macht deutlich, dass die Theaterformen, die bislang unter dem Begriff des „Postdramatischen Theaters“ diskutiert wurden, eine Zukunft haben. Kovacs bringt in ihrer Studie Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch zusammen und zeigt, was es bedeutet, wenn der Nullpunkt zum zentralen Energiefeld des Theaters wird. Die Studie entfaltet nicht nur überraschend neue Perspektiven, sondern legt auch bislang übersehene Linien frei, die die Arbeiten dieser vier Theatermacher:innen durchziehen und verbinden. Sie argumentiert, dass wir im ‚Theater der Leere‘ eine theatrale Grammatik entdecken können, die uns in der von Nukleartechnologie und Klimawandel bedrohten Gegenwart viel zu sagen hat.
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Joachim Lux, Intendant seit 2009 bis zum Ende dieser Spielzeit
Am Anfang war der Leichtsinn: Das Buchprojekt Im Dezember 2022 haben wir erstmals über ein Buch gesprochen. Wenige Monate später meinte die Dramaturgie: „Nicht ein Buch, sondern sieben Bücher!“ „Ihr meint, sieben Kapitel, oder?“ „Nein, sieben Bücher, Hefte, Magazine.“ „Aber warum?“ „Das hilft uns!“ „Inwiefern?“ „Das gibt Struktur!“ „Das verstehe ich, aber sieben Kapitel geben doch auch Struktur.“ „Ja, schon, aber es geht um 16 Jahre!“ Und so nahm die Arbeit, begleitet von regelmäßig wiederkehrenden Kapitulationsanfällen, ihren Lauf. Man darf sie sich in etwa so vorstellen, als würde man das elterliche Haus mit seinen Fotoalben, Super8-Filmen, WhatsApp-Chats, Tagebüchern, Mails, Notizen und Briefen auswerten wollen – ein Fass ohne Boden. Und jetzt sind es tatsächlich sieben Bände geworden. Richtig geordnet in einem Schuber entsteht daraus Wurzelwerk: ZUSAMMENKUNST. Aus dem Vorwort von Joachim Lux
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Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 17.2. Zirkuskunst in Berlin um 1900 Chamäleon Berlin 2.3. ZUSAMMENKUNST Thalia Theater Hamburg 16.6. SPUREN. Stücke aus Afrika africologneFESTIVAL, Köln
Bücher in Vorbereitung Klaus Zehelein: Autobiographie Schwerpunkt Marionette Weltempfänger Peter Carp Matthias Warstat: Interventionen politischen Theaters Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies
Buchvorstellung am 2. März, Thalia Theater Laden Sie die aktuelle Verlagsvorschau als PDF herunter, um mehr über die Bücher des Verlags zu erfahren.
Area 7. Christoph Schlingensief. Burgtheater Wien, 2006
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ZUSAMMENKUNST Das Thalia Theater 2009–2025 7 Bände im Schuber 1039 Seiten, € 49
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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck
Innenansicht des Markthallenzirkus unter Circus Renz (ca. 1890)
Zirkuskunst um 1900 Ein Buch mit Einblicken in eine kaum noch erinnerte Praxis mit Anregungen für die Gegenwart, nicht nur in Berlin
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Während unserer Recherchearbeit in diversen Archiven stießen wir in den Werbe teilen von Artistik-Fachzeitschriften aus der Zeit um 1900 auf zahlreiche Anzeigen von Künstler:innen. Unzählige freischaffende Artist:innen traten um 1900 als Solokünstler:innen, als Duos, Trios oder auch in größeren Formationen in Berlin auf. Sie spielten in längst vergangenen und verschwundenen Spielstätten wie Circus Renz, Circus Schumann, Circus Busch, im Wintergarten, in Theatern mit den Namen Apollo, Belle-Alliance, Central, Walhalla oder im berühmten Berliner Überbrettl und in zahlreichen Festsälen, Tanzlokalen sowie auf Sommerbühnen. Diese freischaffenden Künstler:innen bewegten sich gekonnt zwischen verschiedenen Bühnen und Aufführungsformaten, die bis heute im akademischen Kontext als nicht untersuchenswert empfunden werden. Denn die Arbeits- und Auftrittsorte dieser Künstler:innen galten und gelten bis heute als Stätten der sogenannten niederen Künste und ihre Praxis schlichtweg als Nicht-Kunst. Die Anzeigen in den Fachzeitschriften belegen auch, dass sich diese Künstler:innen nicht nur über die Gattungsgrenzen hinweg bewegten, sondern ohnehin äußerst mobil waren: Sie arbeiteten transnational und interkontinental und waren in neu gegründeten, teils international vernetzten Berufsverbänden organisiert. Länder- und kontinentübergreifende Vernetzung sowie eine mehrsprachige Berufspraxis gehörten für Artist:innen um 1900 also zum Selbstverständnis. In ihrer künstlerischen Praxis wagten sie oftmals technische und gesellschaftliche Experimente. Dinge, die wir in der Regel bekannten Avantgardekünstler:innen und vor allem der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zuschreiben – oder mit unserer heutigen Praxis in der sogenannten freien Szene verbinden. Mit der zeitgenössischen freien Szene sind wir Autorinnen dieses Buchs auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Funktionen verbunden – als Szenografin, Kostümbildnerin, Veranstalterin und Dramaturgin. In den Anzeigen
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Archiv Friedrichstadt-Palast Berlin
Mirjam Hildbrand und För Künkel: Was hat das mit heute zu tun?
der Artistik-Fachzeitschriften um 1900 stießen wir nicht nur auf Künstler:innen, die die Berliner Zirkus- und Varietészene um 1900 prägten und mitgestalteten, sondern die wir auch als unsere Vorgänger:innen begreifen. Ein Gedanke, der auf den ersten Blick vielleicht abwegig erscheinen könnte – sind wir es doch gewohnt, die Anfänge des freien Theaters in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts festzuschreiben. Vorgänger:innen haben immer auch Nachfolger:innen. Selbst wenn die meisten Spielstätten der Zeit um 1900 im heutigen Berlin nicht mehr existieren, so bestehen dennoch Kontinuitäten. Die Zirkuspraxis wird – im Wandel der Zeit – fortgeführt und weitergetragen. Davon zeugen und berichten auch einige der folgenden Textbeiträge sowie Projekte von Menschen, die sich den zirzensischen Künsten verschrieben haben und die im heutigen Berlin präsent sind, beispielsweise in Form eines Festivals auf dem Tempelhofer Feld in Berlin-Tempelhof, mit einer sommerlichen Flugtrapez-Installation in Berlin-Friedrichshain, dem Aufbau eines Proberaums in Berlin-Oberschöneweide … wir könnten noch viele weitere nennen. Die Anzeigen in den alten Fachzeitschriften als Spuren einer vergangenen und mehrheitlich vergessenen Praxis überraschten und faszinierten uns. Daher bedeutet dieses Buch für uns auch eine große Verbeugung vor den unzähligen mutigen und meist vergessenen Künstler:innen, die ihre Lebenszeit auf diversen Bühnen, in verschiedensten Proberäumen und meistens irgendwo unterwegs verbrachten. Künstler:innen, die mit ihrem Tun die Spielstätten ausfüllten, die trainierten, probierten und tüftelten, die Zuschauer:innen in Staunen versetzten und zum Lachen brachten. Künstler:innen, die uns heute auf vielfältige Weise inspirieren und mit denen wir (wieder) in einen Dialog treten möchten.
Nele Hertling: Zirkus und Theater in Berlin In der Zeit des sogenannten „Postdramatischen Theaters“ etwa von den 1970er bis zu den 1990er Jahren, verlor der dramatische Text an Wichtigkeit im Theater. Andere Elemente wie der Körper, Bewe-
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gung, Musik, bestimmten weitgehend die Aufführungen. Damit rückten auch andere Spieler:innen, Gruppierungen, Ensembles wieder in den Blickpunkt. Die Zirkuskunst um 1900 hatten wir nicht erlebt, wussten nur sehr wenig darüber. Aber wir, das heißt neue Festivals, alternative Spielstätten, junge Theater suchten nach neuen Ausdrucksformen, einer Erweiterung des klassischen deutschen Repertoire Theaters. Wir interessierten uns für Formen der internationalen, oft außerhalb der traditionellen Strukturen arbeitenden freien Gruppen und Spieler:innen. Dazu gehörten auch Aufführungen, die der Welt des Zirkus nahestanden. Allerdings nicht so sehr dem klassischen Zirkus mit der Abfolge von Nummern, sondern Aufführungen, die, oft in einem theatralischen Gesamtkonzept, auch Geschichten erzählten. Sie nutzten Mittel der Bildenden Kunst, des Tanzes, der Musik und der Literatur, wurden zu „Theater“. Diese Entwicklung hatte in den 70er Jahren in Frankreich begonnen, der „Cirque Nouveau“ wurde dort als neue Kunstform begriffen. Jean Baptiste Thierrée gründete seinen ersten „Zirkus“ im Mai 1968, angetrieben sowohl von politischen Überzeugungen wie auch von großem künstlerischen Engagement. Mit seinem späteren „Cirque Imaginaire“ in gemeinsamen Auftritten mit Victoria Chaplin und ihren beiden kleinen Kindern luden wir ihn nach Berlin ein in die Akademie der Künste zu umjubelten Vorstellungen im eigenen kleinen Zelt vor dem Haus. 1970 hatte in Prag Ctibor Turba, gemeinsam mit Boris Hybner mit dem pantomimischen Programm Harakiri für Aufsehen gesorgt. Nach internationalen Auftritten wurde es vom Staat verboten. Nach verschiedenen Projekten gründete er seinen „Zirkus Alfred“, mit dem wir ihn ebenfalls in die Akademie der Künste einluden. Turba kombinierte die Figur des Zirkusclowns mit den Elementen des absurden Theaters, es entstand ein eigenes Genre. So auch mit dem 1993 gegründeten Que-Cir-Que, hervorgegangen aus der 1986 eröffneten französischen Hochschule für Zirkuskunst „Centre National des Arts du Cirque“, zur Aktualisierung der Gattung vom damaligen Kulturminister Jaques Lang ins Leben gerufen. Auch hier
verbanden sich Techniken des Zirkus, des Tanzes, des Theaters zu einer neuen poetischen Kunstform. In Berlin begeisterten sie 1993 in einem Zelt hinter dem Tacheles ein großes Publikum. Ein letztes Beispiel für das Verschwinden der Grenzen zwischen Theater und verschiedenen Formen des Zirkus, erlebt in Berlin 1992, kam aus der Musik. Mauricio Kagel schrieb 1977 Varieté – Concert – Spectacle für Artisten und Musiker. In gemeinsamer Planung mit Mauricio Kagel konnten wir den Regisseur und Filmemacher Werner Herzog dafür gewinnen, eine eigene theatralische Fassung des Stücks für das Hebbel-Theater (heute Hebbel am Ufer, Berlin) zu erarbeiten, mit den Musikern des Ensemble Modern und Mauricio Kagel als Dirigent. Es war ein überwältigender Erfolg und führte zu Gastspielen in Genf, Essen, Straßburg und Paris. Auch hier verschmolzen Elemente des Zirkus, des Varietés mit theatralen Erzählweisen, es entstand ein „theatre trouvé“, ein neues Musiktheater. Diese grenzüberschreitenden Kunstformen sind bis heute in Spielplänen von Theatern und Festivals zu finden, das Theater hat den „Zirkus“ verändert, aber auch der Zirkus die Darstellungsformen des Theaters. T
För Künkel, Mirjam Hildbrand: Zirkuskunst in Berlin um 1900 Einblicke in eine vergessene Praxis, Schweizer Broschur im Großformat, 250 S., € 45
Buchpremiere am 17. Februar im Chamäleon Berlin
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Magazin Bücher
Heiner Müllers Bilder-Schreibung Eine Monografie untersucht das Verhältnis Heiner Müllers zur Bildenden Kunst
Francisco de Goya: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (1799)
Bildende Kunst und Theater bilden nicht erst seit den ästhetischen Formen der Performance und der Installation eine sehr produktive, aber auch widersprüchliche Konstellation. Über das Bühnenbild und weiteres Bildmaterial im Inszenierungsprozess hinaus spielen „bildkünstlerische Bezüge“, so Nils Emmerichs in der Einleitung, auch in vielen Theatertexten eine große Rolle. Einen besonderen Bezug zur Bildenden Kunst lässt sich bei Heiner Müller feststellen, der in seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“
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schreibt: „Bildende Kunst war für mich seit den 60er Jahren wichtiger als Literatur, von da kamen meine Anregungen.“ Die vorliegende Publikation füllt nicht nur eine gravierende Lücke in der Forschungsliteratur zu Heiner Müller, sie bietet auch die Möglichkeit, über das Verhältnis des heutigen Theaters und der Bildenden Kunst nachzudenken und es weiterzuentwickeln. In einem großen Spannungsbogen von dem frühen Gedicht „Bilder“ bis zur „Bildbeschreibung“ wird Müllers „Abwendung
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Foto links By Francisco Goya - FAF4YL0zP9cjHg at Google Cultural Institute maximum zoom level, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21982951, rechts Brigitte Maria Mayer
Von Florian Vaßen
Magazin Bücher von Brecht“ mit seiner Vorliebe für die „erzählerische Malerei Brueghels“ und die Hinwendung zu Picassos kubistischen Bildern sowie zum Surrealismus mit Stationen bei der „‚gotischen Linie‘“ der Donauschule (Cranach, Dürer) und Friedrich Schlegels Kunstverständnis dargestellt. Müller versteht „Kunst als Reflexion des eigenen Blicks“ und bezieht sich in seinen Theatertexten sowohl auf Tintorettos „radikale Subjektivität“ als auch auf Goyas vor allem körperliche Revolte. Auch auf William Hogarths Kupferstiche wird in einem Exkurs Bezug genommen. Von besonderem Interesse ist jedoch der Aspekt der „inneren Collage“, die bereits in „Der Bau“ (1964) zu finden ist und schließlich 20 Jahre später in „Bildbeschreibung“ ihren Höhepunkt findet. Raffael spielt hier ebenso eine Rolle wie der „Antinaturalismus“ sowie vor allem „Traum und Mythos als Interferenzen“ bei Max Beckmann und Müller. Großen Einfluss auf Müllers Theatertexte hat weiterhin Robert Rauschenbergs „plastische Collagetechnik“ (mit Bezug zu John Cages Musik und Merce Cunninghams Tanz). Müllers „Gundling“ steht für Emmerichs in den siebziger Jahren im Mittelpunkt der Reflexionen zum „lebendigen Bildwerk“, geprägt von einer „enigmatischen Koordinate“ und dem Gewaltaspekt in einer „Konflikt-Collage“. Fünf Diapositive in Müllers Besitz (Gemälde von Vermeer, Leonardo da Vinci, Rubens, Honthorst und Bellotto) mit Bezügen zu Caravaggio und Poussin bilden eine spezifische Basis für Müllers „Bildmaschine“, insbesondere in Bezug auf „Gundling“ – auch als Kontrast zu „Brechts Theatermaschine“. Exkursartig wird ebenfalls Müllers Distanz zu Warhol sichtbar. Zentral ist schließlich die Interferenz von „Gundling“ und Max Ernsts Collageromanen als „bildschöpferischer Vorgang“, be-
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Heiner Müller
sonders konzentriert in Müllers Vogel-Bildern (vgl. Magritte). Im letzten Kapitel, das „als Nachwort fungiert“, aber diese Funktion nur bedingt erfüllt, werden mit Erwin Panofskys „dreistufigem Analyse- und Interpretationsmodell“ nicht die sichtbare Welt, sondern „die Zwischenräume“ in Müllers „Bildbeschreibung“ erfahrbar. Die Untersuchung ist sehr materialreich, wie eine Vielzahl von Müller-Zitaten zur Bildenden Kunst (gelegentlich fast zu viele und zudem etwas redundant) u. a. auch aus dem Heiner Müller Archiv belegt. Vor allem aber die vollständige Auflistung von Hunderten von Publikationen aus „Müllers Kunstbibliothek“ im Transitraum der Berliner Humboldt- Universität auf mehr als 30 Seiten (S. 189–224) zeigt Müllers intensive Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst und bietet eine wichtige Grundlage für weitere Forschungsvorhaben und Theaterprojekte. Emmerichs „induktive Vorgehensweise“ „eines Flaneurs“, wie er selbst formuliert, entspricht einem Rhizom, das den Leser:innen die Lektüre wegen einer gewissen Unübersichtlichkeit nicht gerade leicht macht, das aber produktiv mit Müllers
multidimensionalem und dynamischem Geflecht von Literatur und Bildender Kunst korrespondiert und neue Sichtweisen und Erkenntnisräume möglich macht. T
Nils Emmerichs: Heiner Müllers Bildmaschine. Malerei Graphik und Collage als künstlerische Textur. Wien, Böhlau 2024, 225 S., € 45
Weitere Besprechungen finden Sie unter tdz.de/buchrezensionen
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Jugend auf 16 GB Der neu konzipierte Berliner Stückepreis für junges Publikum Von Thomas Irmer
Erste Verleihung des Berliner Stückpreis für Junges Publikum an der Parkaue: 13. Dezember 2024, Gewinnerin Zehra Sönmez für „16 GB: Tischtennisplattenpolitik“
Der 1961 geschaffene Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin zur Förderung des Kinder- und Jugendtheaters ist am 13. Dezember 2024 als Berliner Stückepreis für junges Publikum erstmals vergeben worden. Die Neukonzeption erfolgte auf Initiative des Berliner Theaters an der Park aue, das künftig auch die Uraufführung des Preisstücks übernimmt. Das Verschwinden der deutschen Namenspatrone aus einem der ältesten Kulturpreise des Landes Berlin wurde nicht eigens erklärt. Parkaue-Inten dantin Christina Schulz hob in dem Zusammenhang die „Lebensrealitäten junger Menschen in einer superdiversen Gesellschaft“ hervor. Ausgezeichnet wurde „16GB: Tischtennisplattenpolitik“ von Zehra Sönmez, in dem Jugendliche an ihrem Treffpunkt, einer Beton-Tischtennisplatte zwischen Wohnblocks, darüber diskutieren, was auf einen gerade günstig erworbenen Stick als wich-
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tig aus ihrem Leben aufgenommen werden soll. Der begrenzte Speicherplatz zwingt zu Entscheidungen, die ausgehandelt werden müssen. Im Vordergrund steht, was in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt zählt und damit auch im Live-Modus auf die Bühne kommt. Thematisiert werden in „16GB: Tischtennisplattenpolitik“ für Jugendliche ab 16 Jahren auch die Arbeitswelten der Eltern in Berufen mit „harten Händen“. Sönmez hatte die Vorlage für ihr Stück bereits bei story.one veröffentlicht, einer On-demand-Plattform der Buchhandelskette Thalia. Der Endjury gehörten neben den drei – der Autorin und Regisseurin Antigone Akgün, der Autorin, Regisseurin und Filmemacherin Reihaneh Youzbashi Dizaji und dem Regisseur, Autor und Schauspieler Sergej Gößner – insgesamt 104 eingesandte Texte lesenden Nominierungsjuror:innen die Autorin und leitende Dramaturgin des Theaters an der Parkaue Matin Soofipour Omam sowie als junge Perspektive Milena Emili Ignatevosyan und Martha Heinze aus dem Dramaclub des Theaters an der Parkaue an. Sönmez’ Jugendstück behauptete sich in der Schlussrunde gegen „Wandertag“ von Juli Mahid Carly-Hossain, „Großes Wasser große Reise“ von Anah Filou, „Mondpark“ von Johannes Hoffmann und „Mosaik“ von Silvan Rechsteiner, alles Stücke für Publikum in der Altersgruppe zwischen 10 und 14 Jahren. Im Feld der noch darunter liegenden Altersempfehlungen für Kinder ab 6 oder mehr Jahren – für die Mülheimer Kinder Stücke der Fokus auf diesen immer noch zu schwach entwickelten Bereich des deutschen Kinder- und Jugendtheaters – fand sich offenbar wenig unter den vielen Wettbewerbseinsendungen. Ansprechend war die Präsentation der Finalist:innen im Format der aninszenierten Lesung, wofür die Parkaue mit ihren Schauspieler:innen und Regieteams die besten Voraussetzungen in einem samt Workshops fast ganztägigen Programm bis zum Schlussjubel bot. Die Dotation des Brüder-Grimm-Preises von 10000 Euro wurde für den Berliner Stückepreis für junges Publikum übernommen. Er gehört damit nach dem Mülheimer Preis für KinderStücke (15000 Euro) und neben dem in Frankfurt am Main ebenfalls alle zwei Jahre vergebenen Kinder- und Jugendtheaterpreis (zwei Kategorien zu je 10000 Euro) zu den am höchsten dotierten deutschen Preisen in dieser Theatersparte. T
Theater der Zeit 2 / 2025
Foto Parkaue / David Baltzer
Magazin Bericht
Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz
Autorinnen / Autoren 2 / 2025 Elisabeth Bauer, Journalistin, Berlin Noam Brusilovsky, Regisseur und Hörspielautor, Berlin Otto Paul Burkhardt, Kritiker, Stuttgart
Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing, Stefan Keim, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de
Anastasiia Kosodii, Dramatikerin, Berlin Sabine Leucht, Theaterkritikerin, München Eberhard Spreng, Kritiker, Berlin Hannah Stollmayer, Dramaturgin, Wiesbaden Florian Vaßen, Theaterwissenschaftler, Hannover Hasko Weber, Regisseur und Intendant, Weimar
Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de
Vorschau 3 / 2025
Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin
Foto picture alliance / REUTERS | LEONHARD FOEGER
80. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2025. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 06.01.2025 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit X.com/theaterderzeit tdz.de
Elfriede Jelinek
Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2025 Nachhaltigkeit ist ein Thema in den Theatern, das erst langfristig Ergebnisse feststellen lässt. Energieeffizienz und Klimaneutralität sind keine ästhetischen Ereignisse, und doch lässt sich das Thema von ganz verschiedenen Seiten betrachten – der Schwerpunkt im nächsten Heft.
Theater der Zeit 2 / 2025
Dazu vier Texte aus dem Stück Labor Basel und ein Bericht aus Wien darüber, wie die Theater auf die Bildung der neuen Regierung Österreichs reagieren und Claudia Bauer am Volkstheater Jelineks Fastschon-Klassiker „Krankheit oder Moderne Frauen“ aus dem Jahr 1987 inszeniert.
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Magazin Interview
Im Gespräch mit Michael Helbing
Anne-Cathrin Lessel arbeitet seit 2011 für das LOFFT in Leipzig. Seit 2019 ist sie künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin dieses freien Produktionshauses für zeitgenössischen Tanz und Performance. Zusammen mit Milena Mushak und Anne Paffenholz von der Bundeszentrale für politische Bildung sowie Thomas Frank vom Schauspiel Leipzig bildet sie jetzt die Leitung des 12. Festivals „Politik im Freien Theater“, das vom 16. bis 25. Oktober 2025 in Leipzig stattfindet.
Sie brachten Leipzig für „Politik im Freien Theater“ 2025 maßgeblich ins Spiel. Was trieb Sie an? ANNE-CATHRIN LESSEL: Bislang fand das Festival nur einmal in einer ostdeutschen Stadt statt. Das letzte im Osten Deutschlands fand 2011 in Dresden statt, nachdem es 1993 schon einmal dort als einziger Stadt im Osten veranstaltet wurde. Ein zentrales Thema, das mich aufgrund meiner kulturpolitischen Arbeit umtreibt, ist die Präsenz der ostdeutschen Freien Szene in der bundesweiten Wahrnehmung. Bis vor der Coronapandemie war sie etwa auf Festivals wie den Impulsen oder der Tanzplattform kaum vertreten. Dabei gibt es gerade in Sachsen eine florierende und stark professionalisierte Freie Szene. „Politik im Freien Theater“ habe ich als Möglichkeit gesehen, das stärker in den bundesweiten Fokus zu rücken. Beworben haben Sie sich mit dem „Leipziger Modell“. Was steckt dahinter? A-CL: Die Initiative, sich zu bewerben, ging von hiesigen Theatern aus. Regulär veranstalten ein Freies und ein Stadttheater das Festival mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei uns sind es sechs Institutionen. Das ist ein Novum und war gegenüber der Bundeszentrale anfangs gar nicht so einfach zu argumentieren. Aber final hat die Expertise der einzelnen Theater überzeugt. Welche sind das? A-CL: Aus der Freien Szene sind das neben dem LOFFT die interdisziplinär arbeitende Schaubühne Lindenfels und der Westflügel mit seinem Fokus auf zeitgenössischem Figurentheater. Hinzu kommen das Schauspiel als große Institution und das Theater der Jungen Welt mit seiner Expertise für junges Publikum, an das sich ein Teil des Programms explizit richtet. Fürs Administrative haben wir uns auf eine vierköpfige Leitung verständigt, die Inhalte verantworten alle sechs Partner. Und die Stadt haben Sie an Ihrer Seite? A-CL: Ich bin mit der Idee, sich zu bewerben, schon 2019 zur Kulturbürgermeisterin gegangen, denn die Stadt musste vor der Bewerbung eine Ko-Finanzierung sicherstellen. Dass wir zudem das Land
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finanziell frühzeitig ins Boot holen konnten, ist auch eine Besonderheit unserer Ausgabe. Mit Blick auf die aktuelle Lage des sächsischen Kulturhaushalts und die damals so nicht absehbare Regierungsbildung erwies sich das als gute vorausschauende Entscheidung. Land und Stadt beteiligen sich mit jeweils 300 000 Euro. Das Festival gibt sich immer ein Motto. Warum beschwören Sie nun „Grenzen“? A-CL: Wie dachten im Fünferverbund über die Besonderheit Leipzigs 2025 nach und kamen auf 35 Jahre Wiedervereinigung. Das ist ein Anlass, bundesweit hoffentlich stark auf den Osten zu schauen, nachdem es zuletzt bereits viele Diskurse darum gab. „Grenzen“ wird aber weitergedacht, angesichts der geopolitischen globalen Krisen und Kriege sowie gesellschaftlicher und sozialer Grenzen, bis hin zu Klassismus, Gender- und Identitätspolitik und der Mensch-Natur-Beziehung. Die Stadt-Land-Grenze überschreiten Sie außerdem. A-CL: Ganz pragmatisch bekommen wir Landesgelder deshalb, weil wir dieses Thema bearbeiten. Das bedeutet nicht nur, ländliche Projekte nach Leipzig zu holen, sondern selbst im Umland unterwegs zu sein. Es gibt Arbeitsgruppen dazu, was man z. B. in Wurzen oder Grimma initiieren könnte: nicht wie ein Ufo, das dort landet, sondern in Beteiligungs- und Arbeitsprozessen. Und wir beauftragen eine lokale Künstler:innengruppe mit einem Projekt zum Stadt-Land-Gefüge sowohl für Leipzig als auch das Umland. Der Open Call fürs Gastspielprogramm endete Mitte Dezember. Was ist dessen Ergebnis? A-CL: Für 12 bis 15 Produktionen, die eine Jury auswählt, gingen rund 450 Bewerbungen ein, die bis Ende Februar zu sichten sind: sehr viel mehr als bei den letzten Ausgaben. Dies hat mich kaum überrascht, zumal sich die Antragsdichte bei schrumpfenden Mitteln auch andernorts erhöht. Vielerorts entwickeln sich Förderquoten in eine andere Richtung. Viele Künstler:innen stehen deshalb vor der Frage, ob und wie sie noch künstlerisch tätig sein können. Da kann die Aussicht, sich auf einem Festival mit nationaler Strahlkraft zu präsentieren, ein wichtiger Ankerpunkt sein. T
Theater der Zeit 2 / 2025
Foto Tom Dachs
Was macht das Theater, Anne-Cathrin Lessel?
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URAUFFÜHRUNG
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Ballett von Edward Clug nach William Shakespeare Musik von Milko Lazar
ab 21. Februar 2025 Deutsche Oper Berlin