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Auf der Suche nach all den Stimmen
Ein Gespräch über Stimme, Geschlecht und Figurentheater in der Ausbildung an der Berliner HfS Ernst Busch
Die Stimme ist keineswegs bloße Biologie, auch ihr sind gesellschaftliche Konnotationen eingeschrieben. Für double sprach Christina Röfer mit den Dozent*innen Prof. Ulrike Völger (Sprecherziehung) und Frank Becker (Musik/Gesang) sowie mit Jemima Milano (4. Studienjahr, Ensemble tjg. Dresden) über Stimme, Geschlecht und produktive Brüche im Figurentheater.
double: Inwiefern spielt die Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht eine Rolle in eurer Ausbildungs- und Arbeitspraxis? Jemima Milano: Ich studiere hier noch im vierten Jahr und bin parallel im Engagement am tjg. in Dresden. Tatsächlich ist für mich einer der Gründe, warum ich auf den Puppenspielzug aufgesprungen bin, diese Offenheit, Freiheit, diese Befreiung, auch von Geschlechtern. Dass ich einfach spielen kann was und wen ich will, ohne diese Beschränkung zu haben, die mir ja mein eigener Körper vorgibt. Dass ich jede Erweiterung wählen kann, auch in Bezug auf Material. Frank Becker: Ich habe mich in den letzten Jahren speziell damit beschäftigt, inwiefern das Bühnenlied Fragen aufgreift wie: Wer bin ich auf der Bühne? Wie transformiere ich mich, wenn ich mit einer Puppe arbeite? Hat das Material eine geschlechtliche Konnotation oder kann man das damit in Verbindung bringen? Wenn wir mit Material arbeiten, müssen wir hinterfragen, wie es durch unsere Perspektive vielleicht vereinnahmt wird.
double: Es gibt oft eine relativ klare gesellschaftliche Vorstellung davon, wie eine männliche und wie eine weibliche Stimme klingt.
Wie geht ihr hier damit um?
Ulrike Völger: Es ist nicht so, dass wir im Unterricht ständig darüber sprechen. Etwa: „Deine Stimme müsste jetzt tiefer werden,
damit sie männlicher klingt“. Natürlich fragt man manchmal „Warum sprichst du diese Figur so hoch? Was willst du damit ausdrü
cken?“ Aber eine Festlegung ist eigentlich nicht das, was uns hier im Sprechunterricht wirklich beschäftigt, sondern da suchen wir
nach all den Stimmen und Sprechweisen der Figuren und Charaktere, die unsere Spieler*innen verkörpern und ausdrücken können
und je mehr das sind, desto besser.
JM: Das würde ich auch gern für die szenische Arbeit unterstreichen. In den ganzen vier Jahren hieß es nie „Du spielst gerade einen
Mann, da musst du jetzt eigentlich eine andere Farbe mit reingeben.“ Ich habe dafür zum Beispiel einmal extra eine Charge reinge
setzt, als ich eine männliche Figur gespielt habe, um zu persiflieren, dass ich jetzt gerade als Frau einen Mann nachahme. Sodass
man nicht denkt „Das ist jetzt ein Mann, der spricht“, sondern „Das ist eine Frau, die so spricht wie ein Mann und diese Tatsache
kommentiert.“
FB: In der Musikausbildung wird eine weibliche Stimme eigentlich immer noch erst mal in die Höhe entwickelt und eine männliche
Stimme in die Tiefe. Da gibt es schon ganz klare geschlechtliche Zuordnungen der Tonverhältnisse. Ich habe das selbst noch erlebt
in meiner Ausbildung: Wenn eine Frau nicht über ein hohes C kam, dann hatte die nichts gelernt. Der Körper wurde wie ein In
strument verändert, um sicherzustellen, dass diese Fähigkeiten entwickelt wurden. Davon müssen wir uns jetzt befreien, indem wir
z. B. andersrum fragen, wenn ich jetzt da hoch will, verändert das dann nicht auch mein körperliches Empfinden auf der Bühne?
Oder singe ich vielleicht einfach da, wo ich gut sein kann, in welcher Lage auch immer? Natürlich stoßen wir auch immer noch an
die Grenzen dieses Normiertseins. Wenn du als Mann auf der Bühne nicht mit einer tiefen Stimme sprichst, ist das ein Tabubruch.
Wir haben es in der Puppenspielkunst aber sowieso immer mit Tabubrüchen zu tun, deshalb können wir uns das leisten, die Stimme
auch dementsprechend einzusetzen.
UV: Ich habe mir neulich eine Aufzeichnung des Studenten Andreas Pfaffenberger 1 angeschaut, da hat er mit einer Puppe, einem
alten Mann, die Arie der Königin der Nacht gesungen. Zwar deutlich transponiert, aber trotzdem ziemlich hoch. Und da sind dann all diese Brüche drin. Das ist das Geniale in dieser Kunst, dass diese Grenzen eben einfach nicht existieren. FB: Ich würde nicht sagen, dass die Grenzen nicht existieren, sondern das Besondere daran ist, diese Grenzen wahrzunehmen und mit ihnen zu arbeiten. Der extreme Bruch – dass der alte Mann eine Sopranfigur singt – ist in dem Körper des Wesens eigentlich gar nicht vorstellbar und die ganze Zeit schwingt die Frage mit, was ist da los, wie kann das sein? Wir setzen das Material einfach
ein und behaupten. Und deshalb ist das Thema Gender grundsätzlich auch in der Puppenspielkunst verankert, denke ich, weil man es durch diesen Bruch in der Kunstform selbst sehr gut trifft.
double: Also eine prädestinierte Kunstform, wenn es darum geht Kategorien zu hinterfragen und Uneindeutigkeit, Vielstimmigkeit zu fördern. Würdet ihr sagen, dass Vielstimmigkeit ein zentraler Begriff im Figurentheater ist? UV: Die Studierenden müssen in der Lage sein, ganz verschiedene Persönlichkeiten, gleich welchen Geschlechts, stimmlich zu unterscheiden. Darin liegt eine riesige Vielfalt. FB: Diese Stimmenvielfalt, von der du sprichst, ist völlig richtig. Ich habe einen Haufen Puppen und frage mich nicht zuerst, was haben die für ein Geschlecht, sondern ich versuche, deren innere Stimme, ihr Verhalten, ihre Fragen an die Welt zu finden. Die Frage ist immer, wie sich das dann transportiert. Es gibt ja immer noch viele Stimmen in der Gesellschaft, die ganz gerne einfach nur Mann und Frau haben und fertig. Das Finden der eigenen Stimme heißt vielleicht aber auch Loslassen der Vorstellungen, mit denen man sozialisiert worden ist.
double: Die inneren Stimmen der Puppen finden… Wie nähert ihr euch in der Stimmausbildung dem Puppenkörper? UV: Im Sprechunterricht versuchen wir erst mal die Grundlagen zu schaffen, ob bei Schau- oder Puppenspieler*innen. Man muss lernen, die eigene Stimme, den eigenen Körper zu entdecken. Dass die Stimme im Körper sitzt, dass der Körper durchlässig wird für die Stimme, dass ich lerne, wie ich meine Stimme benutzen kann. Wie verletzt sie sich nicht, wie klingt sie so wie ich das möchte, welche Potenziale habe ich bisher noch nicht entdeckt? Ich kann meine Stimme ja erst verändern, wenn ich überhaupt weiß, was ich tue. Erst dann kann ich damit wirklich frei arbeiten. JM: Das ist ein richtiger Aha-Moment: Das ist meine Stimme, so rede ich?
double: Du hast gesagt, dass du oft eher genderunspezifische Figuren spielst, Jemima. Wie findest du die richtige Stimme für eine Figur? JM: Ich gucke mir tatsächlich erst mal die Physiognomie an. Sehe ich beispielsweise, dass der Unterkiefer sehr weit nach vorne steht? Dann mache ich das nach und gucke, was das mit meiner eigenen Stimme macht. Ich schaue, was kann die Puppe für einen Gang haben, was ergibt sich aus der Materialität heraus, und oft entwickelt sich das dann im Spiel von allein: Ok, so sieht sie aus und so ist die Stimme dazu, das kaufe ich ihr ab. Wenn es eine neutralere Puppe ist, gehe ich auch oft über die Biografie ran. Aber es ist selten, dass eine Figur von mir einen S-Fehler bekommt oder einen Dialekt. Wenn ich merke, ich setze mich da auf irgendwelche Stereotype drauf, schmeiße ich es in der Regel direkt wieder raus. UV: Wie wir wissen, macht auch die Biografie etwas mit einer Stimme, die Sozialisation, die Restriktionen und Freiheiten – daraus entsteht eine freie oder eine begrenzte Stimme. Deshalb ist der Blick einer Puppe auch ganz wichtig, um zu einer Stimme zu finden, denn er sagt etwas über die Biografie. FB: Die Sozialisation spielt ja auch bei der Genderidee eine große Rolle. Die Stimme entscheidet, wie man hörbar und sichtbar wird und spiegelt nicht nur soziale Komponenten, sondern wird zur Identitätsfrage. Was geht in der Figur eigentlich vor, warum äußert sie sich so? Und wie findet man im eigenen Klangspektrum die Möglichkeit, das zum Ausdruck zu bringen? Stimmigkeit ist das Stichwort. – www.hfs-puppe.de