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Anne Tismer Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter

Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter

Erinnerungen an eine gemeinsame Arbeit mit dem an Covid-19 verstorbenen Dramatiker und Regisseur Lars Norén von Anne Tismer

Die Nachricht von Lars’ Tod erhalte ich von Jean-Louis Colinet, dem ehemaligen Leiter des Théâtre National de Bruxelles. Wir sind traurig und auch sprachlos.

Ich denke an unsere Arbeit „Le 20 Novembre“ und versuche, ihn mir lebend einzuprägen, um ihn festzuhalten. Einige Erinnerungen an Lars Norén schreibe ich nun auf. Ich kann ihm sicher nicht gerecht werden.

Er hat mir sehr viel positive Energie gegeben und mich respektiert. Ich habe viel von ihm gelernt. Was ich hier beschreiben kann, ist nur ein kleiner Teil.

Ich habe ein paar Inszenierungen seiner Stücke gesehen. Ein Video auf Youtube hat mir besonders gefallen.

Die Gruppe heißt Stockholms Improvisationsteater: Das Video hat den Titel „Stockholm Syndrom“. 186 Aufrufe – mit mir 187.

https://youtu.be/_WH7VaTuHzE

So möchte ich gerne die Stücke von Lars gespielt sehen. Ich mag die Komik, die gar keine ist.

2007 – Während der Proben

Die Arbeit mit Lars Norén ist für mich ein Glücksfall! Ich darf außerdem in der wunderschönen Stadt Brüssel sein, im Théâtre National de Bruxelles, in der Nähe des Atomiums, ich darf das Thema selbst aussuchen Ich darf selbst auch schreiben!!!!!!! Ich darf französisch und englisch sprechen, das Team ist großartig und hilfsbereit. All das ist nicht selbstverständlich. Und ein großes Geschenk für mich, in meiner damaligen Situation. keit – genannt. Am 20. November 2006 begeht ein 18-jähriger Schüler im nordrhein- westfälisch Emsdetten einen Amoklauf in seiner ehemaligen Schule. Ich hatte das in den Nachrichten gehört und Lars gebeten, darüber ein Stück zu schreiben und mich ebenfalls einen Teil schreiben zu lassen.

In Frankreich und Belgien wurde diese Nachricht, soviel ich weiß, nicht gesendet. Außer dem Schüler selbst kam niemand zu Tode. Jean-Louis Colinet hatte die Idee, uns zusammen etwas entwickeln zu lassen, und uns in Schweden miteinander bekannt gemacht.

Das Stück ist von Lars in Versform verfasst, in Form eines langen Gedichts. Zitate aus dem Tagebuch des Täters sind eingeflochten. Und mein Text. Der Versrhythmus gibt mir Sicherheit.

Meine Bewegungen sollen sparsam sein. Ich soll ruhig sprechen. Ich soll an bestimmten Stellen atmen. Er schaut zu, aber in seinem Gesicht sehe ich immer etwas Sorgenvolles. Ich erwarte, dass er aufspringt und geht, weil ich zu schlecht spiele.

Das Sujet, das ich vorgeschlagen habe, ist leider ausgesprochen deprimierend. Es macht mich niedergeschlagen.

Er sagt, man muss sich den schlimmen Dingen stellen, damit man sich davon abgrenzen kann, damit man nicht hineingerät, damit auch die anderen nicht hineingeraten,

damit man später zu schätzen weiß, was gut ist. Das leuchtet mir ein, und ich versuche, mich wieder aufzubauen.

Ich habe nun Lars Noréns Erscheinung vor Augen: Er sitzt auf einem (wie ich glaube) unbequemen Holzstuhl. In ungefähr sieben Metern Entfernung. Der Raum, in dem ich spiele, ist ganz leer, aber riesengroß. Er sagt, wenn alles leer ist, kann er besser denken.

Bei ihm zu Hause ist es auch ganz leer, wie er sagt. Kaum Möbel, keine Bilder. Unser Stück handelt von einem Amokläufer. Später, während der Vorstellungen, werde ich die Daten von school shootings mit Kreide an die hinteren Wände malen.

Wir werden durch Frankreich, Belgien, nach St. Petersburg zu einem Filmfestival, nach Rumänien und an weitere Orte reisen. Ich glaube, so viele Orte habe ich noch nie mit einer künstlerischen Arbeit bereist.

Neben mir steht meine Sporttasche. Sie ist blaugrau und ein bisschen zu klein. Darin ist ein entmilitarisiertes Maschinengewehr, eine Pistole und Kreide, mit der ich auf dem Boden Raster zeichnen werde. Die Stationen eines Menschenlebens, als Buchstaben: S A A R T – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod,

wie der Täter sie beschreibt. Ganz hinten habe ich später, während der Vorstellungen, eine Flasche Cola versteckt, falls ich Angst bekomme, drohe ohnmächtig zu werden oder mir schlecht wird. Ich habe oft Angst bei den Vorstellungen, außer wenn ich in Turnhallen spiele. Nach der ersten Passage wird es manchmal besser.

Lars sitzt auf dem (unbequemen) Holzstuhl und wartet.

Nachmittags schreibt er an einem Tagebuch. Er sagt, wenn es herauskommt, werden ihn die Schweden hassen.

Einmal plaudere ich noch ein bisschen mit Alfredo und Katrin, als Lars schon auf seinem Stuhl sitzt und wartet. Alfredo Cañavate ist der einzige festangestellte Schauspieler im Theater und im Moment unser Regieassistent. (Die belgischen Theater finde ich ein bisschen fortschrittlicher als die deutschen Theater, aber das ist eine andere Geschichte.)

Katrin Ahlgren ist die Übersetzerin und gleichzeitig auch die Dramaturgin unseres Teams. An diesem Tag versuche ich, den Beginn der Proben hinauszuzögern, denn das Thema des Stücks ist wirklich deprimierend, und es fällt mir schwer. … aber ich habe es ja selbst ausgesucht …

Plötzlich sagt Lars leise:

I want to work …

Es klingt wie ein Flehen. (Es war so überzeugend, dass ich danach nie wieder getrödelt habe.)

Lars spricht englisch mit mir.

Den Text hat er auf Schwedisch geschrieben. Katrin Ahlgren hat ihn auf Französisch übersetzt, sie ist aber Schwedin. Alfredo ist manchmal verzweifelt über die Übersetzung: Ça ne se dit pas comme ça … ça ne se dit pas comme ça! (So sagt man es nicht … so sagt man es nicht!)

Nachmittags möchte Alfredo meine Aussprache korrigieren. Manchmal sieht er mich verzweifelt an, weil ich wohl ein völlig unverständliches Französisch spreche (was ich nicht wirklich beurteilen kann). Es ist dann später so, dass mein Französisch wohl fremd klingt, aber die Leute tippen auf Dänisch oder Norwegisch, nicht auf Deutsch.

Lars versteht kein Französisch, er hört auf den Rhythmus. Das gefällt mir. Ich arbeite gerne rhythmisch.

Ich frage ihn, ob ich ab und zu etwas körperlicher sein sollte. Ich befürchte, dass das Publikum sich langweilt, weil so wenig Bewegung passiert. Er sagt, für ihn ist es gut so, ich spreche ja. Lars Norén starb am 26. Januar 2021 in Stockholm an den Folgen einer Covid-19Erkrankung. Er wurde 76 Jahre alt. In Erinnerung an ihn veröffentlichen wir auf den folgenden Seiten ein bislang im deutschsprachigen Raum noch nicht aufgeführtes Stück von ihm. Der Einakter „Terminal 3“ aus dem Jahr 2006 ist Teil eines Werkkomplexes aus insgesamt elf Teilen.

schen Inhalt, ich bin alleine auf der Bühne, ich bewege mich kaum, ich spreche monoton, und die Bühne ist leer,

außer einer Tasche mit zwei Gewehren. Ob das jemand ansehen kann …

Lars und ich sprechen viel über Mobbing. Der Täter hat Mobbing als Grund für seinen Amoklauf genannt. Ich verschlinge sämtliche mir auffindbare Literatur über Mobbing. Ich vergleiche meine eigenen Erfahrungen. Ich versuche, die Perspektive des Täters zu begreifen, wie man es eben macht. Über school shootings gibt es noch nicht so viel zu lesen.

Am Ende möchte Lars doch noch Dinge auf der Bühne haben: 50 Schlingen, die von der Decke hängen, an denen man sich aufhängen kann. Ich denke, für die Reisen wird es umständlich. Wir verwerfen die Idee später.

Während der Proben bin ich manchmal –nein: sehr oft – unsicher. Ich werde rot. Ich bekomme Schweißausbrüche. Ich stottere. Ich zittere. Ich habe Angst. Ich bin gar nicht souverän. Er sagt: Du darfst keine Angst zeigen. Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter. In der Tasche sind deine Waffen. Du bist also die stärkste Person im Raum. (Es gab einige Vorstellungen, in denen ich wirklich ziemlich laut geredet habe. Hinterher hat sich auch mal jemand beschwert …) Du kannst einige Schritte hin- und hergehen, ganz genau vier Schritte zum Beispiel. Du steckst dein Revier ab. Du gehst erst mal nicht nah ans Publikum. Du hältst einen bestimmten Abstand. Mindestens sieben Meter. Ich bilde mir ein, dass das tatsächlich funktioniert hat.

Die Aufführungen

Mit Joël Bosmans, dem Bühnenmeister, mache ich die Reisen und Aufführungen. Ich spiele das Stück sehr oft. Auf Französisch und auf Deutsch.

Die Diskussionen hinterher sind doppelt so lang wie das Stück. Vor allem männliche Jugendliche schauen zu. Ich zeige es in Schulen, in „prekären“ Lagen. Meistens sind die Schülerinnen und Schüler gut vorbereitet.

Wir sprechen immer über Mobbing. Die meisten Mobbingopfer begehen kein Verbrechen, und Mobbing scheint ein großes Problem in Schulen zu sein.

Ich zähle die Begegnung mit Lars Norén zu den künstlerisch und menschlich wertvollen Momenten in meinem Leben und bin froh, dass ich die Chance hatte, ihn kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten. Ich möchte sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin. Ich empfinde es so, dass er mich eine Zeit lang begleitet hat, und das war sehr großzügig von ihm. Er wird vielen Menschen und mir sehr fehlen. Der Tod von Lars Norén hätte überhaupt nicht sein müssen. Das Virus ist gefährlich, und das ist bekannt. Also sollten die Vorsichtsmaßnahmen überall ernst genommen werden.

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