Theater der Zeit 03/2021 - Der Sound der Algorithmen. Schwerpunkt Musiktheater

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/ TdZ März 2021  /

Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter Erinnerungen an eine gemeinsame Arbeit mit dem an Covid-19 verstorbenen Dramatiker und Regisseur Lars Norén von Anne Tismer Die Nachricht von Lars’ Tod erhalte ich von Jean-Louis Colinet, dem ehemaligen Leiter des Théâtre National de Bruxelles. Wir sind traurig und auch sprachlos. Ich denke an unsere Arbeit „Le 20 Novembre“ und versuche, ihn mir lebend einzuprägen, um ihn festzuhalten. Einige Erinnerungen an Lars Norén schreibe ich nun auf. Ich kann ihm sicher nicht gerecht werden. Er hat mir sehr viel positive Energie gegeben und mich respektiert. Ich habe viel von ihm gelernt. Was ich hier beschreiben kann, ist nur ein kleiner Teil. Ich habe ein paar Inszenierungen seiner Stücke gesehen. Ein Video auf Youtube hat mir besonders gefallen. Die Gruppe heißt Stockholms Improvisations­ teater: Das Video hat den Titel „Stockholm Syndrom“. 186 Aufrufe – mit mir 187. https://youtu.be/_WH7VaTuHzE So möchte ich gerne die Stücke von Lars gespielt sehen. Ich mag die Komik, die gar keine ist. 2007 – Während der Proben Die Arbeit mit Lars Norén ist für mich ein Glücksfall! Ich darf außerdem in der wunderschönen Stadt Brüssel sein, im Théâtre National de Bruxelles, in der Nähe des Atomiums, ich darf das Thema selbst aussuchen Ich darf selbst auch schreiben!!!!!!! Ich darf französisch und englisch sprechen, das Team ist großartig und hilfsbereit. All das ist nicht selbstverständlich. Und ein großes Geschenk für mich, in meiner damaligen Situation.

Ich habe nun Lars Noréns Erscheinung vor Augen: Er sitzt auf einem (wie ich glaube) unbequemen Holzstuhl. In ungefähr sieben Metern Entfernung. Der Raum, in dem ich spiele, ist ganz leer, aber riesengroß. Er sagt, wenn alles leer ist, kann er besser denken. Bei ihm zu Hause ist es auch ganz leer, wie er sagt. Kaum Möbel, keine Bilder. Unser Stück handelt von einem Amokläufer. Später, während der Vorstellungen, werde ich die Daten von school shootings mit Kreide an die hinteren Wände malen. Wir werden durch Frankreich, Belgien, nach St. Petersburg zu einem Filmfestival, nach Rumänien und an weitere Orte reisen. Ich glaube, so viele Orte habe ich noch nie mit einer künstlerischen Arbeit bereist. Neben mir steht meine Sporttasche. Sie ist blaugrau und ein bisschen zu klein. Darin ist ein entmilitarisiertes Maschinengewehr, eine Pistole und Kreide, mit der ich auf dem Boden Raster zeichnen werde. Die Stationen eines Menschenlebens, als Buchstaben: S A A R T – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod, wie der Täter sie beschreibt. Ganz hinten habe ich später, während der Vorstellungen, eine Flasche Cola versteckt, falls ich Angst bekomme, drohe ohnmächtig zu werden oder mir schlecht wird. Ich habe oft Angst bei den Vorstellungen, außer wenn ich in Turnhallen spiele. Nach der ersten Passage wird es manchmal besser. Lars sitzt auf dem (unbequemen) Holzstuhl und wartet. Das Stück „Le 20 Novembre“ hat er auf Schwedisch „Förgänglighet“ – Vergäng­lich­

keit – genannt. Am 20. November 2006 begeht ein 18-jähriger Schüler im nordrheinwestfälisch Emsdetten einen Amoklauf in seiner ehemaligen Schule. Ich hatte das in den Nachrichten gehört und Lars gebeten, darüber ein Stück zu schreiben und mich ebenfalls einen Teil schreiben zu lassen. In Frankreich und Belgien wurde diese Nachricht, soviel ich weiß, nicht gesendet. Außer dem Schüler selbst kam niemand zu Tode. Jean-Louis Colinet hatte die Idee, uns zusammen etwas entwickeln zu lassen, und uns in Schweden miteinander bekannt gemacht. Das Stück ist von Lars in Versform verfasst, in Form eines langen Gedichts. Zitate aus dem Tagebuch des Täters sind eingeflochten. Und mein Text. Der Versrhythmus gibt mir Sicherheit. Meine Bewegungen sollen sparsam sein. Ich soll ruhig sprechen. Ich soll an bestimmten Stellen atmen. Er schaut zu, aber in seinem Gesicht sehe ich immer etwas Sorgenvolles. Ich erwarte, dass er aufspringt und geht, weil ich zu schlecht spiele. Das Sujet, das ich vorgeschlagen habe, ist leider ausgesprochen deprimierend. Es macht mich niedergeschlagen. Er sagt, man muss sich den schlimmen Dingen stellen, damit man sich davon abgrenzen kann, damit man nicht hineingerät, damit auch die anderen nicht hineingeraten, damit man später zu schätzen weiß, was gut ist. Das leuchtet mir ein, und ich versuche, mich wieder aufzubauen. Vormittags probe ich mit ihm.


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