Theater der Zeit 03/2021 - Der Sound der Algorithmen. Schwerpunkt Musiktheater

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Mut und Repression: Report Russland / „Die Follower von Ø“: Der Komponist Trond Reinholdtsen Dirk Baecker über Kunst und Irritation / Kolumne Ralph Hammerthaler / Künstlerinsert Miriam Ferstl

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Der Sound der Algorithmen Schwerpunkt Musiktheater

März 2021 • Heft Nr. 3


auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

Seit den 1990er Jahren boomt das Musiktheater für Kinder und Jugend­liche. „Kindermusiktheater in Deutschland“ stellt die neu entdeckte Gattung in ihren Organisationsformen sowie in ihren ästhetischen und sozialen Möglichkeiten dar. Das Buch ist der erste Versuch, die Kunstform kulturpolitisch und ästhetisch einzuordnen. Ihre Akteure spielen mit postdramatischen Elementen, integrieren Neue Musik und szenisches Musizieren und produzieren über alle Spartengrenzen hinweg. Wird Kindermusiktheater die Kunstform der Zukunft?

Barrie Kosky versteht es nicht nur als der gefeierte Regiestar der Komi­ schen Oper in Berlin, sondern auch als unterhaltsamer und fesselnder Erzähler, der überwältigenden Macht des Gefühls einen glänzenden Auftritt zu bereiten. „On Ecstasy“ ist seine Biografie des Schreckens und des Glücks im rauschhaften Moment: der Ekstase des Schmeckens beim Genuss der Hühnersuppe der geliebten Großmutter, der Ekstase des Fühlens im Pelzlager des Vaters in Melbourne, des Sogs der unbe­ kannten Zonen des Geschlechts, der Überwältigung in der Begegnung mit den Sinfonien von Mahler und den überirdischen Halluzinationen der Opern von Wagner …

RECHERCHEN 158 Joscha Schaback Kindermusiktheater in Deutschland Kulturpolitische Rahmenbedingungen und künstlerische Produktion

Barrie Kosky On Ecstasy

Paperback mit 272 Seiten ISBN 978-3-95749-307-1 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Hardcover mit 104 Seiten Aus dem Englischen von Ulrich Lenz ISBN 978-3-95749-342-2 EUR 15,00 (print) / EUR 11,99 (digital)

Der Band von Christian Martin versammelt Theaterstücke aus mehr als dreißig Jahren. Sie sind ein Querschnitt seines dramatischen Œuvres und seiner thematischen und formalen Vielfalt: Volksstück, Zeitstück, Komödie, Märchenspiel („Sternfels“, „Kaltes Herz“, „Amok“, „Bunker“, „Fighters“) und schließlich der Monolog. Sein jüngster Text, „War nix is nix wird nix“, ist eine tiefgründige bitter-komische Farce über die letzten Tage des Münchner Kabarettisten und Sprachakrobaten Karl Valentin im Winter 1948.

DIALOG 31 Christian Martin War nix is nix wird nix stücke der erinnerung Herausgegeben von Richard Weber Paperback mit 230 Seiten ISBN 978-3-95749-344-6 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Aus den älteren, weit verzweigten ländlichen Dionysien mit ihren kul­ tischen Tanzplätzen macht sich der Chor auf, um im fünften vorchrist­ lichen Jahrhundert in der griechischen Polis zu erscheinen. Demokra­ tie, Tragödie und die genealogische Ordnung im Namen des Mannes entstehen zur selben Zeit. Sie gründen sich als je zweifache Gliederung von Polis und Oikos, Skene und Orchestra, Protagonist und Chor, Mann und Frau. Chorische Beziehungsweisen bilden ein Kraftwerk, denn der Chor, der nicht aus dem Theater kommt, führt über dieses hinaus und erneuert es auf je einzigartige Weise.

Ulrike Haß Kraftfeld Chor Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek Taschenbuch mit 360 Seiten Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 978-3-95749-279-1 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital) Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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editorial

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F

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

ür Potentaten wie Wladimir Putin sind die digitalen Medien Segen und Fluch zugleich. Während unzählige Bots tagtäglich versuchen, regierungsfreundliche Nachrichten in den Kanälen zu platzieren, platzen ebenso regelmäßig die Enthüllungsvideos des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny ins Geschehen. In Russland ist das Videoportal Youtube längst zum politischen Kampfplatz avanciert. Auch Telegram, Instagram oder Facebook tragen zur Dynamik der Ereignisse bei: „Seit den ersten Protesten am 23. Januar“, seit Nawalny in Moskau also wieder in Haft sitzt, „finden die wesentlichen Kämpfe“, schreibt Kristina Matvienko, „in den sozialen Netzwerken statt.“ Die Moskauer Theaterkritikerin und Kuratorin hat eine Vielzahl Theaterschaffender interviewt, die durch die Aufrufe im Internet bestärkt landesweit auf die Straße gehen und hier über ihre Ängste, die Polizeigewalt, ihren Mut und ihre Wut auf ein repressives System berichten. „Ich höre Daten! Überall Daten! Zahlen, Ziffern, Algorithmen. Meine Sorge ist, wie wir darin noch das Menschliche identifizieren können“, sagt der Komponist Óscar Escudero. Auch unser ­Schwerpunkt zum zeitgenössischen Musiktheater, der in Zusammenarbeit mit dem Magazin Positionen. Texte zur aktuellen Musik entstanden ist, dreht sich um die Macht der Algorithmen. In einer Zeit, in der Apps wie TikTok und Instagram es jedem ermöglichen, sich öffentlich auf virtuellen Musikbühnen zu inszenieren, steht das aktuelle Musiktheater vor einem Paradigmenwechsel. Doch wohin soll die Entwicklung gehen? Das haben Bastian Zimmermann, Co-Herausgeber der Positionen, und Dorte Lena Eilers den Komponisten Óscar Escudero, die Komponistin Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl sowie den Susanne-Kennedy-Sounddesigner Richard Janssen gefragt. Während Irene Lehmann die Grenzen des Digitalen aufzeigt, die in Pandemiezeiten selbst eine Szene wie die des experimentellen Musiktheaters in Berlin herausfordern, berichtet der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen, der auch den Sound zu Arbeiten von Vegard Vinge und Ida Müller schuf, im Gespräch mit Harry Lehmann und Christine Wahl, wie er das Internet für sich zu nutzen weiß: Sein nächstes Werk in Dresden wird sich aus den Followern seiner Youtube-Filmreihe „Ø“ konstituieren, die in Hellerau ein affirmatives Agitprop-Oratorium aufführen. Der Titel wird lauten: „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ Auch Donald Trump wusste tragischerweise mit der Janusköpfigkeit des Internets prächtig zu spielen. Doch selbst die Sperrung seines Twitter-Accounts konnte nicht verhindern, dass das zweite Impeachment-Verfahren gegen ihn vor Kurzem scheiterte. Die politische Bühne ist Trump noch lange nicht los – und gerade deshalb ist es, wie Frank Raddatz in seinem von Sophokles und Michel Foucault inspirierten Essay „Trump, Tyrann“ deutlich macht, auch für die Theaterbühne unabdingbar, sich der Figur des Ex-Präsidenten mit schärferen Analysemitteln zu nähern, als es die bisherige Ober­ flächenkostümierung aus Perücke und roter Krawatte geleistet hat. Ja, wäre die Welt doch berechenbar wie ein Algorithmus! Aber was wäre dann? Ganz einfach: Das allgemeine Gefühl von Unkontrollierbarkeit nähme zu. Paradox? Gewiss. Aber genau darin liegt der Kern der Kunst. In der sechsten Folge unserer Reihe Theater und Moral führt uns der Soziologe Dirk Baecker durch die aufregenden und erhellenden Schleifen der Systemtheorie. Im Zentrum steht eine These des österreichischen Kybernetikers Heinz von Foerster, der erklärte, dass es gerade die Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens, sprich: die Irritation sei, welche das Gefühl der Kon­ trolle erhöhe. Die Kunst als Irritationsgenerator, so Baecker, mache dabei den Panzer gewahr, der uns vor Eindrücken schütze, die die eigene Vorstellungskraft überforderten. Diesem Ansatz folgte auch der schwedische Dramatiker und Regisseur Lars Norén, der im Januar an einer Covid-19-Infektion verstarb. Die Schauspielerin Anne Tismer erinnert an die gemeinsame Arbeit mit ihm, an das Ringen um Konkretion und die Kraft, die es erfordert, in die Abgründe zu schauen. In unserem Stückabdruck veröffentlichen wir zudem Lars Noréns „Terminal 3“, ein Stück, das im deutschsprachigen Raum noch seiner Erstaufführung harrt. Für Licht in dieser dunklen Zeit sorgt derweil Miriam Ferstl, deren Arbeiten wir in unserem Künstlerinsert vorstellen. Die Münchner Künstlerin hat vor einigen Jahren ihre Liebe zu Decken­ beleuchtungen in Sakralbauten und Theatern entdeckt. Von unten fotografiert, wirken die Zentral­ gestirne dieser Gebäude sonderbar lebendig. Fast wie ein Einzeller. Oder ein Virus. Gut sei es daher, „wenn du jemanden kennst, der ein Theater hat. Und der dich in diesen Tagen hineinlässt“. Unser Kolumnist Ralph Hammerthaler hat dieses Glück in Oberhausen gefunden, wo er nicht nur in der undurchsichtigen Welt der Hooliganszene recherchierte, sondern auch im Gdańska, ­einem polnischen Restaurant, ein beeindruckendes Kunstobjekt entdeckte: ein dickes Stück Holz, umwickelt mit einem Tau. Titel des Werks: „Das letzte Rettungsbrett“. // Die Redaktion

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Inhalt März 2021

thema musiktheater

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Der Sound der Algorithmen Der Komponist Óscar Escudero, die Komponistin Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl sowie der Sounddesigner Richard Janssen im Gespräch über Talentshows, Hubba-Bubba-Opern und den Wettstreit gegen Big Data mit Dorte Lena Eilers und Bastian Zimmermann

16

Neue Intendanz! Der Komponist Trond Reinholdtsen über die Norwegian Opra, die Krise der zeit­genössischen Musik und seine Arbeiten mit Vinge / Müller im Gespräch mit Harry Lehmann und Christine Wahl

21

Irene Lehmann Klirr, sssssst Ein Streifzug durch die Szene des experimentellen Musiktheaters in Berlin

4

Fotografien von Miriam Ferstl

8

Sabine Leucht Es werde Licht! Die Münchner Künstlerin Miriam Ferstl fotografiert Kronleuchter in Kirchen und Theatern – und öffnet damit den Blick auf verborgene Verbindungen zwischen Spiritualität, Kunst und Naturwissenschaft

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künstlerinsert

7

ausland

24

Kristina Matvienko Im Fleischwolf eurer Repression In ganz Russland protestieren Menschen gegen die Verurteilung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny – Hier berichten Theaterschaffende über ihre Angst, ihren Hass und ihren Mut

protagonisten

28

Frank Raddatz Trump, Tyrann! Warum das Theater mit Donald Trump jenseits der Karikatur nicht umzugehen weiß – obwohl seine Gestalt mit Blick auf die antike Dramengeschichte leicht zu entzaubern wäre

kolumne

31

Ralph Hammerthaler Meine polnische Familie Ein Mann trinkt Wodka, ein anderer schaut zu

theater und moral #6

32

Dirk Baecker Von Foersters Vermutung und die Kunst oder Wie Unvorhersehbarkeit paradoxerweise das Gefühl der Kontrolle erhöht

neuerscheinungen theater der zeitbuchverlag

37

Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns Exklusiver Vorabdruck


inhalt

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look out

auftritt

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Paula Perschke Feminismus ohne schwere Theorie Das Berliner Duo cmd+c durchleuchtet mit den Mitteln der „Transkunst“ Themen wie Machtmissbrauch im Theater

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Sascha Westphal Virtuelle Komplizenschaften Das Bochumer Kollektiv Anna Kpok befragt die Welt mittels digitaler Verfremdung

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Augsburg „Oleanna – ein Machtspiel“ von David Mamet in der Regie von Axel Sichrovsky (Christoph Leibold) Berlin „Bodentiefe Fenster“ nach dem Roman von Anke Stelling in der Regie von Georg Scharegg / „Brigitte Reimann besteigt den Mont Ventoux! – Der Film“ von Marlene Kolatschny und Jan Koslowski (Erik Zielke) Bochum „Die Befristeten“ von Elias Canetti in der Regie von Johan Simons (Martin Krumbholz) Greifswald „Customer­ zombification 1 / Mein fremder Wille“ von Rolf Kasteleiner (Tom Mustroph) München „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“ von Lothar Kittstein in der Regie von Bernhard Mikeska / „Flüstern in stehenden Zügen“ von Clemens J. Setz in der Regie von Visar Morina (Christoph Leibold) St. Gallen „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz in der Regie von Jonas Knecht (Brigitte Schmid-Gugler) Wuppertal „Café Populaire” von Nora Abdel-Maksoud in der Regie von Maja Delinić (Martin Krumbholz)

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Anne Tismer Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter Erinnerungen an eine gemeinsame Arbeit mit dem an Covid-19 verstorbenen Dramatiker und Regisseur Lars Norén

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Lars Norén Terminal 3

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Antigone in Molenbeek Die digitalen Lessingtage des Hamburger Thalia Theaters bringen die Stimmenvielfalt europäischer Künstlerinnen und Künstler ins Wohnzimmer Bücher und CDs Bertolt Brecht / Stephan Suschke, Masha Qrella, ITI Zentrum Deutschland / Matthias Rebstock

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Meldungen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Peter Schneider im Gespräch mit Sabine Leucht

42

stück

magazin 64

aktuell

was macht das theater?

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Titelfoto: Der singende Fisch aus der Episode 13 der „Ø“-Serie von Trond Reinholdtsen. Foto The Norwegian Opra

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Fotografien von Miriam Ferstl: „Lichtzelle, 2019“ (Seite 4/5), „Arsenal Dubrovnik, 2018“ (Seite 6) und „Oper Leipzig, 2018“ (Seite 7). © Miriam Ferstl


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künstlerinsert

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Es werde Licht! Die Münchner Künstlerin Miriam Ferstl fotografiert Kronleuchter in Kirchen und Theatern – und öffnet damit den Blick auf verborgene Verbindungen zwischen Spiritualität, Kunst und Naturwissenschaft

von Sabine Leucht

M

an kann heute kaum auf diese Bilder blicken, ohne an ­ ovid-19 zu denken. Oder – je nach Gemüt – auch an kolorierte C Spitzendeckchen. Eigentlich aber fotografiert Miriam Ferstl Leuchter in sakralen Räumen und Theatern. Denn da hat die 34-Jährige ihre künstlerischen Wurzeln. Ferstl ist 1986 im 5000-Seelen-Ort Oberviechtach geboren und hat in Bayreuth ­unter anderem Theaterwissenschaft studiert, bevor sie 2009 am Schauspielhaus Bochum von der Kleindarstellerin zur Requisiteurin zur dramaturgischen Assistentin aufstieg. Dann folgte in dem, was sie ihr „erstes Leben“ nennt, die Arbeit beim Film und in der „Tatort“-Redaktion des Bayerischen Fernsehens – und schließlich der 31. Juli 2016, als ihr in Supetar auf der kroatischen Insel Brač ein Kronleuchter begegnete: Ein in vielerlei Hinsicht bahn­brechen­ des Erlebnis! Da war der Kontrast zwischen dem herunterge­ kommenen Kirchenraum und dem riesigen Kristalllüster, dessen ungewohnt lebensfrohe Farbigkeit mit der Deckenbemalung korrespondierte. Da traf die venezianische Vergangenheit der Insel in Gestalt des bunten Murano-Glases auf die angeborene Glasfaszina­ tion der im Bayerischen Wald aufgewachsenen jungen Frau. Und die hatte dann noch die schräge Idee, sich das Ganze von unten anzuschauen, während sie selbst flach auf dem Kirchen­boden liegt. Wenn Miriam Ferstl vier Jahre später davon erzählt, klingt sie noch immer überwältigt von der Entdeckung der Abstraktion, die das mit sich bringt. Und oft geht es den Pfarrern und Nonnen, die ihr die Türen aufschließen, ganz ähnlich. „Manchmal“, sagt sie, „sind sie geradezu entrüstet und glauben nicht, dass das auf dem Foto ein Element ihrer Kirche ist.“ Dabei liegt die Verfremdung nur in der Perspektive. Natürlich benutzt Ferstl eine Kamera mit hoher Auflösung, schließlich kommt es auf jedes Detail an. Ansonsten aber arbeitet sie sehr pur. „Es ist mir wichtig, mich selbst unter die Lichtquellen zu legen, mir Zeit zu lassen, deren Mitte zu finden und aus der Hand das Foto zu machen.“ Ein Laser oder ein Stativ würden ihr die Arbeit erleichtern. Doch lieber verlässt sie sich auf ihr Gefühl, das auch darüber entscheidet, ob überhaupt ein Bild entsteht oder sie einen oft erst nach langer

­ echerche gefundenen Ort unverrichteter Dinge wieder verlässt: R „Es muss ein ,guter‘ Ort sein, an dem ich eine inspirierende Atmosphäre spüre“, sagt Ferstl. Die Kriterien dafür sind rein subjektiv. Generell aber interessieren sie prunkvolle Schlösser, in denen der Leuchter nur ein repräsentatives Element unter vielen ist, weniger als die „brüchige“ Schönheit „vergessener Orte“ – und eben Theater und Gotteshäuser, „deren eigentlicher Sinn darin besteht, dass Menschen in ihnen zusammenkommen, um etwas Erhebendes und Erhellendes zu erleben“. Auch wenn ihnen dieser „Sinn“ in der Pandemie brutal einseitig beschnitten worden ist. „Dass so viele kleine Kristalle den Leuchter formen und jeder seinen Platz hat“, sagt Ferstl, „empfinde ich als sinnbildlich für diese Orte.“ Zudem ähnelt die konzentrische Anordnung dieser Kristalle vielen in der Natur vorkommenden Formen – von Viren und anderen Mikroorganismen bis hin zur Umlaufbahn der Planeten. William A. Bentleys Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Fotografien von Schneeflocken standen Pate für Ferstls „Light Cells“: Diese gibt es als 24-teilige Serie in Farbe sowie als SchwarzWeiß-Tafeln, auf denen gleich mehrere durch den Farbentzug ­zusätzlich abstrahierte Leuchterbilder wie naturwissenschaftliche Fundstücke codiert wurden. Als Einzelexemplar ist der Lüster der Bayerischen Staatsoper das wohl verblüffendste SchneeflockenLookalike, während andere Lichtsolisten einem Blick in ein Kaleidoskop, zarten Blüten oder Baumkronen von oben ähneln. Ferstls Leuchterbilder sind auf den ersten Blick geradezu unanständig dekorativ. Auf ihrer Website gibt es sogar einen Shop, in dem man einzelne Werke aus der „Lichtzellen“-Serie als limitierte Glasdrucke oder Gicléedrucke zwischen Acrylglas bestellen kann. Klar, auch Künstler müssen leben. Aber hat sie keine Angst, dass Käufer ihre Werke lediglich übers Sofa hängen, einfach, damit was glitzert? Ferstl ist da entspannt, denn erstens müsse jeder Künstler die finale Verantwortung für sein Werk an den Betrachter abgeben, und zweitens verlässt sie sich auf dessen Augen­ öffnerqualität. Und tatsächlich: Hat man sich einmal in die so hübschen wie komplexen Strukturen eingesehen, entdeckt man mehr und mehr in ihnen. Bis hin zu kleinen Verletzungen und damit Hinweisen auf die Zerbrechlichkeit des Lebens selbst. Die Oberpfälzerin, die seit 2018 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste studiert, hat in den vergangenen Jahren


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auch eine Vielzahl menschlicher Zellen unters Mikroskop gelegt. Wenn sie Leuchterdesigner danach fragt, ob sie sich bewusst an den Bauplänen der Natur orientieren, hört sie regelmäßig: „Nein, wir versuchen nur, so schön und effektiv wie möglich das Licht im Raum zu verteilen.“ Das hört gar nicht auf, sie zu faszinieren: „Dass der Mensch, der effektiv und kreativ sein will, bei etwas ­endet, das in der Natur seit Millionen von Jahren genau so existiert.“ In jeder Zelle. Sie selbst nennt die „unendliche Intelligenz“ hinter diesem „universellen Prinzip“ Gott, ist aber auch anderen Bezeichnungen gegenüber offen. Ihre für die Deutsche Vatika­ nische Botschaft konzipierte Ausstellung „Divine Light“, für die sie Lichtquellen in Kirchen, Synagogen und Moscheen foto­ grafiert hat, war außer in Rom unter anderem in Museen in Split und Zagreb zu sehen. Bis Sommer 2021 wird die renommierte Munich Re Art Collection einige von Ferstls „Lichtzellen“ ausstellen. Mit dem Leuchtermotiv und dem naturwissenschaftlichen und spirituellen Kosmos dahinter ist sie jedenfalls noch lange nicht fertig. Im Moment geht sie mit der Idee eines Bildbandes über Licht­quellen in deutschen Theatern schwanger, mit deren fotografischer Erfassung sie eher noch am Anfang steht. Die Fotos aus dem Zürcher Opernhaus und das fast kubistisch anmutende Motiv aus Prag (The New Stage) zeigen schon, welch neue und span­nende Perspektiven sich da eröffnen würden. Für Ferstl wie fürs ­Theater. Denn anders als das Schneeflockenbild aus der Bayerischen Staatsoper, das sich nahtlos ins „Lichtzellen“-Format einreiht, verlässt Ferstl hier mitunter ihre angestammte Frosch- und Zentralperspektive. So ist der Zürcher Leuchter zusätzlich von oben aufgenommen, was einen Blick auf den leeren Zuschauerraum durch die schillernden Glasbausteine hindurch ermöglicht. Ein Aha-­ Erlebnis, das Miriam Ferstl dem Bühnentechniker Marcel à Porta alias „Mäse“ verdankt, der ihr stolz das gewaltige Kleinod gezeigt hat. Und auch das ist anders bei den Lichtschmuckstücken im Theater, von denen manche sogar groß genug sind, um sie begehen zu können: Man ist sich ihrer und ihres Schauwertes bewusst. Die fotografische Kunst des Augenöffnens muss daher andere Wege gehen und wird sie finden. Wenige Tage nach unserem ­Telefonat schreibt mir Miriam Ferstl per Mail: „Übrigens muss ich seit unserem Gespräch noch mal mehr über die Zusammenhänge zwischen sakralen und theatralen Räumen und Aktionen nachdenken. Nicht nur der räumliche Aufbau, sondern auch die Inszenierung, sogar die Dramaturgie eines Theaterstückes und eines Gottesdienstes haben sehr viel Ähnlichkeit. Das ist wirklich sehr spannend, und ich freue mich, dazu in Zukunft noch mehr recherchieren und arbeiten zu können. Das könnte ja auch Teil des Buchprojektes sein … wenn es denn von irgendwoher Förderung dafür gibt.“ Und vielleicht – wer weiß? – könnte auch die seltsame Schieflage ein Gegenstand werden, in die das Verhältnis zwischen Kirchen und Theatern im vergangenen Lockdown-Jahr geraten ist, wo sich Aufführungen spielerisch als Gottesdienste deklarierten oder aus Kirchen live gestreamt wurden, um stattfinden zu können, und sich so manches Theater gewünscht hätte, wirklich eine Kirche zu sein, um weiter geöffnet bleiben zu dürfen. Eine Gemengelage aus Unverständnis, Neid, Zorn und neuen Allianzen, die die Leuchter, so es sie denn in den betreffenden Gebäuden gegeben hat, nun auch bezeugen können. //

miriam ferstl

Miriam Ferstl wurde 1986 in Oberviechtach (Oberpfälzer Wald) geboren und ist bildende Künstlerin, Fotografin und Autorin. Ferstl studierte Theater- und Medienwissenschaft sowie Germanistik an der Universität Bayreuth und war von 2009 bis 2015 als Dramaturgin, Redakteurin und Autorin u. a. für das Bayerische Fernsehen und als Assistentin in der Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit am Schauspielhaus Bochum tätig. Seit 2015 ist sie als freiberufliche bildende Künstlerin aktiv und beschäftigt sich mit Glas- und Spiegelinstallationen, wozu sie von Kirchenfenstern inspiriert wurde. Ferstls bekanntestes Werk ist die „Wasserskulptur“, die 2019 im Rahmen der Ausstellung „Yoko Ono – Peace is Power“ im Museum der Bildenden Künste Leipzig zu sehen war. Seit 2018 studiert sie Freie Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in München. Foto Maria Leonardo

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„Die zeitgenössische Musik ist in einem traurigen, dunklen Zustand.“ So wie der norwegische Komponist und Vegard-­ ­ Vinge-Verbündete Trond Reinholdtsen empfinden es viele ­Komponistinnen und Komponisten. Während auf Instagram und TikTok singend die ganze Welt auftritt, steckt der Musik­ theaterbetrieb in verstaubten Traditionen fest. Was also tun? Ein Schwerpunkt über Big-Data-Kompositionen, Schwarm­ intelligenz und die Neuerfindung der Oper aus dem Geist der Anarchie mit den Komponisten Óscar Escudero, Sara Glojnarić und Trond Reinholdtsen, der Musikwissenschaftlerin MarieAnne Kohl sowie dem Susanne-Kennedy-Sounddesigner ­Richard Janssen – ergänzt durch einen Streifzug durch die ­experimentelle Musiktheaterszene ­Berlins.

„Subnormal Europe“ von Belenish Moreno-Gil und Óscar Escudero bei der Münchner Biennale 2020 (hier mit Noa Frenkel). Foto Armin Smailovic

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musiktheater

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Der Sound der Algorithmen Der Komponist Óscar Escudero, die Komponistin Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl sowie der Sounddesigner Richard Janssen im Gespräch über Talentshows, Hubba-Bubba-Opern und den Wettstreit gegen Big Data von Dorte Lena Eilers und Bastian Zimmermann

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as heißt es, dem Menschen eine Stimme zu geben? Wie verändert sich der Alltagssound in Zeiten einer Pandemie? Wie klingt die Welt in der virtuellen Realität? Und wie demokratisch sind unsere Bühnen des Gesangs? Wir haben Protagonisten aus den verschiedensten Bereichen der Musikproduktion an einen Tisch gebracht: Die Komponistin Sara Glojnarić und der Komponist Óscar Escudero berichten über ihre Ausbrüche aus dem K ­ anon der zeitgenössischen Musik, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl analysiert die ambivalente Demokratisierungsidee von Talentshows im Fernsehen und Sounddesigner Richard Janssen erzählt von Kollaborationen aus dem Geiste der Popmusik und seiner Arbeit mit der Regisseurin Susanne Kennedy. Sara Glojnarić, Óscar Escudero, Marie-Anne Kohl, Richard Janssen, wir blicken auf ein Jahr extremer Lautstärkeschwankungen zurück. Mehrmals wurde das öffentliche Leben durch die pandemiebedingten Lockdowns heruntergefahren. Es wurde ruhiger in den Straßen. Stille trat ein. Sie alle haben beruflich mit Musik und Sound zu tun. Welchem Sound, auch im erweiterten Sinne, hören Sie derzeit am liebsten zu? Richard Janssen: Mich interessiert die Räumlichkeit von Sound. Auch im Theater verwende ich eine Vielzahl an Lautsprechern, um einen 3-D-Sound zu generieren. Gerade arbeite ich mit der Regisseurin Susanne Kennedy und ihrem Team an einem VirtualReality-Projekt. Unter meinem VR-Headset verschließe ich mich also momentan eher vor der Welt. Ich entferne mich von der Realität draußen und erschaffe eine neue, die eben auch eine neue Sound-Realität beinhaltet. Derartige VR-Realitäten, an denen ja schon seit Anfang der neunziger Jahre gearbeitet wird und die als Format auch interessant für das Theater sind, haben sich in den

vergangenen Jahren sehr stark entwickelt. Die Corona-Krise hat einen weiteren Innovationsschub bewirkt, auch die Leute interessieren sich jetzt mehr für VR. Wobei im Lockdown, wenn Theater nur im Internet stattfindet, Theatergänger auch klagen, dass ihnen der direkte Kontakt mit den Menschen fehlt, die Erotik der Präsenz, das Fühlen, Riechen, Zufallshören, ebenso wie die Tiefe des Raumes … Haben Sie nicht das Gefühl, wenn wir hier über den Sound der Welt, auch den Zufallssound im Alltag sprechen, in der VR in Ihrer Wahrnehmung, Ihrem Sensorium, Ihren Sinnen reduziert zu werden? Janssen: Natürlich. Ich verbringe ja auch nicht 24 Stunden am Tag in der VR. Solange man die Wahl hat, die VR auch wieder zu verlassen, ist alles gut. Es schreckt mich nicht. Auch im Theater gibt es viele Leute, denen die Digitalisierung Angst macht. Sie fürchten, dass der menschliche Faktor verloren geht. Ich denke, das ist Unsinn. Die digitalen Welten sind Teil der realen Welt, und das schon seit Langem. Deshalb müssen sie auch unbedingt im Theater stattfinden. Wenn es nichts mit der realen Welt zu tun haben will, was ist es dann? Das Theater muss endlich das 21. Jahrhundert betreten. Sara Glojnarić: Da geht es mir in Bezug auf die Musik ähnlich! Ich habe das Gefühl, Musik, also die akademische, an Konservatorien gelehrte, liegt in ihrer Entwicklung vierzig Jahre hinter dem Theater zurück. Von der Performancekunst und der bildenden Kunst ganz zu schweigen, die seit jeher innovativer sind. Das Theater zum Beispiel beschäftigt sich mit ähnlichen institutionellen Fragen wie die Musik, jedoch auch mit Themen, die meiner Meinung nach oft gesellschaftspolitisch relevanter sind. 2016 gab es in Stuttgart den „Wirklichkeiten“-Kongress, wo Peter Osborne, ein führender Kunstphilosoph, beschämt feststellte, wie „alt“ die zeitgenössische Musik im Vergleich zu anderen Künsten ist, und zwar in fast allen Bereichen – von der Thematik über die Institutionen bis hin zu der Art und Weise, wie sie produziert und kritisch diskutiert wird.

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thema

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Janssen: Na ja, als ich 2004 das erste Mal an einem Stadttheater einsamen Künstlergenies. Im Gegensatz zu Theater und bildender tätig war, waren zwei CD-Player – Stichwort „alt“ – das Einzige, was Kunst fand die klassische institutionalisierte Musik bislang in eiich dort fand. Auch wenn die technische Ausstattung besser gewornem sehr fixen Set von Parametern statt: Dazu gehört an vorderster Stelle auch die Partitur! Sobald du einen Auftrag für ein Ensemble den ist, hat die Musikproduktion nach wie vor einen schweren Stand. Wenn man am Stadttheater über das Budget für Musik beziehungserhältst, musst du deine Ideen in eine Partitur gießen. Die Notation allerdings fasst in der Regel nur siebzig bis achtzig Prozent dessen, weise Sound spricht, heißt es häufig: Wieso, das ist doch Teil des Bühnenbilds. Aber was hat das Bühnenbild was man wirklich im Kopf hatte. Sie ist nie eine akkurate Übersetzung. Zudem gibt es damit zu tun, etwas Audio-Equipment oder Instrumente zu kaufen? Dieses noch Vorgaben, was den Zeitumfang betrifft. „Ich höre Daten! Auch hat jedes Ensemble spezifische sehr in der Tradition verhaftete Denken muss verändert werden. Wobei es sich in Voraussetzungen, ebenso wie man als ­ Überall Daten! Die Frage, Komponistin die technische Ausstattung den letzten zehn Jahren durchaus weiterwarum jemand singt, ist bedenken muss, die das beauftragende entwickelt hat, seitdem Video und Sound wirklich Teil der Inszenierungen sind. Aber Festival hat oder nicht hat. Schlussendlich in diesem Zusammenhang müssen die Ideen, die die Partitur ja nur auch die Fachpresse ist ein Problem: Da wird ein Theaterstück besprochen, das neun­ unzureichend transportiert, rückübersetzt radikal. Es ist ein Kampf werden für die Musiker. Es gibt so viele zig Minuten lang aus Video und Sound beum die Vorherrschaft.“ Reibungsverluste. Aus diesem Grund entsteht, doch in der Rezension werden Video und Sound noch nicht einmal genannt. stehen mehr und mehr Kollaborationen (Óscar Escudero) zwischen Komponisten und Performern. Und damit meine ich nicht etwa die Namen Oder die Komponisten werden selbst zu der Verantwortlichen, sondern schlicht das, was zu sehen und zu hören war. Performern, um die eigenen Ideen konkreter umsetzen zu können. Es verändert Óscar Escudero: Ja, das Problem ist im sich also etwas, und es wird interessant sein zu sehen, wo wir in der Grunde eine sehr veraltete Hierarchie, welche sich wiederum auf die Kunst auswirkt, die dadurch ermöglicht – oder eben verhindert Komponierszene in fünfzehn bis zwanzig Jahren stehen. Marie-Anne Kohl: Das ist wirklich schön zu hören! Ich würde mir wird. Die Idee der Interdisziplinarität ist extrem wichtig! Auch für die zeitgenössische Musikwelt. Denn erst so lassen sich ambitiowünschen, dass ein ähnlicher Paradigmenwechsel auch in der Wissenschaft stattfindet. Denn leider ist die Musikwissenschaft in nierte Musikprojekte entwickeln. Derzeit ist es allerdings so, dass dir, wenn du als Komponist einen Auftrag für eine bestimmte Andiesem Punkt ähnlich weit hinter die Theaterwissenschaft zurückzahl an Performern oder Musikern bekommst, die Kuratoren sagefallen wie die institutionalisierte Musik im Vergleich zum Thea­ ter. Seit über vierzig Jahren sprechen wir über den Tod „des gen, sie hätten nur Geld für dich als Komponisten. Da ist der Handlungsspielraum natürlich superklein. ­Autors“, aber in der Musik spielt für viele Musikwissenschaftler nach wie vor der Komponist eine zentrale Rolle. Aspekte der AufAnders war es bei unserem Auftrag für die Münchener Bien­ nale 2020. „Subnormal Europe“, das ich gemeinsam mit meiner führung, des Prozesshaften, des Performativen fallen da häufig gar nicht ins Gewicht beziehungsweise gar nicht auf, wenn ganz Partnerin Belenish Moreno-Gil konzipiert habe, ist ein Stück, das nur für eine Sängerin und einen Tontechniker geschrieben wurde, natürlich die Partitur im Fokus bleibt – damit man sie analysieren kann. Wer als Komponist oder Komponistin sagt, er oder sie ar­ die beide durch ihre Performance die Definitionen dieser Begriffe aber überschreiten. Sie agierten in einer riesigen Installation aus beite eher aus einer performativen Perspektive, wird schief angeschaut. Aber wie sieht denn unsere Musikpraxis heutzutage aus? mehreren Leinwänden, Lichtern und Lautsprechern, in der live- und Da bedarf es mitunter gar keiner Partitur. Ich würde mir wünvorproduzierte Elemente kombiniert wurden. Von der ersten Minute an war klar, dass wir mit dem ZKM (Zentrum für Kunst und schen, dass Wissenschaftler viel mehr in den Proben sitzen, um Medientechnologie) in Karlsruhe zusammenarbeiten würden. Eine zu verstehen, was da wirklich passiert. wunderbare Erfahrung, ein tolles Labor! Wir waren umgeben von Janssen: Du bist herzlich eingeladen! Ich habe für mich und meine einem Team aus Ton-, Video- und Lichttechnikern, SoftwareentwickArbeit sechs Fragen formuliert, ich nenne sie die sechs W’s: Warum brauche ich Sound? Das ist die wichtigste. Welchen Sound braulern, Schreinern und sogar Choreografen, die unserer Sängerin bei den Tanz­einlagen halfen. Sie waren mehr als nur Assistenten. Wir che ich? Wann setzt er ein? Wie lange dauert er? Wie laut ist er? Und welche Lautsprecher benötige ich? Wenn ich diese sechs Frawollten, dass sie an wichtigen künstlerischen Entscheidungen teilhaben, die den unterschiedlichsten Wissensgebieten untergeordnet gen beantworten kann, weiß ich, ich bin auf einem guten Weg. waren. Ein wichtiges Thema ist, wie wir das Phänomen des MusikDie Frage, wann der Sound einsetzt, ist für mich dabei gleich­ schaffens verstehen. In unserem Fall ist es ein Prozess, der in mehberechtigt mit der Überlegung, welchen Sound ich kreieren will. Das sind für Komponisten natürlich keine neuen Fragen. Aber im reren Schritten abläuft. Komposition bedeutet zunehmend, in Dramaturgien zu denken, die sowohl die Aufführung als auch Faktoren Rahmen von Theaterproben klappt das eben nur, wenn jeder wie Raum und Zeit berücksichtigen, so wie im Theater. Das bedeutet gleichberechtigt am Probenprozess beteiligt ist. Und das von Anaber auch, dass eine Person allein das nicht schaffen kann. fang an. Ich höre im Theater mitunter wirklich beeindruckende Glojnarić: In diesem Sinne findet derzeit tatsächlich ein ParadigMusik, aber ich höre auch, dass sie an irgendeinem Punkt, meismenwechsel statt. Man trennt sich von der romantischen Idee des tens in der Endprobe, einfach hineingeworfen wurde.


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Escudero: Das Tandem mit meiner Partnerin Belenish MorenoGil wurde zum zentralen Konzept eines Stückes, das wir für die Weimarer Frühlingstage für zeitgenössische Musik komponiert haben. „Autotune for the People“, das leider aus gesundheitlichen Gründen nicht uraufgeführt werden konnte, war eine Zusammenarbeit von drei Ensembles, dem Ensemble Adapter, Miet + und dem Ensemble Via Nova. Belenish ist Musikwissenschaftlerin, Sängerin und Performerin, was für Verwirrung sorgte, weil sie von einigen Zuhörern oder Journalisten gar nicht als Komponistin betrachtet wurde. Was sie in unserer Zusammenarbeit aber ist! Wenn man die Hälfte des kreativen Teams jedoch unsichtbar macht, hat das musikalische, soziale und ökonomische Konsequenzen. Es gibt aber noch viele andere Faktoren, die sich auf die künstlerische Arbeit auswirken. Belenish und ich sprechen beispielsweise viel über Big Data. Es ist klar: Musik braucht Zeit und Raum. Aber in der virtuellen Realität verändern sich die Parameter. Diesen Effekt haben wir in der Pandemie beobachten können. Und er wird in der Post-Covid-Welt vermutlich weiter bestehen bleiben. Kunst verändert sich, wenn sie auch online rezipiert werden soll. Richard Janssen, Sie sprachen gerade von den sechs Fragen des Soundkünstlers. Fangen wir doch einmal bei der ersten an: ­Warum brauchen wir Musik? Warum brauchen wir die singende Stimme? Sie haben in den Inszenierungen von Susanne Kennedy den Schauspielern auf sehr radikale Weise ihren unique selling point gestohlen: die live sprechende Stimme. Bei Ihnen kommen die Stimmen vom Band – als Playbacktheater. Janssen: Das Publikum und Teile der Kritik waren in der Tat zunächst sehr geschockt und fürchteten nicht nur, dass wir den Schauspielern ihre Stimmen klauen, sondern durch die Masken auch ihre Gesichter und Emotionen. Aber Theater ist doch nun wirklich nicht der Ort, wo man echte Emotionen zu sehen bekommt. Wenn ich Emotionen sehen will, gehe ich in eine Bar und fange eine Schlägerei an. Im Theater erlebt man doch bloß die Reproduktion von Emotionen. Alles im Theater ist artifiziell, das Licht, die Bühne … Warum müssen Emotionen im Theater immer „real“ sein? Ich finde das seltsam. Man könnte doch auch sagen: Wir nehmen

Jeder Dialog ist komponiert aus den Stimmen hunderter Sprecher – Auch zu „Coming Society“ (Volksbühne Berlin 2019, hier mit Frank Willens (l.) und Ingmar Thilo) schuf Richard Janssen den unverkenn­ baren Susanne-Kennedy-Sound. Foto Ursula Kaufmann

nicht etwas weg, sondern geben ein neues Gesicht und eine neue Stimme. Neue Tools, mit denen man arbeiten und spielen kann. Wie komponieren Sie? Janssen: Wir arbeiten zwar im deutschen Sprechtheater, bezeichnen unsere Inszenierungen aber dezidiert als Sprachtheater. Wir tauchen ab in die Sprache. Wir wählen Leute aus, Amateure, Menschen, die im Theater arbeiten, geben ihnen einen Text, den sie zuvor nicht kannten, und lassen ihn von ihnen lesen. So entstehen pro Produk­ tion rund 1500 Sound-Files, mit denen ich anfange, die einzelnen Szenen zu erarbeiten. Wenn man bei Susanne Kennedy einen Dialog auf der Bühne hört, ist eines sicher: Dieser Dialog hat nie stattgefunden. Er ist aus all diesen kleinen Sprachschnipseln komponiert. Wir nehmen auch Elemente auf wie Räuspern oder Niesen oder „Ähs“ und „Hms“. Die Dialoge lösen bei den Zuhörern ein sehr seltsames Empfinden aus. Man kann es nur schwer beschreiben. Es ist so etwas wie eine mikroskopierte, in die Länge gezogene Kommunikation, die uns zeigt, wie seltsam eigentlich unsere Sprache und unsere Kommunikation ist. Jeder Dialog, den Sie in einer Kennedy-Produktion hören, ist also in Wirklichkeit eine Sprachkomposition. Ein ähnlich totales Sound- und Videosetting haben Sie, Óscar ­Escudero, in Ihrem Biennale-Stück „Subnormal Europe“ geschaffen, in dem in einem irren Tempo auf vielen Ebenen Informationen auf das Publikum einprasseln – allerdings mit einem Unterschied: In dem Soundscape agiert eine Performerin, Noa Frenkel, die auch singt und spricht. Warum haben Sie sich für diese LiveKomponente entschieden? Escudero: Für mich kreieren all diese Elemente, das Singen, Sprechen, die Bewegung, das virtuelle Setting, in dem sich die Performerin aufhält, Kräfteverhältnisse. In einer Szene zeigen wir eine große Menge an Zahlen, Ziffern, Daten. Big Data! Als würden die


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Die Komponistin und Soundkünstlerin Sara Glojnarić wurde 1991 in Zagreb geboren. Ihre Arbeit umfasst sowohl Orchester- und Ensemblestücke als auch ­Videoarbeiten und multimediale/sensorische Installationen. Thematisch setzt sich Glojnarić mit der Ästhetik von Populärkultur sowie soziopolitischen Fragen auseinander. Foto Martin Hauser Óscar Escudero wurde 1992 in Spanien geboren. Er ist Multimedia-Komponist und -Performer, der mit Ton, Video und virtuellen performativen Räumen ­arbeitet. Sein Arbeitsumfeld ist, was die Genera­ tion Y als ihren natürlichen Lebensraum bezeichnen würde: eine hybride Welt, in der Technologie ana­ loge Konzepte wie „Körper“, „Zeit“ oder „Bühne“ verschwimmen lässt. Foto Bokaventura Marie-Anne Kohl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Zuvor war sie als freiberufliche Kuratorin, Autorin und Künst­ lerin tätig. 2015 erschien im Transcript Verlag ihr Buch „Vokale Performancekunst als feministische Praxis. Meredith Monk und das künstlerische Kräftefeld in Downtown New York, 1964–1979“. Foto Jens Wagner Der niederländische Musiker und Sounddesigner Richard Janssen wurde 1961 in Manchester geboren. Er war lange als Popmusiker tätig, tourte, schrieb und arbeitete mit Produzenten wie Craig Leon ­(Talking Heads, Blondie) und Mick Ronson (David Bowie, Elton John). Seit 2004 arbeitet er als Sounddesigner mit Susanne Kennedy zusammen, mit der er u. a. Stücke wie „Fegefeuer in Ingolstadt“, „Women in Trouble“ oder „Coming Society“ entwickelte. Foto privat

Algorithmen die Performerin attackieren. Sie fragten vorhin, was ich momentan höre. Ich höre Daten! Überall Daten! Zahlen, Ziffern, Algorithmen. Meine Sorge ist, wie wir darin noch das Menschliche identifizieren können. Die Frage, warum jemand singt, ist in diesem Zusammenhang radikal. Es ist immer ein Kampf um die Vorherrschaft. Was hat mehr Kraft? Die Bilder? Die Daten? Der menschliche Körper? Ein Kampf um die Vorherrschaft existiert allerdings bereits auch unter Menschen. Sara Glojnarić, Sie arbeiten gerade an einem großen Musiktheaterprojekt für die Oper Halle: „Im Stein“ nach dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer, der auch das ­Libretto verfasst hat. Meyer gibt in seinem Buch Menschen eine Stimme, die im öffentlichen Diskurs oftmals keine haben: HartzVI-Empfänger, Trinker, Zuhälter. Wieso braucht es Musik und Gesang, um dieses große Gesellschaftspanorama, das gleichzeitig ein Panorama ost- und westdeutscher Geschichte während der Wendezeit ist, auf die Bühne zu bringen?

Glojnarić: Das ist auch für mich eine große Frage. Ich habe den Roman auf Deutsch und Kroatisch gelesen, allein das verschaffte mir zwei sehr unterschiedliche Perspektiven. Clemens Meyer erzählt über eine Spanne von dreißig Jahren, also von den späten Achtzigern bis ins Jahr 2010, wie sich die ökonomischen Strukturen, besonders die „Märkte“ in Ostdeutschland, um die Wende herum verändert und auch globalisiert haben – und zwar aus der Sicht von Sexarbeiterinnen aus Halle, Leipzig, Berlin und so weiter. Mal ist das Buch narrativ, mal eher assoziativ. Auf Deutsch hatte ich sehr viele Fragezeichen. Die kroatische Version war, weil sie viele Fußnoten enthielt, um soziokulturelle Phänomene zu erklären, nahezu eine kritische Ausgabe. Und jetzt arbeite ich mit einem sehr komprimierten Libretto, das größtenteils in Reimen verfasst ist. Es ist geradezu verrückt, es mit dem Roman vergleichen zu wollen. Um ehrlich zu sein, überlege ich immer noch, wie ich mit dem Text umgehen soll. Ein echtes work in progress. Die Lösung werde ich wahrscheinlich erst in fünf Jahren ­haben – nachdem das Stück längst fertig ist. In der Oper werden Meyers Protagonisten durch Sänger repräsentiert. Marie-Anne Kohl, Sie forschen gerade zu Talentshows im Fernsehen wie „The Voice of Germany“ oder „Deutschland sucht den Superstar“. Verschaffen diese Shows Menschen auf direk­ terem Weg eine öffentliche Stimme? Kohl: Knifflige Frage. Ja und nein! Zunächst bieten diese Shows Menschen tatsächlich einen Ort, an dem sie sich auf einer Bühne zeigen können und in diesem Sinne eine Stimme bekommen. Sie geben Menschen eine Plattform, die beispielsweise keine formale Ausbildung, aber trotzdem eine tolle Gesangsstimme besitzen. Auch hinsichtlich migrantischer und postmigrantischer Teilnehmer kann darüber diskutiert werden, inwiefern hier eine Bühne bereitgestellt wird, die sie andernorts häufig nicht erhalten. Diese Erzählung eines „Möglichkeitsraums für alle“ stimmt – aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Denn einen vollen Handlungsfreiraum der Selbstrepräsentation haben die Kandidaten natürlich nicht. Sie werden von Sendern und Produzenten in ein Skript hineininszeniert, sprechen somit nicht mit ihrer „vollen Stimme“. Mit der Idee des „Stimme-Bekommens“ sollte man also nicht zu affirmativ umgehen. Heute weiß man das als Zuschauer aber auch. Es ist immer ein Dazwischen. Dieses Dazwischen macht, denke ich, einen Teil der Faszination dieser Sendungen aus. Escudero: Unsere Gesellschaft existiert ja derzeit komplett räumlich getrennt. Alle aber haben die Möglichkeit zu performen. Nehmen wir die App TikTok, mit der sich Video- und Musikclips aufnehmen lassen, die für alle Nutzer frei einsehbar sind. Sie funktioniert ähnlich wie eine Talentshow, aber ohne Casting. Die weitverbreitete Nutzung solcher Anwendungen hat virtuelle ­Architekturen geschaffen, die mit Theatern vergleichbar sind. Die Menschen verfügen über Gadgets, mit denen sie die Theatralisierung ihres Selbst erweitern können, indem sie nunmehr auch die musikalische Bühne erobern. Das sogenannte Reel-Format, das auch von Instagram vor wenigen Monaten übernommen wurde, bietet Tools wie Sprachbearbeitung, Zeitlupe oder Zeitraffer und vieles mehr. Ich würde die Frage „Warum singen?“ daher noch erweitern zu „Was bedeutet Performance in unserer hybriden Welt?“ Die Antwort darauf ist extrem durch die Tatsache bedingt,


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dass ein immer größerer Teil unseres Publikums selbst jeden Tag virtuell vor einem großen Publikum auftritt. Glojnarić: Singen hat eine enorme Macht. Man sollte es mit Bedacht einsetzen. Wie kann ich als Komponistin, die aus Kroatien stammt, lesbisch ist und in Deutschland lebt, all diese Einflüsse inkorporieren, um dem Publikum eine neue Erfahrung zu ermöglichen – und nicht eine weitere Verdi-Oper mit schrägen Tönen zu schreiben? Kohl: Aber was heißt „Oper“? Der marokkanische Künstler Yassine Balbzioui hat vor zwei Jahren im Bayreuther Richard-Wagner-­ Museum eine „Oper“ inszeniert, „Ghost Flowers and other stories“, die im Grunde eher eine Performance war. Ohne Partitur. Das ­Museum war voll mit Blumen und Gerüchen. Ein Künstler saß am Schlagzeug, Balbzioui selbst spielte das Theremin, eine Kollegin und ein Kollege tanzten, und ich habe gesungen. Wir ­waren alle keine Profis in dem, was wir in diesem Stück taten. Wir sind Profis in anderen Dingen. Ich selbst habe allerdings eine Ausbildung in Operngesang, das hat Balbzioui inspiriert. Es sollte nach Operngesang klingen, aber den Text, den ich singen sollte, hat er mir erst fünf Minuten vor der Vorstellung gegeben. Diesen Abend nannte er Oper. Allein ein Stück an einem solchen Ort so zu be­ titeln, setzt Erwartungen.

machst, dann machst du natürlich Musik – aber du schreibst auch Texte, entwirfst Plattencover und Videos, denkst darüber nach, wie du dich auf der Bühne präsentierst … Wie im Theater. Oder im Musiktheater. Denn erst, wenn alles gleichberechtigt zusammenkommt, Performance, Licht, Musik, Timing, die Unmittelbarkeit des Publikums und so weiter, entsteht die Magie. Dieser Moment in der Musik oder im Theater ist für mich als Performer, wie ich es seit über zwanzig Jahren bin, der Grund, warum ich nach wie vor wirklich gerne in beiden Disziplinen arbeite. Escudero: Ich fühle mich der Krise, die du beschrieben hast, Sara, sehr nah. Interdisziplinarität ist ein weiterer, natürlicher Schritt, um an Projekten wie unseren zu arbeiten. Im Studium allerdings muss man sich Fähigkeiten wie etwa das Programmieren auto­ didaktisch beibringen. Wenn ich Professor wäre, würde ich den Studierenden die vielen, insbesondere technologischen Möglichkeiten aufzeigen wollen! Auch die Kuratoren müssen mutiger werden. Ich würde gerne mehr unerwartete künstlerische Kollaborationen sehen, die auch finanziell besser ausgestattet werden. Und vor allem: mehr Verrücktheit im Umgang mit den Elementen! // Theater der Zeit ist Medienpartner der Münchener Biennale – Festival für neues Musiktheater, in dessen Rahmen „Subnormal Europe“ von Óscar Escudero

Diese Ausweitung von Genrebegriffen ist extrem wichtig, um auch dem zeitgenössischen Publikum klarzumachen, dass Oper nicht zwangsweise Plüschsitz, Orchestergraben und Heldentenor bedeutet. Aber auch der Begriff des Musiktheaters, der generell eher für avanciertere Formen stand, scheint sich zu wandeln. Komposition bedeutet zunehmend, wie wir hier auch festgestellt haben, mit allen Ebenen der Darstellung zu komponieren – und ganz wichtig: eine szenische Arbeit fernab von ästhetischen Konventionen zu entwerfen. Sara Glojnarić, Sie haben für Ihren Bachelor-Abschluss an der Hochschule für Musik und Darstellende Künste Stuttgart unter dem Titel „Confession Box“ eine Duftausstellung kreiert. Stellen Sie sich so das Musiktheater der Zukunft vor? Glojnarić: Ich habe damals dieses Format gewählt, weil ich etwas machen wollte, in dem ich nicht trainiert war. Zu der Zeit war ich gegenüber der Neuen-Musik-Szene sehr skeptisch. In der Performance Art probieren Künstler einfach Dinge aus, kreieren eine Soundinstallation, auch wenn sie vorher in diesem Format nie ­tätig waren. Auf diese Spontaneität war ich eifersüchtig und habe mich gefragt, wieso Komponisten nicht einfach Installationen, Malereien, Performances entwerfen. Düfte lösen Erinnerung und Assoziationen aus. Das Musiktheater fand also in den Köpfen der Leute statt. Gut möglich, dass sich in ihren Köpfen bei dem Geruch von Hubba-Bubba-­ Kaugummi eine Serie von 250 Musiktheaterstücken entfaltete! Was ich sagen will: Das Stück könnte als Musiktheater ange­ sehen ­werden. Vielleicht ist es aber auch Musiktheater, weil es von einer Komponistin kreiert wurde. Kohl: Aus meiner Sicht als Akademikerin könnte Musiktheater eben genau das sein: eine Art Denkfigur, um Phänomene auf eine interdisziplinäre Art anschauen und beschreiben zu können. Janssen: Ich komme ja aus der Popmusik. Und ich finde, die Popmusik lebt Interdisziplinarität doch im Grunde vor: Die Kunstform als solche gibt es vielleicht nicht mal, vielmehr kommen hier alle möglichen Kunstformen zusammen. Wenn du Popmusik

und Belenish Moreno-Gill uraufgeführt wurde. Festivalproduktionen, die wegen der Corona-Pandemie nicht im Mai 2020 in München herauskommen konnten, hatten inzwischen andernorts Premiere oder werden, wenn es die Situation erlaubt, am Osterwochenende 2021 in München zu sehen sein. Weitere Infos unter: muenchener-biennale.de

J b e we t z t erbe n

Bochum vergibt

FRITZ 16. — 19.9. 2021 47. Fritz-Wortelmann-Preis der Stadt Bochum für Figurentheater www.fidena.de

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Neue Intendanz! Der Komponist Trond Reinholdtsen über die Norwegian Opra, die Krise der zeitgenössischen Musik und seine Arbeiten mit Vinge / Müller von Harry Lehmann und Christine Wahl

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err Reinholdtsen, Sie arbeiten an der Zukunftsmusik! Sie entwickeln großformatige philosophische Opernprojekte, in denen die Musik vollständig mit virtuellen Instrumenten eingespielt wird. Im April kommen Sie zum Tonlagen-Festival nach DresdenHellerau. Was werden Sie dort zeigen? Es geht um eine seltsame, mystische Gruppe von Verlierern und Ausgestoßenen aus dem Lumpenproletariat, dem Prekariat und den deplorables. Sie nennen sich „Die Follower von Ø“ und werden ihr affirmatives Agitprop-Oratorium „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ aufführen. Für die (wenigen) unter Ihnen, die den Hintergrund nicht kennen: „Die Follower von Ø“ sind hyperbegeisterte und manchmal etwas radikalisierte Zuschauer, die sich sehr oft meine Youtube-Filmreihe „Ø“ anschauen und sie zu interpretieren versuchen. Ein Teil dieser „Ø“-Serie war 2018 auf der Münchener Biennale, dem Festival für neues Musiktheater, zu erleben: Trollartige Wesen mit Bauschaumköpfen sangen mit großer Inbrunst ­ Schlüsselsätze aus der Philosophie. Die Protagonisten der „Ø“-Filme haben sich freiwillig und komplett von der Bürokratie, der Dekadenz, dem digitalen Lärm und überhaupt der ganzen Idee eines „Außen“ isoliert. Sie nennen es „das System“ und haben sich vor ihm in einem entlegenen schwedischen Dorf im Keller verbarrikadiert. Dort planen sie „Das Ereignis“, eine mystische Aktion von weltveränderndem Ausmaß.

Leider sind ihre vorbereitenden Recherchen, ihre philosophischen und politischen Überlegungen, ihre methodischen Experimente in Kunst und Alchemie in eine zentripetale, halb i­ nzestuöse Sackgasse geraten; ihr „Projekt“ hat sich ein w ­ enig in der Theorie verloren. Und die Fans der „Ø“-Filme – die „Follower von Ø“, die jetzt zum Tonlagen-Festival kommen – sind praxisbegabter? Ja, sie möchten die Botschaft von „Ø“ direkt in die Welt hinaustragen. Sie wollen die konkrete Aktion und beginnen in Dresden-Hellerau ihre missionarisch-militante Guerilla-Propagandatour. Als Komponist von Vegard Vinge und Ida Müller sind Sie ein bekannter Unbekannter in der Berliner Theaterszene. Sie haben für „John Gabriel Borkman“ (2011) und das „12-Spartenhaus“ (2013) im Prater der Volksbühne sowie das „Nationaltheater Reinickendorf“ (2017) bei den Berliner Festspielen nicht nur die Musik komponiert und den Sound kreiert, sondern auch sämtliche Stimmen selbst eingesungen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Vinge und Müller? Der berühmte Komponist Lars Petter Hagen hat uns zusammengebracht; er fand, das könnte gut passen. Vegard und Ida hatten gerade eine eher kleine Inszenierung von Ibsens „Nora“ in einer Off-Spielstätte in Oslo herausgebracht, die sich als klassischer

Auf der Suche nach dem neuen Narrativ – Szenen aus Trond Reinholdtsens „Ø“-Serie. Fotos The Norwegian Opra


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Skandalerfolg erwies und das Gesprächsthema innerhalb der Künstlerszene war. Ich habe die Aufführung selbst nicht gesehen, da sie nie öffentlich beworben wurde und ich mich nicht in der Internetdschungelschleife befand. Aber die Gerüchte besagten, dass Vegard und Ida drei Tage vor der Premiere sämtliche Schauspieler gefeuert und beschlossen hätten, alle Rollen selbst zu spielen. Ich hatte also von ihnen gehört, und uns war schnell klar, dass wir von vielen Dingen in der gleichen Weise begeistert sind. Von welchen denn? Die Oper ist die eine Sache, die Filmgeschichte und die Berliner Volksbühne sind zwei weitere. Bei unserer ersten gemeinsamen Produktion – „Gespenster“ in Oslo – haben wir uns allerdings ziemlich gestritten. Einer der Schauspieler war fest davon überzeugt, dass wir nie wieder zusammenarbeiten würden. Ich verteidigte damals noch meine modernistischen Wurzeln und bestand an einem bestimmten Punkt darauf, eine ziemlich komplexe, ­dunkelgraue zeitgenössische Musik einzusetzen; eine matschige Klangmasse, die alle Schauspieler deprimierte. Aber da ich das Gefühl hatte, dass sie eine ästhetische Wahrheit repräsentiert, konnte ich nicht nachgeben. Ein anderes Mal flippte ich aus, weil Vegard verlangte, „Gabriel’s Oboe“ zu verwenden, das superkitschige Leitmotiv aus dem Film „The Mission“ – das ultimative Beispiel für seichte „zeitgenössische klassische Musik“. Er wollte es für irgendeine Szene; wahrscheinlich die, in der das komplette Ensemble versucht, sich in Zeitlupe gegenseitig mit Heringen zu bewerfen. Wie ging der Streit aus? Es war für mich eine brutale Lektion über die Energien und Effekte des Theaters im Vergleich zum Konzertsaal. Am Ende musste ich zugeben, dass Vegard und Ida immer recht hatten. Das „strukturelle Hören“, von dem Adorno sprach, hat im Theater leider keinen wirklichen Platz. Jetzt möchte ich „Gabriel’s Oboe“ in jeder Szene einsetzen.

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Also mission completed! Aber im Ernst: Wie muss man sich die Arbeitsteilung zwischen Ihnen, Vegard Vinge und Ida Müller ­ bei einem zwölfstündigen Gesamtkunstwerk wie „John Gabriel Borkman“ vorstellen? Die Arbeitsteilung ist eigentlich recht traditionell; zumindest, was meine Rolle betrifft. Ich hatte damals oben im Prater eine Art Hölderlin-Turm, wo ich stundenlang allein mit meinem Mikrofon saß und gesungen und geschrien habe. Manchmal komponierte ich kleine Sachen oder stellte längere Sequenzen zusammen. Ich stand völlig außerhalb jedweden Soziallebens in der Produktion – was meinem Persönlichkeitstyp sehr gut entspricht. Vielleicht gab es auch kein Sozialleben – wer weiß? Spätabends ging ich mit meinen neu erstellten Soundfiles runter zur Bühne im Erd­ geschoss, und immer war irgendeine neue spektakuläre Szene im Gange, die ich noch nie gesehen hatte. In den Produktionen mit Vinge und Müller lief jede Aufführung anders ab. Es kursiert das Gerücht, dass für eine Inszenierung bis zu 200 Stunden Material existieren, aus denen dann jeden Abend ein neuer Ablauf zusammengestellt wird. Wie funktioniert das ­genau: Improvisieren Sie, oder wird vorab eine Szenenfolge aus Musik- und Tonspuren kompiliert, die Sie dann abspielen? Oje, ich sehne mich zurück nach den guten alten Zeiten in Oslo, in denen es überhaupt noch so etwas wie eine Szenenfolge gab – zumindest für die ersten vier Stunden! Jetzt ist es ein einziges Chaos. Jeder ist in ständiger Panik und versucht, auf alles vorbereitet zu sein. Wir auf der „Brücke“, wo die Ton-, Video- und Lichtleute platziert sind, haben ausgeklügelte Techniken entwickelt, wie man es schafft, zwölf Stunden lang nicht zu pinkeln und ohne Zuhilfenahme der Hände zu essen, während man gleichzeitig Klangdateien triggert und parallel versucht, die nächste vage Anweisung des Regisseurs zu entschlüsseln. Anders als die meisten Ihrer Kollegen schreiben Sie keine klassischen Partituren beziehungsweise tippen Noten in ein Notations-

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Episoden von „Ø“ verwenden MIDI-Instrumente, die für das Opernorchester im Orchestergraben einspringen; es ist, als würde man auf dem Recht bestehen, alle Möglichkeiten des superteuren, traditionellen Opernhaus-Apparats zu nutzen. Aber natürlich ­haben die gesampelten Instrumente eine gewisse billige KitschÄsthetik, die ich auch genieße. Paradoxerweise kann diese vorgetäuschte Erhabenheit – man hört ja auch eine Menge falscher Töne – irgendwie hoch expressiv und berührend sein. Ich habe das Gefühl, dass ich mich viel weiter in das traditionelle und pathetische Opernschreiben hineinbegeben kann – indem ich ­ zum Beispiel rein tonale Arien komponiere –, wenn die Produk­ tionstechniken und der ganze theatrale Apparat eine gewisse hausgemachte Fremdartigkeit besitzen. Ich versuche, eine Art Brecht’schen V-Effekt zu konstruieren, der das Publikum trotzdem ein bisschen manipulieren und verführen kann.

Trond Reinholdtsen (2. v. l., hier mit Kollegen von der Norwegian Opra bei der Münchener Biennale 2018) wurde 1972 in Norwegen geboren und studierte Gesang und Komposition an der Musikakademie in Oslo. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und auf internationalen Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt. Foto Armin Smailovic

programm, sondern komponieren im Medium der Samples. Unterscheidet sich diese Arbeitsweise eigentlich noch von der eines Popmusikers? Tatsächlich mache ich beides. Ich könnte einen langen Liebesbrief über das Konzept der Partitur verfassen. Aus der Perspektive des Theaters betrachtet, ist meine Beziehung zur Partiturtradition vielleicht das, was meine theatralen Methoden tatsächlich von denen der meisten anderen Regisseure unterscheidet. Das ultima­ tive Medium für den Fetisch der strengen Planung ist die Partitur. Alles wird auf einer abstrakten Ebene auf dem Papier – oder besser gesagt im Computer – ausgearbeitet. Gesten, Licht- und Kamera­ bewegungen sind bereits komponiert, in eine notierte Zeitstruktur gebracht und als Audioanweisungen, MIDI-Signale und Audio­dateien gespeichert, bevor ich andere zu einem Projekt einlade. Ich benötige also keine langen Gruppenprozesse oder Motivationsgespräche mit Schauspielern. Eigentlich brauchen wir noch nicht einmal Proben. Sie sprechen hier von dem „Konzept der Partitur“, also der Partitur in einem erweiterten Sinne, einer Art Meta-Aufschreibe­ system. Wie verhält es sich aber, wenn Sie ganz konkret die Musik für Ihre eigenen Opernwerke komponieren? Da verwende ich meist andere Techniken als die akribische Aus­ arbeitung einer Partitur in der Notenschrift: Es gibt alberne Improvisationen, algorithmische Programmierung oder Sounddesigns, und das Ganze wird noch heftig am Computer bearbeitet. Alle

Der „superteure, traditionelle Opernhaus-Apparat“, den Sie erwähnten, führt – und zwar als deren Gegenmodell – geradewegs zu Ihrer Norwegian Opra. Dahinter steckt nicht nur eine um­ fassende künstlerische Idee, die Sie bereits 2009 formuliert haben und auf die wir gleich zu sprechen kommen werden, ­ ­sondern auch ein konkreter Ort. Am Anfang befand sich die Norwegian Opra in meinem gemie­ teten Wohnzimmer in Oslo, aber 2015 sind wir dann Richtung Osten gezogen; seitdem ist ihr Standort in einem Wald in Schweden. Den Mittelpunkt bildet das „Ø-Haus“, in dem alle „Ø“-Filme produziert wurden. Es wird nach und nach in ein totales Bühnenbild verwandelt und zu einer permanenten Operninstallation umgebaut. In der Nähe haben wir inzwischen aber auch eine Scheune, ein weiteres Haus und vor allem eine große Wiese gekauft, die wir für land art nutzen und auf der wir begonnen haben, avantgardistische Beton-Architektur zu errichten. Es soll eine Opernstadt werden, „Civitas Solis“, die Heimat der „Follower von Ø“. Dazu gehört auch eine Presseabteilung, die sich in Ihrem Fall „Theorie- und Propaganda-Department“ nennt. Dort heißt es, die Norwegian Opra sei „die Geburt der Oper aus der Krise der zeit­ genössischen Musik“. Worin besteht diese Krise? Das ist, um ehrlich zu sein, eine sehr langweilige Krise. Wen interessiert die schon? Vielleicht ein paar Deutsche. Und mich, natürlich. Es ist eine echte und katastrophale Krise, aber auch eine ermüdende und redundante. Unterm Strich bleibt die Tatsache, dass sich die zeitgenössische Musik in einem traurigen, dunklen Zustand befindet, und ich bin nicht wirklich in der Lage zu analysieren, wie es dazu gekommen ist. Ist es nicht so, dass es der ganzen Szene an Erfindungskraft mangelt, und das schon seit den siebziger Jahren? Als die visuelle Kunst in die Phase der Entmaterialisierung eintrat und ihre Medienspezifität verlor, folgte die Musik nur sehr langsam. Es gab zwar einzelne aufregende Ausbrüche, aber unser geliebtes Genre scheint immer wieder in eine konterrevolutionäre Position zurückzufallen – im Metternich-Stil. Können Sie diesen musikspezifischen Konservatismus für uns Theaterszenler genauer beschreiben? Für mich ist die zeitgenössische Musikwelt sehr akademisch, im schlimmsten Sinne des Wortes. Es gibt bestimmte Codes und un-


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ausgesprochene Regeln (was manchmal fälschlicherweise als „Handwerk“ bezeichnet wird). Die muss man befolgen, um zu zeigen, dass man zu diesem System dazugehört. Man kann sich eine Partitur anschauen und sofort sehen, ob die betreffende Person ­innerhalb oder außerhalb des Systems der korrekten zeitgenössischen Musik steht. Aber Akademismus ist immer ein Zeichen von Angst – Angst vor der Anarchie der Erfindung, der Neuheit und des Dilettantismus. Deshalb bewachen wir die zeitgenössische Musik mit superstarken Institutionen: mit Akademien, Festivals, Ensem­ bles, Orchestern, dem Konzert und den Auftragswerken. Aber In­ stitutionen, die von der Logik der Angst getrieben werden, wählen im Ergebnis immer die pragmatischsten Projekte und unterstützen die Werke des geringstmöglichen Widerstands. In der Tat: eine katastrophale Krise. Wie will die Norwegian Opra da herauskommen? Der Versuch ist, genau diese institutionellen Koordinaten, also die Infrastruktur der Produktion, infrage zu stellen. Und damit musste ich, logischerweise, ganz allein anfangen: Kein Geld, kein Publikum, alles wurde in meinem Wohnzimmer produziert. Auf existenzieller und persönlicher Ebene war die Krise damit gelöst, alles andere wird sich noch zeigen müssen. Dem „Theorie- und Propaganda-Department“ zufolge hat die Norwegian Opra viel vor: Sie will eine Art Parallelaktion zu Richard Wagners berühmtem Festspielhaus in Bayreuth sein. Was fasziniert Sie heute an Wagners Idee des Gesamtkunstwerks? Der Bezug auf Wagner ist, auf seiner grundlegendsten und ­banalsten Ebene, ein Nostalgietrip: eine Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Musik im Zentrum der Künste, der Politik und der Philosophie stand und dazu beitrug, die bestimmenden Mythen von Humanität und Fortschritt zu konstruieren und neu zu interpretieren. Das ist die Musik vor der Krise – zumindest ist das ­meine Fantasie. Die Idee des Gesamtkunstwerks wurde – wie die Leser natürlich wissen – auf dem Höhepunkt von Wagners revolutionärer Tätigkeit formuliert, mehr oder weniger während der Flucht aus Dresden, wo er, Bakunin und der Rest der Bande Barrikaden errichtet und gefährliche Pamphlete veröffentlicht hatten. In seinem Text „Die Kunst und die Revolution“, den er ein Jahr nach dem Erscheinen von Marx’ „Kommunistischem Manifest“ verfasste, führt Wagner den Begriff des Gesamtkunstwerks ein und signalisiert damit, dass es eine starke Verbindung zwischen der Idee des Gesamtkunstwerks und dem politischen Aufbruch gibt. Er träumte aber auch von einer Rückbindung an das griechische Drama des Aischylos, wo die Kunst eng mit dem öffentlichen Leben, der Religion und dem Staat verbunden war. Wie Sie sehen, gibt es hier vieles, was überaus faszinierend ist: Ich habe ­natürlich vor, all das zu tun. Wagner wollte mit seinem „Ring des Nibelungen“ noch einmal ein großes Welterklärungsnarrativ kreieren. Aber haben wir nicht inzwischen in der postmodernen Schule gelernt, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt? An welchem Narrativ strickt also die Norwegian Opra? Als eine meiner vielen halbherzigen und halbgeheimen PR-Aktionen habe ich das Seminar „Die Rückkehr der großen Narrative“

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veranstaltet, ohne Publikum und ohne Referenten. Genau genommen bestand es nur aus einem Titel. Aber offiziell sind die Narrative zurück in meiner Welt. Die Wahrheit kommt in Form der Fiktion. Das müssen Sie erklären! Meine Sehnsucht nach dem Großen und Erhabenen hat einen provinziellen Hintergrund, nämlich die Situation der zeitgenössischen Musik, über die ich so betrübt bin – mit ihrer nicht enden wollenden Erforschung subtiler Klangfarbendetails, ihren minimalen Differenzierungen in den Spieltechniken und der vollkommen bedeutungslosen Abstufung grauer Klangmassen. Es ist ein Paradies der Kleinlichkeit – von Aischylos so weit entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Auf einer eher politischen Ebene hat uns das Narrativ, dass es keine Narrative gibt, notwendigerweise in eine Welt geführt, in der es unmöglich ist, sich eine Alternative zu einer „neutralen“, kapitalistisch organisierten Gesellschaft vorzustellen. Marx schrieb – als es noch möglich war zu träumen –, dass der Kommunismus nichts anderes sei als der Name für den Prozess der Abschaffung des kapitalistischen Systems. Für mich ist das das einzige politische Thema, das des Opernformats würdig ist. Also: Der Aufstand beginnt, um eine berühmte Wendung von Heiner Müller zu paraphrasieren, nicht als Spaziergang, sondern als Opernabend? Indem wir der Norwegian Opra erlauben, sich mit den größtmöglichen Themen zu beschäftigen und Kunstprojekte zu entwerfen,

THE SHOW MUST GO ON BACHELOR Regie Schauspiel | Regie Musiktheater | Gesang MASTER Dramaturgie Schauspiel | Dramaturgie Musiktheater | Gesang | Liedgestaltung | Oper BEWERBUNGSSCHLUSS FÜR DAS WINTERSEMESTER 2021/22 1. APRIL 2021 Ansprechpartnerin: Marjan Yassen E-Mail: marjan.yassen@hfmt.hamburg.de Harvestehuder Weg 12, 20148 Hamburg www.hfmt-hamburg.de/Theater www.facebook.com/TheaterakademieHamburg

THEATERAKADEMIE HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND THEATER HAMBURG

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die sich über dreißig Jahre erstrecken, und indem wir uns schamlos auf die großartigsten früheren Kunstwerke beziehen, bringen wir uns selbst in eine etwas alberne und tragische Lage. Die Aussicht auf einen unterstützenden König wie Ludwig II. ist düster. Sie setzen dafür auf maximale Autarkie! Im Programmheft zur Münchner „Ø“-Trilogie 2018 steht, die Norwegian Opra sei der utopische Versuch absoluter künstlerischer Freiheit, um die vollständige Kontrolle über alle Aspekte des Produktionsapparats zu erlangen. Wie frei sind Sie jetzt als Opernkomponist? Für mich ist die Frage nach der Freiheit der Kern der Kunst. Vielleicht existiert Kunst vor allem als Erforschung der Freiheit und als Eröffnung neuer Möglichkeiten für das Denken und das Sinnliche. Aber ich kann keine Definition von Freiheit geben, schon gar nicht in Verbindung mit einer Art zu leben oder zu schaffen. Ich glaube nicht, dass sie existiert. Wir sind immer gefangen in banalen Praktiken, dem Blick des anderen, der Epigenetik unserer Mütter, den unvermeidlichen Rhythmen von Schlaf und Essen. Mein kleiner Versuch besteht darin, die Idee der Freiheit in der Kunst so weit wie möglich zu treiben. Ich habe den ganzen Apparat der Opernproduktion heruntergeschraubt und eine diktatorische Methode der kompositorischen Planung entworfen. Vielleicht habe ich das getan, weil ich mich sehr leicht unfrei fühle. Eine Art Leitmotiv in Ihrem Werk ist die großartige Arie vom „postmodernen Sumpf“, deren Interpreten sich ebenfalls unfrei

WIE FÜHREN WIR UNS AUF?

»Eruptionen« enthält zwölf Theaterstücke von Benedikt Schmidt. In diesen seziert und dekonstruiert der Autor gesellscha liche Befindlichkeiten und gesellscha spolitische Fragen. Die Monologe und Dialoge verhandeln unter anderem den Ausbruch des Individuums aus starren Konventionen. Es ist eine wortgewaltige, poetische, teils bi erböse Gegenwartsbewältigung und gleichzeitige Selbstbefragung. www.benedikt-schmidt.biz ISBN 978-3-752-65943-6

fühlen. Sie besteht aus dem schönen Satz: „Hier sitzen wir im postmodernen Sumpf.“ Wie ist die Arie entstanden? Danke für die Frage nach diesem großen Meisterwerk! Die Arie taucht tatsächlich in vielen meiner Arbeiten auf, da der Text eine zeitlose Qualität zu haben scheint. Sitzen Sie auch im postmodernen Sumpf – oder würden Sie sich bereits als postpostmodernen Komponisten bezeichnen? Zu den großen Aufgaben meines Leben zählt die harte Arbeit, einen kleinen Beitrag zur Überwindung des postmodernen Geistes­zu­ stands zu leisten. Das ist nicht einfach. Die Postmoderne löst bekanntlich – wie ihr böser Zwillingsbruder, das Kapital – alles Feste in Luft auf. Die schwachen Zweideutigkeiten und der Relativismus der vulgären Postmoderne rufen bei mir keine Begeisterung hervor. Dafür spielt die Erkenntnistheorie in Ihren Werken eine große Rolle. In der Episode 13 der „Ø“-Serie kommt die Hegel-Kantate „Das Wahre ist das Ganze“ zu Gehör. Oh ja, die berühmte Hegel-Kantate ist im authentischen BachReger-Strawinsky-Poulenc-Stil geschrieben, als eine Studie in neoklassischem Kontrapunkt. Auch der Theoretiker Alain Badiou hat Eingang in Ihre Arbeit gefunden. In Ihrem Klavierkonzert „Theory of the Subject“ liest die Pianistin Ellen Ugelvik ausgiebig in dessen gleichnamigem Werk. Haben Sie außer Ihrem Gesangs- und Kompositionsstudium in Oslo auch ein Philosophiestudium absolviert? In der Philosophie bin ich ein hundertprozentiger Autodidakt, sodass ich immer sagen kann, dass ich die philosophischen Konzepte aus künstlerischen Gründen missverstehe. Ich bin mir nicht sicher, ob meine große Freude an der Philosophie, die ständig in die Werke sickert, tatsächlich einen künstlerisch gelungenen ­Aspekt meiner Arbeit darstellt. Ich sehe es manchmal eher als eine Krankheit, die ich versuche loszuwerden. Es kann elitär ­rüberkommen, und es ist ärgerlich, wenn einem Referenzen präsentiert werden, die man nicht versteht. Aber auf der anderen Seite finde ich, dass die Philosophie für die Oper die perfekte Partnerin ist. Für mich repräsentieren beide etwas von demselben Drang, bis zum Äußersten zu gehen: einerseits einen Gedanken wirklich bis zu Ende zu denken und andererseits die Empfindsamkeit bis in ihre pathetischsten Ausdrucksformen zu dehnen. Im Herbst startet René Pollesch als neuer Intendant der Berliner Volksbühne. Vegard Vinge und Ida Müller gehören dort zu seinem künstlerischen Team. Werden Sie wieder dabei sein? Ja, wir sind mit den Vorbereitungen für einen monumentalen „Peer Gynt“ beschäftigt. Soweit ich weiß, wird es die Eröffnungsproduktion sein. Am Vorabend soll meine große festliche Volksbühnen-Symphonie „Ein Volk, eine Bühne“ für großes Orchester und Chor uraufgeführt werden: ein programmatischer Streifzug in fünf langen Sätzen durch die glorreiche Geschichte des Hauses. Sie endet mit einem Lobgesang auf die neue Intendanten-Ära, mit dem Chorus „Neue Intendanz! Neue Intendanz!“. Hätte es für Sie eigentlich eine berufliche Alternative gegeben? Nein, ich war immer monoman. //

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Klirr, sssssst Ein Streifzug durch die Szene des experimentellen Musiktheaters in Berlin von Irene Lehmann

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ie für alle Live-Künste gilt auch für das experimentelle Musiktheater: Was sich in den vergangenen Monaten unter normalen Bedingungen hätte entwickeln können, lässt sich angesichts der massiven Einschränkungen seit März 2020 nicht sagen. Genauso wenig, wie sich erahnen lässt, an welcher Stelle die Künste einsetzen werden, wenn Nähe und Distanz in Theaterräumen wieder variabel sind. Vielleicht werden die Jahre 2020/21 einmal rückblickend als Zeit betrachtet, in der überdeutlich wurde, dass selbst der vielseitige Umgang mit analogen und digitalen Medien in der experimentellen Musik(theater)szene es keineswegs einfacher machte, den Medien- und Gattungswechsel ins StreamingLaptop-Format zu überstehen. Dieser Widerspruch weist auf einige konstitutive Momente des Bereichs hin, denen ich anhand von Beispielen aus der Berliner Szene nachgehen möchte. Experimentelles Musiktheater setzt sich aus verschiedenen Genres und Ansätzen zusammen und ist eher außerhalb von Opernhäusern anzutreffen, aber auch dem Sprechtheater keines-

wegs besonders nahe – vielmehr wird ein sehr viel weiteres Spektrum an Möglichkeiten untersucht, wie Musik und Theater verbunden werden können. Dabei werden die benachbarten Künste Tanz und Performancekunst einbezogen, und zumindest in der Berliner Szene gibt es eine erhebliche Faszination für elektro­ nische und analoge Geräte und Medien. Diese Vielfalt macht es nicht einfacher, einen Überblick über den Bereich zu geben, da Ansätze und Genres immer neu kombiniert werden und sich von Produktion zu Produktion verändern. Gut ausgeleuchtet ist inzwischen die Variante des post­ dramatischen Musiktheaters, für die in Berlin Gruppen wie Nico and the Navigators, Novoflot oder Hauen und Stechen stehen. Diese knüpfen zunächst an Traditionen des Regietheaters an und verbinden verschiedene Ausschnitte aus Musikstücken oder Opern mit theatralen Elementen zu völlig neuen Stücken oder

Vom Zwerchfell bis zur Schädeldecke – Die Maulwerker untersuchen die ganze Bandbreite des Stimmapparats, wie hier in „auspacken / unboxing“ von Serge Baghdassarians und Boris Baltschun (mit Steffi Weismann) aus dem Abend „Die Rache“. Foto Isabell Spengler


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fältige Art und Weise auch in den kleineren Formaten der sogeszenischen Konzerten. Charakteristisch ist oft das Zusammenbringen verschieden spezialisierter Performer auf der Bühne: nannten Echtzeitmusikszene beobachten. Diese besteht aus MusiSprecher, Sänger, Musiker, die zuweilen auch ihre Rollen tauschen. kerinnen und Musikern, die teilweise selbst auch Komponisten sind und für die Improvisation und Experiment eine entscheidende Auf diese Weise verflechten sich die tänzerisch-choreografischen Interpretationen musikalischer Figuren mit Ebenen des fiktionaRolle spielen. Seit nunmehr rund dreißig Jahren lässt sich in dielen Spiels und nicht dramatisierten Bewegungen, ein Bewegungsser locker assoziierten internationalen Szene beobachten, wie imstil, der im experimentellen Tanz der 1960er Jahre die Bezeichmer wieder neue Spielmöglichkeiten ausprobiert werden, um das Spektrum dessen, was Klang und Musik sein kann, zu erweitern. nung matter-of-factness erhielt. In solchen Produktionen erzeugen Momente eine besondere Poesie, in denen Klang und visuelle Zuweilen entsteht daraus eine genuine Neigung zur Inszenierung, die visuelle Aspekte sowie digitale und analoge M ­ edien einGeschehnisse sich so verschränken, dass sie in eine musikalische wie theatrale Logik eingebunden bleiben. Beispiele dafür finden schließt. So war es etwa in dem Stück „Klirrfaktor“ von Michael Vorfeld und Burkhard Beins beim BAM! Berliner Festival für aktusich in dem (bereits aus dem Jahr 1996 stammenden) Musik­ theaterstück „Schwarz auf Weiß“ von elles Musiktheater 2019 zu beobachten. Im Zentrum der Arbeit stand ­Heiner Goebbels: In einem jahrmarktDer Schwerpunkt zum Musiktheater entstand im ähnlichen Setting werden wie beim die experimentelle Erweiterung des Rahmen einer Kooperation mit dem Magazin Dosenwerfen in einer Szene TennisPerkussionsinstrumentariums: Klänge bälle auf einen großen Gong geworfen, entstanden, indem die beiden KompoPositionen. Texte zur aktuellen Musik. Neben während die bauchigen Dämpfer von nisten-Performer mit Violinbögen über dem einleitenden Gespräch, das in beiden Trompeten und Posaunen zum Kegeln den Rand der Trommeln strichen, auf ­Heften abgedruckt ist, finden sich in den Posidienen. den Körper eines Cellos klopften oder tionen folgende Bei­träge: „Die Probenarbeit Dies führt zur jenem Zweig des die Saiten eines Klaviers durch hineinist der Kompositionsprozess – Gespräch mit experimentellen Musiktheaters, der gesteckte Gegenstände so präparierten, ­Tobias Schwencke“ (Robert Sollich), „Arbeiten dass beim Anschlag der Tasten nunaus der neuen und experimentellen in Wechselwirkung – Die kollaborative Ent­ ­Musik herrührt. Während die Musik im­ mehr Klopfgeräusche zu hören waren. stehung eines Musiktheaterprojekts“ (Christina Dieser in einer langen Tradition von 19. Jahrhundert das Ideal verfolgte, dem Zuhörer ein möglichst ungestörtes John Cage bis zu Helmut Lachenmann Lessiak) sowie „Castingshows als Musik­ stehenden Suche nach neuen Klängen Hörerlebnis zu bereiten, indem alle ­ theater“ (Marie-Anne Kohl). TdZ-Autor Otto Paul ­visuellen und theatralen Momente des sind keine Grenzen gesetzt. Auch priBurkhardt steuerte einen Text über Theater­ mär nicht musikalische Materialien Musik­ machens möglichst unterdrückt musik bei, während Positionen-Autorin Irene wie Draht, Styropor, Steine, Tannenwurden, begannen die frühen AvantgarLehmann für unseren Schwerpunkt schrieb. den im 20. Jahrhundert, mit dem Klang zapfen werden bei Vorfeld und Beins zu experimentieren und das Visuelle in die Geräusch- und Klangkompositioeinzubeziehen. Diese Strömung zog sich durch den italienischen nen einbezogen. Bei Live-Konzerten ist dabei durchaus auch die und russischen Futurismus, setzte sich mit der neuen Klanglichkeit Virtuosität des Auftritts von Interesse. und Visualität der industriell geprägten Großstädte auseinander und Die Theatralität, die auf diese Weise entsteht, rührt auch begleitete v­ erschiedene politische Umwälzungen. Zu denken ist an ­daher, dass einem als Zuschauer nicht immer klar ist, wie die Luigi ­Russolos Klangmaschinen „Intonarumori“, die er um 1913 bauKlänge erzeugt werden und wo sie ihre Quelle haben. Neugier entte, an Arseni Awraamows im ganzen Stadtraum von Baku aufgesteht – sowie Spannung, wenn sich aus der Fülle von Klängen und Geräuschen plötzlich Strukturen ergeben, Melodisches sich ins führte „Symphony of Sirens“ (1922) und die vielen Café-Cabarets der europäischen Großstädte, wie das 1916 eröffnete Cabaret Voltaire der Geräuschhafte schleicht, Elektronisches sich mit Akustischem verbindet, indem elektronische Geräte zu eigenen MusikinstruDadaisten, in denen sich die Künste in Miniaturform neu verbanden. Diese historischen Experimente können einem jederzeit in akmenten umfunktioniert werden, oder analoge Medien wie Kassettuellen Produktionen in neuer Interpretation wieder begegnen, weiten, Radioapparate oder alte Telefone als Klangquellen genutzt werden. Das funktioniert nicht nur im Duo oder Trio – das Berlisen sie doch offenbar nach wie vor eine große Faszinationskraft auf. Zur Sondierung der aktuellen Berliner freien Musiktheaterner Splitter Orchester etwa bildet auf dieser Grundlage eine ganze improvisierende Gruppe. szene möchte ich zwei typische Aspekte herausgreifen: die Verflechtung der Künste, Materialien, Techniken und Medien auf Es liegt auf der Hand, dass es nicht nur in Zeiten des pandeimmer neue Weisen sowie den sehr eigenen Stil des Performens. miebedingten Streamings ausgesprochen kompliziert ist, solche Klangwelten in eine stereofone Aufnahme zu überführen. Die Diese zwei Aspekte – hinzu käme in Nicht-Corona-Zeiten noch ein dritter: die Entdeckung neuer Spielorte und die Einbeziehung Räumlichkeit des Klangs geht verloren, ebenso die Möglichkeit, in einer Live-Situation seinen eigenen Wahrnehmungsfokus zu des Stadtraums – machen das experimentelle Musiktheater zu einer eigenen Kunstform, die sich weder mit den alleinigen Katego­setzen. Und doch sei eine Stream-Performance der New Yorker Künstlerin Pamela Z empfohlen (performingarts.mills.edu/ rien der Musik noch des Theaters fassen lässt. Im Grunde entzieht sich das Musiktheater einer eindeutigen Zuordnung. broad­casts/2020/pamela-z.php). Der experimentelle Umgang mit Musik und Theater, der sich Für einen eigenen Stil des Performens steht im Kontext der in den Produktionen von Heiner Goebbels zeigt, lässt sich auf vielBerliner Szene die Gruppe Maulwerker, die sich nach einer Serie


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#MaerzMusik

19.3.— 28.3.21 le .d e

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von Kompositionen Dieter Schnebels benannt hat, der zu den wichtigsten Initiatoren eines neuen Musiktheaters im deutschsprachigen Raum zählt. Das Kollektiv verfolgt eine Vokalpraxis, die den gesamten Umfang des menschlichen Stimmapparats vom Zwerchfell bis zur Schädeldecke, vom Singen bis zum Atmen erforscht. In den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der sexuellen Befreiung interpretiert, wird diese starke körperliche Fokussierung heute eher analytischer gedeutet. Verschiedene Arten des Atmens etwa – Dieter Schnebel selbst wies bereits darauf hin – können mit verschiedenen Zuständen oder Gefühlen assoziiert werden, zum Beispiel schnelles Atmen mit Anstrengung oder Angst. Während im Theater diese Techniken zur Darstellung ebenjener G ­ efühle genutzt werden, verzichtet das Musiktheater eher auf ­Bedeutungszuschreibungen und widmet sich abstrakteren Beziehungen des Materials. Passend für die Zeit der Rachenabstriche lautete der Titel des jüngsten Konzertabends der Maulwerker, der Ende Oktober im Ballhaus Ost uraufgeführt wurde, „Die Rache“, bestehend aus „drei Positionen performativer Klangkunst – an der Schnittstelle von komponierter Musik und Sound Art“. Klar, dass Rachen, Mundhöhlen und andere akustische Räume hier den Fokus bil­ deten. In Serge Baghdassarians’ und Boris Baltschuns „auspacken / unboxing“ ging es zudem in Erweiterung der menschlichen Stimme um die Auseinandersetzung mit den heute so alltäglich gewordenen digitalisierten und automatisierten Stimmen. In einem weiten Spektrum wird dem menschlichen Körper bei dieser Art des aktuellen Musiktheaters Neues entlockt, selbst innere Klanglandschaften können mittels Kontaktmikrofonen, die zum Beispiel am Kehlkopf platziert werden, hörbar gemacht werden. Die Kompositionen bleiben jedoch keineswegs beim Experimentieren mit Stimmen stehen. Die Gruppe Labor Sonor etwa, bestehend aus Komponistinnen und Komponisten sowie Musikerinnen und Musikern, die sich als Plattform der Echtzeitmusikszene versteht, kuratiert Abende, bei denen im Zusammenspiel von Musikern und Choreografen die Beziehung zwischen Klang und Bewegung befragt wird. So werden etwa typische Gesten des Musizierens zum choreografischen Material. Die Bewegungen zur Klangerzeugung und die jeweilige Klangquelle werden auf diese Weise getrennt, die ­Theatralik des Musizierens sichtbar gemacht. Ähnliche Prinzipien lassen sich auch in Stücken von Christoph Marthaler entdecken, obgleich sie hier stärker in semantische, narrative Strukturen eingebettet sind. Die ungeschriebene Agenda der Experimentalszene lautet, jeder Situation etwas Neues und Unerwartetes abzugewinnen, immer wieder einen Weg zu finden, um nicht im Gewohnten zu erstarren. Das experimentelle Musiktheater im Speziellen setzt ­dabei an, die übliche Trennung der Sinne, die im Alltag darauf getrimmt werden, die immer schneller produzierten Informa­ tionen zu verarbeiten, zu umgehen. Es will vom alltäglichen Funktionieren und von der digitalen Konditionierung entlasten. Dank dieser Kunstform ist also zu hoffen, dass die derzeitige Zuspitzung der Wahrnehmung auf den menschlichen Kopf und Oberkörper, die in täglichen Videokonferenzen trainiert wird, eines Tages wieder abgeschüttelt und verlernt werden kann, wenn die Türen der Theater erneut öffnen. //

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Im Fleischwolf eurer Repression In ganz Russland protestieren Menschen gegen die Verurteilung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny – Hier berichten Theaterschaffende über ihre Angst, ihren Hass und ihren Mut von Kristina Matvienko

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eit den ersten Protesten am 23. Januar, sechs Tage nach der Verhaftung von Alexej Nawalny, finden die wesentlichen Kämpfe in den sozialen Netzwerken und nicht in der realen Theaterwelt statt. Die russischen Theater, die zu einer erdrückenden Mehrzahl staatliche Einrichtungen sind, spielen ihr übliches Repertoire, in

Moskau geschieht das aufgrund der Corona-Maßnahmen vor einem um fünfzig Prozent reduzierten Publikum. Fast keiner der Intendanten und „großen“ Regisseure hat sich in den sozialen Netzwerken oder den Medien für das Recht auf VersammlungsPutins „Astronauten“ – Mit hohem Polizeiaufgebot und willkürlichen Verhaftungen geht die russische Regierung gegen Menschen vor, die versuchen, friedlich gegen das Urteil im Fall Nawalny zu protestieren. Fotos dpa


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freiheit oder gegen die Gesetzlosigkeit ausgesprochen. Die Menschen spüren die Gefahr und schweigen – erst recht, wenn sie an einer staatlichen Kultureinrichtung tätig sind. Es gibt keine Protestnoten vor den Aufführungen wie während des Prozesses gegen Kirill Serebrennikow und das Studio 7 oder Solidaritätsbekundungen wie im Falle des Moskauer Schauspielers Pawel Ustinow, für den sich eine Kollegin des Teatr-Teatr in Perm eingesetzt hatte. Aber hinter der Fassade, die trotz der gegenwärtigen Ereignisse bislang unversehrt blieb, brodelt in den sozialen Netzwerken die Aktivität. Einzelne, vor allem junge Theaterschaffende mussten dafür bereits büßen. Sie wurden von Plakaten entfernt, ihre Seiten wurden von den Websites der Theater gelöscht. In den vergangenen Jahren formierte sich in der russischen Theaterszene eine Welle neuer, junger Kunstschaffender, unabhängiger Kuratoren, Blogger und Schauspieler, die nicht der bestehenden Art-Community angehören. Sie kritisieren die alten Hie­ rarchien – nicht nur Putins Macht, sondern auch die Macht von Autoritäten, Experten und Institutionen. Sie fordern Transparenz: ganz gleich, ob im fingierten Prozess gegen Serebrennikow, im Fall Nawalny, der Anfang Februar zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde, oder bei der Vergabe von Fördergeldern für Projekte. Sie sind für regelmäßige Machtwechsel in jedem ­Bereich (im Idealfall nicht erst nach zwanzig Jahren). Sie sind nicht durch Freundschaften, Lobbytätigkeiten oder Festanstellungen an Institutionen oder Festivals gebunden. Sie haben freie Hand. Diese Leute, mit all ihrem Zorn der Jugend und ohne ­sta­bile Lebensverhältnisse, empören sich über das Ausmaß der Brutalität und Absurdität, die sie auf den Straßen ihrer Städte sehen. In der Theaterwelt gab es in letzter Zeit gleich mehrere Skandale: Der erste betraf den Versuch, in Nowosibirsk ein dokumentarisches Stück der Regisseurin Anastasia Patlai über den

Zweiten Weltkrieg zu verbieten, der zweite bezog sich auf die Entscheidung von Moskaus Kulturabteilung, den Vertrag mit Kirill Serebrennikow als Künstlerischem Leiter des Gogol Centers nicht zu verlängern, der dritte hing mit der Entfernung der Seite einer Schauspielerin von der Website des Meyerhold-Zentrums zusammen, nachdem sie ein Video von ihrer Teilnahme an den Protesten

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bei Instagram veröffentlicht hatte. Die Stimmung in der Thea­ terszene ist aufgeheizt: Zum ersten Mal seit langer Zeit herrscht der Eindruck, dass die Künstler nicht schweigen dürfen. Aber sich zu äußern ist lebensgefährlich. Es folgen einige Berichte von Theaterschaffenden unter­ schied­lichen Alters und in unterschiedlichen Positionen aus unterschiedlichen Städten Russlands, von St. Petersburg bis Chabarowsk. In ihren Worten steckt das Wichtigste, das sich über die gegenwär­tige Situation sagen lässt: Wir können keine Prognosen abliefern, wir erleben Abgestumpftheit, haben Angst, aber auch – so seltsam es klingen mag – Hoffnung. Vielleicht nicht in uns selbst, aber in die Menschen, die heute zwischen 16 und 25 sind. Assja Woloschina, Dramaturgin (St. Petersburg) Es geht mir nicht vorrangig darum, dass meine Freunde und ich am 23. Januar von Spezialeinheiten festgenommen wurden, dem ersten Tag der neuen Protestwelle, der übrigens auch mein ­Geburtstag war. Die Festnahme war nicht brutal. Die Demonstrationen hatten eben erst angefangen. Wir gingen gerade zu dem Platz, wo sich die Protestierenden versammelten, wir waren ohne Plakate unterwegs, in unserer Stadt, als wir etwa einen Kilometer von dem Platz entfernt festgenommen wurden. Ohne Begründung. Wir wurden nicht geschlagen. Ich sage das – und bin mir gleichzeitig bewusst, dass es ein Symptom des Stockholm-Syndroms ist. Warum hätten sie uns schlagen sollen? Wir gingen nur durch die Stadt, zu einem friedlichen Protest. Und? In Russland ist das Recht auf friedlichen ­Protest in der Verfassung verankert. Aber die Proteste sind nie friedlich. Die andere Seite wendet immer Gewalt an. Friedliche Menschen mit klugen Plakaten gehen auf die Straße, um zu zeigen, dass ihre Empörung über den herrschenden Irrsinn so groß ist, dass sie es in Kauf nehmen, mit Schlagstöcken verprügelt, in Polizeibusse gesteckt und für mehrere Tage festgehalten zu werden. Ohne Hoffnung auf das Gesetz. Denn sie wissen, dass das Gesetz nur die Regierung schützt und nicht die Bürger. Heute an den Protesten teilzunehmen, ist im Grunde genommen eine Erklärung: Ich bin eure Lügen, die Ungerechtigkeit und die moralische Folter meines Landes so leid, dass ich bereit bin, mich in den Fleischwolf eurer Repressionen zu werfen. Seht nur hin! Ja, für ein Land mit einer Bevölkerung von 150 Millionen Menschen sind wir nicht so viele. Aber nicht einmal die wollt ihr sehen und fälscht die Zahlen, indem ihr sie zehnmal verkleinert. In St. Petersburg füllten die Menschen ganze Plätze, Straßen und Bezirke. Der Protestmarsch erstreckte sich über viele Kilometer. Aber die staatlichen Fernsehsender (andere gibt es nicht) sprechen von zweitausend Protestierenden. Und viele Menschen vor den Bildschirmen glauben das. Als wir schon ein paar Stunden auf dem Polizeirevier verbracht hatten, wurden Menschen hereingeführt, die mitten bei den Protesten festgenommen worden waren. Einige von ihnen waren voller Blut. Auch eine minderjährige junge Frau, bei deren Festnahme ein Elektroschocker eingesetzt worden war. Sie hatte eine zerrissene Jeans und eine Wunde am Knie. Gegen Abend bot man uns an, Protokolle zu unterschreiben, in denen es hieß, wir wären zwanzig Minuten vor der Festnahme auf dem Platz g ­ ewesen. „Aber wir waren nicht dort, das lässt sich mit den ­GPS-Daten der

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Handys nachweisen. Wollen Sie uns für die A ­ bsicht an­kla­gen?“ – „Dann schreiben Sie eben, dass Sie dem Protokoll ­widersprechen, und unterschreiben Sie. Das Gericht klärt das schon.“ Bei den Protesten am 31. Januar ging es brutaler zu. Für den 2. Februar, den Tag von Nawalnys Urteilsverkündung, waren gar keine Proteste geplant. Aber in St. Petersburg quoll das Stadt­ zentrum vor Sicherheitskräften und Polizeibussen über. Dieser Anblick genügte, um zu wissen, dass das Urteil längst feststand. Russland ist wie immer reich an Kuriositäten: Ein Polizeibus blieb liegen, und die Festgenommenen haben ihn selbst geschoben … In einer Haftanstalt wurde für Menschen, die zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt worden waren, eine Vor­ lesungsreihe organisiert. Da waren Philologen, Historiker, Programmierer … Das ist sozusagen eine Tradition in russischen Gefängnissen. Wiktor Wilisow, Blogger, Kurator (St. Petersburg) Ich bin gerade wieder reingekommen. Ich hatte mich buchstäblich dazu gezwungen, rauszugehen, um die Angstzustände und das Gefühl zu überwinden, dass es nicht meine Stadt ist und ich mich zu Hause verstecken muss. Normalerweise gehe ich jeden Tag knapp eine Stunde spazieren, aber nachdem die Proteste zerschlagen worden waren und nach dem Irrsinn mit den überfüllten Untersuchungsgefängnissen bekam ich plötzlich diese Angstzustände. Das passt eigentlich gar nicht zu mir, ich bin sonst ziemlich stabil. Aber plötzlich hatte ich dieses widerliche, ungesunde Gefühl – das darf nicht sein. Ich gehe raus, wenn alle rausgehen, auch um diese Angst loszuwerden; und natürlich weil Freunde von mir festgenommen wurden, das Ganze betrifft mich unmittelbar. Ich bin kein großer Freund von Massendynamik, aber eine solche Leidenschaft wie am 31. Januar, als ich in der Menge stand, die die ganze Gorochowaja-Straße ausfüllte, hatte ich schon lange nicht mehr gespürt. Hinzu kommen die allbekannten Phrasen, dass ein Mensch mit einem Gewissen nicht mehr schweigen kann, und Aussagen über die Schönheit der Choreografie von Massenprotesten. Am unangenehmsten ist es natürlich zu merken, dass man selbst Angst hat. Anonym (Moskau) In Russland ist es mittlerweile gang und gäbe, Regimekritiker mithilfe von Finanzdelikten zu verfolgen. Finanzdelikte sind leicht gefunden – die Gesetze der Russischen Föderation sind so verfasst, dass man sie unterschiedlich auslegen kann, oder so, dass man kein Unternehmen führen kann, ohne sie zu umgehen. Der Fall „Yves Rocher“, aufgrund dessen Nawalny verurteilt wurde, ist von vorn bis hinten fingiert. Deswegen schwebt auch über allen Kulturschaffenden, die eine Organisation oder Einrichtung leiten, ein Damoklesschwert. Man braucht gar nicht lange nach Beispielen zu suchen: Der Prozess gegen Kirill Serebrennikow zog sich mehrere Jahre hin, und schließlich wurden die Angeklagten – allesamt in Russland sehr bekannte Menschen – schuldig gesprochen. Das war ein aufsehenerregender Schauprozess, um diejenigen, die Verantwortung tragen, einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Die Strategie ging auf. Heute schweigen die Menschen, auch wenn sie den Umgang der Regierung mit der

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Opposition kritisch sehen und die Gewalt gegen friedliche Protestierende verurteilen. Es äußern sich nur Menschen, die nichts zu befürchten haben. Anna Schawgarowa, Leiterin der Literaturabteilung an einem ­Kindertheater (Chabarowsk) Die Vorgeschichte unseres Protests im Fernen Osten ist folgende: Bei den Gouverneurswahlen kam es zu einer Protestwahl – gegen den amtierenden Gouverneur von Einiges Russland (der Regierungspartei) und für Sergej Furgal, der für die LDPR angetreten war. Als Furgal gewann, sahen die Menschen, dass ihre Stimme etwas bewirken kann. Nicht unwesentlich dabei war, dass Furgal selbst aus dem Fernen Osten stammt. Wir haben ein eigenes Identitätsbewusstsein, deswegen herrscht eine Ablehnung gegen die Leute und Befehle aus Moskau. Zum Auslöser für die Proteste im Sommer 2020 wurde die plötzliche Verhaftung von Furgal, die sofort durch die Medien ging. Bis zu 15 000 Menschen protestierten auf dem Lenin-Platz – für Chabarowsk, eine Stadt mit 600 000 Einwohnern, ist das sehr viel. Die Losungen waren sehr unterschiedlich und reichten von politischen bis zu alltäglichen Forderungen. Ich ging nicht auf die Straße, ich hatte Angst: Zuerst davor, dass man über das Theater Druck auf mich ausüben würde, es wird ja alles dokumentiert. Und später, als die Festnahmen losgingen, hatte ich Angst um meine Familie und meine Gesundheit. Aber immer, wenn ich die Nachrichten sehe, bin ich stolz auf Losungen wie „Im Osten geht die Sonne auf“, denn die sind ein Ausdruck unserer Identität. Unsere Region ist auch historisch betrachtet eine Region der Freiheit, davon zeugt schon ihre Besiedlungsgeschichte. Die ersten Proteste verliefen friedlich. Die Menschen marschierten auf der Straße, Autos hielten an und hupten aus Solidarität, dann bildeten sie eine Kolonne und begleiteten die Protestierenden. Bei uns fand gerade ein Festival im Hof des Theaters statt. Wir hörten den Lärm und die Parolen. Durch die Kälte ebbten die Proteste im Winter ein wenig ab. Aber sogar bei starkem Frost gingen noch mindestens hundert Menschen auf die Straße. Bei den Protesten im Januar und Februar waren sehr viele Sicherheitskräfte im Einsatz, es gab Absperrungen sowie Verbote, den Platz zu betreten. Im Sommer stand „Komm, wir gehen ­Tauben füttern“ auf den Plakaten, derzeit tanzen die Menschen Chorowod um Tannenbäume. Aber das ist natürlich nicht zum Lachen. Die Leute versammeln sich von selbst, es gibt kein klares politisches Programm oder irgendwelche Anführer. Ich weiß gar nicht, wie alles organisiert wird. Viele werfen uns vor, wir gingen für einen Dieb und Mörder auf die Straße. Aber erstens ist Furgals Schuld noch gar nicht bewiesen, und zweitens gehen die Leute nicht für ihn auf die Straße, sondern weil sie, nachdem sie einen Tropfen Freiheit gekostet haben, jetzt offen dagegen protestieren, dass man ihre Meinung ignoriert. Natalia Skorochod, Dramaturgin, Dozentin (St. Petersburg) Ich bin Dramaturgin und bilde Dramaturgen aus. Derzeit ist unsere Wirklichkeit mit dem Mythos verschmolzen, deswegen greifen auch keine Erklärungen der Logik, des Marktes oder eines diktatorischen Regimes. Der Mythos unterwirft die Wirklichkeit


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rasend schnell, er benutzt sie, um sein Sujet umzusetzen. Der Held ist verwandelt aus der Unterwelt zurückgekehrt. Der Bösewicht ist in sich zusammengesackt und hat an Größe verloren. Nun steht der Endkampf bevor. So sehe ich die gegenwärtige Situation. Würde ich nicht an den Protesten teilnehmen, wäre es ein Verzicht auf eine in beruflicher Hinsicht wichtige Erfahrung. Außerdem bin ich ein Mensch, und aus rein menschlicher Sicht sind die Proteste eine Möglichkeit, viele großartige Leute zu treffen. Etwas Zeit mit ihnen zu verbringen. Auf psychologischer Ebene beruhigt das ungemein. Denn innerhalb eines Mythos zu leben ist für einen Menschen ein Trauma, das man nicht unterschätzen sollte. Alexej Platunow, Theaterwissenschaftler, Produzent, Kurator (St. Petersburg) Am 2. Februar kehrte ich in Moskau gerade von einem Freund in mein Hotel an der Puschkinskaja zurück. Es war schon spät, ich scrollte durch die Meldungen bei Meduza und auf Telegram, las, dass Menschen verprügelt werden. Ich hatte viele gute Gründe, nicht dabei zu sein: Ich musste früh zum Zug, hatte noch nicht gepackt, meine Frau würde niemals gutheißen, dass ich mich in Gefahr begebe, ich musste noch einen Text redigieren, mehrere Anträge lesen, den Text für eine Ausstellung schreiben. Ich war schon auf meinem Zimmer und wollte mir die Zähne putzen, als ich den letzten verzweifelten Aufruf las, sich am Kusnezki Most zu versammeln. Ich redete mir ein, dass ich vorsichtig sein und nur kurz aus der Ferne schauen würde, und ging hinaus. Zwei Minuten später lief ich an einer Reihe „Astronauten“ in

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Die großestanden Traditionlauter des polnischen Theaters schreibt ein voller Montur vorbei. Am Straßenrand Busse mit hier erstmals ins Deutsche übersetzten der Aufschrift „Sonderfahrt“. Polizeiwagen mit Blaulicht und Stücken aus d Jahrzehnt. handelt sich damit um Autorinnen und ­Taxis rasten an mir vorbei. Ansonsten warEskein Mensch auf der Generation, die im deutschsprachigen Theater noch Straße, als wäre es verboten. Die große Tradition des polnischen Theaters schreibt ein neues Ka Du passierst die „Astronauten“ und hast dieses sind. Insofern lädt der Titel äußerst dazu ein, mit diesen ne hier erstmals ins Deutsche übersetzten Stücken aus dem gerad unangenehme Gefühl: keine Jahrzehnt. ­ rationale Angst, sondern eine Art und zu erkunden, was zwar an die bekannten undAutoren zugleic Es handelt sich damit umschreibt Autorinnen Die große Tradition des polnischen Theaters ein neues Kapitel mit ­atavistisches Empfinden, vonhier dem sich dir die Nackenhaare aufstelanknüpft, diese aber andersStücken erzählt, mitdem auch technolo Generation, im deutschsprachigen Theater noch weitgehe erstmals ins die Deutsche übersetzten aus gerade vergan len. Und plötzlich fängst du an zuoder singen, kein Protestlied, ummit den sind. Insofern lädt der Titel dazuAutorinnen ein, diesen neueneiner Theate in sich Frage stellt. Jahrzehnt. Essogar handelt damit um und Autoren jün Abend mit heroischem Aktionismus selbst zu erkunden, wasdeutschsprachigen zwar und an diedir bekannten und zweifelh Generation, die beenden im Theater für nochzugleich weitgehend unbe [...]zu Insofern lädt der ein, mit diesen neuen Theatertexten anknüpft, diese aberTitel anders erzählt, mit auch technologischen M immer zu vergeben, sondernsind. ein sowjetisches Kriegslied: „Die PanAndrzej Wirth, derdazu polnisch-amerikanische Vordenk zu erkunden, was zwar an die bekannten und zugleich zweifelhaften M oder sogar in Frage stellt. zer rollten dröhnend durch die Felder, Soldaten ogen in die Theaters, das er z­keinesfalls nurletzte aus der dramatische anknüpft, diese aber anders erzählt, mit auch technologischen Mitteln erw [...] Schlacht …“ Vielleicht ziehen dieHeiner „Astronauten“ ja schonmit in einen Müller zusammen den Theaterformen v oder sogar inWirth, Frage stellt. Andrzej der polnisch-amerikanische Kampf um traditionelle Werte? Du singst weiter, siehst immer öfterVordenker des pos [...] Tadeusz Kantor verband, sondern auch mit Befunde Theaters, das er keinesfalls nur aus der dramatischen Linie vo Menschen, und vor dir liegt das wunder­ chöne, frostige in Moskau. Andrzej Wirth, sder polnisch-amerikanische Vordenker des postdramatI Leistungen des Dramas hoch entwickelten Heiner Müller zusammen mit deneiner Theaterformen von Jerzy G Du begegnest einem irritierten Theaters, das Grüppchen. er keinesfalls nurSie ausskandieren: der dramatischen Linie von Brech schrieb bereits 1980 in seinem Essay Vom Dialog zum Tadeusz Kantor verband, sondern auch mit Befunden über die Heiner zusammen dendu Theaterformen „Freiheit! Lasst ihn frei!“ Aber du Müller schreist nichtmit mit, filmst sievon Jerzy Grotows Leistungen des Dramas in einer hoch entwickelten Informatio Als-ob-Dialog-Figuren-Theater von den „daraus resu Tadeusz KantorBeobachter, verband, sondern mit Befunden über die notwen nur und gehst weiter. Du bist ja nur duauch drehst dich schrieb 1980 in Essay Dialog zum Diskursge m desbereits Informationsniveaus“, dieVom zu der „Erarbeitung Leistungen des Dramas in seinem einer hoch entwickelten Informationsgesell nicht um wie Orpheus. Als-ob-Dialog-Figuren-Theater von den „daraus resultierenden schriebdes bereits 1980 in seinem Essaymüsse. Vom Dialog zumvon Diskurs mit Blick Theaters“ führen Vieles dieser Propa Alles wäre gut, nur fühlst dich nicht gut. Und um dieses desdu Informationsniveaus“, die zu der „Erarbeitung gesprächsfe Als-ob-Dialog-Figuren-Theater den „daraus resultierenden Begrenz praktischen Einsicht,von kann man hier entdecken. „nicht gut“ loszuwerden, beginnst du dieführen „Marseillaise“ zuvonpfeiTheaters“ müsse. dieser Prophezeiung, desdes Informationsniveaus“, die zu derVieles „Erarbeitung gesprächsferner Fo despraktischen Theaters“ führen dieser Prophezeiung, oder vie Einsicht, kannVieles man von hier entdecken. fen, während du an den Polizeibussen, denmüsse. schwarzen Helmen Aus dem Vor praktischen kannwas mandu hiertun entdecken. und Schutzschilden vorbeigehst. DasEinsicht, Einzige, kannst, dem Vorwort von ist pfeifen. In diesem schiefen, brüchigen Pfeifen steckt Aus alles: Aus dem Vorwort von Thomas Schutzlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Trauer, Kälte. Von dem im Russischen beliebten Marc-Aurel-Zitat „Tu, was du tun musst, und komme, was wolle“ ist nur der zweite Teil geblieben. // Aus dem Russischen von Maria Rajer.

ISBN: 97

ISBN: 978-83-6069

⇉ Die große Tradition des polnischen Theaters schreibt ein neues Kapitel mit diesen hier erstmals ins Deutsche übersetzten Stücken große Tradition des polnischen Theaters schreibt neues Kapitel diesen ausDie dem gerade vergangenen Jahrzehnt. Es ein handelt sich mit damit um Autorinnen und einer jüngeren Generation, die vergangenen im deutschhier erstmals ins Autoren Deutsche übersetzten Stücken aus dem gerade sprachigen Theater noch weitgehend unbekannt sind. Jahrzehnt. Es handelt sich damit um Autorinnen und Autoren einer jüngeren Gleich das erste Stück, Tomasz Kaczorowskis / Conrad Generation, die im deutschsprachigen Theater noch#Finsternis weitgehend unbekannt Maschine, greift nicht nur Joseph Erzählungetwas Herz sind. Insofern lädt der Titel dazu ein,Conrads mit diesenbekannte neuen Theatertexten Polska jest mitem_NIEM_17_12.indd 1 der Finsternis für ihre Adaption in der hyperkapitalistischen Gegenjest mitem_NIEM_17_12.indd 1 ⇉ Tomasz Kaczorowski zu erkunden, was zwar an die bekannten und zugleich zweifelhaften Mythen Polska Polska jest mitem_NIEM_17_12.indd 1 wart auf, sondern beruft sich dabei auch auf eine literarische Tradianknüpft, diese aber anders erzählt, mit auch technologischen Mitteln erweitert #finsternis tion, die mit T. S. Eliots Collagegedicht The Waste Land und Heiner oder sogar in Frage stellt. Müllers Hamletmaschine direkt angesprochen wird. ⇉ Łukasz Pawłowski [...] Maria Wojtyszko hat mit Fremdsprache. Ein Märchen über Gefühle Andrzej Wirth, der polnisch-amerikanische Vordenker des postdramatischen METRO AFGHANISTAN etwas Ähnliches, jedoch greifbar Aktuelleres über junge DrehbuchTheaters, er keinesfalls nur aus dergeschrieben. dramatischen Linie von Brecht über autoren imdas heutigen Filmbusiness ⇉ PIK (Katarzyna Dworak Heiner Müller zusammen mit den Theaterformen von Jerzy Grotowski und Traumatische Geschichte gehört fraglos zum Mythos Polen. Michał und Paweł Wolak) Tadeusz Kantor verband, sondern auch mit Befunden über die notwendigen Zdunik und Przemysław Pilarski setzen mit ihren Stücken fort, was des Dramas einer hoch(als entwickelten Informationsgesellschaft, DAS TREUE RUDEL mitLeistungen der Diskussion um in Jedwabne Ort eines polnischen Pogroms schrieb bereits 1980 in seinem Essay Vomvor Dialog zumzwanzig Diskurs mit Blick auf das während der deutschen Besatzung) rund Jahren anläss⇉ Przemysław Pilarski von den „daraus resultierenden Begrenzungen lichAls-ob-Dialog-Figuren-Theater der grundsätzlichen Debatte um die verschiedenen Haltungen KOMM ZURÜCK vondes Polen im Holocaust einmal Informationsniveaus“, die zu derangefangen „Erarbeitunghatte gesprächsferner Formen des Theaters“ führen müsse. Vieles von dieser nimmt Prophezeiung, oder vielmehr Metro Afghanistan von Łukasz Pawłowski Polens Beteiligung ⇉ Maria Wojtyszko Einsicht,inkann man hier entdecken. alspraktischen NATO-Mitglied neueren Kriegen aufs Korn.

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POLEN IST EIN MYTHOS Neue Stücke

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Epische Legende Das treue Rudel des Autoren-Duos Paweł Wolak Aus Erzähler dem Vorwort vonzwei Thomas Irmer und Katarzyna Dworak, mit einem über Familien zwischen Lissabon und Moskau, Rot und Weiß, ein symbolisches Polen-Märchen, das in dieser Anthologie den Mythos des neuen Polen verschlüsselt. Aus dem Vorwort von Thomas Irmer

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ISBN: 978-83-60699-49-2

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ISBN 978-83-60699-49-2 Die Übersetzung dieses Buches wurde vom Buchinstitut Krakau im Rahmen des ÜBERSETZUNGSPROGRAMMS (C) POLAND gefördert Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Institut Düsseldorf

FREMDSPRACHE ⇉ Michał Zdunik DIE SPEZIELLE THEORIE DES LEBENS UND STERBENS Vorwort von Thomas Irmer Nachwort von Małgorzata Jarmułowicz ⇶ ADiT Agencja Dramatu i Teatru ul. Piotrkowska 5/8 02-375 Warszawa +48 22 822 1199 agencja@adit.art.pl www.adit.art.pl

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Trump, Tyrann! Warum das Theater mit Donald Trump jenseits der Karikatur nicht umzugehen weiß – obwohl seine Gestalt mit Blick auf die antike Dramengeschichte leicht zu entzaubern wäre von Frank Raddatz


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M

it überwiegend starkem Unbehagen reagiert die mediale Öffentlichkeit in vielen Teilen der Welt selbst nach dessen Abwahl auf Donald Trump. Auch das Theater konnte, außer ab und an eine Trump-Perücke als bühnenwirksam zu deklarieren, dieser Mischung aus Abscheu und Faszination wenig zusetzen. Trotz einer jahrtausendealten Literatur und unentwegt geübten Praxis der Menschendarstellung kommt es über die Kostümierung eines Oberflächeneffekts nicht hinaus. Angesichts dieses Sachverhalts ist es sowohl legitim wie auch geboten zu fragen, ob in den A ­ rsenalen dieser Kunstform tatsächlich keine Modelle und Brenngläser existieren, welche der Spezifik dieser bestens ausgeleuch­teten Figur beikommen. Kann es überhaupt sein, dass sich im weitverzweigten Fundus Shakespeares, in den endlosen Regalen der dramatischen Weltenbibliothek, in denen sich Stück auf Stück stapelt, tatsächlich kein Bauplan findet, der diesen Typus katalo­gisiert und dessen Bewegungsgesetze transzendiert? Dem antiken Griechenland war das Phänomen des Tyrannen wohlbekannt. In ihm verbindet sich, so Michel ­ ­Foucault in seinen unter dem Titel „Die Regierung der Lebenden“ erschienenen Vorlesungen, die politische Herrschaft mit speziellen Kenntnissen: „Durch das Innehaben der Macht ­hatten der König und diejenigen, die ihn umgaben, ein Wissen inne, das mit den übrigen sozialen Gruppen nicht geteilt werden konnte und durfte.“ Nicht die Willkür bestimmt die tyrannische Figur, sondern ihre Logik resultiert aus der Einheit von speziellen Kenntnissen und der Regierungsgewalt: Die „Gestalt des Tyrannen ist nicht allein durch die Macht charakterisiert, sondern auch durch einen Wissenstyp. (...) Er war derjenige, der die Macht ergriff, weil er über ein bestimmtes Wissen ­verfügte oder jedenfalls die Tatsache zur Geltung brachte, dass er über es verfügte – ein Wissen, das dem der anderen an Wirksamkeit überlegen war.“ Die Parallelen zu Donald Trump stechen ins Auge. Den Immobilien-Tycoon charakterisiert weder die Abstammung aus einer politischen Dynastie, noch ist er ein talentierter und erfahrener Berufspolitiker. Vielmehr verfügt er über ein einzigartiges Wissen oder kann zumindest dessen Besitz glaubhaft machen. In zahlreichen, in vielen Sprachen veröffentlichten Publikationen finden sich seine Spezialkenntnisse niedergelegt, wie eine Auswahl seiner auf Deutsch erschienenen Bücher verrät: „Wie man reich wird“, „Der Weg nach oben“, „Nicht kleckern, klotzen: Der Wegweiser zum Erfolg – aus der Feder eines Milliardärs“, „The Art of the Deal“, „Gib niemals auf!: „Wie ich meine größten ­Herausforderungen in meine größten Triumphe verwandelte“, zusammen mit Robert T. Kiyosaki: „Warum wir wollen, dass Sie reich werden: Zwei Männer – eine Botschaft“, „Think Like a ­Billionaire“ und so weiter. Der, wie es in einem Klappentext

Kostümierung eines Oberflächeneffekts – In „Ubu Rex“ von Stef Lernous nach Alfred Jarry am Berliner Ensemble 2020 gibt Tilo Nest Trump als Witzfigur (hier mit Owen Peter Read und Stefanie Reinsperger). Foto JR Berliner Ensemble

trump, tyrann!

heißt, Titan unter Amerikas Millionären weiß, wie sich Geld im großen Stil herstellen lässt. Während es andere Verfasser von Ratgebern auf diesem Gebiet zumeist bei Worten belassen ­müssen, sedimentierte das Trump’sche Wissen in einem milliardenschweren Imperium, das seine Tipps zum Aufbau eines Vermögens verifiziert. Diese singuläre Qualität, in diesem Fall das Rätsel unentwegter Geldvermehrung gelöst zu haben, induziert auf politischem Terrain eine Logik, die diesen Herrscher, in dem sich Wissen und Macht vereinen, von anderen Königsfiguren ­gravierend unterscheidet. Ein analoges Tyrannenmodell setzte Sophokles im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Szene. Der Titel seiner wirkmächtigsten Tragödie wird zwar zumeist mit „König Ödipus“ wieder­gegeben, lässt sich aber auch mit „Ödipus, der Tyrann“ (Friedrich Hölderlin) oder lakonisch mit „Ödipus, Tyrann“ (Heiner Müller) übersetzen. Auch Ödipus’ Signatur beruht auf einem Spezialwissen, denn ihm, so Foucault, „ist es gelungen, durch die Kraft seines Denkens, durch sein Wissen das ­berühmte Rätsel der Sphinx zu lösen“. Ödipus ist nicht aufgrund seines Geburtsrechts politischer Herrscher, sondern die Königswürde fiel ihm zu, weil er, so bestätigt der Chor, die ­Thebaner von dieser Bedrohung befreit hat. Kurt Steinmann übersetzt: Der du über die Maßen gut den Pfeil schießend gewannst das allselige Glück – o Zeus! – da du tilgtest die krummklauige Jungfrau, die Spruchsängerin, und gegen die Tode meinem Land als ein Turm dich erhobst: Seitdem heißt du mein König und wurdest aufs höchste geehrt, in der hohen Thebe gebietend. (1196–1204) Foucaults Argumentation wird indirekt durch einen Umstand gestärkt, auf dem der Religionsphilosoph Klaus Heinrich in seiner „arbeiten mit ödipus“ überschriebenen Vorlesung insistiert: „Sie werden sich auch daran erinnern, dass in den literarisch ­älteren Fassungen der Ödipus-Geschichte die Sphinx nicht vorkam – als mythologische Figur ist sie natürlich alt: Schon bei Hesiod sitzt sie als Würgerin über den Kadmeern, also dem ­thebanischen Volk, das sich von Kadmos ableitet“ (Dahlemer Vorlesungen 3, „arbeiten mit ödipus“, S. 134, 1993). Erst indem Sophokles das Narrativ der Sphinx – eine Episode, die von seiner Dichtung vorausgesetzt, aber nicht szenisch gestaltet wird – mit der ödipalen Storyline koppelt, betritt, so Heinrich, „Ödipus ­Ty­rannos“ die Szene. Unabhängig von seiner politischen Geschicklichkeit nimmt diese tyrannische Erscheinungsform der Macht eine exzentrische Ausnahmestellung ein. Foucault spricht von ­ ­„Alleinigkeit“. Aufgrund der Singularität seiner Position, die auf ganz einzigartigen Fähigkeiten beruht, sieht oder glaubt sich Ödipus permanenten Angriffen des Establishments der Polis ausgesetzt. Zu ihm zählt er auch den Seher Teiresias:

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protagonisten

O Reichtum, Königsmacht und Können, alles Können weit überragend im eiferreichen Leben! Welch großer Neid wird nicht bei euch gehegt, wenn dieser Herrschaft wegen, die die Stadt als Gabe, nicht gefordert, in die Hand mir gab – Wenn ihretwegen Kreon (…) solch einen Scharlatan vorschiebt und Ränkeschmied, den listigen Bettelpriester, der für den Gewinn nur Augen hat, doch blind ist in der Kunst! (380–389) Als Kreon seinem Schwager Ödipus vorhält, kognitiv nicht auf der Höhe des Arguments zu agieren, verleiht der seinen Repliken nicht etwa eine überzeugende Kohärenz, sondern insistiert auf seinem Rang, der besagt, dass er allein befugt ist, im Namen der Stadt – der Nation, des Volkes – zu operieren. Ödipus: Du sprichst wie einer, der nicht weichen noch gehorchen will. Kreon: Ja, denn ich sehe, du bist nicht bei Sinnen. (…) Ödipus: Nein, du bist schlecht. Kreon: Jedoch, wenn du nichts begreifst? Ödipus: Muss gehorcht doch werden! Kreon: Nicht, wenn einer schlecht regiert! Ödipus: Stadt! Oh, Stadt! Kreon: Auch ich hab Anteil an der Stadt, nicht du allein! (624–630) Die Übereinstimmungen mit dem gerade von der Weltbühne ­abgesetzten Stück sind frappant. Ob Ödipus seinen Schwager ­Kreon schlecht nennt oder Trump Vizepräsidentin Kamala Harris nasty (böse), macht keinen wirklichen Unterschied. Auch der Vorwurf, dass die Königsfigur geistig verwirrt wäre, hat es im 21. Jahrhundert von der Theaterbühne in die Nachrichtensendungen ­gebracht. Schließlich wurde er kontinuierlich von den engsten Mitarbeitern des amerikanischen Präsidenten während seiner ­gesamten Amtszeit öffentlich erhoben – erinnert sei nur an die Taxierung des Außenministers Rex Tillerson von Trump als Trottel oder als Spinner durch Sicherheitsberater John R. Bolton. Die ­Logik der Politik und die Logik der Macht, denen das Denken und Handeln der Außenseiter Ödipus / Trump folgt, stimmen keineswegs überein, werden aber leicht miteinander verwechselt und überlagern einander. Denn ist die Macht ein Effekt der Subjektivität, kann auch die „Wahrheitsmanifestation“ von der Person des Rätsellösers nicht entkoppelt werden. Foucaults Analyse des antiken Scripts gipfelt in der Conclusio, dass dieses Modell eines ­Regenten, der „zum Gipfel der Macht gelangt war, dennoch immer davon bedroht war, sie zu verlieren“. Oder: „Sein Problem ist allein die Macht. Wird er die Macht behalten können?“ Das sind in der Tat die Schlüsselfragen, die das Trump-Regime rund um die Uhr bewegten und die Weltöffentlichkeit in eine Parallelwelt versetzen, in der sie in den vergangenen vier Jahren einem atem­ beraubenden Spektakel beiwohnte. Seien es die unzähligen als „alternative Fakten“ präsentierten Lügen, der ständige Austausch von Mitarbeitern, der Versuch, die Regierungschefs anderer ­Staaten zu erpressen, um Gegenkandidaten zu denunzieren, die

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Impeachment-Verfahren, Vorwürfe von Wahlbetrug, der Sturm auf das Kapitol, die kleinen oder großen Höhepunkte der Inszenierung des Tyrannos Trump – allesamt leiten sie sich von dem absoluten Referenten her: eben der Macht und ihrer Erhaltung. Foucaults Fazit: „Der Wille wird zum Gesetz der Stadt“ umreißt die Matrix des Tyrannen und mithin Trumps unentwegte Versuche, die Legalität als solche auf verschiedenste Weise auszuhebeln. Das Blendwerk vergeht, so will es die tragische Dramaturgie, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Werden die Finanz­ geschäfte des Milliardärs, der im Jahr 750 Dollar Steuern zahlt, durchsichtig, wird der Tyrann als Trickster entzaubert, werden seine Spezialkenntnisse dekonstruiert, zeigt sich ein Bankrotteur, der sich in die Macht flüchtet. Das wäre allerdings ein Stück von Bert Brecht. Zudem findet sich eine weitere Parallelität zwischen unserem Heute und Sophokles’ Meisterwerk. Diese Koinzidenz wird allerdings nicht von Foucault, sondern von Bruno Latour hervorgehoben. Theben, so erzählt Sophokles, wird von einer anthropogen getriggerten Pest heimgesucht, die sowohl Menschen wie Tiere und Pflanzen befällt. Die Vergehen des Ödipus, so wird sich herausstellen, sind die Ursache dieser Seuche. Für Latour, den Denker des Anthropozäns, ist Sophokles’ Tragödie das Stück unserer Zeit, weil auch unsere Welt von einer menschengemachten Klimapest bedroht wird, gegenüber der sich weite Teile der Gesellschaft blind stellen. Wie die Aufklärung der Ursachen der Pest Ödipus zu Fall bringt, setzt die Dämmerung der Trump-Ära ein, als Covid-19 auf dem weltpolitischen Schachbrett erscheint. Eine der sich häufenden Zoonosen, einer wechselseitigen Übertragung von Krankheitserregern zwischen Tier und Mensch, die durch die anhaltende Vernichtung des Lebensraums der Tiere ausgelöst werden. Dieser apokalyptische Reiter aus den Heerscharen des Anthropozäns hat jenen Präsidenten aus dem Sattel geworfen, der mit dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen, der Gewährung einer Konzession für die mit erheblichen Umweltrisiken belastete Pipeline Keystone XL, die Erlaubnis für Ölbohrungen in Naturschutzgebieten in Alaska meinte, die Grenzen des Erdplaneten ignorieren zu können. Wie Trump mit dem Virologen Anthony Fauci, kollidiert im Stück der tyrannische Titelheld mit dem Seher Teiresias. Nicht wenige Kommentatoren gehen davon aus, dass sein unverantwortlicher Umgang mit der Pandemie Trump das Amt gekostet hat. Das Kunststück, die 500 000 Corona-Toten, auf welche die USA gerade zusteuern, als Trugbild erscheinen zu lassen, ging selbst über die Kräfte dieses Tricksters. Eine historische Szene übrigens, an der Hegel seine ­helle Freude gehabt hätte, signiert doch die von ihm beschworene List der Geschichte vor aller Augen mit „America First“. Aus der Tiefe der Zeit lassen sich die Scheinwerfer des Thea­ters durchaus mit Gewinn auf das Gegenwärtige richten und tauchen selbst die wildesten Eskapaden des Hier und Jetzt in ein Licht der Wahrheit. Die Reflexion seiner Spiegel erhellen eine nie abgeschlossene Vergangenheit und konturieren eine sich öffnende Zukunft voller Überraschungen: Weder die tragischen Ver­ strickungen der Sphinx oder von Ödipus, noch der anderen ­Begebenheiten, von denen die Tragödien und Mythen berichten, sind auserzählt. Im Gegenteil, nachdem die Geschichte – unter der Prämisse des Anthropozäns – wieder in Gang gekommen ist, handelt es sich um Anfänge. //


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Meine polnische Familie Ein Mann trinkt Wodka, ein anderer schaut zu

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ut ist es, wenn du jemanden kennst, der ein Theater hat. Und der dich in diesen Tagen hineinlässt. Gut, dass ich Czesław kenne. Hinten im Hof liegt das Kammerspielchen, wie er es nennt, und das Wort Kammerspielchen steht auch rechts vom Eingang. Aber oben, auf der roten Fassade, steht groß und auf Polnisch: TEATR. Siehst du, sagt Czesław, so haben wir zwei Buchstaben eingespart. Jedes Mal, wenn ich im Ruhrgebiet bin, steige ich im Gdańska ab, am Altmarkt im Zentrum von Oberhausen. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich zwei, drei Monate blieb. Ich glaube, es war am Ende meines ersten Aufenthalts, als Maria, Czesławs Frau, zu mir sagte: Wir adoptieren dich. Sind zwar spät dran damit, du bist ja schon groß, aber das machen wir jetzt einfach. Seither habe ich eine polnische Familie. Meine Geschwister sind selten da, denn auch sie sind schon groß. Die Schwestern sind Ärztinnen, eine in Berlin, eine in Wolfratshausen, der Bruder ist Ingenieur und lebt in Koblenz. Nur einmal haben wir uns alle zusammen gesehen, vor ein paar Jahren, als Czesław und Maria gemeinsam Geburtstag feierten, es könnte der 130ste gewesen sein, aber sicher bin ich mir nicht. Sicher ist nur, dass halb Oberhausen zum Gratulieren kam. Kaum durch die Tür, bist du im Foyer. In der Ecke erhebt sich die Bar. Czesław bringt zwei Gläser mit polnischem Wodka. Im Theater setze ich mich in die dritte Reihe von vier langen und zwei kurzen. Auf der Bühne stehen, einer neben dem anderen, drei verwaiste Polsterstühle. Czesław hockt sich auf die Rampe, ruft hey!, damit wir Na zdrowie! rufen und trinken. Mehr braucht es nicht für Theater. Ein Mann hockt auf der Bühne und trinkt Wodka, und ein anderer schaut zu (und trinkt mit). Ich frag ihn nach Helge Schneider, und Czesław erzählt. Denn Helge Schneider war schon früh dabei, als das Gdańska noch eine kleine verrauchte Kneipe war, mit einem Podium für die Musiker. Hier hat er auf dem Klavier gespielt, und noch heute ist er ein- bis zweimal im Jahr zu Gast. Am Altmarkt, nur ein paar Schritte weiter, steht das Schlingensief-Haus. Hier hat, sagt die Gedenktafel, Prof. Christoph Schlingensief von 1960 bis 2010 gewohnt, ganz so, als wäre er nie aus Oberhausen herausgekommen. Unten war einst die Apotheke vom Vater. Und wenn Christoph durch die Marktstraße ging, sagen

die Leute, war er einer von ihnen und wollte auch gar kein anderer sein. Ich erinnere mich, wie er über seinen Vater gesprochen hat. (Und sprunghaft daran, dass er mir aus Afrika ein Fax mit Elefantendung geschickt hat.) Dass das Schlingensief-Haus in der Nachbarschaft liegt, passt gut. Ebenso gut passt, dass die Kirche der Angst am Altmarkt aufragt. In der Kirche Herz Jesu ist Christoph Ministrant gewesen, und er hat ihren Altar für die Ruhrtriennale in Duisburg nachbauen lassen. Schon damals, 2008, kämpfte er gegen den Krebs. Vollständig heißt der Titel: „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Vorm Gdańska saßen Christoph und Helge gern auf ein polnisches Bier zusammen. In frühen Schlingensief-Filmen spielte Helge tapfer mit. Einmal wurde im Gdańska das Stück „Emigranten“ von Sławomir Mrożek inszeniert, und zwar im Saal. Denn damals gab es das kleine Theater noch nicht, das Kammerspielchen war eine Kirche für die apostolische Gemeinde. Geprobt werden musste auch ­irgendwo, also nahmen sie den wüsten Speicher, in dem sich heute mein Apartment ­befindet. Damit sich die Schauspieler wohlfühlten, verkleidete Czesław die Wände mit Papiertapeten. Für Künstler tut er so gut wie alles. Nichts ist zu abwegig, zu absurd oder zu psycho, als dass er ihm nichts abgewönne. Er stammt, genauso wie Maria, aus der Gegend von Danzig, schloss sich der Solidarność an, wurde Ozeanograf und arbeitete als ­Mathematiklehrer. Auch Maria war Lehrerin, für Physik und Chemie, später auch in Deutschland. Auf der Hauptschule musste sie Streit schlichten und putzte einen türkischen Schüler herunter. Der tat empört: Was gegen Ausländer oder was? Nein, sagte sie, gegen Ausländer nichts. Aber gegen Arschlöcher. Gdańska heißt: auf Danziger Art. Bei meiner polnischen Familie gibt es jeden Tag Mittagstisch, um eins, was zu früh für mich ist, so kurz nach dem Frühstück. Aber manchmal schaffe ich es, dabei zu sein. Maria fragt: Was ist nur los mit euch? Du kommst her und triffst dich mit Hooligans. Und ein Filmemacher, der kürzlich hier war, will einen Frauenmörder porträtieren. Liegt das an Corona? Dass ihr in die Abgründe starrt? Ich weiß es nicht, Maria. Im Restaurant, in dem zurzeit alles still ist, hängt Kunst an den Wänden. Hin und wieder zeigen sie eine Ausstellung. Von einem polnischen Künstler stammt das beeindruckendste Werk, ein schweres Stück Holz an der Wand, um das sich der Länge nach ein Tau wickelt: das letzte Rettungsbrett. //

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Theater und Moral Kennt man einen, kennt man alle. Wunderbar überschaubar wäre es, reagierten alle ­Menschen gleich. Wäre dies eine erstrebenswerte Gesellschaft? Ganz und gar nicht, schreibt der Soziologe Dirk Baecker. In der sechsten Folge unserer Reihe Theater und Moral erklärt der Systemtheoretiker, warum es gerade die Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens ist, die eine Gesellschaft stabilisiert. Erst ein System, das auf einen Input einen über­ raschenden Output ausspuckt, reagiert nicht trivial und liefert damit Informationen über sich selbst. „Die Künste“, schreibt Baecker, „haben in der Gesellschaft die in jeder Hinsicht unverzichtbare Funktion, Formate der Geselligkeit zu entwerfen, in denen diese Art von Nichttrivialität sich fast unwillkürlich anbietet, um mit den entsprechenden Situationen ­fertig zu werden.“

Foto Stefan Leyshon, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

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dirk baecker

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Von Foersters Vermutung und die Kunst oder Wie Unvorhersehbarkeit paradoxerweise das Gefühl der Kontrolle erhöht von Dirk Baecker

Im Seminar von Ivan Illich 1976 kommt es in Cuernavaca in Mexiko zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Ivan Illich, dem Vordenker einer politischen Ökologie, und Heinz von Foerster, dem Begründer der Kybernetik zweiter Ordnung. Illich hielt ein Seminar zum Konzept der ­Gegenproduktivität, das einen zentralen Stellenwert in seinem Denken hat. Gegenproduktivität ergibt sich aus Prozessen der ­Institutionalisierung von Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, die sich, je weiter sie sich entwickeln, umso mehr gegen ihre ursprünglichen Absichten wenden. Schulen verdummen, Krankenhäuser machen krank, Armeen vernichten, was sie verteidigen sollen, Behörden blockieren die politischen Spiel­ räume, die sie bereitstellen sollen, kulturelle Einrichtungen ersticken die Fantasie, die sie wecken sollen, Autos vergrößern den Abstand zwischen den Menschen, den sie verringern sollen, und so weiter. Gut, das Beispiel mit den Autos ist nicht gerade typisch für Prozesse der Institutionalisierung, aber es zeigt, dass diese ­einem allgemeinen Gesetz folgen, das man als Gesetz der para­ doxen Folgen der effizienten Bewältigung von Komplexität bezeichnen kann. Denn diese effiziente Bewältigung hat Neben­ folgen, die dem eigentlichen Ziel zuwiderlaufen. Schulen fordern eine Disziplin, die der freien Entfaltung des Geistes entgegensteht. Krankenhäuser sind Brutstätten für Bakterien. Armeen wollen ihre Waffen testen. Behörden erzwingen die Einhaltung formaler Regeln. Kulturelle Einrichtungen konfrontieren Künstlerinnen und Künstler mit Akzeptanzchancen durch ein Publikum (ganz zu schweigen von Kulturpolitik und Förderprogrammen). Die Produktion von Autos verwandelt eine ganze Gesellschaft in ein Betriebssystem zur Sicherstellung kompetitiver Produktivität. Und so weiter. Illich, Philosoph, Theologe und römisch-katholischer Priester, der sich in Puerto Rico Ideen der Befreiungstheologie zuwandte, mit dem Vatikan überwarf, 1969 sein Priesteramt niederlegte, in Mexiko mit Freunden wie Paulo Freire ein Südamerika-Institut

gründete, in den 1980er Jahren auch in Deutschland (Bremen und Hagen) lehrte und 2002 in Bremen starb, hat das Konzept der Gegenproduktivität 1971 in seinem Buch „Deschooling Society“ vorgestellt und Ideen zur Deinstitutionalisierung der Gesellschaft in dem Buch „Tools for Conviviality“ 1973 weiter ausgearbeitet. Beide Bücher trafen einen Nerv der zeitgenössischen Diskussion und wurden breit rezipiert. Bis heute regen sie Ideen an, die ­darauf zielen, Formen der Produktivität zu entwickeln, die ohne diese Nebenfolgen auskommen. Die industrielle Gesellschaft kennt keine Grenzen, keine Grenzen des Wachstums und keine Grenzen des Fortschritts. Die Ausbeutung fossiler Energien hat dieser Gesellschaft einen Entwicklungspfad eröffnet, dem auch flächendeckende ökologische Folgeschäden keinen Einhalt ge­ bieten. In dieser Situation kann nur helfen, Formen des Zusammenlebens zu finden und zu fördern, die sich der mechanischen Steigerung der Reduktion von Komplexität („Technologie“) nicht unterwerfen, sondern auf die Lebensbedingungen von Mensch und Natur Rücksicht nehmen. Natürlich haben diese Ideen schon damals fasziniert. Der Wohlstand schien in den 1970er Jahren ebenso gesichert wie der relative gesellschaftliche Frieden, sodass man sich den Folgepro­ blemen der Industrialisierung zuwenden konnte. Das ökologische Desaster war sichtbar genug, um apokalyptische Visionen auszulösen. Man pilgerte nach Cuernavaca, um Diagnose und Abhilfe zu diskutieren, und man lud Experten ein, um diese Ideen weiter auszubauen. So kam auch Heinz von Foerster nach Cuernavaca. Von Foerster hatte 1958 bis 1975 das Biological Computer Laboratory an der University of Illinois in Chicago geleitet, das berühmt war für seinen Versuch, eine umfassende Theorie kognitiver ­Selbstorganisation zu entwickeln. Die Zusammenführung kybernetischer, mathematischer und philosophischer Ressourcen zum Verständnis lebendiger Systeme, sozialer Organisation und technischer Berechnung machte von Foerster zu einem gesuchten ­Gesprächspartner für die Art von Fragen, die in Cuernavaca verhandelt wurden.

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theater und moral #6

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Man kann sich jedoch vorstellen, dass er etwas unruhig wurde, als Illich seine Ideen vorstellte. So sehr er die Diagnose teilte, so sehr war die allzu schematische Aufteilung in die apokalyptische Vision auf der einen Seite und die Utopie anderer Lebensformen auf der anderen Seite seine Sache nicht. Er neigte dazu, Veränderung nicht von revolutionären Eingriffen in die Gesellschaft zu er­ warten, sondern von der Wiederentdeckung und Zulassung individueller Spielräume der menschlichen Entwicklung. Das wiede­ rum stand nicht im Widerspruch zu Illichs Vorschlägen. Also meldete sich von Foerster und stellte einen Gedanken vor, der bis heute in der Literatur als Von Foerster’s Conjecture diskutiert wird. Jean-­Pierre Dupuy, Ingenieur und Philosoph, war zugegen und dokumentierte und überlieferte von Foersters Intervention.1 Von Foerster kündigte an, er wolle einen Gedanken aus der mathematischen Automatentheorie beisteuern, um besser zu verstehen, wie die Menschheit der von Illich beschriebenen Nemesis möglicherweise entgehen kann, und ließ sich von einem ironischen ­Lächeln Illichs nicht beirren. Von Foerster wusste, worum es ging. Gegenüber Dupuy bezeichnete er Illich als einen wahrhaft mittelalter­lichen Denker, und dies ohne jede Herablassung. Illich, so von Foerster, beschreibt mit seinem Theorem der Gegenproduktivität einen Sonderfall zirkulärer Kausalität. Das Ganze einer Gesellschaft ist abhängig von den Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, und die Menschen sind abhängig von dieser Gesellschaft. Zugleich jedoch sind die Menschen sowohl untereinander als auch mit der Gesellschaft verknüpft. Ihre Beziehungen zueinander sind konditioniert durch ihre Beziehung zur Gesellschaft, und ihre Beziehung zur Gesellschaft ist konditioniert durch ihre Beziehungen untereinander. Was kann man über diese wechselseitige Konditionierung sagen, wenn nicht etwa ­Elemente, sondern Relationen konditioniert werden, die wiede­ rum von Elementen abhängen, die durch die Relationen geprägt werden, in denen sie stehen? Typisch für von Foerster weicht er an dieser Stelle nicht in die Mathematik der Komplexität aus, sondern 1 Siehe Jean-Pierre Dupuy, Que reste-t-il de la Cybernétique à l’ère des sciences cognitives? In: Evelyne Andreewsky und Robert Delorme (Hrsg.), Seconde Cybernétique et Complexité: Rencontres avec Heinz von Foerster, Paris: Editions L’Harmattan, 2006, S. 59–71, hier: S. 64 f., zitiert nach David Chavalarias, The Unlikely Encounter Between von Foerster and Snowden: When Second-order Cybernetics Sheds Light on Societal Impacts of Big Data, in: Big Data & Society 3, 1 (2016), S. 1–11, hier: S. 1. Siehe zur weiteren Ausarbeitung Moshe Koppel, Henri Atlan und Jean-Pierre Dupuy, Von-Foerster’s Conjecture: Trivial Machines and Alienation in Systems, in: International Journal of General Systems 13 (1987), S. 257–264.

MASTERSTUDIUM

APPLIED THEATRE künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft Weitere Informationen unter http://schauspiel.moz.ac.at

Bewerbungen bis 30. März 2021

zerschneidet diese Komplexität mit einer Hypothese, eben Von Foerster’s Conjecture. Unter der Annahme, dass die Beziehungen zwischen den Menschen mehr oder minder rigide beziehungsweise trivial im Sinne von vorhersehbar sein können, ist zu erwarten, dass das Verhalten der Gesellschaft jedem Einzelnen umso unkontrollierbarer erscheint, je trivialer die Beziehungen unter den Menschen sind. Das jedoch scheint paradox, in hohem Maße kontra-intuitiv. Sollte die Vorhersehbarkeit des Verhaltens der Menschen die ­Gesellschaft nicht im Gegenteil kontrollierbarer erscheinen lassen? Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass vorhersehbares Verhalten keine Informationen enthält, die andere Rückschlüsse als jene auf die Wiederholung desselben ermöglichen. Wer sich vorhersehbar verhält, überrascht nicht. Wer nicht überrascht, informiert weder über sich noch über seine Situation. Alles ist wie immer. Niemand weicht ab. Kennt man einen seiner Mitmenschen, kennt man alle. Die eigene Kenntnis der Gesellschaft erschöpft sich in dem, was man immer schon erwartet. Die Kehrseite der Vorhersehbarkeit ist die mangelnde Möglichkeit, irgendetwas zu beeinflussen oder schlicht und ergreifend einen Unterschied zu machen. Das vorhersehbare Verhalten aller liegt außerhalb der Kontrolle aller, obwohl ein externer Beobachter sehen kann, dass es exakt das triviale Verhalten aller Beteiligten ist, das das Gesamtsystem vorhersehbar macht. Innerhalb des Systems jedoch gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine eigene Kontrolle, weil nichts sich anlässlich des eigenen Verhaltens oder eines überraschenden Verhaltens der Mitmenschen ändert. Es gibt kein Delta, keine Messabweichung, an der sich irgendeine Information über das System entzünden könnte. Weil man nichts zu verantworten hat, scheint man keinerlei Verantwortung zu ­tragen.

Kunst irritiert Die Antwort von Illich auf diese Vermutung von Foersters ist nicht überliefert. Auch ein Kreis von Denkern in Paris, denen Dupuy von dieser Vermutung nach seiner Rückkehr berichtete, unter ihnen Michel Serres, Edgar Morin, Jacques Attali und andere, zeigte sich wenig beeindruckt. Immerhin griff der Biophysiker und Philosoph Henri Atlan die Überlegung auf und arbeitete sie in der Folge zusammen mit Moshe Keppel und Dupuy weiter aus. Tatsächlich liegt nicht auf der Hand, was man mit dieser Vermutung anfangen soll. Sie entzieht sich dem eher tragischen Denken Illichs, ohne eine klare Perspektive aufzuzeigen, woher die Rettung vor den fatalen Strategien der Institutionalisierung kommen soll. Illichs Werben für „Werkzeuge der Geselligkeit“ kann eine passende Antwort auf das Problem sein, wenn man erkennt, worin es besteht, und wenn man die Formate der Geselligkeit entsprechend entwickelt. Die These dieses Artikels ist, dass die Kunst, verstanden als Funktionssystem der Gesellschaft, beziehungsweise die Künste, verstanden als Praktiken der Auseinandersetzung mit der Einheit der Differenz von Sinn und Sinnlichkeit, von Kommunikation und Wahrnehmung, einen wesentlichen Beitrag zur Enttrivialisierung der Menschen und damit zum Wiedergewinn eines Gefühls der Kontrolle über das Gesamtsystem der Gesellschaft leisten. Die mathematische Automatentheorie, auf die sich von Foerster


dirk baecker

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bezog2, versteht unter einer trivialen Maschine eine Maschine, die durch eine Transformationsfunktion eineindeutig festgelegt ist. Sie reagiert auf jeden Input mit immer demselben Output und ist insofern vorhersehbar und von historischen Umständen ihrer Verwendung unabhängig. Fast jede Technik, sachgemäß behandelt, genügt dieser Bedingung. Erst die elektronisch programmierbare Technik entfernt sich möglicherweise von dieser Bedingung. Die Verlässlichkeit dieser Maschinen ist ihre attraktivste Eigenschaft. Wann immer es in der Gesellschaft um Verlässlichkeit geht, sei es in der Erziehung, bei der Arbeit oder auch in der alltäglichen Geselligkeit, orientiert man sich unreflektiert am Vorbild der Technik und versucht, menschliches Verhalten gemäß der Festlegung auf einfache Transformationsfunktionen zu trainieren und zu kontrollieren. Eine nichttriviale Maschine hingegen ist eine Maschine, die neben der Transformationsfunktion auch über eine Zustandsfunktion verfügt. Diese arbeitet so synthetisch und deterministisch wie die Transformationsfunktion, ist jedoch von außen nicht vorhersehbar. Bei jedem Input reagiert die Maschine nicht mehr nur „automatisch“, sondern fragt zusätzlich ihren inneren ­Zustand ab. Dieser innere Zustand konditioniert die Reaktion auf den Input, sodass es zu einem nicht mehr vorhersehbaren, sondern überraschenden Output kommt. Lebende Systeme, psychische Systeme und soziale Systeme sind ohne diese Zustands­

funktion nicht denkbar. Bei technischen Systemen hofft man, irgendwann auch Zustandsfunktionen bauen zu können, und fürchtet zugleich und zu Recht, dass die Maschinen damit nicht mehr kontrollierbar sind, sondern beginnen, sich selber zu kon­ trollieren. Sie werden so undurchschaubar, wie wir es von den Göttern, Menschen und von jedem Du, so der Religionsphilosoph Martin Buber, gewohnt sind, sobald und solange wir ihre Nicht­ trivialität anerkennen. Die Kunst und die Künste haben in der Gesellschaft die in jeder Hinsicht unverzichtbare Funktion, Formate der Geselligkeit zu entwerfen, in denen diese Art von Nichttrivialität sich fast unwillkürlich anbietet, um mit den entsprechenden Situationen fertig zu werden. Bilder an der Wand, Klänge im Kopf, Gesten auf der Bühne, Stimmungen im Gedicht und im Roman, die Erfahrung der Unbestimmtheit im Umgang mit virtuellen Medien unterwandern biografisch eingeübte Transformationsfunktionen eines immer schon sicheren Verstehens und konfrontieren uns mit der Notwendigkeit, unsere schlummernde Zustandsfunktion zu Hilfe zu rufen. Wenn man so will, ist das ebenfalls eine trivial vorhersehbare Reaktion – Kunst irritiert –, aber ihre Resultate sind es nicht.3 Was hat es mit dieser Irritation auf sich? Was gilt es zu irritieren? Wenn man nah an der Funktion der Kunst bleibt, geht es darum, die Anschaulichkeit der Verhältnisse infrage zu stellen,

2 Nachzulesen in Heinz von Foerster, Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 245 ff.; oder auch in ders., Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition, New York: Springer, 2003, S. 309 ff.

3 Siehe auch Benny Shanon und Henri Atlan, Von Foerster’s Theorem on Connectedness and Organization: Semantic Applications, in: New Ideas in Psychology 8, 1 (1990), S. 81–90, hier: S. 87 ff., mit einigen Beispielen zur Bedeutung nicht-trivialer Elemente in Malerei, Architektur und Musik.

NATIONALES PERFORMANCE NETZ N Ä C H S T E

A N T R A G S F R I S T E N

GASTSPIELE THEATER

KOPRODUKTIONEN & GASTSPIELE TANZ

N AT I O N A L

N AT I O N A L & I N T E R N AT I O N A L

31/03/2021

15/04/2021

Informationen zur Antragstellung www.jointadventures.net Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

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theater und moral #6

Stückewettbewerb Tiroler Volksschauspiele 2022 Constanze Manziarly – Hitlers letzte Diätköchin Die Tiroler Volksschauspiele schreiben einen Stückewettbewerb über das kurze Leben der Constanze Manziarly aus. Auf der Basis der Forschungen des Tiroler Historikers Dr. Stefan Dietrich soll ein Einbis Drei-Personen-Stück entstehen, das sich mit den biographischen Fragen von Unschuld, Naivität, Konformismus, apolitischem Pflichtverständnis und „gefangen sein“ entwickelt. Die gebildete junge Frau aus Tirol war keine Nationalsozialistin, aber Hitler so nahe wie kaum ein anderer Mensch. Das Stück soll im Sommer 2022 uraufgeführt werden. Es wird mit 5.000 Euro prämiert. Auch andere Einsendungen sollen berücksichtigt werden, für die es Preise und szenische Lesungen geben wird. Eine Jury aus Dramaturg*innen, Journalist*innen, einem Historiker und dem Intendanten werden die Preise vergeben. Diskretion wird zugesichert. Wir bitten um Zusendungen bis zum 30. November 2021 an: Intendant Prof. Dr. Christoph Nix Tiroler Volksschauspiele Untermarktstraße 5+7, A-6410 Telfs office@volksschauspiele.at. www.volksschauspiele.at

die wir mental geneigt sind, uns zurechtzufingieren. Es geht da­ rum, Unanschaulichkeit zu akzeptieren und zu Schlüssen zu kommen, die der gesunde Menschenverstand sich nicht so schnell träumen lässt. Es geht aber auch darum, diesen gesunden Menschenverstand zu seinem Recht kommen zu lassen, ihm eine Chance zu geben, den Illusionscharakter aller Wirklichkeitsfiktionen zu durchschauen. Wo anders als in den Künsten, im Konzertsaal, im Museum, im Kino und im Theater hätte man die Chance, sich selber im Kontext seiner Mitmenschen daraufhin zu beobachten, wovon man sich und wovon sich alle anderen bewegen lassen? Verführbarkeit und Unerreichbarkeit, Rührung und Distanz lassen sich nie so leicht registrieren wie in Situationen, in denen es auf nichts anderes ankommt als ästhetische, kognitive und emotionale Empfindlichkeit. In den Lehren der Rhetorik denkt man, es käme darauf an, Effekte der Überredung zu durchschauen. In Lehren der Poetik, so könnte man sagen, kommt es nicht zuletzt darauf an, der eigenen Panzer gewahr zu werden, mit denen man sich vor allen Eindrücken schützt, die das eigene Reaktionsvermögen, auch die eigene Vorstellungskraft überfordern. Moral ist ambivalenter, Politik komplexer, Wirtschaft hilf­ reicher, Religion präziser, Erziehung reflektierter, Wissenschaft gewagter, die Massenmedien umsichtiger und jedes Urteil unsicherer, als man es vielfach gerne hätte. Darauf zielt die Irritation. Und nichts ist irritierender, wenn man es denn zulässt, als die ­eigene Fähigkeit, die Irritation an sich abperlen zu lassen. So als sei nichts überflüssiger als die eigene Zustandsfunktion.

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Aber das ist noch nicht alles. Die Künste sind kein Vehikel zur Aufklärung über die Komplexität der Gesellschaft. Die Irritation, die sie auslösen, transportiert kein neues Wissen, sondern nichts anderes, aber das immerhin, als Reflexion. Selbst wenn sich die Künste gegenwärtig häufig die Aufgabe zuschreiben, im Rahmen von Recherchen zu Zuständen der Gesellschaft blinde Flecken auszuleuchten, tun sie dies nicht als Wissenschaft. Erst recht konkurrieren sie nicht mit den Massenmedien. Für die Wissenschaft sind sie zu ästhetisch und für die Massenmedien zu langsam und zu hartnäckig. Die Irritation greift tiefer. Die eigentliche Botschaft der fiktiven Welten der Künste ist das Nein zu jeder realen Wirklichkeit, ein Nein allerdings, das selbst Teil der realen Wirklichkeit ist. Das Bild an der Wand, der Klang im Ohr, die Stimmung auf der Bühne, die Evokationen des Romans und des Gedichts schieben sich vor eine Wirklichkeit, die dahinter verblasst, selber unwirklich wird und nur im Nein ihr gegenüber gehalten wird. Für einen Moment erschüttert jedes Kunstwerk die Verankerung der Betrachter in ihrer Wirklichkeit. Man kann das vertiefen, man kann darüber hinweggehen. So oder so wird erneut eine Zustandsfunktion aufgerufen. Der ästhetisch erzeugte Bruch in der Kontinuität der Wirklichkeit verlangt ein Reset, in dem alle Chancen zu einem Neuanfang stecken, wie minimal auch immer. Das ist die eigentliche Irritation. Dieses Nein ist nicht das Nein des Protests, denn dieser wäre allenfalls ein Köder, der zugunsten eines ganz anderen Neins geschluckt werden muss. Dieses Nein ist das Nein einer Reflexion, die jedes Ja zu welcher Wirklichkeit auch immer einzuklammern erlaubt. Es handelt nur von meinem Bewusstsein. Es hebt mich aus den Angeln der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es ist ein Nein, das selber bejaht wird, mal laut und triumphal, mal leise und vorsichtig. Für einen Moment hat es die Qualität eines Kurzschlusses. Die Transformationsfunktion (der Ableitung einer Wirklichkeit aus einer Wirklichkeit) bricht sich an der Zustandsfunktion (die ihre Zustände erst finden muss). Die Qualität eines Kunstwerks besteht darin, diesen Kurzschluss auszubauen, ihm ein eigenes, möglichst unauffälliges Regelwerk zu unterstellen und so aufzuschieben und passieren zu lassen zugleich. Der Umstand, dass wir so etwas wie die Künste überhaupt haben, zeigt, dass die Gesellschaft mit ihnen rechnet. Sie errechnet aus ihnen und mit ihnen die Möglichkeit und die Notwendigkeit, die Gesellschaft mit sich uneins werden zu lassen. Andernfalls läge sie jenseits jeden Gefühls der Kontrolle. //­

Dirk Baecker wurde 1955 in Karlsruhe geboren und studierte Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris. Er promovierte und habilitierte sich im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld. 1996 hatte Baecker die Reinhard-Mohn-Professur für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozia­len Wandel an der Universität Witten/Herdecke inne und wurde dort im Jahr 2000 anschließend zum Professor für Soziologie sowie Kulturtheorie und Management berufen. Nach zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen erschien zuletzt „Wozu Wirtschaft?“ (2020) im Metropolis Verlag. Foto Jürgen Appelhans


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Illustration: Tanja Ebbecke

Exklusiver Vorabdruck

Frank-M. Raddatz

Das Drama des Anthropozäns


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Auch wenn Theater-Urgott Dionysos einem Hang zur ­Metamorphose nachging und sich vor den Augen der ­Zuschauer in ein Tier verwandelte, operiert die Bühne seit Jahrhunderten mit einem sozialen Kosmos, den fast ausschließlich Angehörige der Gattung Homo sapiens b­ espielen. Heute läuten die ökologischen Kata­ strophen das Ende des Anthropozentrismus ein. Damit stellt das einsetzende planetarische Zeitalter das ­Theater vor v­ öllig neuartige Aufgaben. In Das Drama des Anthropozäns reflektiert Frank-M. Raddatz die tektonischen Verschiebungen, welche das Anthropozän, die erstmalige Kreuzung von Erd- und Menschengeschichte, für die Bühne mit sich bringt, taucht Motive tradierter Stücke in ein fremdes Licht und bahnt künftigen Konzeptualisierungen den Weg. Neben seinem Essay enthält der Band auch ein Gespräch von Frank-M. Raddatz mit Antje Boetius, Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts, und dem Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger.

D

ie Frage, warum ausgerechnet das Theater, das sich gerne als Seismograf preist, als mit unzähligen feinen Antennen ausgestattete, stets auf der Höhe der Zeit agierende Apparatur, mit dem Themenfeld der ökologischen Krise(n) seine Schwierigkeiten hat, ist leicht zu beantworten. Der Kosmos, den die Bühne eröffnet, ist vornehmlich sozialer Natur. Menschen geraten in – wodurch auch immer bedingten – Konflikten aneinander und verkörpern zugleich die mitunter tragische oder zwiespältige, jedenfalls zumeist nicht für alle Beteiligten gleichermaßen glückliche Lösung des Problems. Genau diese anthropozentrische Lesart der Welt steht in der Ära des Anthropozäns zur ­Disposition. Das Argument ist von einem stofflichen Ansatz zu unterscheiden, wie ihn etwa der Theaterregisseur Tobias Rausch vorbringt, der bezweifelt, dass sich „Naturphänomene wie zum Beispiel das Artensterben oder Fluten, Dürren und Stürme zum bühnentauglichen Stoff machen“ (2019) lassen. Dem widerspricht, dass komplexe Geschehen wie Kriege seit Jahrtausenden von Aischylos, über Christoper Marlowe bis zu Heinrich von Kleist oder Bertolt Brecht dem Theaterspiel als Sauerteig dienen, ohne dass sich ein derartiger Inhalt abnutzt. Zudem ­besaß das antike Theater durchaus, wie das Tragödienmodell

König Ödipus zeigt, die Möglichkeit, Erdbeben oder Pestaus­ brüche auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, mithin zu subjektivieren. Zwar sind auch heute, wie der Name des an­ brechenden Zeitalters besagt, die Verursacher des Anthropozäns in den Reihen der Hominiden zu suchen. Doch existiert momentan noch keine überzeugende theatrale Grammatik, die in ­Be­wegung geratenen planetarischen Parameter – wie die Erd­ erwärmung, den anhaltenden Verlust von Biodiversität, die schmelzenden Polkappen – in dramatische Kontexte zurück­ zubinden und als Folge von Handlungen bestimmter Figurengruppen darzustellen beziehungsweise in einzelnen psychischen Segmenten der Conditio humana festzumachen. Tektonische Verschiebungen auf dem Kontinent des Wissens bedingen, dass sich im Moment kaum ein Bogen von Euripides’ Tragödien, Shakespeares Königsdramen, den Trauerspielen des 18. Jahr­ hunderts, dem bürgerlichen und sozialistischen Realismus oder dem Epischen Theater zu dem sich verdunkelnden Zeithorizont schlagen lässt, an dem Mächte ihre Regentschaft ankündigen, die vom über zehntausend Jahre herrschenden holozänen Klimaregime aus betrachtet vollkommen unberechenbar erscheinen. Wie Ödipus ist James Watt, als er 1783 das Rätsel der Optimierung der Dampfmaschine löste und das Tor zum Industriezeit­ alter mit seinem unersättlichen Hunger nach Kohle und fossilen Energieträgern aufstieß, vollkommen unschuldig dem Schicksal auf den Leim gegangen. Wie die antike Tragödie wird auch das Anthropozän von einer „Dramaturgie der Blindheit“ (Foucault 2020: 45) orchestriert. Als eine keineswegs intendierte Folge löst die schottische Erfindung eine katastrophale Entwicklung aus, sodass aufgrund dieses von Aristoteles’ Tragödientheorie hamartia genannten Fehlers die gesamte menschliche Spezies wenige Generationen später irreversibel aus dem holozänen Zeitfenster gestoßen wird.


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Aber man muss nicht auf die Antike rekurrieren, um hybride, 17. Jahrhundert, seit den Analysen von Astronomen und Physikern wie zum Beispiel Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, aus Mensch und Geologie zusammengesetzte Konstruktionen, Galileo Galilei, längst nicht mehr die Basis des Weltverständauf der Bühne zu entdecken. So findet sich in der neuzeitlichen Dramatik an äußerst prominenter Stelle platziert eine anthronisses ist. Bereits 1931 konstatierte Brecht das Ende des Abbilpogen induzierte Naturkatastrophe. Ein Sturm bespielt das dungsrealismus: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der ­erste Bild von William Shakespeares gleichnamigem Drama. AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute“ (Brecht 1967: Auch wenn Klaus Theweleit darauf hinweist, dass The Tempest 161). Dessen Renaissance resultiert aus dem Umstand, dass das jeder „Glaube an die ErfaßbarProjekt Geschichte im 20. Jahrkeit […] durch lückenlose Datenhundert an den Sandbänken eierhebung“ (Theweleit 2020: ner breiten oder unendlichen 195 f.) abgeht, glaubt Rausch, Gegenwart strandete, die aber dass die in Bewegung gerateerweist sich mit dem Anthroponen ökologischen Parameter zän als Phase eines histori„ein viel zu abstrakter, nur schen Übergangs. […] Zeigt sich das Anthropoüber statistische Häufungen und naturwissenschaftliche Verzän den Theatertieren als Black Box, resultiert dieser Umstand mittlungen zu beschreibender Gegenstand [seien], um ihn szeaus der Tatsache, dass nicht lännisch anschaulich zu erzählen“. ger wie im herkömmlichen DraJede kompetente Beschreibung ma der Mensch dem Menschen handelnd Grenzen setzt. Vieleiner alarmierenden Entwicklung stellt auf der Bühne nichts mehr bekommt es diese Primaanderes als einen Botenbericht tenart im Anthropozän mit einem Amalgam aus geologischen dar, ganz gleich, ob er von den Frank-M. Raddatz Kräften und einer Entfaltung der Schlachtfeldern der Geschichte Das Drama des Anthropozäns in der Wissenschaftsgeschichte oder aus der Welt der WissenHardcover mit 134 Seiten gespeicherten Potenzen zu tun. schaft stammt. Allerdings verISBN 978-3-95749-340-8 zeichnen die Bühnen gegenwärIm seit mehr als 11 000 Jahren EUR 15,00 (print) / 11,99 (digital) andauernden holozänen Klimatig nicht einmal ein vermehrtes Aufkommen von szientifisch regime waren die Rahmen­ bedingungen stabil, konnten grundierten Kassandra-Figuren. Ebenso wenig kann Rauschs Besich Hochkulturen und Zivilifund: „Eigentlich fehlt alles, was in Begriffen des Theaters als sationen entwickeln, Aufschreibesysteme und Wissenschaften ‚Vorgang‘, ‚Konflikt‘ oder ‚Zuspitzung‘ zu beschreiben wäre“ entworfen werden. Heute tritt eine anthropogen getriggerte angesichts der theatergeschichtlichen wie der empirischen ­ Natur ihre Herrschaft an. In immer kürzeren Abständen muss ­Faktenlage zugestimmt werden. Wenn auch (noch) nicht auf der die im Global Village ansässige digitale Moderne erfahren, dass Theaterbühne, geraten die politischen Akteure doch nahezu tagihre Immanenz von einem naturwissenschaftlich verifizier­ baren Außen perforiert wird, welches nach Ansicht der Theoretäglich bei der Debatte aneinander, wie ökologische Zielsetzungen mit ökonomischen Interessen korreliert werden sollen oder tiker der Postmoderne, die bis vor Kurzen das Sagen hatten, können. Dass diese Konfrontationen über kurz oder lang an nicht einmal existiert. Epistemologisch können die Präsenzen Schärfe zunehmen dürften, scheint absehbar. […] der in Bewegung geratenen Sphären kaum mehr als Objekte Mag sich momentan auf der Ebene des Erscheinungsgefasst werden. Vielmehr haben sie den Status eines Aktanten bilds noch nicht allzu viel geändert haben und lässt sich ein oder Quasi-Subjekts inne. Wie diese bislang unbekannte Art geschmolzenes Stück Arktis wohl kartieren, aber nicht betrachvon Protagonisten in Szene zu setzen ist, gibt der Bühne ten, so handelt es sich überdies bei den anthropozänen Pro­ ­momentan Rätsel auf. […] Für die (Theater-)Kunst, die nicht ist, blemstellungen mitnichten um Fragen sinnlicher Evidenz. wenn sie sich nicht – in welchem Kontext auch immer – mit der Diese Schwachstelle jedes Dokumentartheaters basiert auf ­ Realität ihrer Gegenwart konfrontiert, geht es in d ­ iesem Fall ums Ganze. // der unumstößlichen Tatsache, dass der Augenschein seit dem


Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Feminismus ohne schwere Theorie Das Berliner Duo cmd+c durchleuchtet mit den Mitteln der „Transkunst“ Themen wie Machtmissbrauch im Theater

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019 sprüht eine unbekannte Person auf eine Mauer der Garnisonkirche in Potsdam ein Graffiti, auf dem eine Frau die Sterne der EU verwischt. Kurz darauf wird die Performerin ­Paula Knüpling wegen „Hausfriedensbruch“ und „Zerstörung öffentlichen Eigentums“ verhaftet. Eine wahre Geschichte? Für das Berliner Künstlerinnenduo cmd+c jedenfalls ist sie eine perfekte Vorlage, um daraus einen Theaterabend zu entwerfen, der schließlich als eine Art Lecture Performance unter dem Titel „Single Lives As Single Wants“ an der Berliner Schaubude zu sehen war. „Man kann die Kunst nicht von der Künstlerin trennen“, sagt Paula Knüpling mit Überzeugung. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Marina Prados bildet sie die Theaterkompanie cmd+c, welche nach Grenzen von Fiktion und Realität, nach persönlichen Erfahrungen und Le­bens­ utopien sucht. Das junge Künstlerinnenpaar lernte sich 2016 im Jugendtheater der Berliner Volksbühne P14 kennen. Der Funke sprang schnell über – im Privaten wie auch in Bezug auf das gemeinsame Verständnis von Kunst. Knüpling wurde 1995 in Berlin geboren und war bislang als Schauspielerin an der Volksbühne zu erleben (unter anderem in „Die 120 Tage von Sodom“ in der Regie von Johann Kresnik sowie bei P14). 2019 debütierte sie mit einer Hauptrolle im Spielfilm „Heute oder morgen“ (Regie Thomas Moritz Helm). Prados wurde 1994 in Barcelona geboren und studierte dort Schauspiel an der Escola Superior d’Art Dramàtic. Als Schauspielerin war sie neben ihrer Tätigkeit bei P14 unter anderem in der Produktion „Queerious – Die Geburt des Vulkans“ (Regie Moritz Sauer) am Studio – des Berliner Maxim Gorki Theaters zu sehen. „Wir glauben nicht an das Genie, das ein Kunstwerk schafft. Der kollektive Arbeitsprozess ist mindestens genauso wichtig wie das Ergebnis selbst“, sagt Knüpling. Aus dem Bedürfnis heraus, abseits von etablierten Theaterstrukturen und

Vorgaben eigene Geschichten zu erzählen, gründeten die beiden 2017 schließlich die Kompanie cmd+c. Unter diesem Label konzipieren sie ihre Projekte, inszenieren und schreiben Texte. Ihre erste gemeinsam verantwortete Theaterarbeit war das ­Ex­periment „Here“ (2018), das sich mit Raum-Zeit-Dimensionen auseinandersetzte. Das Stück wurde in den Städten Berlin und Barcelona von zwei Ensembles zeitgleich geprobt und aufgeführt. Im Zentrum stand der Versuch, die ­Distanz technisch zu überwinden. Ihr Vorgehen lässt sich als „Transart“ bezeichnen. Medien und Theaterstile werden gemixt und gesampelt, je nachdem, welche Mittel die Geschichte verlangt. Das Themenspektrum der Kompanie reicht von sozialkritischen Fragen bis zu feministischem Aufbegehren. Was Prados und Knüpling am meisten fasziniert, ist die Lust am Scheitern und an der Neukonstruktion. 2020 sollte die Inszenierung „Family of the Year“ am Ballhaus Ost in Berlin uraufgeführt werden. Aufgrund der Corona-Pan­ demie wandelte das Kollektiv die Produktion in einen eindrucksvollen ­ Film, der sich mit queeren Familienformen auseinandersetzt. Im Stil einer Mockumentary (fiktionaler Dokumen­ tarfilm) wird die Selbstverständlichkeit queerer Figuren etabliert. Mit poetischer Bildsprache und träumerischer Langsamkeit ­erzählt „Family of the Year“ die Geschichte von Friederike, die verschwunden ist und ihrer Familie nur einen Zettel hinterlassen hat. Im Moment arbeiten Prados und Knüpling an der Produktion „Ladybitch“. Diesmal geht es um Missbrauch in der Theater- und Filmindustrie und die sexualisierte Darstellung des weiblichen Körpers. „Wir versuchen eine Geschichte über Missbrauch und Konsens zu schreiben und fragen: Wie kann uns das Gespräch darüber stärken und heilen?“, so Prados. Für die Produktion kommen Menschen aus der Sexarbeit und dem Theater zusammen. Eine Inszenierung, die sich einem feministischen Thema annähert und nach dem Persönlichen sucht, ohne sich einer schweren Theorie hingeben zu müssen. // cmd+c (Marina Prados (l.) und Paula Knüpling). Foto Lilli Emilia

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Paula Perschke


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Look Out

Virtuelle Komplizenschaften Das Bochumer Kollektiv Anna Kpok befragt die Welt mittels digitaler Verfremdung

er Lockdown macht gezwungenermaßen erfinderisch. Wenn wir schon nicht in einem Saal zusammenkommen können, dann müssen andere Wege beschritten werden, um ein Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen. Einen faszinierenden Weg, das zu erreichen, hat das freie Theaterkollektiv Anna Kpok mit der Online-Gaming-Performance „Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit“ gefunden. Entstanden im ersten Lockdown im Frühjahr 2020, ermöglicht dieses zuletzt über die Schaubude Berlin präsentierte Text-Adventure sechs Spielerinnen und Spielern, die sich in einer ZoomKonferenz treffen, die Detektivin Anna Kpok auf ihrem Weg durch ein weitgehend verlassenes Mülheim an der Ruhr zu navigieren. Die sechs Teil­ neh­ merinnen, die jeweils in Zweierkonstellationen gemeinsam spielen, tauchen mittels der Texte, die auf ihren Bildschirmen erscheinen und zugleich von einer Frauenstimme vorgetragen werden, in eine surreale Welt ein, die ebenso an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ wie an klassische Science-Fiction-­ Storys erinnert. Wie bei den in den 1980ern populären inter­ aktiven „Spielbüchern“ müssen die Spielerinnen und Spieler bei „Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit“ entscheiden, welchen Weg sie für ihre Heldin wählen. Jede Entscheidung fächert die Geschichte weiter auf und beleuchtet einen weiteren Ausschnitt des Spielkosmos, den man doch nie ganz erkunden kann. Da immer zwei Personen gemeinsam entscheiden müssen, entwickelt das Spiel noch eine weitere Dimension. Es entsteht ein Austausch zwischen meist Fremden, die sich für die Performance im digitalen Raum treffen. Das ist ein zentraler Aspekt nahezu aller Arbeiten des Performancekollektivs, das

Ein Teil der Performancegruppe Anna Kpok. Foto Heike Kandalowski

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sich 2009 im Umfeld der Bochumer Ruhr-Universität konsti­ tuiert hat. Anna Kpok führt Menschen zusammen – vor der ­Pandemie in (Theater-)Räumen, für die die „Annas“, wie sich die wechselnden Mitglieder des Kollektivs selbst nennen, ortsspezifische Gaming-Performances entwickeln, und jetzt im Internet. Klaas Werner, eines der Gründungsmitglieder der ­ Gruppe, beschreibt das so: „Unsere Arbeiten sind Angebote, und diese ­ Angebote beinhalten Begegnungen, Interaktionen und natürlich auch die reine Rezeption.“ Man kann bei einer Performance wie „Shell Game – Lost in Paranoialand“, die im Herbst 2020 in Mülheim an der Ruhr uraufgeführt wurde, einfach nur in die Welt eintauchen, die das Kollektiv erschaffen hat. Der lie­ bevoll ausgestattete große Saal des Ring­lok­schup­ pens hatte sich in eine ­extraterrestrische Landschaft wie aus einem ­S cience-Fiction-B-Movie der 1950er Jahre verwandelt. Die Bühne war ein seltsamer Planet, den es zu erkunden galt. Aber erst im Dialog und im Zusammenspiel mit den anderen Zuschauern offenbarte sich die ganze Dimension dieser inter­ aktiven Performance. Wie ihr Untertitel schon andeutete, spielte „Shell Game“ mit Ängsten, die wir alle in uns tragen. Ängste, die in einer Gruppe schnell Fuß fassen, aber letztlich nur ­gemeinsam überwunden werden können. Die Anspielungen und Verweise auf spekulative Fiktionen wie die Kurzgeschichte von Philip K. Dick, auf der „Shell Game“ basiert, sind dabei nie Selbstzweck. „Diese Arten von Utopien oder auch Dystopien ermöglichen uns, auf unsere Gesellschaft durch die Brille der Erfindung einer ganz anderen Gesellschaft zu schauen“, sagt Klaas Werner und umreißt damit zugleich den zentralen Punkt der „digitalen Dramaturgie“, an der Anna Kpok arbeitet. Erst das Andere und Fremde ermöglicht es uns, die Welt, in der wir leben, wirklich zu durchschauen. // Sascha Westphal

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„Bodentiefe Fenster“ nach Anke Stelling in der Regie von Georg Scharegg am Berliner Theaterdiscounter Foto Fabian Raabe

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Auftritt Augsburg „Oleanna – ein Machtspiel“ von David Mamet  Berlin „Bodentiefe Fenster“ nach dem Roman von Anke Stelling / „Brigitte Reimann besteigt den Mont Ventoux! – Der Film“ von Marlene Kolatschny und Jan Koslowski

Bochum „Die Befristeten“ von Elias Canetti  Greifswald „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ von Rolf Kasteleiner  München „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“ von Lothar Kittstein / „Flüstern in ­stehenden Zügen“ von Clemens J. Setz  St. Gallen „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz  Wuppertal „Café Populaire” von Nora Abdel-Maksoud


auftritt

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AUGSBURG

Zeuge im virtuellen Raum hautnah miterlebt. „Oleanna“ ist bereits 1992 entstanden. Im Zuge der #MeToo-Bewegung haben die The-

Der unsichtbare Dritte

ater das Stück wiederentdeckt. Den Titel hat sich Mamet vom Nor­weger Ole Bull ausgeliehen, der im 19. Jahrhundert eine Siedlung

STAATSTHEATER AUGSBURG: „Oleanna – ein Machtspiel“ von David Mamet Regie Axel Sichrovsky Ausstattung Jan Steigert

gründete, um ein neues Ideal gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Geschlechter zu verwirklichen. Bull taufte den Ort nach sich und seiner Frau: „Ole-Anna“. In Mamets Stück sind die Verhältnisse klug ausbalanciert. Einfache Parteiname ist unmöglich. Anfangs scheint es klar:

Corona hat unseren Wortschatz erheblich er-

Johns Auftreten ist sexistisch. Später aber

weitert. Begriffe, die vor einem Jahr noch

bezichtigt Carol ihn schuldlos der sexuellen

weitgehend unbekannt waren, gehören heute

Belästigung, schließlich sogar der Vergewal­

zum Alltagsvokabular. Für Kritiker ist ein ganz

tigung. Dem VR-Brillen-Beobachter kommt

spezielles Wort dazugekommen: „Rezen­

die Rolle des unsichtbaren Dritten zu, der

sionsbrille“. Selbige liefert der Paketdienst

die Wahrheit bezeugen könnte – wenn es

nach Hause, zu Transportzwecken im Karton­

ihn denn auch im echten Leben in solchen

inneren gebettet in zerknülltes Weihnachts-

Fällen gäbe. Aber was wäre überhaupt die

geschenkpapier. Die in solchen Fällen ge-

Wahrheit? Dass John freizusprechen ist von

bräuchliche Blasenfolie hatte Tina Lorenz

Vergewaltigungsvorwürfen? Natürlich! Dass

offenbar nicht vorrätig. Lorenz ist Projekt­

Carol folglich der Verleumdung zu bezich­

leiterin für digitale Entwicklung am Staats-

tigen wäre? Keineswegs! Zwar lügt sie.

theater Augsburg und derzeit im Homeoffice.

Ebenso offenkundig aber spricht sie dabei

Von dort hat sie ein Presseexemplar des

die Wahrheit aus: über die Ohnmacht, die

­neuesten Home-Entertainment-Angebots ­ihres

sie in einem patriarchalisch geprägten Sys-

Arbeitgebers losgeschickt: eine VR-Brille,

tem alltäglich erfährt.

Um die Wahrheit geht es in David Mamets „Oleanna“ am Staatstheater Augsburg – ­allerdings nicht nach geltendem Recht, sondern nach den Gesetzen der Kunst, hier mit Andrej Kaminsky und Katja Sieder. Foto Heimspiel GmbH

die mit einer Filmfassung von David Mamets

Axel Sichrovsky hat „Olenna“ bereits

„Oleanna“ bespielt ist, inszeniert von Axel

vor zwei Jahren auf die Augsburger Bühne ge-

delt. So stellt sich hier nicht mehr die konkre-

Sichrovsky.

bracht. Der Mehrwert seiner VR-Brillen-Adap-

te Frage, ob der Vergewaltigungsvorwurf in

Die Handhabung ist simpel: Auf­

tion erschöpft sich erfreulicherweise nicht in

diesem speziellen Fall gerechtfertigt ist oder

setzen, einschalten und eintauchen in die

technischer Spielerei. Der Regisseur gibt sich

nicht. Die Anklage ist eher metaphorisch zu

virtuelle Realität. Da steht man dann –

nicht damit zufrieden, einfach nur eine mög-

begreifen und mutiert zur Aufforderung, all-

scheinbar – mitten in einer alten Bibliothek,

lichst „echte“ Seherfahrung zu stiften. Nach

gemeiner und neu über Gender-Verhältnisse

und wer sich nun an seinem realen Standort

dem hyperrealistischen Beginn in der Biblio-

nachzudenken. Dabei müssen beide Ge-

einmal um sich selbst dreht, sieht nicht das

thek wird der Kampf gegen die herkömmliche

schlechter Federn lassen, wenn etwa die De-

eigene heimische Mobiliar, sondern im

Hackordnung unter den Geschlechtern später

batte um eine (hier: feministisch motivierte)

360-Grad-Rundumblick Wände voller Bücher­

auf einem Hühnerhof ausgetragen. Im virtuel-

Cancel Culture anklingt. Dass Carol die Johns

regale. Man meint, den Geruch alter Wälzer

len Rundumblick erscheinen neben John und

dieser Welt, die sprichwörtlichen alten wei-

wahr­zunehmen, spürt die erdrückende Last

Carol Hennen, die nach Körnern picken, so-

ßen Männer, generell mundtot machen möch-

geballten Wissens. Die Studentin Carol fühlt

wie die Souffleuse, die verkleidet in ein Moor-

te, scheint jedenfalls auch kein Gewinn für

sich dieser Last ausgeliefert, weshalb sie

huhn-Kostüm auf einem Campingstuhl Platz

ihre Sache.

den Kontakt zu ihrem Professor sucht. Mit

genommen hat: ein betont bizarres Szenario.

Beim Abnehmen der Brille schwirrt ei-

trotzigem Willen zur Selbstbehauptung be-

Interessanterweise schadet das der Auseinan-

nem der Kopf angesichts der Fülle aufgewor-

richtet Katja Sieder als Carol von der Über-

dersetzung mit den wirklichkeitsnahen Fra-

fener Fragen – und auch, weil die virtuellen

forderung mit dem Lehrstoff. John, der Pro-

gen des Stücks nicht im Geringsten. Im Ge-

360-Grad-Bilder dem Hirn Streiche spielen,

fessor, zeigt Verständnis, bietet seine Hilfe

genteil: Das Surreale der Situation, in die

die Schwindelgefühle auslösen. Eine in jeder

an, gern auch im Einzelunterricht. Bei An-

Sichrovsky die Handlung verlegt hat, erlaubt

Hinsicht bewegende Inszenierung. Und ein

drej Kaminsky hat dieses Angebot nichts

sogar eine breitere Beschäftigung. Juristisch

echtes Geschenk, auch ohne Weihnachtsein-

Schmieriges, und doch steckt im gut-väterli-

betrachtet sind Carols Bezichtigungen frag-

wickelpapier als Pufferung im Päckchen. //

chen Auftreten eine unüberseh­bare Portion

würdig. In einem Setting aber, das der Eins-

Paternalismus, die Herablassung des alten

zu-eins-Abbildung von Realität enthobenen

Mannes gegenüber der jungen Frau. Klassi-

ist, wird nicht nach geltendem Recht, son-

sches Mansplaining, das man als stummer

dern nach den Gesetzen der Kunst verhan-

Christoph Leibold

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auftritt

/ TdZ März 2021  /

Zigaretten, Marke Ost, und Butter, Marke Leben – In Jan Koslowskis Brigitte-ReimannInszenierung am Ballhaus Ost findet DDRGeschichte vor allem als Zeichenarsenal Verwendung. Foto Amelie Amei Kahn-Ackermann

Weit weniger abstrakt stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten des Zusammen­ lebens in einer Produktion des Theaterdiscounters, der neuerdings unter dem Kürzel TD firmiert – ein Schelm, wer an die Kurzform des Deutschen Theaters denkt. Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“, der nach seinem Erscheinen 2015 für Aufsehen gesorgt hat, wird hier zum Stoff für das Digitaltheater. Die Protagonistin Sandra scheitert daran, dem kleinbürgerlichen Elend zu ent­ fliehen. Ein Wohnprojekt in Prenzlauer Berg sollte für die Kinder der 68er die Rettung sein, doch dann kommt die Realität, die Rückfall

BERLIN Von Provinz zu Provence THEATERDISCOUNTER: „Bodentiefe Fenster“ nach dem Roman von Anke Stelling Regie Georg Scharegg Video Phillip Hohenwarter Kostüme Silvia Albarella

Literatur darauf wartet, geschrieben zu wer-

ins Spießertum, fordernde Mutterschaft und

den. Arbeit also. Ob es einfacher dadurch

Verschärfung zwischenmenschlicher Konflikte

wird, dass sie Francesco Petrarca zurate zieht,

heißt. So jedenfalls bei Stelling.

dem all das schon einmal müheloser gelungen

In

Georg

Schareggs

Inszenierung

ist, bleibt fraglich. Hier wird weniger gehandelt

bleibt nicht viel übrig von diesem durchaus

und mehr gedacht. Reimann-Versatzstücke

theatralen Stoff. Statt das Scheitern an den

werden mit allerhand Kalauern versehen.

Idealen zu explizieren, werden nur Karikatu-

Koslowski, der gemeinsam mit Marlene

ren der Gescheiterten gezeigt. Dreißig Minu-

Kolatschny auch den Text mit dem program-

ten rauscht Sandra, von zwei Spielerinnen

matischen Titel „Brigitte Reimann besteigt

und einem Spieler verkörpert, als zerrissene

den Mont Ventoux! – Der Film“ verfasst hat,

Figur – durchschaut! – über den Bildschirm.

gehört zur Generation der sogenannten Wende-

Tatsächlich ist man von der kleinbürger­

kinder. 1987 in Rostock geboren, verleugnet

lichen Ödnis ziemlich genervt. Danach

er ein ostdeutsches kulturelles Erbe nicht,

geht’s auf ins Plenum. Auch im Roman als

sondern nutzt es als Material. Dennoch stellt

erzählerischer Knackpunkt angelegt, treten

sich der Eindruck ein, dass östliche Geschichte

in der Versammlung der Hausbewohner mal

hier vor allem als Zeichenarsenal Verwendung

mehr, mal weniger offen die Auseinander­

findet. Die Zigarettenpäckchen schmückt der

setzungen zutage. Scharegg zeigt fünf Figu-

Aufdruck Ost. Aber könnte da nicht noch mehr

ren, die ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

sein? Wo liegen die gesellschaftlichen Voraus-

Das Publikum kann sich mittels Live-Chat in

setzungen für das Versuchen, Scheitern, Mühen

die Diskussion einbringen, wovon am Premi-

in Reimanns Biografie? Die Antworten sind in

erenabend rege Gebrauch gemacht wird und

In der Berliner freien Szene werden die gro-

dem Filmstück nicht zu finden – oder nur

was durchaus als Mehrwert eines solchen

ßen Fragen mittels Stream in die Wohnzim-

schwer zu dechiffrieren.

digitalen Formats verstanden werden kann. ­

BALLHAUS OST: „Brigitte Reimann besteigt den Mont Ventoux! – Der Film“ von Marlene Kolatschny und Jan Koslowski Regie Jan Koslowski Bühne Marilena Büld Kostüme Svenja Gassen

mer der Zuschauer projiziert. Wie funktioniert

Technisch eindrucksvoll hat das Team

Hinter den Online-Pseudonymen Susi Sorglos

das: lieben, leben, arbeiten? Und wie wollen

um Koslowski einen siebzigminütigen Film,

und MC Corona stecken unterhaltsame Que-

wir – zusammen – leben? Regisseur Jan

produziert am Ballhaus Ost, zustande ge-

rulanten, die den Basisdemokratiespielereien

Koslowski versucht ein Abschreiten dieser

bracht, der mit Theater so viel nicht mehr zu

Erwachsener den Spiegel vorzeigen und auf

Fragen mit Brigitte Reimann. Die große DDR-

tun hat. Stimmungen erzeugt der Regisseur

die die Schauspieler gekonnt spontan reagie-

Chronistin, die mit ihrem Tage­ buchopus

zielsicher. Auch der Humor kommt nicht zu

ren. Hier gewinnt die Inszenierung eine zu-

­Walter Kempowski durchaus ebenbürtig ist,

kurz. Aber die Verstiegenheit, das Verstecken

mindest humoristische Qualität, leider jedoch

wird selbst zur Figur und kommt von der ost-

in der Zeichenschmiede, birgt immer die Ge-

nicht an Tiefe. Anschließend freut man sich

deutschen Provinz in die südfranzösische

fahr des Ästhetizismus, was angesichts der

doch, sich wieder dem eigenen spießigen

Provence. Dort steht der Mont Ventoux und

spannungsreichen, auch für die Gegenwart

­Leben zuwenden zu können. //

wartet darauf, erklommen zu werden, so wie

ergiebigen Vorlage schade ist.

Erik Zielke


auftritt

/ TdZ  März 2021  /

BOCHUM Bye-bye Life SCHAUSPIELHAUS BOCHUM: „Die Befristeten“ von Elias Canetti Regie Johan Simons Kostüme Britta Brodda und Sofia Dorazio Brockhausen

Gut 300 Personen dürfen sich in den Livestream des Schauspielhauses Bochum ein­wählen; die Vorstellung gilt dann als „ausverkauft“. Im Frühsommer, nach dem ersten Lockdown, wurde Johan Simons’ Elias-CanettiInszenierung „Die Befristeten“ bereits vor 50 maskierten Präsenz-Zuschauern gespielt, die sich nicht mit Zwei-, sondern eher mit

Abends. „Wir haben keine Angst, denn wir wis-

20-Meter-Abständen im Schauspielhaus ver­

sen, was uns bevorsteht“, tönen die Türsteher

loren und einander wehmütig zuwinkten. In

im Chor – und keiner glaubt’s, schon klar. Denn

Canettis dramatischem Gedankenspiel aus

das Faktum des Todes ist ja durch die Definition

den Fünfzigern geht es ums Sterben, genauer

seines jeweiligen Zeitpunkts nicht aufgehoben;

um die Frage, was wäre, wenn jeder Sterb­liche

darauf weist Canetti, der unermüdliche Protes-

die Stunde seines Todes bereits amtlich ver-

tant gegen eben dieses factum brutum, mit ei-

brieft hätte und sogar im Namen trüge: „Fünf-

ner ganzen Batterie von Zaunspfählen hin.

Der diktatorische „Kapselan“ überwacht die Einhaltung der Regeln – Johan Simons’ Bochumer Elias-Canetti-Inszenierung „Die Befristeten“, hier mit Jing Xiang (links) und Marius Huth. Foto Birgit Hupfeld

Es gibt natürlich einen Ausreißer, Zweifler

zig“, „Achtundachtzig“, „Zehn“, das Alter, das

Ein „Kapselan“, gewissermaßen der

und Rebellen: Das ist „Fünfzig“, gespielt von

jede und jeder erreicht, steht ihm und ihr so-

Hohepriester der Gemeinde, von dem man

Stefan Hunstein. Mag man ihm auch entge-

zusagen auf der Stirn, zusätzlich befindet es

nicht recht weiß, ob es sich um die gesamte

genhalten, fünfzig sichere Jahre seien doch

sich verschweißt in einer Kapsel, die man bei

Menschheit handelt, wacht über die Einhal-

mehr wert als eine größere Zahl von unsiche-

sich führt und auf keinen Fall verlieren darf.

tung der Regeln und ergreift gegebenenfalls

ren, Fünfzig hat trotzdem Angst vor dem Tod

Die Thematik des Stücks passt wie der

Maßnahmen zur Disziplinierung. Alle tragen

(sein aktuelles Alter erfährt man nicht) und

Deckel auf den Topf der Pandemie, und doch

übrigens Rot, als handelte es sich doch eher

stellt eine Reihe von berechtigten Fragen, die

ist Canettis Text eher bizarr als triftig zu nennen

um eine Sekte (wie einst „Bhagwan“). Den

sich auch jeder Leser des Textes stellt, ohne auf

und wirkt ein wenig angestaubt, so sehr

als Einziger fantastisch gewandeten Kapselan

eine Antwort hoffen zu dürfen. Könnte sich der

Simons’ Regie sich auch bemüht, etwa durch

spielt Jing Xiang mit Gesangseinlagen und

Kapselan irren? Kann man den „Augenblick“

Cross-Gender-Besetzungen zeitgemäße Akzente

einer schönen Mischung aus Pathos und Iro-

überleben? Handelt es sich um ein ­Naturgesetz

zu setzen. Die einzuhaltenden Sicherheits­

nie. Ansonsten hält Simons sich treu an die

oder lediglich um eine Amts­vorschrift?

abstände werden anhand von Auftritten durch

Vorlage, die er mit all ihren Abstrusitäten bit-

die Saaltüren zum prägenden Stilmittel des

terernst zu nehmen scheint.

Doch der Rebell ist isoliert und wird schließlich in die Knie gezwungen. Als er am

Ellend/Liebl (Schauplatz International)

C   HALET UTAH Welcome to scape goat’s cave Live Streaming 5.–13.3.2021 www.schlachthaus.ch | Rathausgasse 20/22 | 3011 Bern

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auftritt

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Ende zwei Kapseln knackt und feststellt, dass sie leer sind, dass alles Bluff war, dass es aber gleichwohl „kein Ende“ gibt, wie es am Ende heißt – da ist man denn doch so schlau als wie zuvor. Befristet oder nicht, an den Grundtatsachen der menschlichen Existenz ist vorläufig nicht zu rütteln, und die ethischen Probleme, die sich etwa in der aktuellen Situation stellen (Stichwort Triage), sind komplexer als die von Canetti aufgeworfenen. Die Streaming-Version des Abends hat immerhin den Vorzug, dank einer flexiblen (Hand-)Kameraführung eine intime Nähe zum Geschehen, zur Gestik und Mimik der Spieler und Spielerinnen zu ermöglichen. Elsie de Brauw („der Freund“) mit ihrer feinen Nachdenklichkeit oder der jungen Anne Rietmeijer (in verschiedenen Rollen) mit ihrem natürlichen Charme sieht man gern zu. Dennoch bleibt das schale Gefühl, wenn man den Computer ausschaltet: Nein, das ist nicht das

konzipierten App entwickelt. Toto.io heißt

Theater, nach dem man sich gesehnt hat;

diese Schöpfung des Berliner Gamedesigners

nicht in technischer Hinsicht, nicht in ästhe-

Markus Schubert, die bereits von Gruppen

tischer, und nicht einmal in inhaltlicher. //

wie Prinzip Gonzo und Invisible Playground

Martin Krumbholz

genutzt wurde.

Big Brother is watching you – Rolf Kastelei­ ners Game-Theater „Costumerzombification” (hier mit Christiane Waak) aus Greifswald spielt in einem Überwachungssystem des Jahres 2030. Foto Peter van Heesen

Man lädt die App herunter, registriert sich und erhält per QR-Code Zugang zum

GREIFSWALD Wo ist Alice? THEATER VORPOMMERN / BORGTHEATER: „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ von Rolf Kasteleiner Regie Rolf Kasteleiner Gamedesign Rolf Kasteleiner und Markus Schubert Visual Content Daniel Müller

Spiel, das in diverse Räume und Spielniveaus

Klar war also: Die Zukunft ist düster, alles

gegliedert ist. Dem analogen Theaterbesuch

wird kontrolliert und auch zentral gesteuert.

angepasst, gibt es Situationen vor dem Haus,

Aber die Schlauen sitzen im Theater bezie-

im Foyer und schließlich im Zuschauersaal.

hungsweise vor ihren Handys und können zu-

Die digitale Ästhetik dieser Räume ließ sich

mindest einige individuelle Korrekturen vor-

beim Selbstversuch leider nicht erfahren: In-

nehmen. Boah!

folge eines Systemfehlers kam der Link zum

Ein solide gebautes Herrschaftssystem

You­tube-Stream, den man auf einem Zweitge-

hätte wahrscheinlich auch eine Subroutine

rät parallel verfolgen sollte, nicht an. Warum

entwickelt, die Dissidenten aufspürt und sie

Kasteleiner nicht die in Toto.io vorgesehenen

zur Verbesserung des Systems einsetzt. Im

Schnittstellen für Audio- und Videozuspiele

aktuellen Kapitalismus klappt das prächtig:

nutzt, sondern auf Youtube und ein zusätzli-

siehe Hacker, die als Silicon-Valley-Millionäre

ches Gerät ausweicht, ist verwunderlich.

oder Underground-Heroen von der Main­

Die nun folgende Kritik hat wegen des

streamkultur aufgesogen werden. Ganz so

fehlenden Links zum Streamkanal foren­

zentral, mit nur einem einzigen Hauptspei-

sische Züge. Anhand des Equipments der

cher, wie es „Customerzombification“ sugge-

Theater ist aufs Smartphone gewandert. Das

Thea­tergruppe lässt sich schlussfolgern, dass

riert, wäre das böse System 2030 wahr-

kann in Pandemiezeiten eine hübsche Not­

sich Schauspielerin Christiane Waak vor ei-

scheinlich auch nicht konfiguriert. Aber gut,

lösung sein. Bei den Gruppen machina eX

nem Greenscreen, vermutlich im Theater

Theater ist auch Vereinfachungskunst.

oder vorschlag:hammer etwa entstanden so-

Greifswald, aufhielt und dort als Figur Alice

gar reizvolle Erweiterungen, die auch in pan-

gefilmt wurde.

Der Hauptteil des Spiels besteht schließlich darin, Alice mithilfe diverser

demiefreien Zeiten Bestand haben könnten.

Inhaltlich, das konnte man auch auf

Werkzeuge durch allerlei Türen und Tore zu

Die Gruppe Borgtheater, von Rolf Kasteleiner

der App nachverfolgen, ging es darum, Alice

geleiten. Wer in den Genuss des Youtube-

bereits 2013 in einem frühen Versuch der

zu helfen, in ein Big-Brother-System des Jah-

Streams kam, konnte sie dabei sehen, hören

Verschmelzung von digitalen Ästhetiken und

res 2030 einzudringen und dort ein paar

und auch mit ihr chatten. Wer nur auf der

theatralen Praktiken ins Leben gerufen, hat

­Daten zu manipulieren. Das sollte wiederum

App-Ebene dabei war, durfte immerhin einige

ihr Projekt „Customerzombification“ in Zu-

Alice’ Schwester zu einem besseren Rang in

Entscheidungen treffen, bekam mal einen

sammenarbeit mit dem Theater Vorpommern

diesem allmächtigen Überwachungssystem

Newsfeed ab und sendete ansonsten seine

auf der Basis einer extra für Theatergames

verhelfen.

eigenen Posts in ein digitales Nirgendwo.


auftritt

/ TdZ  März 2021  /

Das hatte durchaus dystopische Züge. Die Pannensituation war eine Art Negativbeweis dafür, was am Theater – und auch am smartifizierten Theater – reizvoll ist: der Kontakt mit anderen Menschen in einer Spielsituation, sei es eher passiv-konsumierend im physisch realen Theatersaal oder interagierend im digitalen Nähe- und Distanzraum. Allein vorm Smartphone zu hängen und im ewig wirkenden Takt von ein paar Minuten simple Entscheidungen über Werkzeuge, Türen oder Energieversorgung zu treffen, ist hingegen öde. Ein sachgerechtes Urteil über „Customerzombification“ lässt sich damit freilich auch nicht fällen. Nur ein Teil der Vorstellung war schließlich zugänglich. Technische Fehler können immer geschehen, das Subgenre ist jung. Und jedes Haus, jede Gruppe, die neue Tools nutzt, trägt dazu bei, den Lockdown etwas weniger düster erscheinen zu lassen. // Tom Mustroph Woran merkt man, dass ein Theater-Stream

MÜNCHEN

live ist? Natürlich daran, dass man ihn nicht anhalten kann, um eine Pause einzulegen. Auch Vorspulen geht nicht. Sollte man derlei

Seelen-Selfie MÜNCHNER KAMMERSPIELE: „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“ von Lothar Kittstein Regie Bernhard Mikeska Bühne Steffi Wurster Kostüme Almut Eppinger „Flüstern in stehenden Zügen“ von Clemens J. Setz Regie Visar Morina Ausstattung Aleksandra Pavlović

Bedürfnisse aber ohnehin nicht hegen, ist

Eine Mischung aus Séance und Familien­ aufstellung im Glasquader – Bernhard Mikeskas Münchner Inszenierung „Gespens­ ter“ über Thomas, Erika und Klaus Mann. Foto Heinz Holzmann

der Unterschied zu voraufgezeichneten Aufführungen eher ein gefühlter. Es bleibt dem

Die Münchner Kammerspiele brachten zu

eigenen Kopf überlassen, sich auszumalen,

Jahresanfang zwei Inszenierungen als Live­

wie da gerade andere Menschen daheim am

stream-Premieren heraus, die auf je eigene

Bildschirm dieselbe Darbietung mitverfolgen

Weise um die Sehnsucht nach menschlichem

wie man selbst, und dass diese Vorstellung

Miteinander kreisen. Das Theater-Kollektiv

tatsächlich just im Moment auf irgendeiner

Raum+Zeit um Autor Lothar Kittstein und

Bühne gespielt wird. Spüren kann man es als

­Regisseur Bernhard Mikeska hat sich auf The-

vereinzelter Laptop-Zuschauer nicht wirklich.

aterparcours spezialisiert, die einzelne Zu-

Und doch ist „live“ das Zauberwort, das den

schauer in Eins-zu-eins-Begegnungen mit den

Stream von der Konserve abhebt und näher

Darstellern bringen. Solche Intimerfahrungen

ans reale Gemeinschaftserlebnis Theater

sind derzeit schlechterdings unmöglich. Doch

rückt, das gerade viele so schmerzlich ver-

Kamera-Close-ups, so die Erkenntnis nach der

missen.

Premiere von „Gespenster – Erika, Klaus und

DON’T LOOK

Master Expanded Theater Anmeldefrist 15.4.2021 hkb.bfh.ch/expanded-theater

Hochschule der Künste Bern hkb.bfh.ch

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In Clemens J. Setz’ neuem Stück an den Münchner Kammerspielen hängt der Prota­ gonist (Bekim Latifi) buchstäblich in der Luft – hier unter Aufsicht seiner Kollegin Leoni Schulz. Foto Katarina Sopčić

formen hat seinen Preis. Man bezahlt es mit

Sprichwörtlich – und in der als „Theater-Live-

Einsamkeit, weil sich dauerhafte Nähe nicht

Film“ beworbenen Inszenierung von Visar

einstellen will. Fast mitleidig blickt sie auf ihr

­Morina auch leibhaftig – in der Luft hängt C.,

früheres Ich, das noch nichts ahnt von Klaus’

der Protagonist von „Flüstern in stehenden

Selbstmord 1949 und all den Abgründen, die

Zügen“, dem neuen Stück von Clemens J.

sich später auftun werden.

Setz. Darsteller Bekim Latifi turnt absturz­

Mikeska und Kittstein lassen nicht nur

gefährdet und ausgiebig auf einer Schaukel

die Zeitebenen virtuos verschwimmen in die-

in Triangel-Form herum, die von der Decke

sem Traumspiel. Sie bringen auch die Figuren

eines gummizellenartigen Raumes baumelt.

und ihre Schöpfer zum Verschmelzen. 1969,

Später wird er auf dessen mit kanariengelbem

im Jahr von Erikas Tod – als in „Gespenster“

Tuch bespannte Wände auch mal eindreschen.

deren jugendliches Alter Ego davon fantasiert,

Auch dieser Ort ist ein Gefängnis. Das oran-

das Stück des Bruders auf die Leinwand zu

gefarbene Kurzärmel-und-Kurzehosen-Out­fit,

bringen – entstand tatsächlich ein Film nach

das Latifi trägt, könnte die Sommergarderobe

einem Mann-Stoff, aber nicht von Klaus. Viel-

eines JVA-Insassen sein.

mehr drehte Luchino Visconti „Tod in Vene-

Anders als in „Gespenster“, wo mehrerer

dig“ nach der Novelle von Übervater Thomas

Kameras den Schnitt zwischen verschiedenen

Mann, den sie in der Familie den „Zauberer“

Perspektiven erlauben, ist hier nur ein einziger

nannten. In „Gespenster“ sieht Jochen Noch

Kameramann im Einsatz: Patrick Orth, der

im Dreiteiler und mit charakteristischem

­Filme wie „Toni Erdmann“ gedreht hat. Dafür

Schnauzer aus wie der Großschriftsteller,

wechseln die Aufnahmen, die er liefert, zwi-

­mutiert aber alsbald zu dessen literarischem

schen bildschirmfüllender Horizontale und

Helden Gustav von Aschenbach. Grandios, wie

Handy-Hochformat.

bei Noch diese Verwandlung einhergeht mit

Tatsächlich gelingt Regisseur Morina

dem Zerbröseln der Contenance, und wie die

und seinem Hauptdarsteller Bekim Latifi so

Souveränität des distinguierten Herren im sel-

eine Art Seelen-Selfie. C., der einsame Held

ben Maße schwindet, in dem sich sein sexuel-

von Setz, arbeitet in einem Computer-Repara-

les Begehren Bahn bricht. Dass Thomas Mann

turshop.

und von Aschenbach hier eins werden, ist in-

reicht ihm nicht aus, um sein Bedürfnis nach

der Zauberer“, sind nicht der schlechteste Er-

sofern schlüssig, als der Schriftsteller in „Tod

Begegnungen zu stillen. Also ruft er Service-

satz für den fehlenden Nahkontakt zwischen

in Venedig“ seine eigene homoerotische Nei-

nummern an, die er in Spam-Mails findet, um

Publikum und Akteuren, der sonst die Arbei-

gung sublimiert hat.

das Callcenter-Personal in Gespräche zu verwi-

Der

spo­ radische

Kundenkontakt

Auch den Jüngling, den von Aschen-

ckeln. Das ist natürlich eine wunderbar bizarre

Das Stück über Thomas Mann und

bach begehrt, fusionieren Mikeska und Kitt-

Autoren-Idee: einen Menschen bei denen Zu-

­seine Kinder ist eine Mischung aus Séance

stein mit einer realen Person – mit Klaus

wendung suchen zu lassen, die eigentlich nur

und Familienaufstellung, wobei die einzelnen

Mann, den Bernardo Arias Porras als andro-

seine Zugangsdaten wollen zwecks finanzieller

Familienmitglieder die meiste Zeit in Glas­

gynen Borderliner spielt. Die Kälte, die

Ab­zocke. C. dreht g­ ewissermaßen den Spieß

quader gesperrt sind, jeder und jede für sich,

­Thomas Mann zeitlebens gegenüber seinem

um und versucht, Empathie und Emotionen

wie weggeschlossen in den Gefängnissen

Sohn zeigte, wird damit als eine Art Selbst-

aus dem Telefon-Personal herauszuquetschen.

­ihrer eigenen Ichs.

schutzmaßnahme gedeutet – als hätte der

Er duzt die Angerufenen wie alte Freunde, be-

ten von Raum+Zeit so aufregend macht.

Erika Mann wird am Ende ihres Lebens

Vater den Sohn vor allem deshalb auf Dis-

quatscht sie so lange, bis sie entweder aufle-

von den Geistern der Vergangenheit heimge-

tanz gehalten, um nicht der Versuchung zu

gen oder doch etwas Privates preisgeben (was

sucht – vor allem von ihrem jüngeren Selbst,

erliegen, ihn zu missbrauchen.

freilich nur selten gelingt). Die Dialoge der

das mit der Idee vorstellig wird, „Geschwis-

Thomas Mann verlagerte seine Sehn-

Vorlage hat Visar Morina weitgehend auf einen

ter“ zu verfilmen, jenes Theaterstück ihres

süchte ins Literarische und blieb im echten

Monolog reduziert. Nur hin und wieder gibt

Bruders Klaus, in dem der das Verhältnis zur

Leben Gefangener gesellschaftlicher Konven-

­Leonie Schulz (als avatarartige Erscheinung im

nur ein Jahr älteren Schwester Erika verar­

tionen, indem er seine Homosexualität unter-

weißen Ganzkörperanzug) ein paar Antworten.

beitet hat. Und das gemeinsame, lustvoll

drückte. Erika und Klaus dagegen schafften

Meistens aber ist nur Latifis C. zu hören, ganz

ausschweifende ­

gängiger

es nie, aus dem Schatten des berühmten

so, als würde man seinen ­ Telefonaten lau-

Normen. Dreiecksverhältnisse, Bisexualität, ­

­Vaters herauszutreten, versuchten dafür aber,

schen, ohne die Personen am anderen Ende

Promiskuität, Geschwisterliebe – alles drin.

die Regeln zu sprengen – und stürzten ins

der Leitung hören zu können. Dieses Solistische

Die junge Erika (Katharina Bach) zeigt frivole

Haltlose. So eindringlich wie anschaulich er-

verleiht C.s Versuch, über Hotlines einen per-

Freude an der Libertinage. Svetlana Belesova

zählt „Gespenster“ am Beispiel der Familie

sönlichen Draht aufzubauen, etwas Manisches,

dagegen verkörpert die desillusionierte alte

Mann von der Schwierigkeit, sich aus Zwän-

und der charmant lausbubenhafte Bekim Latifi

Erika, die weiß: Das unverbindliche Experi-

gen zu befreien, ohne dabei aus allen Bin-

lässt hinter der Dreistigkeit die nackte Verzweif-

mentieren mit verschiedenen Beziehungs­

dungen ins Bodenlose zu fallen.

lung erkennen, die seine Figur antreibt. Die oft

Leben

jenseits


auftritt

/ TdZ  März 2021  /

untersichtige, unvorteilhafte Kameraperspek­ tive (den meisten Menschen mittlerweile aus zahllosen Videokonferenzen bekannt) entblößt mehr als nur seine breit grinsenden Zähne. Auch hier kann man am Laptop zuschauend in ein paar Abgründe blicken und fragt sich am Ende ernsthaft, ob das in dieser Form aus Reihe eins bis zwanzig im Parkett ebenso möglich gewesen wäre. Nicht das Schlechteste, was sich über einen Theater-Stream sagen lässt, egal ob live oder nicht. Übrigens: Live kann teuer sein. Für „Gespenster“ mussten die Münchner Kammerspiele zusätzliches Equipment anmieten, weshalb nur die Premiere wirklich live gespielt wurde. An den folgenden Terminen streamte das Theater den Mitschnitt des ersten Abends, allerdings mit einer Sperre, die Vorwärts-­ Skippen unmöglich macht. So ist nur EchtzeitGucken möglich, ganz wie beim realen Theaterbesuch. Immerhin. //

Christoph Leibold

was der Schauspielchef Jonas Knecht mit

ST. GALLEN

Wolfram Lotz’ preisgekröntem Stück „Die lächerliche Finsternis“ anstellt, das 2014 am

Dr. phil. Pirat

Wiener Burgtheater uraufgeführt worden war. Gerade noch gelingt inmitten dieser sonderbar

Weltbaustelle aus Holzverschlägen – In Jonas Knechts Wolfram-Lotz-Inszenierung „Die lächerliche Finsternis“ am Theater St. Gallen zerlegt das Ensemble mit Witz den Status quo. Foto Iko Freese / drama-berlin.de

viralen Ungemütlichkeit ein Streich der Super-

THEATER ST. GALLEN: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz Regie Jonas Knecht Ausstattung Markus Karner

lative. Und richtiggehend verklärt verlässt man den wunderbaren Theaterraum, schwankend,

lich als Hörspiel angelegte Stück ist hier in

ein bisschen wie in einem Boot. Oder in einem

einer Mischform aus Musik- und Sprechthea-

Kanu, wie es – purpurrot – auf der Bühne

ter zu erleben; längere Passagen werden über

steht, dann wieder liegt und nicht nur als Re-

Kopfhörer eingespielt. Das Wechselspiel von

quisit an den Ostschweizer Künstler Roman

sehendem Hören und hörendem Sehen zieht

Signer erinnert: Auch er ist einer wie Lotz, ein

die Sinne in einen Wahnstrudel; man scheint

Gerade noch zwei Vorstellungen konnten in der

humoriger Melancholiker, der gern im Wasser

selbst Teil dessen zu sein, was sich dort im

Lokremise, der Zweitspielstätte des Theaters

mit dem Feuer der Unwäg­barkeit spielt.

überhitzten Niemandsland ereignet.

St. Gallen, vor der erneuten pandemie­

So darf also Theater sein: so behände

Wolfram Lotz ließ sich von Vorlagen wie

bedingten Schließung der Schweizer Bühnen

an den Rissen, den Verwerfungen entlang in-

Joseph Conrads 120 Jahre altem Prosawerk

gespielt werden. Gerade noch zwei Mal durften

szeniert, dass die Harmlosigkeit von selbst das

„Herz der Finsternis“ oder Francis Ford Cop-

fünfzig Menschen dabei zusehen und ­-hören,

Weite sucht. Das von Wolfram Lotz ursprüng-

polas Film „Apocalypse Now“ über die Unsin-

Bewerben und Studieren

Demnächst

Regie Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist 31.03.2021

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Dramaturgie Abschluss Master of Arts Bewerbungsfrist 31.03.2021

»Atemschaukel« nach dem Roman von Herta Müller, Regie: Amanda Lasker-Berlin »Mermaid Cut« Ein Kunstmärchen von Julian Mahid Carly nach H.C. Andersen, Regie: Julian Mahid Carly Kooperation mit Schauspiel Stuttgart »Der gute Gott von Manhattan« von Ingeborg Bachmann, Regie: Anaïs Durand-Mauptit Kooperation mit Badischem Staatstheater Karlsruhe

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Änderungen vorbehalten

Premieren coronabedingt verschoben. Über neue Termine informieren wir über unsere Website.

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auftritt

/ TdZ März 2021  /

Wie verhält sich Humor zu Humanismus? – Nora Abdel-Maksouds Komödie „Café Populaire“ in Wuppertal weiß die Antwort.

nigkeit und moralischen Dilemmata von Krie-

drei Live-Musiker. In den Sound von harten

gen inspirieren. In der jüngeren Vergangenheit

Riffs und weich Geklimpertem mischt sich

angesiedelt ist indes die – reale – Gerichtsver-

noch die Stimme des Autors, der in seiner

handlung gegen somalische Piraten in Ham-

Vorlage genau das beschreibt, was hier ge-

burg. Die Männer hatten das Containerschiff

schieht: Alles Lineare ist aufgebrochen, aus-

einer deutschen Reederei kapern wollen, waren

getrickst. Die Bilder hängen falsch herum. Es

gescheitert und gefangen genommen worden.

gibt keinen Plan, denn alles wartet darauf,

Es gibt Rassismus, es gibt Sexismus, es

Hier klinkt sich Lotz ein, schnippt facts and

sich in einer Endlosschleife zu wiederholen.

gibt auch Moralismus (in linken Kreisen

­figures ins Absurde, Irrwitzige. Sein Pirat hat

Lotz lädt ein zu Um- und Weiterschreibun-

­weniger populär). Ob es aber so etwas wie

ein Hochschuldiplom in Piraterie. Doch vor der

gen. Jonas Knecht, längst bekannt und viel

„Klassismus“ gibt, also die Betrachtung

Übermacht der (weißen) Vormacht haben sol-

gelobt für seine Live-Hörspiel-Produktionen,

­einer Gesellschaft ausschließlich unter dem

che wie er, Nichtlinge im Weltreich der selbst

nimmt die Aufforderung wörtlich. Die Setzun-

Aspekt der jeweiligen Klassenzugehörigkeit,

ernannten Marschbefehler, kein Recht, Rechte

gen tragen seine schnörkellose Handschrift,

und inwiefern diese zu rügen wäre, ist eine

für sich und ihresgleichen einzufordern. Auf

es ist eine mit feinem Gespür für Nuancen,

offene Frage. Immerhin war Karl Marx ein

dem „Hindukusch“ – wie alles in diesem Stück

Gesten und für Wolfram Lotz’ künstlerischen

klassischer Klassist, bevor er, zusammen

eine Behauptung – fährt das Boot der Recht­

Fatalismus. //

Brigitte Schmid-Gugler

mit seinem Freund und Finanzier Friedrich

Foto Uwe Schinkel

haber entlang den Fangarmen kopflosen Gehor-

Engels, ein marxistischer Klassizist wurde.

sams dem „lächerlichen“ Grauen zu.

Engels stammt ja aus Barmen, seinerzeit

In Lotz’ Text gibt es nur männliche Rollen; Knecht besetzt, wie es seinerzeit ­

WUPPERTAL

­Damenensembles zeichnen die „Zerwürfnisse“

Der schrille Don

in den Männerköpfen menschlich-­ ironisch. Bühnenbildner Markus Karner hat ihnen eine Art Weltbaustelle aus Holzverschlägen gezimmert. Und wo vermeintliche Gewissheiten derart dürftig verschraubt sind, kann auch hinter einer Plastikfolie der Wahnsinn lauern. Solide gebaut sind einzig die Podeste für die

Theater am Engelsgarten befindet sich ­ gleich neben dem historischen Engelshaus,

auch an der Wiener Burg der Fall gewesen ist, die meisten mit Frauen. Die Mitglieder des

noch kein Stadtteil von Wuppertal, das

und „Café Populaire“ wurde in der Wuppertaler Fassung in Barmen eingemeindet; vermutlich aus keinem anderen Grund als

WUPPERTALER BÜHNEN: „Café Populaire” von Nora Abdel-Maksoud Regie Maja Delinić Ausstattung Ria Papadopoulou

dem, dass es so vortrefflich mit „Erbarmen“ korreliert. Im Stück der 1983 in München geborenen Nora Abdel-Maksoud geht es um Klassenverhältnisse, um ihre angemessene Betrachtung, um politische Korrektheit und um


auftritt

/ TdZ  März 2021  /

die Fallstricke, die zuverlässig mit ihr ver-

unschuldigen Dritten k. o. hauen. Der Piz-

ranten Lösungsansätzen, für die Uneben-

bunden sind. Die Hauptfigur Svenja ist

zen schleppende Dienstleistungsproletarier

heiten und Widersprüche des politischen

„Hospizclown“ und „guter Mensch“, was

Aram (Konstantin Rickert), dessen verbale

Diskurses. Ähnlich hat es einst ein Dario

heißen soll, sie will niemandem wehtun, vor

Entgleisungen eben keine Entgleisungen

Fo gehalten.

allem nicht durch Übergriffe und falsche Be-

sind, sondern Methode haben, spricht ein

nennungen. Das erweist sich als so schwie-

wundervoll

dann

keiten zum Trotz erwies sich die Tempera-

rig, dass eine „Abspaltung“ von Svenja, ge-

deformiertes

Deutsch;

Allen

pandemiebedingten

Widrig­

stellt sich heraus: Alles Fake, in Wahrheit

tur der Inszenierung von Maja Delinić als

nannt „der Don“ (Julia Meier), ihr immer

ist Aram Wirtschaftspsychologe und sein

robust. Der „Don“ agiert im Modus eines

wieder in die Parade fährt und ihr böse

Deutsch lupenrein. Er sucht nur eine güns-

Conférenciers angemessen smart und ölig,

Schmähbegriffe wie „Asiproll“ souffliert. Der

tige Wohnung.

Püppi mit ihrem unvermeidlichen Rollator

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Püppi, eine 98-jährige Altkommu-

im Wechsel zickig und jovial, Aram bedient

berlinerfes tspiele nistin und die älteste Hospizbewohnerin, .de Save

das Klischee des Dienstleistungsproleta­

„zäh wie Rindsleder“, gespielt von Stefan

riers mit Migrationshintergrund. Allerdings

Walz, hat wiederum einen ganz anderen

lässt sich nicht leugnen, dass gerade mit

stoß als die Regelfrömmigkeit. Das bestäti-

Blick auf die Verhältnisse. Nicht auf die

so leichter Hand geschriebene Stücke wie

gen prompt die zusätzlichen Klicks, die

akkuraten und glimpflichen Benennungen

„Café Populaire“ unbedingt eines leb­

Svenja in ihrem Nebenjob als Youtuberin

käme es an, auch nicht etwa auf „Verbür-

haften Echos im Saal bedürfen. Vor einer

erntet, wenn das ressentimentgeladene Un-

gerlichung und soziale Durchmischung“,

Handvoll Zuschauender, verteilt auf drei

bewusste mit ihr durchgeht.

sondern auf die Abschaffung der Klassen.

Reihen im Engelssälchen, glich die tapfer

von Svenja erfundene „Humornismus“,hy eine brid digit al

un Verhäkelung von Humor und Humanismus, DA analogd,/oder

W SEIN

: ERD ist ist nicht leicht zu haben, denn komisch WIR EN nach aller Erfahrung ja eher der Regelver-

the date

Svenja spielt, mit einem etwas linkischen

28.3.21 Püppi stellt ihre „Goldene Möwe“, ein ab19.3.— gern für soziale geranztes Tradi­tionslokal,

Charme, nimmt man ihr zumindest den gu-

Zwecke zur Verfügung, etwa zur Gründung

frequentierten Beerdigung im Regen (ob-

ten Willen ohne Weiteres ab. Auf der mit

einer Kita. G ­ eschickt nutzt Nora Abdel-

wohl es draußen vor der Tür tatsächlich

bunten Punchingbällen bestückten Bühne

Maksoud die Techniken und Stilmittel der

schneite). //

wirkt Svenja agil und gehemmt zugleich: Je-

Gebrauchs­komödie, mitsamt den dazuge-

der verbale Punch kann immer auch einen

hörigen Überraschungseffekten und flag-

durchgezogene Premiere, die für Strea­ ming-Zwecke gefilmt wurde, einer schwach

Martin Krumbholz

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stück

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Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter Erinnerungen an eine gemeinsame Arbeit mit dem an Covid-19 verstorbenen Dramatiker und Regisseur Lars Norén von Anne Tismer Die Nachricht von Lars’ Tod erhalte ich von Jean-Louis Colinet, dem ehemaligen Leiter des Théâtre National de Bruxelles. Wir sind traurig und auch sprachlos. Ich denke an unsere Arbeit „Le 20 Novembre“ und versuche, ihn mir lebend einzuprägen, um ihn festzuhalten. Einige Erinnerungen an Lars Norén schreibe ich nun auf. Ich kann ihm sicher nicht gerecht werden. Er hat mir sehr viel positive Energie gegeben und mich respektiert. Ich habe viel von ihm gelernt. Was ich hier beschreiben kann, ist nur ein kleiner Teil. Ich habe ein paar Inszenierungen seiner Stücke gesehen. Ein Video auf Youtube hat mir besonders gefallen. Die Gruppe heißt Stockholms Improvisations­ teater: Das Video hat den Titel „Stockholm Syndrom“. 186 Aufrufe – mit mir 187. https://youtu.be/_WH7VaTuHzE So möchte ich gerne die Stücke von Lars gespielt sehen. Ich mag die Komik, die gar keine ist. 2007 – Während der Proben Die Arbeit mit Lars Norén ist für mich ein Glücksfall! Ich darf außerdem in der wunderschönen Stadt Brüssel sein, im Théâtre National de Bruxelles, in der Nähe des Atomiums, ich darf das Thema selbst aussuchen Ich darf selbst auch schreiben!!!!!!! Ich darf französisch und englisch sprechen, das Team ist großartig und hilfsbereit. All das ist nicht selbstverständlich. Und ein großes Geschenk für mich, in meiner damaligen Situation.

Ich habe nun Lars Noréns Erscheinung vor Augen: Er sitzt auf einem (wie ich glaube) unbequemen Holzstuhl. In ungefähr sieben Metern Entfernung. Der Raum, in dem ich spiele, ist ganz leer, aber riesengroß. Er sagt, wenn alles leer ist, kann er besser denken. Bei ihm zu Hause ist es auch ganz leer, wie er sagt. Kaum Möbel, keine Bilder. Unser Stück handelt von einem Amokläufer. Später, während der Vorstellungen, werde ich die Daten von school shootings mit Kreide an die hinteren Wände malen. Wir werden durch Frankreich, Belgien, nach St. Petersburg zu einem Filmfestival, nach Rumänien und an weitere Orte reisen. Ich glaube, so viele Orte habe ich noch nie mit einer künstlerischen Arbeit bereist. Neben mir steht meine Sporttasche. Sie ist blaugrau und ein bisschen zu klein. Darin ist ein entmilitarisiertes Maschinengewehr, eine Pistole und Kreide, mit der ich auf dem Boden Raster zeichnen werde. Die Stationen eines Menschenlebens, als Buchstaben: S A A R T – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod, wie der Täter sie beschreibt. Ganz hinten habe ich später, während der Vorstellungen, eine Flasche Cola versteckt, falls ich Angst bekomme, drohe ohnmächtig zu werden oder mir schlecht wird. Ich habe oft Angst bei den Vorstellungen, außer wenn ich in Turnhallen spiele. Nach der ersten Passage wird es manchmal besser. Lars sitzt auf dem (unbequemen) Holzstuhl und wartet. Das Stück „Le 20 Novembre“ hat er auf Schwedisch „Förgänglighet“ – Vergäng­lich­

keit – genannt. Am 20. November 2006 begeht ein 18-jähriger Schüler im nordrheinwestfälisch Emsdetten einen Amoklauf in seiner ehemaligen Schule. Ich hatte das in den Nachrichten gehört und Lars gebeten, darüber ein Stück zu schreiben und mich ebenfalls einen Teil schreiben zu lassen. In Frankreich und Belgien wurde diese Nachricht, soviel ich weiß, nicht gesendet. Außer dem Schüler selbst kam niemand zu Tode. Jean-Louis Colinet hatte die Idee, uns zusammen etwas entwickeln zu lassen, und uns in Schweden miteinander bekannt gemacht. Das Stück ist von Lars in Versform verfasst, in Form eines langen Gedichts. Zitate aus dem Tagebuch des Täters sind eingeflochten. Und mein Text. Der Versrhythmus gibt mir Sicherheit. Meine Bewegungen sollen sparsam sein. Ich soll ruhig sprechen. Ich soll an bestimmten Stellen atmen. Er schaut zu, aber in seinem Gesicht sehe ich immer etwas Sorgenvolles. Ich erwarte, dass er aufspringt und geht, weil ich zu schlecht spiele. Das Sujet, das ich vorgeschlagen habe, ist leider ausgesprochen deprimierend. Es macht mich niedergeschlagen. Er sagt, man muss sich den schlimmen Dingen stellen, damit man sich davon abgrenzen kann, damit man nicht hineingerät, damit auch die anderen nicht hineingeraten, damit man später zu schätzen weiß, was gut ist. Das leuchtet mir ein, und ich versuche, mich wieder aufzubauen. Vormittags probe ich mit ihm.


lars norén

Foto Lina Ikse, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

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Nachmittags schreibt er an einem Tagebuch. Er sagt, wenn es herauskommt, werden ihn die Schweden hassen. Einmal plaudere ich noch ein bisschen mit Alfredo und Katrin, als Lars schon auf seinem Stuhl sitzt und wartet. Alfredo Cañavate ist der einzige festangestellte Schauspieler im Theater und im Moment unser Regieassistent. (Die belgischen Theater finde ich ein bisschen fortschrittlicher als die deutschen Theater, aber das ist eine andere Geschichte.) Katrin Ahlgren ist die Übersetzerin und gleichzeitig auch die Dramaturgin unseres Teams. An diesem Tag versuche ich, den Beginn der Proben hinauszuzögern, denn das Thema des Stücks ist wirklich deprimierend, und es fällt mir schwer. … aber ich habe es ja selbst ausgesucht … Plötzlich sagt Lars leise: I want to work … Es klingt wie ein Flehen. (Es war so überzeugend, dass ich danach nie wieder getrödelt habe.)

Lars Norén starb am 26. Januar 2021 in Stockholm an den Folgen einer Covid-19-­ Erkrankung. Er wurde 76 Jahre alt. In Erinnerung an ihn veröffentlichen wir auf den folgenden Seiten ein bislang im deutschsprachigen Raum noch nicht aufgeführtes Stück von ihm. Der Einakter „Terminal 3“ aus dem Jahr 2006 ist Teil eines Werkkomplexes aus insgesamt elf Teilen.

Lars spricht englisch mit mir. Den Text hat er auf Schwedisch geschrieben. Katrin Ahlgren hat ihn auf Französisch übersetzt, sie ist aber Schwedin. Alfredo ist manchmal verzweifelt über die Übersetzung: Ça ne se dit pas comme ça … ça ne se dit pas comme ça! (So sagt man es nicht … so sagt man es nicht!) Nachmittags möchte Alfredo meine Aussprache korrigieren. Manchmal sieht er mich verzweifelt an, weil ich wohl ein völlig unverständliches Französisch spreche (was ich nicht wirklich beurteilen kann). Es ist dann später so, dass mein Französisch wohl fremd klingt, aber die Leute tippen auf Dänisch oder Norwegisch, nicht auf Deutsch. Lars versteht kein Französisch, er hört auf den Rhythmus. Das gefällt mir. Ich arbeite gerne rhythmisch. Ich frage ihn, ob ich ab und zu etwas körperlicher sein sollte. Ich befürchte, dass das Publikum sich langweilt, weil so wenig Bewegung passiert. Er sagt, für ihn ist es gut so, ich spreche ja. Das Stück hat einen unglaublich pessimisti-

schen Inhalt, ich bin alleine auf der Bühne, ich bewege mich kaum, ich spreche monoton, und die Bühne ist leer, außer einer Tasche mit zwei Gewehren. Ob das jemand ansehen kann … Lars und ich sprechen viel über Mobbing. Der Täter hat Mobbing als Grund für seinen Amoklauf genannt. Ich verschlinge sämtliche mir auffindbare Literatur über Mobbing. Ich vergleiche meine eigenen Erfahrungen. Ich versuche, die Perspektive des Täters zu begreifen, wie man es eben macht. Über school shootings gibt es noch nicht so viel zu lesen. Am Ende möchte Lars doch noch Dinge auf der Bühne haben: 50 Schlingen, die von der Decke hängen, an denen man sich aufhängen kann. Ich denke, für die Reisen wird es umständlich. Wir verwerfen die Idee später. Während der Proben bin ich manchmal – nein: sehr oft – unsicher. Ich werde rot. Ich bekomme Schweißausbrüche. Ich stottere. Ich zittere. Ich habe Angst. Ich bin gar nicht souverän.

Er sagt: Du darfst keine Angst zeigen. Wenn du Angst hast, redest du einfach lauter. In der Tasche sind deine Waffen. Du bist also die stärkste Person im Raum. (Es gab einige Vorstellungen, in denen ich wirklich ziemlich laut geredet habe. Hinterher hat sich auch mal jemand beschwert …) Du kannst einige Schritte hin- und hergehen, ganz genau vier Schritte zum Beispiel. Du steckst dein Revier ab. Du gehst erst mal nicht nah ans Publikum. Du hältst einen bestimmten Abstand. Mindestens sieben Meter. Ich bilde mir ein, dass das tatsächlich funktioniert hat. Die Aufführungen Mit Joël Bosmans, dem Bühnenmeister, mache ich die Reisen und Aufführungen. Ich spiele das Stück sehr oft. Auf Französisch und auf Deutsch. Die Diskussionen hinterher sind doppelt so lang wie das Stück. Vor allem männliche Jugendliche schauen zu. Ich zeige es in Schulen, in „prekären“ Lagen. Meistens sind die Schülerinnen und Schüler gut vorbereitet. Wir sprechen immer über Mobbing. Die meisten Mobbingopfer begehen kein Verbrechen, und Mobbing scheint ein großes Problem in Schulen zu sein. Ich zähle die Begegnung mit Lars Norén zu den künstlerisch und menschlich wertvollen Momenten in meinem Leben und bin froh, dass ich die Chance hatte, ihn kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten. Ich möchte sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin. Ich empfinde es so, dass er mich eine Zeit lang begleitet hat, und das war sehr großzügig von ihm. Er wird vielen Menschen und mir sehr fehlen. Der Tod von Lars Norén hätte überhaupt nicht sein müssen. Das Virus ist gefährlich, und das ist bekannt. Also sollten die Vorsichtsmaßnahmen überall ernst genommen werden.

Anne Tismer lebt als Performerin in Berlin.

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stück

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Lars Norén

TERMINAL 3 Deutsch von Angelika Gundlach

PERSONEN ER SIE DER MANN DIE FRAU DER HAUSMEISTER DAS MÄDCHEN

ER Wen? SIE  Die da, die da waren ... ER  Gott, jetzt ist es gleich so weit. Kurze Pause. Die haben doch gesagt, wir sollten hier reingehen. DER MANN  Es war hier ... SIE  Dann ist es wohl hier. ER  Und warten. Stille.

Anmerkung zur deutschen Übersetzung: DAS MÄDCHEN war in der Uraufführungsinszenierung einen Großteil der Zeit stumm auf der Bühne – am Anfang saß sie da und schluckte ein paar Tabletten (Abtreibungstabletten); bei ihrer Rückkehr auf die Bühne hatte die Abtreibung dann bereits stattgefunden …

Ein großer, leerer Raum. Wenn es Möbel darin gibt, sind sie grau und zeitlos. Es ist sehr dunkel. Nach und nach wird es langsam heller. ER  30 Jahre alt. Ist es hier? SIE  27 Jahre alt. Ich weiß nicht. ER  War es hier? Stille. ER  Ist es wirklich hier? SIE  Ich sag doch, ich weiß es nicht. ER Nein. SIE  Wie soll ich das wissen? ER  Hier ist ja keiner. SIE  Ich weiß nichts. ER  Hier ist ja keiner, den man fragen kann. SIE  Ich weiß nichts mehr. ER  Sehr komisch. Stille. ER  Ich kenn mich nicht aus ... SIE  Kannst du nicht gehen und fragen?

ER  Haben sie das nicht gesagt? DER MANN  49 Jahre alt. Es ist ja derselbe Raum. DIE FRAU  46 Jahre alt. Was? Dreht sich um. DER MANN  Es ist derselbe Raum, wo wir damals waren ... derselbe Flur. Es war hier. Es war dieser Raum. Verdammt. SIE  Hier sitzt ja jemand. DIE FRAU  Ist keiner hier. DER MANN  Oder einer, der sehr, sehr ähnlich war. DIE FRAU  Wo gehen wir jetzt hin? DER MANN  Es ist derselbe Raum. Ich bin sicher. Ich erkenne die Fenster ... diese hohen Fenster ... und die Möbel. Die waren damals auch hier ... an derselben Stelle ... DIE FRAU  Warum sollten sie? DER MANN  Weil ich mich daran erinnere ... Wir haben da gewartet. Da hinten haben wir gesessen und gewartet ... So was vergisst man nicht ... auch wenn es so lange her ist. DIE FRAU  Gibt es kein Personal hier? DER MANN  Die haben überall dieselben Möbel. Kommt wohl billiger. SIE  Es kann auch die Blase sein. ER  Wir müssen hier einfach warten ... bis wir an der Reihe sind. SIE  Was Besseres fällt dir nicht ein? ER  Und was? Kurze Pause. Was meinst du? SIE  Nein ... Stille.

ER  Hast du Schmerzen? SIE Nein. ER Nein. SIE  Ich hab nichts. ER  Ich hab deine Tasche hier ... Wenn du was möchtest. Stille. ER  Möchtest du etwas? SIE  Nein, danke. ER  Bestimmt nicht? SIE  Nein, was denn? ER  Weiß ich nicht. SIE  Die ist kaputt. Ich wollte sie wegschmeißen. ER Emma! Stille. SIE  Ich will das hier nur loswerden. ER Was? SIE  Ich will wieder die sein, die ich vorher war. ER  Ja, aber ... SIE  Ich will wieder die sein, die ich bin. ER  Und wie? SIE  Aber das kann ich nicht. Stille.   DIE FRAU  Ist keiner hier? DER MANN  Sieht nicht so aus. DIE FRAU  Ist das nicht komisch? Stille. DIE FRAU  Ist es nicht komisch, dass keiner hier ist? DER MANN  Ja, das ... das ist es vielleicht. Es ist schon spät. DIE FRAU  Dass es hier keine Aufsicht gibt ... hier kann ja jeder rein. DER MANN  Das wissen wir doch nicht. DIE FRAU  Was?

03 / 2021

LES MÉMOIRES D'HELèNE F. WIESEL JULIAN VOGEL ULTRA COSIMA GRAND theater–roxy.ch


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DER MANN  Sicher kommt gleich jemand, hoffentlich. DIE FRAU  Nein ... ich hoffe nicht, dass jemand kommt. Stille.  DIE FRAU  Wenn keiner kommt, dann ist er es vielleicht nicht. Sondern jemand anders. DER MANN  Ja. Stille. ER  Die warten auch. SIE Wer? ER  Die da hinten sitzen ... Die sind gleichzeitig mit uns gekommen. SIE  Nein, später. Aber die sind ja uralt. ER  Meinst du? SIE  Siehst du das nicht? ER  So alt sind die nicht. Er jedenfalls nicht. SIE  Guck nicht da hin. ER  Warum nicht? SIE  Die sehen doch, dass wir über sie reden. ER  Typisch, dass man warten muss, wenn so was Großartiges passiert. DIE FRAU  Zumindest ein paar Kerzen könnten sie haben ... brennende Kerzen. DER MANN  Das ist doch nur der Warteraum. DIE FRAU  Irgendwas. ER  Ich glaube, ihn kenne ich. Hab ihn schon mal irgendwo gesehen. Wohnt vielleicht in der Nähe. DIE FRAU  Sind wir hier richtig? DER MANN  Ja. Die haben gesagt, wir sollten zum Haus mit dem C gehen. DIE FRAU  Sind wir denn da? DER MANN  Ja. DIE FRAU  Bist du sicher? DER MANN  Nein, ich bin nicht sicher. Nein, ich bin bei gar nichts sicher, es gibt nichts, dessen ich sicher bin, das Einzige, wo ich sicher bin, ist, dass es ein C war, dass über der Tür ein großes C war. Da bin ich auf jeden Fall sicher. Das haben wir beide gesehen. Du hast es als Erste gesehen. Du hast es gesagt. DIE FRAU  War es ein C? DER MANN  Ja, es war ein C über den Türen, wo wir reingegangen sind. Ein verdammtes großes C. Da bin ich sicher. Sonst bin ich bei nichts sicher. DIE FRAU  War es ein C? ER  Ich liebe dich. SIE Ja. DER MANN  Nein, es war ein verdammtes großes C, das kaputt gegangen ist.

DIE FRAU  Ja, vielleicht. ER  Ich komm dich dann abholen, wenn es vorbei ist, und dann gehen wir nach Hause. SIE Gehen? ER  Ja ... ich trage ihn. SIE  Vielleicht kann ich nicht gehen. ER  Dann nehmen wir ein Taxi. Wirkt aber irgendwie idiotisch, Taxi zu fahren, wenn man ganz in der Nähe wohnt. Sind ja nur ein paar hundert Meter. SIE  Mindestens ein Kilometer. ER  Hab ich nur so gesagt. SIE  Müssen wir das jetzt entscheiden? ER Neeein. SIE  Ich krieg Angst bei dem bloßen Gedanken daran, zu entscheiden, was ich dann machen soll. Mein Leben ist sowieso schon so verplant. ER  Nein, das brauchst du nicht. Wir brauchen nichts zu entscheiden. SIE  Wir haben nicht mal entschieden, wie er heißen soll. ER Nein. Kurze Pause. Aber das wissen wir bestimmt, wenn er da ist. SIE  Oder sie? ER  Ich finde, er soll John-John heißen. SIE  Nein, was du willst, nur das nicht. ER  Er sagt bestimmt: „Hallo, ich heiße JohnJohn“, wenn er rauskommt. „Wie heißt ihr?“ DIE FRAU  Was die so reden.

ER  Nach Hause? SIE  Ja, wenn du willst ... Wenn du nach Hause willst, dich eine Weile ausruhen. ER  Warum sollte ich? SIE  Ich dachte nur, dann musst du hier nicht herumsitzen. Du kannst dich ja inzwischen zu ­ Hause ausruhen. ER  Nein, ich will bei dir sein. SIE  Man weiß nicht, wie lange es dauern kann. Vielleicht kommt es erst morgen. ER  Nein, ich will bei dir sein. Klar will ich bei dir sein. Ich will nicht gehen. Ich will bei dir bleiben. Obwohl, ich hätte einiges zu tun. SIE  Du kannst gar nichts tun. Jedenfalls nicht jetzt. ER  Das verstehst du doch. Du bist komisch. SIE  Du willst nach Hause. ER  Warum sagst du das? SIE  Ich spüre es. ER  Nein, das will ich nicht. SIE  Ich spüre, dass du es anstrengend findest. ER  Das finde ich überhaupt nicht. Du findest es. Du projizierst wie gewöhnlich. Wie du’s immer machst. SIE  Ich halt das hier nicht aus. ER  Ich auch nicht.

Stille.

ER  Warte ... Ich will hier bei dir sein. Das ist das Einzige, was ich will. Das verstehst du doch. DER MANN  Wir warten noch eine Weile. DIE FRAU  Was sollen wir sonst machen? Bist du mit dem Auto gekommen? DER MANN  Nein, mit dem Taxi.

ER  still. Und dann können wir runterziehen zum Haus. SIE  Was hast du gesagt? ER  lauter. Ich dachte nur, wir können dann runterziehen zum Haus. Wir packen, machen sauber und fahren runter zu unserem Haus ... dann ­haben wir den ganzen Sommer vor uns, machen es schön, streichen alles neu, legen neue Fuß­ böden, sitzen draußen und essen im Garten,­ gehen runter zum Meer und sind den ganzen Tag am Strand mit ihm. Verdammt, ich sehne mich einfach danach, hier wegzukommen, sehne mich danach, mich ins Auto zu setzen und abzuhauen. Nichts wie weg hier. SIE  Es hat nach Tang gestunken. ER  Ja, und ... halb so schlimm. DER MANN  Erinnerst du dich, als wir ... Pause. SIE  Du kannst ja solang nach Hause gehen. ER Was? SIE Ja.

Stille.

Stille. SIE  Wenn was passiert, rufen sie sowieso an. ER Nein. SIE  Ich habe an dich gedacht. ER  Das verstehst du doch, dass ich dabei sein will. SIE Ja. Stille. SIE  Mia hat gesagt, sie käme später vorbei. ER  Aha. Hast du mit Mia geredet? SIE  Ich wollte nur Bescheid sagen, dass es jetzt so weit ist. ER  Verdammt noch mal, ich werde Vater, nicht Mia. SIE  Ich will nur, dass sie es weiß. ER Klar.

11. – 14. März 2021

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stück

Stille. SIE   betrachtet eine große braune, gerahmte Foto­ grafie an der Wand. ER  Was ist das? SIE  Ich weiß nicht ... Sieht scheußlich aus. ER  steht auf, geht zu dem Bild. Was ist das? SIE  Ist es ein Fuß? ER  Es ist ein Röntgenbild von einem kleinen Fuß, einem Kinderfuß. Ein Kinderfuß, der von einem großen, rostigen Nagel durchbohrt ist. SIE  Ist das der Nagel, das Dunkle da? ER  Wenn es ein Nagel wäre, wäre er hell. Ja. Das muss sehr alt sein.

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DER MANN  Soll ich gehen und fragen? DIE FRAU  Nein, geh nicht. DER MANN  Nein. ER  Ich frag mich, was die hier machen. Kurze Pause. Die, die da hinten sitzen. Kurze Pause. Vielleicht die Eltern von jemand ... Die sind ja zu alt, um ... DER MANN  Soll ich noch mal gehen und fragen? DIE FRAU  Ja, mach das.

Stille. Stille. DIE FRAU  Da steht es ja.

Stille.

Stille.

DER MANN  Erinnerst du dich nicht? DIE FRAU  Nein. DER MANN  Erinnerst du dich nicht, dass wir hier waren? DIE FRAU  Ich will mich nicht daran erinnern ... im Moment. DER MANN  Nein. DIE FRAU  Irgendwo müssen wir ja gewesen sein, nachdem wir jetzt hier sind. DER MANN  Es war hier, auf jeden Fall, wo wir vor neunzehn Jahren waren. Es sieht genauso aus wie damals. Als hätte sich nichts verändert. Nur wir. Wir hatten diese renovierte Wohnung, weiter unten schräg gegenüber, um die Ecke. Die wurde so teuer nach der Renovierung. Wir haben ganz oben gewohnt. Im fünften Stock, ganz oben. Du hast dich kaum getraut, da rauszugehen. Man konnte von unserem Balkon direkt hier rüber­ sehen. DIE FRAU  Es war ja nur ein Wäschebalkon. DER MANN  Ja, wir wollten da ja nicht so lange wohnen.

DIE FRAU  Über der Tür. Da steht ja, was es ist. DER MANN  Was steht da? Ich konnte meine Brille nicht finden. ER  Was steht da? DIE FRAU  Abschiedsraum. DER MANN  Abschiedsraum? DIE FRAU  Ja. DER MANN  Leihst du mir deine Brille? DIE FRAU  Ich hab keine, ich hab sie im Büro vergessen. Aber da müssen wir wohl hin ... Da ist es wohl. Wo er ist. DER MANN  Ich kann nichts sehen ohne Brille. DIE FRAU  Ja, aber das steht da. DER MANN  Aha ... Pause. Abschiedsraum.

Stille. DER MANN  Wer war das? DIE FRAU  Wer denn? DER MANN  Da hinten, da ging jemand. DIE FRAU  Wirklich? DER MANN  Da hinten war jemand. Ich meine, ich hätte da einen Mann gehen sehen, ganz da hinten. ER  Da war jemand. DIE FRAU  Wer denn? DER MANN  Ich weiß nicht. Er ist verschwunden. Stille.

DER MANN  Jaja. Schrecklich. Kurze Pause. Könnten auch die Eltern sein ... einer von den ­Eltern. DIE FRAU  Aber sie sind so jung ... sie sind so jung ... Sie ist bestimmt erst achtzehn, neunzehn. DER MANN  Ja, ich weiß es nicht. Hängt wohl davon ab, wie ... ob es ... Es kann ein kleines Kind sein.

Stille. ER  Die gucken dauernd her zu uns. SIE  Wer denn? ER  Die da hinten ... Da sind doch nur die. DIE FRAU  Warum gucken die her zu uns? DER MANN  Wer denn? Kurze Pause. Ach so, die. DIE FRAU  Die da hinten. DER MANN  Ja, wo sollen sie sonst hingucken? DIE FRAU  Ich frag mich, was die hier machen. DER MANN  Ich weiß es nicht. DIE FRAU  Die sind ja nicht so alt. DER MANN  Das hab ich vorhin schon gesagt. DIE FRAU  Wie wir. DER MANN  Wie wir. Nein, so alt sind sie nicht. DIE FRAU  Vielleicht sind sie ... vielleicht ist es jemand, den sie kennen. DER MANN  Ja. Kurze Pause. Schrecklich. DIE FRAU  Vielleicht ein Freund oder ein Bruder, eine Schwester.

DIE FRAU  Ich weiß nicht, ob ich ... DER MANN  Was sagst du? DIE FRAU  Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. DER MANN  Nein, ich auch nicht. DIE FRAU  Nein. DER MANN  Aber wir müssen. DIE FRAU  Ja. Stille. DIE FRAU  Vielleicht ist es jemand anders. DER MANN  Ja. DIE FRAU  Vielleicht ist er es nicht. Vielleicht ist es jemand anders. DER MANN  Ja. DIE FRAU  Ich will es nicht wissen. DER MANN  Nein.  Nimmt ihre Hand. DIE FRAU  Ich will nicht. ER  Gut, dass deine Mutter kommt. Dann können sie und ich Ordnung machen, bis ihr zwei nach Hause kommt. Dann haben wir Zeit, es schön zu machen, bis ihr nach Hause kommt. Sieht wirklich schlimm aus zu Hause. SIE  Wahrscheinlich sieht es bei mir schlimm aus. Aber wir ziehen ja sowieso um, spielt also keine Rolle. ER  Ja, aber ... SIE  Wie lange sind wir jetzt schon hier? ER  Ich weiß nicht ... Eine Viertelstunde vielleicht. SIE  Ich hab das Gefühl, seit Wochen. ER  Aber die wissen doch, dass wir hier sind. Die haben uns nicht vergessen. Das können die nicht machen. DIE FRAU  Glaubst du, die haben uns vergessen? DER MANN  Ja, scheint so. Leider scheint es so. DIE FRAU  Ja, scheint so. ER  Später können wir vielleicht verreisen. Urlaub machen. In der Türkei oder auf Kreta oder irgendwo, wo das Meer warm ist. Kann ja schon im April, Mai warm sein. Vielleicht finden wir was, Last Minute, und sind eine Woche, zehn Tage weg. SIE  Wie soll das gehen?


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ER  Kriegt man jetzt ganz billig. Um die Zeit fahren nicht so viele. SIE  Aber man kann doch mit einem kleinen, neugeborenen Kind nirgends hinfahren. ER  Nein, nicht jetzt. Später. DER MANN  Es ist neunzehn Jahre her. Sind das neunzehn Jahre? SIE  Nein, ich will nicht daran denken. ER  Nein. Später. Du brauchst nicht daran zu denken, nicht jetzt. In ein paar Monaten. Im September vielleicht. SIE  Nein, das geht nicht. Ich kann nicht. ER  Vielleicht kann er bei deiner Mutter sein, solange wir weg sind. Nur diese kurze Zeit. SIE  Nein. Ich muss anfangen zu arbeiten. ER  Arbeiten? Arbeiten, wie meinst du das? SIE  Ja, das muss ich. ER  Wie meinst du das? SIE  Sie haben gefragt, ob ich nächsten Monat anfangen kann. ER  Nächsten Monat? SIE  Im Mai. Die erste Maiwoche. Ich kann froh sein, dass jemand nach mir fragt. Mich haben will. ER  Verdammt noch mal, das kannst du doch nicht machen? SIE  Warum nicht? Wenn ich verreisen kann, kann ich auch arbeiten. Arbeiten macht mehr Spaß als irgendeine blöde Last-Minute-Reise. ER  Ich dachte, du willst zu Hause bleiben. SIE  Ich bin ja fünf Wochen zu Hause, fast sechs. ER  Ich kapier überhaupt nichts. Das ist der reine Wahnsinn. SIE  Ich will so schnell wie möglich in die Gänge kommen, damit ich wieder normal werde. Damit ich wieder ich selbst bin. ER  Ja, aber ... das ist doch viel zu früh. SIE  Nicht für mich. ER  Für ihn oder sie. Das musst du doch verstehen. SIE  Ich bin von allem völlig abgeschnitten. Ich bin abgeschnitten von der Welt und auch von mir. Ich weiß nicht, was passiert. Ich hab keinen Kontakt zu mir selbst. Ich bin wie eine Fremde, die ich nicht kenne, die Dinge tut, die ich normalerweise nicht tue. Es ist, als wäre ich vom Hals an ab­ geschnitten. ER  Ja, ich weiß. Das hast du gesagt. Ziemlich oft. SIE  Es nützt ja nichts, was ich sage. Du verstehst es nicht. ER  Nein. Ich versuch es. SIE  Ich versteh es auch nicht. ER Was? SIE  Was es ist, was da passiert. Ich versteh nicht, was da passiert.

DIE FRAU  Irgendwas könnten sie doch haben, das zeigt, dass hier ... DER MANN  Hier kommen und gehen die Leute den ganzen Tag. DIE FRAU  Siehst du welche?

DIE FRAU  Sie können sich geirrt haben. Es kann ein Missverständnis sein. DER MANN  Inwiefern? DIE FRAU  Geirrt, ganz einfach.   DER MANN  Wie sollte das gehen. DIE FRAU  Ich weiß nicht. Ich sage nur, dass ... solange ... bis wir es wissen. DER MANN  Ja. DIE FRAU  Ich weiß nichts. DER MANN  Nein, ich versuche nur ... ich versuche nur, mich an einen Strohhalm zu klammern ... etwas, um hoffen zu können. DIE FRAU  Ich hab ja neulich mit ihm geredet. DER MANN  Ach ja? DIE FRAU  Ja, vor ein paar Tagen. DER MANN  Das wusste ich nicht. DIE FRAU  Ich habe ihn angerufen, weil ich so lange nichts von ihm gehört hatte. DER MANN  Was hat er gesagt?

Stille.

Stille.

DIE FRAU  Hier ist doch kein Mensch ... Außer den beiden Ärmsten da hinten. Da sitzen welche. SIE  Gehst du? ER  Nein ... ich wollte nur aufstehen. SIE  Geh nach Hause, wenn du willst. ER  Nein, sag ich. SIE  Wir wohnen doch so nah.

DER MANN  Wirkte er deprimiert? Unruhig? DIE FRAU  Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich habe ihn seit langem nicht so fröhlich gehört ... er hat Witze gemacht ... DER MANN  Worüber? Worüber habt ihr ge­ redet? ER  Ich liebe dich. SIE Ja. DIE FRAU  Irgendwas Idiotisches, worüber wir beide gelacht haben ... Ich war auch fröhlich. Nachdem wir geredet hatten. Es wirkte so leicht. Ich bin ja immer fröhlich. Nach so einem Gespräch. ER  Jetzt kommt jemand. DER MANN  steht auf. Da kommt jemand. DIE FRAU  Nein. DER HAUSMEISTER kommt herein. DER MANN  steht auf. Wollen wir fragen? DIE FRAU   sitzt stumm da. ER  Guten Tag. Hallo. HAUSMEISTER Sind Sie die, die herkommen wollten? SIE  Ja, ich glaube. ER  Ja ... Die draußen haben es gesagt. SIE  Dass wir hierher kommen sollten. ER  Wir sitzen hier und warten. Das Fruchtwasser ist schon abgegangen. HAUSMEISTER Ich hatte einiges zu tun. ER  Wo sollen wir jetzt hin? HAUSMEISTER Ich dachte, Sie sind älter. Kam mir so vor. ER  Älter? Wie?

ER  Kannst du nicht wenigstens bis nach Weihnachten warten? SIE  Es ist, als ob ich einen schrecklichen Film sehe, ohne Ton, und nicht verstehe, was die Leute machen, obwohl ich dabei bin. – Ich will wieder im Leben sein. DER MANN  In einem Warteraum kann man ­keine Kerzen haben. DIE FRAU  In Kirchen haben sie welche. DER MANN  In Kirchen, ja. DIE FRAU  Das sind doch auch Warteräume. Stille.

Stille. ER  Ich hab gesagt, ich bleibe. DIE FRAU  Wir warten und warten. DER MANN  Ja. DIE FRAU  Das haben wir damals auch. DER MANN  Was sollen wir denn machen. DIE FRAU  Wir haben ungewöhnlich lange ­gewartet. Stille. DIE FRAU  Vielleicht ist es jemand anders. DER MANN  Ja ... DIE FRAU  Vielleicht ist er es gar nicht. DER MANN  Nein. DIE FRAU  Vielleicht ist es nicht Elias. DER MANN  Nein. DIE FRAU  Vielleicht nur einer, der ihm ungeheuer ähnlich sieht. DER MANN  Aber die haben doch dich angerufen ... Warum sollten sie dich anrufen, wenn es nicht stimmen würde ...

PRINCESS HAMLET VON E. L. KARHU DIGITALE THEATER-SERIE REGIE: MARIE BUES UND NIKO ELEFTHERIADIS

FOLGE 1/5 AB 25.03.21 PRINCESS-HAMLET.DE

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HAUSMEISTER Ja, aber Sie sind ja vielleicht Geschwister oder Bekannte. ER  Nein, wir sind verheiratet. HAUSMEISTER Verheiratet? Miteinander? ER  Ja, seit fast einem Jahr. DER MANN  nähert sich. Guten Tag ... Ver­ zeihung. ER  Ist es nicht hier? DER MANN  Ich will nur etwas fragen, aber ich kann warten. HAUSMEISTER Ach so, sind Sie die, die herkommen wollten? DER MANN  Ja ... Ich weiß nicht ... Ich glaube. HAUSMEISTER Sie wollten wegen einer Identifizierung herkommen. DER MANN  Ja, ein Junge. HAUSMEISTER Ein jüngerer Mann. DER MANN  Ja. Ja, das sind wir. DIE FRAU  Wir wissen nicht, ob es ... HAUSMEISTER Ich hab mich schon gefragt, wo Sie geblieben sind. DER MANN  Wir haben hier gewartet. HAUSMEISTER Ich saß da drinnen im Büro. DIE FRAU  Wir haben ... hier gewartet. DER MANN  Ist es ein Mann ... ein junger Mann? HAUSMEISTER Der, der heut Morgen reinkam? Ja, er ist noch nicht so alt. DER MANN  Er ist neunzehn. DIE FRAU  Zwanzig. DER MANN  Ja, zwanzig. DIE FRAU  Er ist im März zwanzig geworden, am 19. März. DER MANN  Blond. Ziemlich schmal. DIE FRAU  Er ist zwanzig. DER MANN  Seine Haare sind blond. Blond. ER  Verzeihung, wir waren zuerst da. HAUSMEISTER Ja, Augenblick. Ich hab ihn nicht so genau angesehen. DER MANN  Hatte ... hat er blonde Haare? HAUSMEISTER Ja. ER  Verdammt, was soll das hier? SIE  Warte doch. Ruhig. HAUSMEISTER Ich hab nicht so genau geguckt, wegen der Haarfarbe, was die Haare für eine Farbe hatten. DIE FRAU  Elias ist groß und schmal. ER  Wir waren zuerst da. DER MANN  Ja. Er ist im März zwanzig geworden. HAUSMEISTER Ich kann nicht so viel sagen. Besser, Sie sehen ihn selbst. ER  Es kann jeden Moment so weit sein. DER MANN  Ja, natürlich. ER  Was machen Sie dann?

HAUSMEISTER Ich hab den Körper nur angenommen und registriert, als die Polizei ihn heute Morgen gebracht hat. DER MANN  Ist er verletzt? DIE FRAU  Er wollte im Herbst an die Pädagogische Hochschule ... aber zuerst will er ein Jahr frei haben und reisen ... nach Australien. DER MANN  Australien? HAUSMEISTER Australien. ER  Was ist mit uns. DER MANN  Das wusste ich nicht. HAUSMEISTER Ja, wenn wir jetzt ... Wenn Sie mir folgen, werden wir sehen, ob es die betreffende Person ist. Erst dann weiß man es ja und kann ­sicher sein. DER MANN  Was will er denn da? ER  Verzeihung ... HAUSMEISTER Ja? ER  Verzeihung, ich wollte nur fragen, ob das hier die Entbindungsstation ist. HAUSMEISTER Ob was? ER  Die Entbindungsstation. Wo Menschen Kinder kriegen. HAUSMEISTER Ach so, die. Nein, das hier ist der Warteraum ... ER  Zu was? HAUSMEISTER Wollen Sie da hin? ER  Ja, meine Frau ist kurz vor der Entbindung. Die haben uns gesagt, wir sollten hierher kommen. HAUSMEISTER Die Entbindungsstation ist da drüben, der zweite Flur, nach links. Der linke Flur, von hier aus gesehen. ER  Am Empfang haben sie uns gesagt, wir sollten hier runtergehen. HAUSMEISTER Ja, ja ... Es ist der zweite Flur, da hinten, wo die Türen sind. ER  Da hinten? HAUSMEISTER Geradeaus, und dann links. ER Ja. Stille. HAUSMEISTER Verstehen Sie? ER  Ich hoffe es. HAUSMEISTER kurze Pause. Sie gehen einfach dort hin, und dann können Sie noch mal fragen. ER  Aha. Danke. HAUSMEISTER Es ist ein anderes Gebäude, aber derselbe Eingang zu beiden. Aber eigentlich sind es zwei völlig getrennte Gebäude. ER  Sehr schlau. HAUSMEISTER Hier ist eine andere Abteilung ... aber das kann man ja vielleicht nicht wissen. ER  Da steht ja nichts.

Digital

So 7.3. Mallika Taneja Allegedly Mo 8.3. Geschlechterverhältnisse im Kulturbereich – zwischen Vision und Realität

HAUSMEISTER Nein, es steht nur ein Buchstabe über den Türen. ER Okay. HAUSMEISTER Das andere, das ist da hinten. ER  Da ist es ganz dunkel. HAUSMEISTER Ja, aber es ist immer jemand da. ER  Okay. Danke. Vielen Dank. HAUSMEISTER Keine Ursache. DER MANN  Das hab ich doch gesagt. Es ist derselbe Raum, wo wir damals waren. HAUSMEISTER Nein, nein. DER MANN  Vor neunzehn Jahren. HAUSMEISTER Es ist eine andere Abteilung. Das hier ist ja ... DER MANN  Nein, das ist es nicht. HAUSMEISTER Was denn? DER MANN  Nein. ER  Du ... SIE  Du ... ER  Du ... HAUSMEISTER Hoffe, er findet’s jetzt. DER MANN  Ja. DIE FRAU  Was sollen wir machen? SIE  Was hat er gesagt? ER  Wir sollen da hinten hingehen. Da hinten nach links. SIE  Dann ist es ja nicht hier. Hab ich doch gesagt. ER  Es ist derselbe Eingang, aber wir hätten nach links gehen sollen. Danach. SIE  Da ist es ganz dunkel. ER  Hat er gesagt. SIE  Bist du sicher? ER  Ja, bin ich. Ich hab ihn ja gefragt. SIE  Da ist gar keiner. ER  Das wissen wir doch nicht. SIE  Es ist völlig dunkel. ER  Klar ist da jemand. Verdammt noch mal, Leute kriegen ständig Kinder. SIE  Kannst du nicht noch mal fragen. ER  Ich hab doch schon gefragt. SIE Wen? ER  Den Mann, der hier war. Stille. ER  Also, gehen wir? SIE  Es ist so still. Stille. SIE  legt die Hand auf ihren Bauch. Hier. ER  Wie meinst du? SIE  Es ist so still ... Ich spüre nichts.

Di 16.3. feministischer salon basel: Francis Seeck, Brigitte Theißl, Geneva Moser Klassismus & queer_feminismus

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ER  Jetzt komm doch endlich. Hast du Schmerzen? DIE FRAU  Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. DER MANN  Ich kann hingehen ... Soll ich hin­ gehen? DIE FRAU  Nein. DER MANN  Warte hier, dann ... HAUSMEISTER Nein, das ist nicht leicht. Es ist nie leicht. Es ist irgendwie noch schlimmer, wenn sie so jung sind. DER MANN  Bleib du hier. HAUSMEISTER Es sind so viele Junge zurzeit. Es werden einfach mehr und mehr ... sie sind nicht mal ... fast noch Kinder. Man glaubt ja immer, dass es Ältere sind. Es sind so viele einsame junge ­ Leute, die in ihren Wohnungen vermodern. DER MANN  Sicher. HAUSMEISTER Es ist schwer, sie zu vergessen. DIE FRAU  Nein, ich kann nicht ... DER MANN  Nein. DIE FRAU  Ich will nicht allein hier bleiben ... Ich mag nicht. HAUSMEISTER Vielleicht möchten Sie noch eine Weile warten, bevor ... DER MANN  Nein. ER Emma. SIE   steht langsam auf, geht zu den drei anderen. DIE FRAU  Ich weiß es ... Ich wusste es. HAUSMEISTER Hätten Sie gern Musik? DER MANN  Nein, warum? HAUSMEISTER Manche wollen es, manchen gefällt es. Was für Musik gefällt Ihnen? DER MANN  Nein. SIE und DIE FRAU stehen einander gegenüber. DIE FRAU sieht sie an, aber sie sieht vorbei, durch sie hindurch. DIE FRAU   berührt die Brust der jungen Frau, umfasst sie weich. DER MANN  Emma ... Was machst du? DIE FRAU  Ich bekam ein Kind. Wir bekamen ein Kind. Dann trennten wir uns. Wir hätten nie eins bekommen dürfen. Ich bin gegangen. Eines Tages bin ich gegangen. Da war Elias zwei. DER MANN  Emma ... Komm. DIE FRAU  Wir hätten nie eins bekommen dürfen. Ich wollte keins. Aber ich bekam eins. DER MANN  Emma, du redest mit einer Fremden. ER  Emma, was machst du? SIE  Ich will nur zur Toilette. HAUSMEISTER Da hinten. Die eine Tür da. DIE FRAU  setzt sich. SIE   geht.

HAUSMEISTER Folgen Sie mir bitte. DIE FRAU  Alle gehen weg. DER MANN  nimmt ihre Hand. Komm jetzt, Emma. DIE FRAU  Jetzt bin nur noch ich da. Stille. Ein Körper, bedeckt mit einem Laken, liegt auf einer Bahre mitten im Raum. ER geht gleichzeitig in den anderen Raum, der derselbe Raum ist – das Einzige, was sie unterscheidet, ist das Licht. SIE sitzt auf dem Bett. SIE Hallo. DAS MÄDCHEN Hallo. Ich warte auf jemand. SIE  Was hast du gesagt? DAS MÄDCHEN Ich warte auf jemand, der nicht gekommen ist. ER Hallo. SIE Hallo. ER  Ich bin’s. Wie sieht’s aus?

SIE  Die haben nicht gesagt, dass es so wehtun würde. Das haben sie nicht. ER  Nein, das stand nicht im Buch. SIE  Ich dachte, ich müsste sterben. Bin ich beinah. ER  Du hast mich geschlagen. SIE Wirklich? ER  Ja, du hattest solche Schmerzen, dass du mich geschlagen hast. Mitten ins Gesicht. Stille. SIE  Das war nicht meine Absicht. ER  Nein, macht nichts. Ich hab es nicht deshalb gesagt ... Ich hab dir die hier mitgebracht ... und ein paar Bücher und Zeitungen, falls du was lesen willst. SIE  Danke. Duften sie? ER  Soll ich sie hierher legen? SIE  Lesen ist mir noch zu viel. ER  Nicht jetzt. Du kannst sie später lesen. Soll ich sie in dein Zimmer legen?

Stille. Stille. ER  Du bist auf? SIE Ja. ER  setzt sich neben sie, nimmt ihre Hand. Wie sieht’s aus? Wie geht’s dir? Du riechst gut. SIE Müde. ER Klar. Umfasst sie. Kein Wunder. Das ist ja das Größte, was passieren kann. Was für eine Nacht, das war eine historische Nacht. Stille. ER  SIE  ER  SIE

Schön. Fühlst du dich besser? Das werd ich wohl. Ja. Du darfst bald nach Hause. Ja, aber nicht heute.

Stille. ER  Es ist herrlich draußen ... Bestimmt neunzehn Grad, man spürt, dass Frühling ist. Die Luft ist so klar ... glasklar. Man kriegt Lust, Fußball zu spielen. Pause. Aber ich muss warten, bis er ein bisschen größer ist. Bis dahin kann ich ihn ja ins Tor stellen. SIE  Die wollen, dass man so schnell wie möglich aufsteht. ER  Und das machst du. Wie fühlst du dich? SIE  Ich weiß es nicht, hab ich doch gesagt. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. ER Nein.

SIE  Hast du sie da unten gekauft? ER  Ja. Spielt keine Rolle, wo ich sie gekauft habe. SIE  Hast du sie da unten gekauft? ER  Ich hab ihn mir angeguckt. Ich hab ihn hochgehoben. Er ist so leicht. Als ob man Luft hält. SIE  Er soll schlafen. ER  Bevor ich zu dir kam. Ja, er schläft. SIE  Du darfst ihn nicht wecken. ER  Nein. Ich hab ihn nur angeguckt. Er ist so niedlich. Er hat ein paar Haare auf den Schultern und zwischen den Schulterblättern. Aber die haben gesagt, das vergeht wieder. SIE  Ich weiß. Ich darf nichts trinken, wenn ich stille. ER  Ein bisschen kannst du wohl trinken. SIE  Nein. Wir wollen doch keinen Alkoholiker. ER  Was denn. Sein Großvater war Alkoholiker. SIE Eben. ER  Es ist ein Junge geworden. Na also. SIE  Das wolltest du doch. Macht eine Grimasse. ER  Mit blauen Augen. Pause. Tut es weh? SIE  Nur wenn ich mich bewege. ER   lacht. SIE  War das komisch? ER  Nein, nein. Das nicht. Lange Pause. Ich musste an eine Geschichte denken, einer von den ­Typen hat heut Nacht eine Geschichte erzählt. Ein Mann, irgendwo in Afrika, wurde von ein paar Eingeborenen an einen Baum gebunden. Sie waren

Verena Billinger & Sebastian Schulz

TANZABEND/N.N. Digitale Premiere 26.3.

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zu zweit, zwei weiße Männer, ist schon lange her, die wurden an einen Pfahl gebunden. Dann rammten ­ihnen die Eingeborenen einen Spieß durch den Körper, der eine weinte und schrie und brüllte vor Schmerzen, aber der andere reagierte einen Scheißdreck. Da fragte der, der vor Schmerzen schrie und brüllte, den anderen, ob es nicht wehtut. Der antwortete: Nur wenn ich lache. SIE Aha. ER  Darüber habe ich gelacht. SIE  Ja ... Es ist ein Gefühl, als hätte mir jemand einen Spieß durch den Körper gerammt.

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DER MANN  Er hat ja keine ... Hat er keine Schuhe? DIE FRAU  Hat er seine Sachen nicht an? HAUSMEISTER Nein, nicht im Moment. Er war nackt, als sie ihn fanden. Stille. HAUSMEISTER Ja ... Soll ich, oder wollen Sie ... DER MANN  Nein ... Ja. SIE  Ich bin so müde. DER HAUSMEISTER zieht das Laken weg. DIE FRAU  Nein.

Stille.

Stille. ER  Jetzt haben wir ein Kind. Du und ich. SIE  Ja. Jaa ... ER  Unser Kind ... Ich kann es nicht fassen. SIE  Ich auch nicht. ER  Es war so merkwürdig, als er rauskam, als er gerade rauskam aus deinem wunderbaren Körper ... er sah mir direkt in die Augen ... ich weiß nicht, ob es stimmt oder ob ich es mir einbilde, aber ich hatte den Eindruck, er sah mich irgendwie ruhig und klar an, und es war so, als wüsste er schon alles, jede verdammte Lüge, jeden verdammten Betrug ... alles, was man im Leben durchstehen muss, bevor man zum Mann wird. Als wüsste er alles, was passieren wird ... als wüsste er alles, was ihn erwartet ... und als ob er mich kannte, als hätten wir uns schon immer gekannt, aber erst jetzt getroffen ... und als ob er sagen wollte: Da bist du ja. SIE  Hat er deshalb geschrieen? ER  Warum sagst du das? SIE  Sollte ein Witz sein. Ich darf doch auch Witze machen? Bist du sauer? ER  Es klang nicht wie ein Witz. SIE  Was soll ich machen? DER MANN  Ist er das? HAUSMEISTER Ja, der, der heut Morgen kam, kurz vor sechs. Hätten Sie gern etwas Musik? DER MANN  Was für Musik? HAUSMEISTER Bach oder Beethoven, vielleicht was von seinen letzten Sachen. DER MANN  Nein, keine Musik. HAUSMEISTER Er ist der Einzige hier ... Er ist allein. ER  Er sah mich an, als wüsste er schon alles, was passieren wird ... alles, was ihn erwartet ... Er hielt die Hände vor sich, so ... Macht eine hohle Hand. Als hielte er mein Leben in seinen Händen.

DER MANN  Verzeihung. Kurze Pause. Verzeihung. ER  Soll ich ihn holen? SIE  Nein ... Lass ihn besser. HAUSMEISTER Nur zur Sicherheit, um Irrtümer zu vermeiden. Manchmal sehen die Angehörigen nicht, was sie sehen. Kurze Pause. Es wäre ja ... DER MANN  Verzeihen Sie. DER HAUSMEISTER zieht das Laken über das Gesicht des Toten. DER MANN  zieht das Laken wieder herunter. Nein.

DER MANN schließt die Augen. DIE FRAU  Nein. DER MANN  Ist er es nicht? DIE FRAU  Nein. DER MANN  Wer ist das? Macht einen Schritt nach vorn. Nein. Stille. DER MANN  Armer Elias ... Kleiner Elias. Mein kleiner Elias. ER Du. Stille. HAUSMEISTER Ja. DER MANN  Kleiner Elias. Was hast du getan? Stille. HAUSMEISTER Ist es Elias? DER MANN  Ja ... Das ist er. Stille. HAUSMEISTER Es ist also die betreffende Person? DER MANN  Ja. HAUSMEISTER Sie sind ganz sicher? DER MANN  Sicher? HAUSMEISTER Ja. DER MANN  Ja, wir sind sicher. Was meinen Sie eigentlich? Stille. DER MANN  Was zum Teufel reden Sie? HAUSMEISTER Manche sind einfach ...

HAUSMEISTER Vielleicht möchten Sie eine Weile für sich sein. DER MANN  Ja ... Danke. HAUSMEISTER Ich gehe und ... Ich gehe ins Büro. DER MANN  nickt. HAUSMEISTER Es war nur so ein Gedanke ... ER Liebling. DER MANN  Sicher. Stille. HAUSMEISTER Ein Gedanke, den ich manchmal habe, wenn ich mich kümmere um die Menschen, die fortgegangen sind ... ob es, wie es manchmal so geht, etwas Schweres ist, das sie hierher geführt hat ... ich weiß ja nicht, ob es in diesem Fall so ist. Wahrscheinlich weil für die, die fort sind, das Ganze jetzt vorbei ist, sie müssen sich ja nicht mehr erinnern, was passiert ist, sie wissen es nicht mehr. Wir, die noch leben und die hier zurückgeblieben sind, müssen sich erinnern und leiden. Aber für sie ist es vorbei. Sie sind jetzt frei. DER MANN  Ja. HAUSMEISTER Ja, für sie ist das Ganze vorbei ... Sie können ausruhen. Vielleicht ein Trost. DIE FRAU  Soll er hier ganz allein liegen? ER  Jetzt sind wir zu dritt. SIE Ja. ER  Freust du dich? SIE  Ja ... Ich hab nur nicht die Kraft, mich zu freuen. Im Moment. ER Nein. SIE  Du musst dich für mich mitfreuen. ER  Ich versuch’s. Stille.

Stille.

DIGITALES PROGRAMM KAMPNAGEL.DE ROSANA CADE WALKING:HOLDING (Film) NEW MEDIA SOCIALISM THE JUSTICE PROJECT A Collective Hallucination on Justice and Jurisdiction

THE KAMPNAGEL QUEERIAL LECTURES u.a. mit Alok, Elsz ... REVOLUTIONARY SOUQ EIN IMMERSIVER BASAR IM DIGITALEN RAUM INSTITUTIONELLER RASSISMUS – TEIL 7: MEDIEN mit Mohamed Amjahid CHERRYO!-KIE QUIZALICIOUS - The Online Musical Sensation

1 2 0 2 R Ä M K

EL HAM AMPNAG

BURG


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DIE FRAU  nimmt die Hand des Mannes, hält sie.

Stille.

Stille.

DER MANN  Wollen wir gehen? DIE FRAU  Wohin? DER MANN  Nein ... Komm jetzt, Emma. DIE FRAU  Ich geh, wenn es Zeit ist. Wenn es Zeit ist, dann geh ich. Dann geh ich. DER MANN  Ja. ER Hallo. DAS MÄDCHEN Hallo, hallo. ER  Möcht wissen, was mit ihr ist.

ER Ja. Pause. Ich dachte, ich ruf heute ein paar Umzugsfirmen an und frag, was es kostet. SIE  Heute ist Sonnabend. ER  Stimmt, Mist, heute ist Sonnabend. Das Beste wär ja, wir könnten es allein machen ... kommt billiger. SIE  So wenig, wie wir haben. ER  Ja ... Dauert ja noch ein paar Monate. Drei. DIE FRAU streckt die Hand aus, berührt das Gesicht des Toten. DER MANN   sagt etwas, das nicht zu verstehen ist. SIE  Es ist so schön hier. Ich würde gern hier bleiben. ER Wirklich? SIE Ja. Stille. SIE  Ich will schlafen ... aber es tut so weh. ER  Bist du jetzt müde, Liebling? SIE  Ja ... So müde war ich noch nie. Ich hab nicht gedacht, dass ich so müde sein könnte. ER  Möchtest du was? SIE schüttelt den Kopf. ER  Das wird extrem schön, wenn du nach Hause kommst. SIE  Ich muss anfangen zu arbeiten. ER  Darüber müssen wir nicht jetzt reden. SIE  Ich will anfangen zu arbeiten. Es ist sehr, sehr wichtig für mich. ER  Ich weiß. Ich weiß, dass es das ist. Es ist für mich genauso wichtig wie für dich. SIE  Dann bin ich vielleicht wieder ich selbst. ER  Das hoff ich. Stille. SIE  Ich kann nicht einfach irgendwo auf dem Land hocken, ohne was zu tun zu haben. ER  Wer hat gesagt, dass du das sollst? SIE  Dann geh ich unter. ER  Du musst machen, was du willst. SIE  Damit komm ich nicht klar. ER  Ich auch nicht. Stille. DIE FRAU  Soll er hier ganz allein liegen? DER MANN  Emma. Wollen wir gehen?

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Stille. SIE  Es geht so schnell. ER Was? SIE  Alles. Ist so schnell gegangen. Ich komm nicht mit. ER  Was denn, meinst du jetzt wieder das Haus? SIE  Alles. Ich komm selbst nicht mit. ER  Wir wollten es doch. Wir sind rumgefahren und haben jede Menge Häuser angeguckt. SIE  Weil du es wolltest. Weil es für dich so verdammt wichtig war. ER  Nur für mich? Wirklich nur für mich? SIE  Ein Haus zu haben ... und ein Kind und eine Familie, weil du nie eine hattest. ER  Ach so. Kurze Pause. Ich dachte, du wolltest es auch. Wie ich. SIE  Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich dachte, es würde besser werden, danach, wenn es vorbei ist, aber für mich ist es nur unwirklich. ER Was? SIE  Du, ich, alles ... Ich weiß nicht ... Als wäre nichts mehr da. Als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren. Ich sehne mich zurück in meine schöne, kleine Wohnung mit dem Balkon und den Birken davor. Meine erste eigene Wohnung. Ich sehne mich nach zu Hause, nach Großmutter und Großvater. Ich sehne mich danach, auf Großmutters Schoß zu sitzen. Dass Großmutter mich zum Bett trägt und warm zudeckt und mir eine Tasse heißen Kakao und ein Butterbrot bringt. ER Ja. DIE FRAU  Was wollen wir machen? DER MANN  Ich weiß nicht. DIE FRAU  Nein ... ER   Ich hab genug von der Stadt. Ich muss ... ich kann hier nicht mehr leben. Ich will ein anderes Leben.

re pa

s

DER MANN Ich hab das Gefühl, ich höre ... DIE FRAU  Ich weiß nicht, wie ich hier weggehen und ihn bei lauter fremden Menschen allein lassen soll. DER MANN  Nein. DIE FRAU  Aber er ist ja immer allein. Stille. DER MANN  Ich bleib hier. Ich geh nicht weg. Ich bleibe. SIE  Wir kannten uns erst ein paar Monate, bevor ich schwanger wurde, und jetzt sollen wir aufs Land ziehen. Ich weiß nicht ... es ist ein Gefühl, als ob alles, was ich gern habe, irgendwie weggerissen worden ist. Das Einzige, was ich noch habe, ist die Arbeit, arbeiten zu können. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen werde, wenn ich da unten wohne, mit einem kleinen Kind ... Ich kenne da keinen einzigen Menschen. ER  Du kennst mich. SIE  Ja ... Wirklich? ER  Ja, das hoff ich. SIE  Kenne ich dich? ER  Ja, das hoff ich. SIE  Ich weiß nicht, ob ich dich kenne. Ich kenn bestimmte Seiten. Aber ich weiß nicht, ob ich dich kenne. ER Neein. Kurze Pause. Aber ... das liegt an dir. SIE  Du hast so viele dunkle Räume, die ich nicht ... wo ich nicht weiß, was da ist. ER  Dunkle Räume? SIE Ja. ER Ich? DER MANN  Ich kannte ihn kaum. Stille.

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Neue Autorin / Neuer Autor / Neue Stücke Stay at home and read!

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Stéphanie Chaillou DER VATER Axel Sichrovsky HEROS TAT

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MERLIN VERLAG

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ER  Ich, dunkle Räume? SIE Ja. ER  Was für verdammte Räume? SIE  still. Das weiß ich nicht. ER  Und deine sind hell? SIE  Das waren sie. DIE FRAU  Was wollen wir machen? DER MANN  schüttelt den Kopf. DIE FRAU  Nein ... DER MANN  Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt. DIE FRAU  Ich weiß nicht, was ich machen soll. Was macht man? Ich hab so was noch nie erlebt. Stille. DIE FRAU  Wir müssen wohl ... Sie sehen einander an. DER MANN  Wir haben uns ja seit Jahren nicht gesehen. DIE FRAU  Nein. DER MANN  Du und ich. Ich weiß nicht, wie lange es her ist. DIE FRAU  still. Es ist sehr, sehr lange her. DER MANN  Und jetzt sehen wir uns hier ... Hier. ER  Ja, so bin ich. DIE FRAU  Ich weiß. DER MANN  Was machen wir also? DIE FRAU  Ich weiß es nicht. ER  Ich soll wohl gehen. SIE  Ja, ich hab das Gefühl. ER  Die Besuchszeit ist bald vorbei.

Stille. ER  Ich kann noch eine Weile bleiben. DER MANN  Wir müssen wohl ... DIE FRAU  Wir müssen später darüber reden ... worüber wir reden müssen. DER MANN  Genau. Ja. DIE FRAU  Jetzt kann ich es nicht. DER MANN  Ich auch nicht. ER  Wenn du willst, kann ich noch eine Weile bleiben. SIE  Nein ... Wir sagen doch nichts. Nichts Wichtiges. DER MANN  Dann müssen wir uns ja um seine Sachen kümmern. DIE FRAU  Seine Sachen ... DER MANN  Ja, Habseligkeiten ... was er hatte. DIE FRAU  Er hatte nicht sehr viel. ER  Alle haben dunkle Räume. Einen kleinen, dunklen Raum.

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Stille. DER MANN  Da. Legt seine Hand auf ihre Schulter, zeigt auf das beleuchtete Fenster in der Tür. Da ist die Tür. Da sind wir gekommen. DIE FRAU  Ja. DER MANN  Du. DIE FRAU geht hinaus.

Stille. Stille. ER  Du wahrscheinlich auch. DER MANN  Was hast du gesagt? DIE FRAU  Das kann ich machen ... Ich kann mich drum kümmern ... Da ist nicht so viel. DER MANN  Nein.

DIE FRAU  Wohin gehen wir? Stille. DIE FRAU  Du solltest einen Hund haben. DER MANN  Einen Hund? DIE FRAU  Du müsstest dir einen Hund kaufen ... DER MANN  Warum denn? DIE FRAU  Um den du dich kümmern kannst. DER MANN  Nein, ich will keinen Hund. DIE FRAU  Einen kleinen, einen Jack Russel. Die sind doch gut. DER MANN  Nein, ich will keinen Hund. ER  Ich weiß nicht, was ich sagen soll. SIE  Nein ... Ich auch nicht.

ER  Du ... DER MANN  Wir können uns gegenseitig helfen. DIE FRAU  Ich kann da jetzt nicht dran denken. DER MANN  Nein ... ER  Du ... DER MANN  Aber wenn wir was zusammen machen würden. ER  Du ... DIE FRAU  Du warst ja fast nie da. SIE  Ja, was ist? DER MANN  Nein. ER Nichts. DIE FRAU  Ich kann mich drum kümmern. DER MANN  Aber ich will ... Ich hab ihm im Januar einen neuen Kühlschrank gekauft.

DER MANN setzt sich.

Stille.

Stille.

ER  Ich bekomm keine Antwort. Stille.

DER MANN  Ich hab ihn auswärts getroffen, mehrere Male. Ich weiß nicht mehr, wann, aber da hat er gesagt, er wüsste jetzt, dass er Lehrer werden will. Dass er im Frühjahr an die Pädagogische Hochschule will. Ich hab nichts gemerkt. Ich fand, alles sah gut aus. DIE FRAU  Ja, dann war es wohl so.

ER  Von dir. Ich bekomm keine Antwort von dir. Du antwortest nicht. SIE  Was soll ich antworten? ER  Wenn ich was sage. Ich hab nicht das Gefühl,

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dass du antwortest. Es geht nicht rein. Die Worte gehen nicht rein. Die Worte erreichen dich nicht ... gehen nicht rein. SIE  Was soll ich dazu sagen? ER  Wenn ich dich ansehe, habe ich nicht das Gefühl, dass du es siehst, dass ich dich ansehe. Du siehst mich nicht. SIE Warte. ER  Ja, was ist? DIE FRAU  dreht sich um, als wolle sie hinaus­ gehen. DER MANN   wartet.

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Stille.

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lars norén_terminal 3

/ TdZ  März 2021  /

DER MANN  Was? DIE FRAU  Er hat wohl getan, was er konnte. DER MANN  Ich versteh nicht, warum er nichts gesagt hat, als wir uns getroffen haben. Warum hat er nichts gesagt? DIE FRAU  Ich weiß nicht. ER  steht auf. Ich geh jetzt. SIE  Ja, das seh ich. ER  Ich geh nach Hause. SIE Sicher. ER  Ich komm heute Abend. Stille. ER  Willst du nicht, dass ich komme? SIE  Doch, ich bin nur so verdammt müde. ER  Wir reden später weiter. SIE  Das müssen wir. ER  Okay ... Ich komm heute Abend. Bis heut Abend. SIE  Wir müssen reden. Wir müssen reden. Stille.

Lars Norén wurde 1944 in Stockholm geboren und galt als einer der bedeu­ tendsten Dramatiker und Regisseure des schwedischen Gegenwartstheaters. Bis 2005 war er Intendant des Stockholmer Riksteatern und von 2009 bis 2011 zusammen mit Ulrika Josephsson Künstlerischer Leiter des Folksteatern Göteborg. In Deutschland war der Dramatiker vor allem durch die Zusammenarbeit mit Thomas Ostermeier bekannt, der seine Intendanz an der Schaubühne Berlin im Jahr 2000 mit der Inszenierung von Noréns „Personenkreis 3.1“ eröffnete. Am 26. Januar 2021 ist Lars Norén im Alter von 76 Jahren an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung in Stockholm gestorben.

DER MANN  Nein. Niemand, mit dem ich reden kann. Stille. DER MANN  Möchtest du, dass ich warte ... DIE FRAU  Das brauchst du nicht. DER MANN  Ich kann noch eine Weile warten ... DIE FRAU  Geh nur. Stille. DER MANN  Ich bleibe. Ich bleibe. Stille. Dunkel.

DER MANN  Fährst du nach Hause? DIE FRAU  Ich weiß nicht. Stille. DER MANN  Was machst du jetzt? DIE FRAU  Ich weiß nicht. Pause. Was soll ich machen? DER MANN  Nein ...

DIE FRAU  Ich sitz hier noch eine Weile. Ich sitz hier eine Weile. DER MANN  Ja. Pause. Hast du jemand, mit dem du reden kannst? DIE FRAU  Nein, nicht mehr ... Du?

Copyright © Lars Norén / Norén AB, 2006 Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

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Fjodor Dostojewskis „Der Idiot“ in der Regie von Mattias Andersson am Dramaten Stockholm. Foto Roger Stenberg

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Magazin Antigone in Molenbeek

Die digitalen Lessingtage des Hamburger Thalia Theaters

bringen die Stimmenvielfalt europäischer Künstlerinnen und Künstler ins Wohnzimmer

Bücher und CDs

Bertolt Brecht / Stephan Suschke, Masha Qrella, ITI Zentrum

Deutschland / Matthias Rebstock


magazin

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Antigone in Molenbeek Die digitalen Lessingtage des Hamburger Thalia Theaters bringen die Stimmenvielfalt europäischer Künstlerinnen und Künstler ins Wohnzimmer Da sitzt er mit Strickmütze im offenbar frosti-

Isis-Kämpfer in die Luft gesprengt, und so

erschuf sie nun ein raffiniertes Spiel, in dem

gen Nachtasyl, ausgerechnet dem Ort des

wenig seine sterblichen Überreste greifbar

die mittlerweile 60-Jährige persönlich ihre

Hamburger Thalia Theaters, an dem sonst die

sind, so wenig Halt hat sie. Verfügt ihr antikes

Geschichte erzählt und das sich aus Einspie-

jungen Regisseure des Hauses inszenieren

Vorbild noch über eine Familie und das göttli-

lern ihrer Filme, abstrakten Bildprojektionen

und die besten Partys stattfinden: Thalia-­

che Gesetz, das ihr Orientierung bietet, steht

und Tonaufnahmen zum Kaleidoskop einer

Intendant Joachim Lux hat den Ort für seine

hier ein entwurzeltes Individuum – allein.

Erinnerung zusammensetzt. Im Dialog mit

Eröffnungsansprache der diesjährigen Lessing­

dem Publikum und einer Saxofonistin zei­

tage sicher nicht zufällig gewählt. Denn es ist

gen Cors und Lacasa ein facettenreiches

ein Ort des Experimentierens und der Begeg-

Bild von Weiblichkeit im Blick männlicher

nung. Und genau das, so sagt er in seinen

Begierde – samt klarer Entscheidung zur ­

einführenden Worten, soll das digitale Format

Selbstbestimmung. Dennoch

„Stories of Europe“ – ein Festival des europä-

ist

Medieneinsatz

keine

ischen Netzwerks mitos21 – erzeugen: Dia-

Grundvoraussetzung für eine gelungene Adap-

log, gemeinsames Theatergucken mit Freun-

tion für den Screen. Das zeigt Mattias Anders-

den weltweit. Die Inszenierungen wurden von

sons Inszenierung von Fjodor Dostojewskis

Partnertheatern aus acht Ländern – von

Roman „Der Idiot“ am Dramaten Stockholm.

Frankreich über Italien bis Schweden und

Er überführt den Text in einer eigenen Büh-

Russland – selbst ausgesucht, es gab also

nenversion in die Gegenwart und setzt auf die

keine kuratorische Auswahl.

Präsenz seines Ensembles, das über die ge-

In dem folgenden Kurzfilm „Voices of

samte Dauer die Bühne bevölkert. Für die

Europe“ kommen – neben den am Festival

Aufnahme holte er sich Profis ins Haus. Und

teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern – Macher der europäischen Theaterszene zu Wort. Die dreißig Minuten geben einen spannenden Einblick, was die Pandemie in den jeweiligen Ländern für Künstler bedeutet. Die staatlich geförderten Theater im deutschsprachigen Raum stehen vergleichsweise gut da,

so verfolgt man am Bildschirm die Unter­ Die Lessingtage zeigen, was die Pandemie für die Künstler bedeutet – hier Daria Deflorian in ihrer mit Antonio Tagliarini entwickelten Performance „Der Himmel ist keine Kulisse“ am L'Odéon – Théâtre de l'Europe, Paris. Foto Elisabeth Carecchio

wenn man etwa aufs Londoner Westend blickt,

suchung einer zerbrochenen, zerstreuten, profitgeilen und absichtslosen Gesellschaft von heute. Im ersten, eher handlungsgetriebenen Teil liegt der Fokus auf der Wahrnehmung des Protagonisten – Graf Myschkin –, während später sukzessive die anderen Figuren ihre Weltsicht auf der Bühne platzieren.

wo die Häuser seit einem Jahr geschlossen

Und so liefert am Ende ausgerechnet der

sind und keine Gewinne erzielen können –

Der große Vorteil der Inszenierung ist, dass die

Flüchtling, der zu Beginn den Boden ge-

eine ähnlich prekäre Situation wie für freie

Einbindung visueller Medien von vornherein

wischt hat, in einwandfreiem Schwedisch

Künstler weltweit. Doch alle scheinen sich ei-

Teil der Konzeption war. Die Bilder unterschied-

eine messerscharfe Analyse unserer globalen

nig, dass einige pandemiebedingte Verände-

licher Live-Kameras und das vorproduzierte

Gesellschaft.

rungen durchaus beibehalten werden sollten,

Material lassen sich exzellent für die digitale

Insgesamt rund 30 000 Views weltweit

so beispielsweise das Streaming von Festivals.

Adaption nutzen, ohne sich vom theatralen

zählt das Thalia Theater abschließend: Was

Moment der Inszenierung zu entfernen.

für eine Resonanz trotz hoher Hemmschwelle,

Regisseur Guy Cassiers, Künstlerischer Leiter des Toneelhuis Antwerpen, verbindet in

Die Macht von (Film-)Bildern ist expli-

die englische Untertitel und Stream darstel-

seinem Festivalbeitrag zwei moderne Adap­

zites Thema des Abends „Una“, den das Tea-

len. Vergleichbarkeit zwischen den Produktio-

tionen antiker Stoffe, Antigone und Teiresias,

tre Lliure aus Barcelona ins Rennen schickt.

nen lässt sich aufgrund der unterschiedlichen

in visuell beeindruckender Weise zu einem

Die wahre Geschichte von Eva Lyberten – ei-

visuellen Qualität zwar nicht herstellen, aber

Abend, an dem Theater und Film grandios

ner Ikone des spanischen Softcore-Films der

zumindest gelingt ein Beitrag zum Dialog.

miteinander verschmelzen. Der erste Teil –

1970er und 1980er Jahre, die später von der

Und den braucht es in Zeiten wie diesen.

„Antigone in Molenbeek“ von Stefan Hert-

Bildfläche verschwunden war – faszinierte

Denn, um mit der slowenischen Regisseurin

mans – holt den klassischen Mythos der

Regisseurin Raquel Cors so sehr, dass die

Mateja Koležnik zu sprechen: „Without art

Schwester, die ihren Bruder begraben will, in

junge Frau die Suche nach ihr nicht aufgab.

life is just a barbaric, day-to-day piece of

ein atemloses Heute. Ihr Bruder hat sich als

Zusammen mit dem Videokünstler Dani Lacasa

shit.“ //

Natalie Fingerhut

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magazin

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„Galilei“ ein halbes Jahrhundert nach Brecht – Eine große Inszenierung gelang Frank Castorf 2019 am Ber­liner Ensemble mit dem im vergangenen Jahr ver­storbenen Schauspieler Jürgen Holtz (Mitte) in der Titelrolle, hier flankiert von Rocco Mylord (links) und Stefanie Reinsperger. Foto Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

Zeit. Schließlich verwendet Brecht viel Mühe darauf, den Darstellern Hintergrundwissen zu vermitteln, Haltungen erklärlich zu machen. So – ahnt man – könnten Bedingungen ausgesehen haben, unter denen große Kunst entstehen konnte. Um Missverständnissen vorzubeugen: Brecht tritt nicht nur als leidenschaft­ liches Theatertier zutage, das seine Spieler unterstützt und mit ihnen lacht, sondern auch die streitende Auseinandersetzung, n ­amentlich mit Ernst Busch, kann hier Gehör finden – und auch darin liegt eine besondere Form der Unterhaltung. Auf einer dritten CD liefert Joachim Werner ein so bezeichnetes musikalisches Feature mit Outtakes, wodurch die Probe –

Der Hörer spielt mit

durchweg humorvoll – noch einmal mehr als schafft undidaktisch den Kontext zu dem

lebendiger Ort des Versuchens und Irrens

Hörbaren, angereichert etwa durch liebens-

spürbar wird. Ein beeindruckendes Zeit­

Noch schlimmer dran als derjenige, der etwas

wert umsichtige Typoskripte Brechts an

dokument fast 65 Jahre nach Brechts Tod,

zu sagen habe und keinen Zuhörer finde, sei

­seine Schauspieler.

äußerst klug aufbereitet, das sicher nichts

der Zuhörer, der keinen finde, der ihm etwas

Wie kommt es aber zu dem letzten Teil

für eine erste Beschäftigung mit dem „Gali-

zu sagen hat: So Brecht in den Ausführungen

dieser mit „Brecht probt Galilei. 1955/56.

lei“ ist, aber umso wertvoller für den Lieb-

zu seiner Radiotheorie.

Ein Mann, der keine Zeit mehr hat“ betitelten

haber. // Erik Zielke

Der Theaterregisseur und Autor Stephan

Sammlung? Entscheidende Jahre wurden

Suschke ist ein profunder Kenner Bertolt

dem großen Theaterneuerer geraubt. Jahre

Brechts. Aus dem Archiv der Berliner Akade-

des Exils während des Naziterrors, Jahre des

mie der Künste hat er jüngst Tonaufnahmen

Wartens auf bessere Arbeitsbedingungen in

geborgen, auf denen Brecht bei den Proben

Ost-Berlin, dann schließlich Krankheit und

zu seinem Stück „Leben des Galilei“ zu hö-

früher Tod. Brecht ist angeschlagen während

ren ist. Diese fanden im letzten Lebensjahr

der Proben, sein Mitarbeiter Erich Engel

Welch eine Mischung: Die sanfte, aber

des Dramatikers am Berliner Ensemble statt.

muss einspringen. Mehr als zwei Stunden,

stimmgewaltige Masha Qrella leiht ihr Organ

Zweifelsohne ist hier jemand zu hören, der

erklärt Suschke, kann nicht geprobt werden.

dem existenzialistischen Dichterfürsten von

etwas zu sagen hat.

Und doch ergibt sich beim Hören ein

Ost-Berlin, Thomas Brasch. Wer Braschs

Suschke gelingt es, die damalige

gänzlich anderer Eindruck: Brecht konnte

­Lyrik kennt, dem fällt die Vorstellung nicht

Zeit und Brechts Theaterarbeit plastisch zu

geduldig sein. Er tritt auf als Vertreter einer

schwer, sie auch gesungen zu hören. Der

machen. Im Kopf kann so etwas wie der ­

sehr genauen Sprachregie, Vorschläge der

künstlerische Allrounder – Wechselgänger

Bruchteil einer Inszenierung entstehen. Zu

Schauspieler werden angehört und finden

zwischen wirkmächtigen Filmen, pointierten

einem gut zweistündigen Feature kompo-

Berücksichtigung. Auch für Diskussionen ist

Stücken und kongenialen Übersetzungen – hat schnörkellos geschrieben. Seine Gedichte

niert er die Originalaufnahmen und erweitert sie um dienliche Hinweise zur Entstehung des „Galilei“ und zur Probenarbeit. Wem das zu schnell geht, der hat die Möglichkeit, in einem umfangreichen Booklet nachzulesen. Das schmale Buch mutet mit seinem Leineneinband und der goldenen Schrift­ prägung wie Brechts Modellbücher an und

Matt geküsst

Brecht probt Galilei. 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Hg. von Stephan Suschke, speak low, 3 CDs und Booklet mit 50 S., 151 Min.

besitzen eine klare Form und entfalten ihren Klang weit jenseits von Kitsch. Dass Qrella sich nun auf ihrem Doppelalbum „Woanders“ Braschs Verse vornimmt, mag im ersten Augenblick erstaunen. Aber vielleicht war diese Annäherung der ungleichen Künstler nur eine Frage der Zeit. Masha


magazin

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Qrella, die mit ihren frühen englischsprachi-

Alle Vorbehalte werden aber entkräftet, so-

schen Schaffens sein. Doch wie, wenn einem

gen Postrock-Experimenten und ihrer klang-

bald man das Lied „Hure“ hört. Mit jedem

Produktionsgelder und Aufführungsorte feh-

vollen, unverwechselbaren Stimme von sich

Abspielen kann man sich auf ein Neues wun-

len? Die Konkurrenz um Fördertöpfe ist be-

reden gemacht hat, ist immerhin auch in

dern, wie leicht Melancholie klingen kann.

kanntlich groß – was bei Weitem nicht nur

Thea­terkreisen – etwa durch Zusammenarbei-

Fast wie ein Trällern trifft einen jedes von

das Musiktheater betrifft, doch rutsche die

ten mit Gob Squad und Stefan Pucher – keine

Braschs sehnsuchtsvollen Worten: „Komm zu

Szene durch ihre schwierige Verortbarkeit, so

Unbekannte. Auseinandersetzungen mit Heiner

mir Liebes trink aus meinem Glas mein Bier /

Rebstock, noch viel leichter unter den Radar

Müller und Einar Schleef – Zeugnis gibt die

und küß mich matt“. //

der Förderer. Sollte es also wie bei der schweiErik Zielke

EP „Day After Day“ – haben reiche Früchte

zerischen Pro Helvetia einen eigenen Fonds

getragen und können vielleicht als Vorarbeit

für Musiktheater geben? Oder wäre die Spezi-

zu diesem Album verstanden werden.

fizierung im Hinblick auf die fortschreitende

Jetzt also Brasch. Eine minimalistische Begleitung

und

unaufdringliche

Elektro-

Kein Künstler ist eine Insel

Auflösung der Genres nicht vielmehr kontraproduktiv? Der von Matthias Rebstock gemeinsam

sounds legen den Fokus klar auf Qrellas Ge„Systemsprenger“ ist ein Begriff, der Künst-

mit dem Internationalen Theaterinstitut Zen­

lerinnen und Künstlern, die sich als Avant­

trum Deutschland herausgegebene Band ist

garde verstehen, eigentlich als Adelstitel gelten

vor diesem Hintergrund eher aus einer kultur-

müsste. Keine Vorgaben, keine Regeln, keine

politischen als aus einer künstlerischen Not-

Klassifizierungen. Stattdessen eine Kunst,

wendigkeit heraus erwachsen. Es ist der Ver-

die immer wieder bei null anfängt. Die statt

such, zu klassifizieren, was sich im Grunde

mit vorgefertigten Bausteinen mit den eigenen

kaum klassifizieren lässt. Mit viel empiri-

Ideen spielt. Sich keiner Institution und keinem

schem Aufwand (leitfadengestützte Inter-

Abo-Publikum beugt, sondern ihre Kraft und

views, teilnehmende Beobachtung) wurden

ein Querschnitt seines poetischen Schaffens,

Intensität allein aus sich selbst schöpft, da-

vier Fallstudien erarbeitet, die sich auf die

sind das Fundament für durchaus radiotaug­

bei munter alle Genregrenzen ­ignorierend –

freien Musiktheaterszenen in Berlin, London,

liche Nummern. Dass das Album „Woanders“

und somit all jene infrage stellend, die brav

den Niederlanden und der Deutschschweiz

heißt, ist mehr als naheliegend: Kaum je-

dem Systemzwang gehorchen. Mit diesen

beziehen, beeindruckend in der Fülle der Bei-

mand hat das Wesen von Sehnsuchtsorten

Charakteristika ließe sich die S ­ zene des frei-

spiele und Quervergleiche zwischen Förder-

sprachlich so anschaulich ausgedrückt wie

en Musiktheaters in Europa beschreiben. Und

strukturen und Arbeitsweisen, aber auch nicht

Brasch. „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen

doch sind ihre Akteurinnen und Akteure mit

immer befriedigend zu lesen, wenn neben der

bin“, heißt es in einem seiner Texte, den

dem Dasein als Outlaw un­zufrieden.

Aufzählung von Namen und Werken – zwangs-

sang – und auf Braschs Worte. 17 Gedichte,

Masha Qrella: Woanders. Staatsakt 2021, CD, 68:41 Min.

­Qrella vertont hat.

Das

zeitgenössische,

unabhängige

läufig bei dieser Art von Untersuchung – der

Aber auch der Widerspruch ist ohren-

Musiktheater, schreibt Matthias Rebstock, ­

ästhetische Blick in die Tiefe fehlt. Die Auto-

scheinlich: Braschs Selbstinszenierung steht

Professor für Szenische Musik an der Univer-

rinnen und Autoren liefern stattdessen etwas

auch für ein bestimmtes Künstler- und Männ­

sität Hildesheim, in dem 2020 im transcript

anderes. Sie machen sich für einen Gedanken

lichkeitsbild, das heute mehr denn je seinen

Verlag erschienenen Band „Freies Musikthea-

stark, der entscheidend ist, wenn es um die

historischen Charakter zeigt. Qrella gibt den

ter in Europa“, gleiche einem Kaleidoskop

Sichtbarkeit der Szene geht: Sie rufen dazu

hingegen zeitlosen Versen nun eine weibliche

unterschiedlichster Formen und sei damit ein

auf, Banden zu bilden innerhalb der europäi-

Stimme. Fast engelsgleich hört es sich an,

„Motor interdisziplinärer bzw. transdisziplinä-

schen Musiktheaterlandschaft – in Form von

wenn sie vom Polieren der Fressen singt. Als

rer Kunst“. Genau deshalb aber arbeite es

Netzwerken und Festivals. Die vor Kurzem

größtes Manko bei diesem Unterfangen er-

permanent an seinem Verschwinden. Je in-

abgelehnte Förderung der dritten Ausgabe

weist sich die Gleichförmigkeit in Textbe-

tensiver es sich nämlich auf seine transdis­

des Berliner BAM! Festivals für aktuelles

handlung und musikalischer Umsetzung. So

ziplinäre Natur einlasse, desto größer sei

­Musiktheater durch die Senatsjury ist vor die-

erfrischend die einzelnen Beiträge auch sind,

der Verlust an Sichtbarkeit als eigenes

sem Hintergrund daher das denkbar schlech-

so sehr verschwimmen sie zu einem undeut­

künstle­risches Feld. In einem Kunstbetrieb,

teste Zeichen. //

lichen Ganzen. Das können auch die künstle-

der nach wie vor disziplinär aufgestellt sei,

rischen Kollaborationen, die auf dem Album

so Rebstock, werde es somit zwischen den

hörbar werden, nicht gänzlich verhindern:

Sparten zerrieben. Die Folge: Eine eigene

Marion Brasch, die Schwester des Dichters,

öffent­ liche wie auch kulturpolitische Wahr-

kommt beispielsweise sprechend zum Ein-

nehmung ­finde nicht statt.

satz. Und auch Dirk von Lowtzow, Tocotronic-

Eine paradoxe Situation – denn aus

Frontmann und intellektuelles Rückgrat der

Sicht der Kunst liegt das Problem ganz klar

deutschsprachigen Rockmusik, von dem man

im System. Institutionen und Publikum für

sich auch eigene Brasch-Vertonungen wün-

mehr Offenheit zu begeistern, ästhetische

schen würde, leistet gesangliche Unterstüt-

Vielfalt zu ermöglichen, Lust auf Unbekann-

zung.

tes zu erzeugen, sollte Anspruch künstleri-

Dorte Lena Eilers

Freies Musiktheater in Europa / Independent Music Theatre in Europe. Vier Fall­ studien / Four Case Studies. Hg. von ITI Zentrum Deutsch­ land / Matthias Rebstock, transcript Verlag, Bielefeld 2020, 302 S., 35 EUR.

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aktuell

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Andrea Breth. Foto Bernd Uhlig

Meldungen ■ Anna Luise Kiss wird die neue Rektorin der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Die Wahl erfolgte bereits im DezemAnna Luise Kiss. Foto Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“

ber durch den Erweiterten Akademischen Senat der Hochschule. Die 1981 in Heidelberg

zeichnet. „Ob es Berliner Wasserstraßen sind oder die Berliner Frauenbewegung in Ost und West, ob es um Berlin zu Zeiten der Cholera und Hegels Todesumstände geht, um die Linie IV oder Kleingartenkolonie Parzelle Paradies – Annett Gröschner ist eine unermüdliche Chronistin der Stadt, ihrer Geschichte, ihrer Ver­ änderung und natürlich ihrer Bewohner:innen. Sie ist Flaneurin und wandelndes Stadtarchiv

geborene promovierte Medienwissenschaftle-

gleichermaßen und verbindet in ihren Texten

rin wird das Amt nach Ernennung durch den

literarische, soziologische und historische

Senat von Berlin zum 1. Oktober 2021 über-

Herangehensweisen“, schreibt Jury-Mitglied ­

nehmen. Sie folgt d ­amit auf Holger Zebu

Monika Rinck in der Begründung. Der Preis ist

Kluth, der die Hochschule seit 2017 leitet.

mit 15 000 Euro dotiert.

■ Der Goldene Löwe der Theater-Biennale ­Venedig 2021 geht an den polnischen RegisEuro dotierte Auszeichnung, die alle fünf Jahre

seur Krzysztof Warlikowski für sein Lebens-

durch die Berliner Akademie der Künste im

werk. Der Silberne Löwe für vielversprechende

Auftrag der Joana-Maria-Gorvin-Stiftung verlie-

junge Talente wird der englischen Dich­ter*in,

hen wird, würdigt die „überragende Leistung

Dramatiker*in, Rapper*in und Slam-Poet*in

einer Theaterkünstlerin im deutschsprachigen

Kae Tempest verliehen.

Raum“. Die Jury bilden – so hat es der Stifter Maximilian B. Bauer, Ehemann der Schau-

■ In Anerkennung seiner humanitären Arbeit

spielerin Joana Maria Gorvin, verfügt – jeweils

in Afrika, vor allem in den Ländern Burundi,

fünf männliche Mitglieder der Sektion Darstel-

Togo und Malawi, ist der Konstanzer Jurist

lende Kunst. 2020 gehörten ihr Jürgen Flimm,

und Tiroler Theaterintendant Christoph Nix

■ Das Intendanten-Duo Dieter und Peer Mia

Christian Grashof, Volker Ludwig, Klaus Völker

zum Honorarkonsul der Republik Malawi er-

Ripberger wird das Zimmertheater Tübingen

und Jossi Wieler an. Sie würdigen Andrea

nannt worden. Christoph Nix zeigte sich

für drei weitere Jahre bis 2024 leiten. Die

Breth als „eine Theaterfrau, der es überzeu-

dankbar und erklärte, dass künftig auch bei

Ripbergers sorgten in den vergangenen Jah-

gend gelingt, Theater zu vergegenwärtigen“,

den Tiroler Volksschauspielen Theater in Afri-

ren für Bewegung und Veränderungen. „Be-

und die „als Regisseurin ihren Schauspielern

ka eine Rolle spielen werde. Nix führte aus,

sonders wichtig war und ist uns, mit innovati-

alles“ gebe. „Wenn sie restlos gut gearbeitet

dass in der Regel Wirtschaftsvertreter auf sol-

ven Kunst- und Gesprächsformaten vielfältige

hat, sind die Spuren ihres präzisen und doch

che Positionen berufen würden, und sah in

Publikumsgruppen anzusprechen“, betonen ­

immer rückhaltlos zu Gefühlen sich bekennen-

der Entscheidung der Malawischen Republik

sie. Unter der Bezeichnung Institut für theat-

den Arbeitens verwischt“, heißt es in der Jury-

und ihres Botschafters Michael Barth Kam-

rale Zukunftsforschung (ITZ) konzentriert

begründung.

phambe Nkhoma, einen Theatermacher zu

sich das Ensembletheater auf Stückentwick-

ernennen, eine Aufwertung der Kultur.

lungen und Uraufführungen, auch in Zusam-

■ Die Akademie der Künste Berlin hat die

menarbeit mit Kollektiven der freien Szene

Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner

■ In einer digitalen Pressekonferenz hat die

aus Deutschland und ganz Europa.

mit dem Großen Kunstpreis Berlin 2021 ausge-

Kritiker*innenjury des Theatertreffens 2021

■ Die Theaterpädagogin Claudia Hoyer übernimmt ab der Spielzeit 2021/22 die Leitung der neuen Sparte Junges Landestheater Schwaben. Bis 2023/24 soll in dieser Sparte des ­Landestheaters Schwaben ein Ensemble mit drei Schauspieler*innen etabliert werden, das jährlich drei Neuproduktionen herausbringt und in Kombination mit Wiederaufnahmen dauerhaft ein Repertoire für alle Altersklassen bereithalten soll. Hoyer ist seit 2010 als

Annett Gröschner. Foto Susanne Schleyer

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ihre Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen bekannt gegeben. Eingeladen sind: „Automatenbüfett“ von Anna Gmeyner, Burgtheater Wien (Regie Barbara Frey); „Der Zauberberg“ nach Thomas Mann, Deutsches Theater Berlin (Regie Sebastian Hartmann); „Einfach das Ende der Welt“ nach Jean-Luc Lagarce, Schauspielhaus Zürich (Regie Christopher Rüping); „Graf Öderland. Eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch“, Theater ­Basel (Regie Stefan Bachmann); „Maria Stuart“

Theaterpädagogin an dem Haus beschäftigt.

von Friedrich Schiller, Deutsches Theater

■ Die Regisseurin Andrea Breth erhält den

Euripides, Schauspielhaus Zürich (Regie Leonie

Joana-Maria-Gorvin-Preis 2020. Die mit 10 000

Böhm); „Name Her. Eine Suche nach den

Berlin (Regie Anne Lenk); „Medea*“ nach


meldungen

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Frauen+“, Idee, Konzept, Text, Inszenierung von Marie Schleef in Kooperation mit dem Ballhaus Ost Berlin, dem Kosmos Theater Wien und den Münchner Kammerspielen; „Reich des Todes“ von Rainald Goetz, Deutsches Schauspielhaus Hamburg (Regie Karin

Aufgrund der ungewissen Situation angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann in dieser Ausgabe kein Premierenkalender erscheinen. Täglich aktuelle Premierendaten finden Sie unter www.theaterderzeit.de.

Beier); „Scores That Shaped Our Friendship“

­aller Mannheimer Kulturschaffenden möchte sich der Rat zukünftig ebenso in die Kulturpolitik einmischen wie auch als Gesprächspartner auf Augenhöhe für die Wirtschaft oder das Stadtmarketing agieren.

■ Das Bundeskabinett hat die Erklärung

von und mit Lucy Wilke und Paweł Duduś,

ihrem Beruf. „Bisher konnten wir in unserem

des Bundes für einen Nationalen Aktionsplan

schwere reiter München; „Show Me a Good

Beruf mit unserem Privatleben nicht offen

Integration beschlossen. Ziel des Kulturkapi-

Time“ von und mit Gob Squad am HAU Berlin

umgehen, ohne dabei berufliche Konsequen-

tels ist es, die Diversität in den Kultureinrich-

und La Jolla Playhouse Without Walls Series

zen zu fürchten. Noch zu oft haben viele von

tungen voranzutreiben und Menschen mit

San Diego in Koproduktion mit Mouson­turm

uns die Erfahrung gemacht, dass ihnen

Migrationshintergrund stärker in den Kultur-

Frankfurt, Schlachthaus Theater Bern und dem

ge­ raten wurde – sei es von Agent:innen,

bereich einzubinden. Erarbeitet wurde das

Internationalen Sommerfestival Kampnagel

Caster:innen, Kolleg:innen, Produzent:innen,

Kulturkapitel durch die Staatsministerin für

Hamburg. Der Jury gehörten dieses Jahr die

Redakteur:innen, Regisseur:innen usw. –, die

Kultur und Medien Monika Grütters zusam-

Theaterkritiker*innen Cornelia Fiedler, Wolfgang

eigene sexuelle Orientierung, Identität sowie

men mit mehr als 200 Akteur*innen aus dem

Höbel, Georg Kasch, Andreas Klaeui, Sabine

Gender geheim zu halten, um unsere Karrie-

Bereich Kultur. Öffentlich vorgestellt wird das

Leucht, Petra Paterno und Franz Wille an.

ren nicht zu gefährden. Das ist jetzt vorbei.

Kulturkapitel am 9. März 2021 im Rahmen

Wir gehen nun gemeinsam den Schritt an die

des 13. Integrationsgipfels.

■ Die Nominierungen der Mülheimer Theatertage

Öffentlichkeit, um Sichtbarkeit zu schaffen“,

für die „Stücke 2021“ stehen fest. Um den mit

heißt es im Manifest der Initiative #actout.

■ Die Dramatikerin und Hörspielautorin ­Simone Meyer ist tot. Wie der Kiepenheuer

15 000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis 2021 konkurrieren folgende Autor*innen

■ Das Nachrichtenmagazin Focus löst sein

Bühnenvertrieb mitteilt, starb sie am 22.

und Stücke: Ewelina Benbenek, „Tragödien-

Ressort Kultur & Leben auf. Das berichtet der

Januar im Alter von 58 Jahren an den Folgen

bastard“; Sibylle Berg, „Und sicher ist mit

Branchendienst Meedia unter Berufung auf

einer schweren Erkrankung. Ihr erstes Thea-

mir die Welt verschwunden“; Thomas Freyer,

einen Sprecher des Medienunternehmens

terstück „Die Nationalgaleristen“ präsentier-

„Stummes Land“; Rainald Goetz, „Reich des

Hubert Burda Media, zu dessen Titeln das

te die 1962 in Duisburg geborene Autorin

Todes“; Rebekka Kricheldorf, „Der goldene

Magazin gehört. Schon heute arbeite die

(damals Simone Schneider) 1993 auf dem

Schwanz“; Boris Nikitin, „Erste Staffel. 20 Jahre

Redaktion in den betreffenden Bereichen ­

Stücke­ markt des Berliner Theatertreffens.

großer

Umpfenbach,

„mit einem großen Pool exzellenter externer

Von Jens-Daniel Herzog wurde es später an den

„9/26 – Das Oktoberfestattentat“. Das Aus­

Autoren“, heißt es in einem offiziellen State-

Münchner Kammerspielen inszeniert. Neben

wahl­gremium bildeten dieses Jahr die Thea­

ment des Verlags. Dieses „Modell der Netz-

zahl­ reichen weiteren Theaterstücken und

ter­kritiker*innen Eva Behrendt, Jürgen Ber-

werkredaktion“

weiter

Hörspielen verfasste Simone Meyer auch

ger, Stephan Reuter und Christine Wahl.

verstärkt“. Von der Maßnahme sind neun ­

Drehbücher fürs Fernsehen. „Stimmen und

Mitarbeiter*innen betroffen, für die nach „in-

Zwischenwelten waren ihr Sujet“, schreibt

dividuellen Lösungen“ gesucht werde.

der Kiepenheuer Bühnenvertrieb in seinem

Bruder“;

Christine

■ Unter dem Hashtag #actout haben sich

werde

„zukünftig

Nachruf.

185 Film- und Theaterschauspieler*innen in der Süddeutschen Zeitung gemeinsam als

■ Sieben Sektionen, bestehend aus Mann-

lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nichtbinär

heimer Künstler*innen und Mitarbeiter*innen

TdZ ONLINE EXTRA

und trans* geoutet. Neben dem Ziel, mehr

großer und kleiner Kultureinrichtungen der

Sichtbarkeit für diverse Lebensrealitäten zu

Stadt, bilden künftig einen neuen Kulturrat

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schaffen, fordern sie mehr Anerkennung in

für Kunst und Kultur. Als Interessenvertretung

sophiensaele.com

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AUTORINNEN UND AUTOREN März 2021 Dirk Baecker, Soziologe, Dresden Natalie Fingerhut, freie Autorin, Hamburg Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Harry Lehmann, Philosoph, Berlin Irene Lehmann, Theaterwissenschaftlerin, Hamburg Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Kristina Matvienko, Theaterkritikerin und Kuratorin, Moskau Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Frank Raddatz, Publizist und Dramaturg, Berlin Brigitte Schmid-Gugler, Journalistin, St. Gallen Anne Tismer, Performerin, Berlin Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Lektor, Berlin Bastian Zimmermann, Musikredakteur und Dramaturg, München und Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/03

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller

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Vorschau

Thema Improtheatergruppen in VRChat? Virtuelle Veranstaltungsräume, die man mieten kann? Wer heutzutage etwas auf sich hält, besucht Kulturveranstaltungen als Avatar. Unzählige ­Flamingos schritten beispielsweise durch den Raum, als im vergangenen Jahr das International Games and Playful Media Festival A MAZE in Berlin seine neunte Ausgabe eröffnete. Doch virtuelle Welten sind mittlerweile nicht mehr nur für die Gamer-Szene ­attraktiv. Performancegruppen wie internil oder die CyberRäuber ver­ legen ganze Inszenierungen in die digitale Welt. Wie viel „Kunst“ aber ist in den künstlichen Räumen möglich? Und auf welche Art von Gesellschaft trifft, wer sich als Avatar in VRChat bewegt? In einer ästhetischen wie soziologischen Befragung gehen wir den schönen neuen (Theater-)Welten auf den Grund.

Foto „Alone Together – Konzert” von Jean-Michel Jarre, Wisi eu, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

/ TdZ  März 2021  /

Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner und Claudia Jürgens (Korrektur), Paula Perschke (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises.

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Festival Bertolt Brecht und die Frauen: Sollte es zu diesem Thema tatsächlich noch Neuigkeiten geben? Allerdings! Denn das diesjährige Augsburger Brechtfestival, das pandemiebedingt als Digitalausgabe stattfindet, folgt einer konsequent veränderten ­ Perspektive. Nicht der Namensgeber selbst ist der Star, sondern diejenigen, die ihm zu seinem Ruhm verholfen haben: Im Spotlight stehen nicht nur Frauen wie Helene Weigel oder Elisabeth Hauptmann, die mit Brecht im Kollektiv gearbeitet haben, sondern auch neue Brecht-Lesarten heutiger Künstlerinnen. Christoph Leibold hat den digitalen Festivalkosmos für uns durchmessen.

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Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. April 2021.

Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 3, März 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 03.02.2021

Augsburger Digitalfassung von Heiner Müllers „Medeamaterial“ in der Regie von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel mit Natalie Hünig, Elif Esmen und Christina Jung (v. l.). Foto Jan-Pieter Fuhr

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17


Was macht das Theater, Peter Schneider? Peter Schneider, wie Ihre Kollegin Julischka

verkörpere sie als Künstler himself. Die

­Eichel haben auch Sie in einem Brandbrief auf

Rechtsprechung sagt aber, wir sind nicht

die schwierige Lage freischaffender Schauspie-

­ourselves. Wenn Thomas Gottschalk Haribo-

ler aufmerksam gemacht. Warum ist sie so be-

Werbung macht, dann ist er himself und kann

sonders kompliziert?

eine Rechnung schreiben. Weil ich nicht so

Weil wir sozialversicherungsrechtlich zwi-

berühmt bin wie er, müsste ich für die gleiche

schen zwei Welten schweben. Ein Großteil

Leistung angestellt werden.

der freischaffenden Schauspieler ist nicht soloselbstständig, sondern immer nur kurz­ ­

Puh, das klingt absurd und schon gar nicht auf

fristig beziehungsweise unständig bei ver-

der Höhe aktueller Performance-Diskurse. Aber

schiedenen Arbeitgebern beschäftigt. Dadurch

warum kommen diese Missstände gerade jetzt

können wir uns in den seltensten Fällen einen

an die Oberfläche?

Anspruch auf ALG1 erarbeiten, denn dafür

Ein System, das derart fragil ist, funktioniert

müsste man auf 360 versicherte Tage inner-

unter Krisenbedingungen überhaupt nicht

halb von zwei Jahren kommen. Und das

mehr. 80 bis 90 Prozent von uns Freien wa-

schafft kaum jemand, der als Gast am Thea-

ren irgendwann mal mindestens zwölf Monate

ter arbeitet. Selbst wenn man beispielsweise

lang fest angestellt. Wenn man aus dieser

mit 80 versicherten Tagen im Jahr verhältnis-

Anstellung heraus direkt in die Selbststän­ ­

mäßig viel dreht, wäre man 280 Tage lang

digkeit gehen könnte, käme man in die KSK.

nicht versichert. In diesen Zwischenzeiten

Aber man könnte sich auch in der freiwilligen

haben wir in der Krankenversicherung die

Arbeitslosenversicherung für Selbstständige

gleichen Kosten wie ein selbstständiger

weiter versichern und würde sich seinen

Handwerker zu tragen, aber in der Regel kein Einkommen. In die Renten- und Arbeits­ losenversicherung wird in dieser Zeit meist gar nichts eingezahlt. In die Künstlersozialkasse kommen Sie nicht? Nein, das wäre das System, das für uns ­zuständig wäre, wenn wir selbstständig agieren und Rechnungen schreiben dürften. Wir wären dann das ganze Jahr durchversichert, und unsere Zahlungen plus die staatlichen Zahlungen der „Arbeitgeberanteile“ würden auch die Lücken in der Rentenversicherung schließen, die dazu führen, dass man als freischaffender Schauspieler oft noch nicht mal einen Anspruch auf die Mindestrente erwirbt.

In einem offenen Brief an Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat die Schau­ spielerin Julischka Eichel kürzlich auf die sozialversicherungsrechtlich schwierige Situation freischaffender Akteurinnen und Akteure während des pandemie­ bedingten Lockdowns aufmerksam gemacht. Ihr Kollege Peter Schneider ist seit 21 Jahren „Solokämpfer“ aus Überzeugung und kennt die Situation als Schauspieler im Theater und Film, aber auch als Musiker und Komponist. Darüber ist er zum Experten für das Thema geworden – und weiß, was sich idealerweise ändern müsste. Foto Jens Dörre

­Anspruch auf ALG1 erhalten. Das hätte in der Pandemie einigen Menschen geholfen, die derzeit auf Hartz IV verwiesen werden. Aber nun gibt es ja laut einer Pressemitteilung vom 5. Februar ganz frische Überbrückungshilfen für genau diese Fälle. Ja, die jetzt angekündigte Überbrückungs­ hilfe 3 ist nach fast einem Jahr Pandemie die erste Maßnahme, in der die kurzfristig und unständig Beschäftigten den Soloselbstständigen gleichgestellt werden. Sie ersetzt 50 Pro­ zent des Verlusts im Zeitraum Januar bis Juni 2021 gegenüber dem Vergleichszeitraum Januar bis Juni 2019. Um die maximale ­ Summe von 7500 Euro für sechs Monate zu bekommen, muss ich im Vergleichszeitraum

Sie sagten, einem Großteil der freien Schau-

2019 mindestens 15 000 Euro brutto ver-

spieler gehe es so. Gibt es Ausnahmen?

traggebern gegenüber gestalterisch, termin-

dient haben und jetzt von Januar bis Juni null

In den freien Gruppen gibt es oft Rechnungs-

lich und organisatorisch selbstständig agie-

Euro. Das muss natürlich noch umständlich

steller, oder es werden projektgebundene

ren. Dann vereinbaren sie einen Werkvertrag.

überprüft werden.

GbRs gegründet, aus denen heraus einzelne

Julischka und ich prüfen gerade gemeinsam

Mitglieder selbstständig agieren dürfen und

mit dem Ensemble-Netzwerk und einem An-

Gäbe es da nicht einfachere Lösungen?

dadurch auch in die KSK kommen.

walt, ob es einen Weg gibt, dieser Ungleich-

Man könnte es wie in Belgien machen und

behandlung etwas entgegenzusetzen. Denn

allen Betroffenen eine Art bedingungsloses

Was müsste sich für all die anderen konkret

dieses Wahlrecht gibt es in fast allen künstle-

Grundeinkommen für die Lebenshaltungs­

­ändern?

rischen Bereichen – außer im Schauspiel.

kosten auszahlen. Die Soforthilfen könnten dann auf Nachweis direkt in die Betriebs­

Wir müssten uns ein Wahlrecht erkämpfen, das etwa Musiker und Regisseure schon

Warum ist das so?

kosten fließen. Damit wären zum Beispiel

­haben. Sie können entscheiden, ob sie die

Dem liegt meiner Meinung nach ein veralte-

auch Veranstaltungsagenturen gerettet, und

Sicherheit einer Anstellung vorziehen und da-

tes Berufsbild zugrunde, das uns als ausfüh-

billiger und schneller wäre es obendrein. //

für weisungsgebunden sind oder ob sie sich

rende und abhängige Dienstleister betrach-

als Künstler sehen, die verschiedenen Auf-

tet. Ich jedoch gestalte meine Rollen mit und

Die Fragen stellte Sabine Leucht.


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Einar & Bert Theaterbuchhandlung Winsstraße 72 10405 Berlin

Foto: Holger Herschel Öffnungszeiten Mo – Fr 12.30 – 18.30 Uhr Sa 11.00 – 18.00 Uhr

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