Theater der Zeit 12/2024 – Kulturhauptstadt Chemnitz

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Theater der Zeit Mit

Georg Genoux Viola Hasselberg Helge Lindh Marie Schleef Mazlum Nergiz Stefan Schmidtke Joshua Alabi Mohammad-Ali Behboudi Tino Pfaff

Dezember 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Radikal anders Kulturhauptstadt Chemnitz



Foto Mathilda Olmi

Theater der Zeit Editorial

Cécile Laporte in „Cécile“, Regie Marion Duval vom Théâtre de la Bastille beim Festival d’Automne

Am 15. November wollten die Ampelfraktionen im Bundestag den Haushaltsplan 2025 abschließend beraten. Der hätte auch Posten veränderter Kultur­ finanzierung vor­gesehen, beispielsweise die Streichung der Förderung internationaler Produktionshäuser. In der sogenannten Dominotheorie wäre das ein Signal an Länder und Kommunen, bei den Kulturkürzungen nachzuziehen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh spricht im Interview mit TdZ-Redakteur Stefan Keim in diesem Zusammenhang von „der Gewalt der Zahlen“. (S. 4) Wir verschoben deshalb den geplanten Schwerpunkt zu den kommenden Problemen der Theaterfinanzierung, denn ­genau an diesem 15. November, an dem die abschließende Haushaltssitzung aus den bekannten Gründen dann nicht stattfand, wurde das vorliegende Heft abgeschlossen. Wie es heißt, wird vor Mitte nächsten Jahres kein Staatshaushalt beschlussfähig sein – den Schwerpunkt kündigen wir hier trotzdem für Januar 2025 an. Stattdessen etwas viel Vitaleres: Chemnitz – Kulturhauptstadt Europas. Was man dort als Programm geplant hat, entsteht vor allem aus der Stadt selbst heraus. Ein ganzes Jahr lang andauerndes Experiment für eine traditionell auf magne­tische Internationalität angewiesene Großveranstaltung. Programmgeschäfts-

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führer Stefan Schmidtke, selbst im nahen Döbeln aufgewachsen, erklärt die Philo­ sophie hinter Chemnitz 2025. Wie sie konkret aussieht, kann man im Kunstinsert „#3000Garagen“ erfahren, für das übrigens Eiskunstlaufweltstar Katarina Witt das Nummernschild ihres ersten ­ Autos beisteuerte: TKW 1-11. T war damals das Kennzeichen für Karl-Marx-Stadt, der Rest erklärt sich von selbst. Eberhard Spreng berichtet in seinem Report aus Frankreich, wie die Nationaltheater mit drastischen Kürzungen umgehen beziehungsweise darauf reagieren. Weniger produzieren, aber längere Laufzeiten der Inszenierungen scheint die Formel, die gewiss auch für die großen ­ Theater in Deutschland interessant sein dürfte. In der Serie „Dramaturgie der Zeitenwende“ schreibt Viola Hasselberg, leitende Dramaturgin der Münchner Kammerspiele, in ihrem Essay: „Wir brauchen neue D ­ emokratieerzählungen, auch in der Kunst, im Theater. Demokratie ist eine kulturelle Leistung.“ Gehört nicht all das zusammen? Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 14 Gespräch C the Unseen Stefan Schmidtke, Geschäftsführer Programm der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025, über Chancen und Risiken eines Events ohne Stars Im Gespräch mit Thomas Irmer

18 Reportage Ein Bergwerk der vielen Orte Bei Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt Europas werden mit Theater und Performances Geschichten aus der ganzen Region zu erleben sein Von Annette Menting

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz

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Theater der Zeit 12 / 2024

Fotos links oben Hannes Rohrer, links unten Ernesto Uhlmann/radar studios, rechts Max Zerrahn

„Opening Night“ von John Cassavetes am Theater Ingolstadt, Regie Mirja Biel


Inhalt 12 / 2024

Akteure 24 Kunstinsert Modelle von Gesellschaft Die Kuratorin Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka über „#3000Garagen“ der Kulturhauptstadt Chemnitz Im Gespräch mit Thomas Irmer

30 Porträt Die Geduld der Veränderung Der iranische Schauspieler Mohammad-Ali Behboudi steht seit 40 Jahren auf deutschen Bühnen Von Stefan Keim

Diskurs & Analyse

Stück

52 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen!

34 Verschwinden bedeutet nicht vergessen

55 Serie: Post-Ost Die „hohe“ Kunst, Freiheit und Sicherheit gegeneinander aufzubringen

37 „Am Fluss“

Von Viola Hasselberg

Von Tino Pfaff

Report 58 Frankreich Ende der Exception Culturelle Die französischen Nationaltheater arbeiten nur noch im Krisenmodus Von Eberhard Spreng

60 Cottbus, Berlin Bauend scheitern

Mazlum Nergiz über sein Stück „Am Fluss“, das New York der 1980er Jahre und den Körper als Ausgangspunkt Im Gespräch mit Nathalie Eckstein

Von Mazlum Nergiz

Magazin 4 Gepräch Der Kultur-Kahlschlag droht Helge Lindh im Gespräch mit Stefan Keim

6 Bericht Angstlos! Heimatlos? Von Viola Hasselberg

Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“ in zwei konträren Auffassungen am Staatstheater Cottbus und am Berliner Maxim Gorki Theater Von Thomas Irmer

8 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

62 Güstrow Stolz der Bürger:innen

10 Kolumne Zehn mal zehn Prozent

Der Theaterpreis des Bundes und 100.000 Spenden-Euro für das Ernst-Barlach-Theater im mecklenburgischen Güstrow Von Juliane Voigt

64 Ingolstadt Coffee to stay Mit dem Neustart will das Stadttheater Ingolstadt am Puls der Stadt­gesellschaft fühlen und erfindet dafür eine Stadtdramaturgin Von Christoph Leibold

66 Nigeria Drohender Blackout

Von Sophie-Margarete Schuster, Lara Wenzel, Peter Helling und Elisabeth Maier

Von Marie Schleef

76 Vorabdruck Theater der Leere Von Teresa Kovacs

78 Bücher Modell der Zukunft oder nur Versuch? Von Tom Mustroph

80 Was macht das Theater, Jutta Maria Staerk? Im Gespräch mit Stefan Keim

Die früher als Kulturmotor Afrikas blühende Theaterszene Nigerias ist im Niedergang Von Joshua Alabi

70 Albanien Chai Latte für die Chefanklägerin Ein Showcase im albanischen Tirana verortet sich zwischen Tradition und Zukunft Von Lina Wölfel

1 Editorial 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

72 Hamburg Hamburger Marathon Das internationale Fringify Festival behandelte Identitäten im Wandel Von Marcus Peter Tesch

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Magazin Gespräch Sprecherinnen und Sprecher der Koalitionsfraktionen vorzuwarnen. Ich hatte aber keine Informationen. Ich war genauso getroffen wie diejenigen, die unmittelbar betroffen sind. Das hat mich ziemlich sprachlos hinterlassen.

Der KulturKahlschlag droht Helge Lindh (SPD) kämpft im Bundestag gegen die drohenden Kürzungen und schaut mit Sorge auf die Entwicklung der kommunalen Haushalte Im Gespräch mit Stefan Keim

Die geplanten Kürzungen beim Bündnis der internationalen Produktionshäuser erregen die Gemüter. Im Haushaltsentwurf 2025 plant die Bundesregierung, an dieser Stelle fünf Millionen Euro einzusparen – und damit die gesamte Förderung. Parallel bereiten die heftigen Einschnitte in den Kulturetats der Metropolen Berlin und München den Stadttheatern große Sorgen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh, kultur- und medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, selbst im Wahlkreis Wuppertal, ist der Einzige aus dem Kulturausschuss, der sich auf öffentlichen Veranstaltungen gegen die Kürzungen ausspricht und den Dialog mit der Freien Szene sucht. Als im Sommer die Kürzungspläne bekannt wurden, reagierten viele schockiert. Niemand hatte damit gerechnet, im Gegenteil, das Bündnis der internationalen Produktionshäuser galt zuvor als Paradebeispiel für gelungene Kulturförderung. Und plötzlich wird es in die Tonne gekloppt. Wissen Sie, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist? HELGE LINDH: Mythenbildung und Legenden ranken diesen Weg. Es wäre nicht absurd, in so einem Fall wenigstens die

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Viele waren auch deswegen entsetzt, weil ja gerade die Freien Theater und Produktionshäuser für Diversität, Internationalität, Partizipation und überhaupt für politische Inhalte stehen, die der Ampelkoalition am Herzen liegen müssten. Was für eine Idee könnte denn dahinterstehen, gerade hier die Axt anzusetzen? HL: Ich will da niemandem etwas unterstellen. Die aktuelle Finanzsituation mit der Schuldenbremse sorgt dafür, dass alle Ministerien, auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, unter gewalti-

Die Idee von Haushaltspolitik sollte nicht Schadensbegrenzung sein, sondern Gestaltung. Wir brauchen mehr Kunstorte, keinen Verteidigungskampf. Theater der Zeit 12 / 2024

Foto Photothek

Bundestagsabgeordneter Helge Lindh

Dass es Kürzungen im Haushalt geben würde, war schon vorauszuahnen, oder? HL: Sicher, doch bei den Förderungen der Freien Künste geht es ja nicht um üppige Töpfe, sondern um sehr überschaubare Mittel, die dennoch unverzichtbar sind. Im Jahr zuvor waren noch die Förderungen durch die Bundeskulturfonds – nachdem wir im Parlament lange dafür hamsterradmäßig gekämpft haben – erstmalig auf ein vernünftiges Level gebracht worden. Wir dachten, das werde nun verstetigt. Nun ist es zurückgefallen auf den Stand vor der Coronazeit. Das war völlig unvorhersehbar und überraschend, ehrlich gesagt auch ärgerlich und enttäuschend. Da geht es ja nicht nur ums Theater, sondern z. B. auch um die Förderung von Festivals und Amateurmusik. Es gab keine politische Begründung, sondern einfach die Gewalt der Zahlen. Ich habe das schon als drohenden Kahlschlag empfunden.


Magazin Gespräch gen Druck geraten sind. Da waren keine großen Steigerungen zu erwarten. Aber bestimmte Institutionen wie die Stiftung Preu­ ßischer Kulturbesitz haben bedeutende Zuwächse bekommen. Das ist schon eine politische Entscheidung, die ich für falsch erachte. Zahlen drücken politische Prioritäten aus, auch wenn man sich vielleicht dieser ­Situation nicht bewusst war. Vielleicht steckt die Idee dahinter, dass diese Entscheidung im Parlament noch korrigiert werden kann. Genau darauf hoffen viele, dass der Bundestag bei der Bereinigungssitzung die Kürzungen zurücknimmt. Nach dem Scheitern der Ampelkoalition ist gerade ungewiss, wann das passieren könnte. Egal, wie es ausgeht: Wird das klappen? HL: Angesichts von Minderheitsregierung und anstehenden Neuwahlen sind wir in der vorläufigen Haushaltsführung. In der ist u. a. der Regierungsentwurf 2025 samt Kürzungen eine Richtschnur. Umso mehr sehe ich meine Warnung bestätigt: Das sollte nicht Schule machen, weil es eine hochriskante Strategie ist. Wenn wir uns im Ringen um einen angeschlossenen Haushalt dafür einsetzen, dass diese Fehler korrigiert werden, müssen wir das woanders gegen­ finanzieren. Wir bringen damit Institutionen in eine Konkurrenzsituation. Es haben ja nicht alle gleich in den Solidaritätsmodus geschaltet, manche haben erst mal abgewartet. Jeder kämpft ums eigene Überleben. Wir brauchen eine Gemeinschaft, wir brauchen so etwas wie einen Pakt der Freien Szene, der dieses Spiel nicht mitmacht. Kunst ist ein Ort, an dem die Modi der Demokratie ausverhandelt werden, der einen wichtigen Beitrag zur Demokratie leistet, weil hier Denkmuster hinterfragt werden. Es sind Schulungsorte der Demokratie, des differenzierten Denkens. Gerade die zu schwächen, macht überhaupt keinen Sinn. Deshalb kämpfe ich – und das tun auch einige andere – gegen diese Kürzungen. Es ist jedoch ein mühsames Aushandeln, das seinen Preis hat. Die Idee von Haushaltspolitik sollte nicht Schadensbegrenzung sein, sondern Gestaltung. Wir brauchen mehr Kunstorte, keinen Verteidigungskampf. Mich bedrücken fast noch mehr die angekündigten Kulturkürzungen in den Metropo-

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len Berlin und München. 10 Prozent weniger 2025, im nächsten Jahr noch einmal. Das würde alle Kulturinstitutionen einer Stadt ­völlig handlungsunfähig machen. Da ja die meisten Kommunen in großen Geldsorgen sind, befürchte ich einen Dominoeffekt. ­Teilen Sie diese Sorgen? HL: Ich teile uneingeschränkt diese Befürchtungen. Ohne jetzt den Einzelfall beurteilen zu wollen, denn es gibt auch da viel Druck und Argumente, die das Handeln enorm schwierig machen. Ein Gegenbeispiel wäre Hamburg. Da gibt es zwar eine günstigere Haushaltssituation, doch es ist auch ein Statement, den Kulturetat zu erhöhen, gegen den Trend. Es ist also mitnichten alternativlos, es geht auch anders. Wir haben aber auch Kommunen wie meine eigene – Wuppertal –, die vor der nächsten Haushaltssicherung stehen oder schon drin stecken. Wenn die erleben, dass diese großen Metropolen diesen Schritt gehen, fehlen denen, die die Kulturhaushalte verteidigen oder sogar mehr wollen, zunehmend die Argumente. Das ergibt einen Ansteckungseffekt, wie wir ihn in der Vergangenheit schon erlebt haben. Da entsteht eine unselige soziale Konkurrenz zwischen dem sozialen Bereich und der Kultur, die ja immer noch eine freiwillige Aufgabe der Kommunen ist, keine Pflichtaufgabe. Es ist bisher nicht gelungen, im Zusammenspiel von Kommunen mit Bund und Ländern eine ­Absicherung der Kultur im Fall einer Finanzmisere zu schaffen. Trifft die Kulturbetriebe, trifft die Theater vielleicht auch eine gewisse Mitschuld? Haben Sie sich zu sehr aus dem Zentrum der öffentlichen Debatten entfernt und einen Teil ihrer traditionellen Fürsprecher verloren? HL: Es darf nicht nur um Fragen von ­Effizienz gehen. Aber natürlich müssen sich Theater fragen lassen, wie relevant sie sind. Sie erfahren im Vergleich mit vielen freien Einrichtungen eine privilegierte Situation. Es reicht nicht, Themen wie Gleichberech­ tigung, Rassismus oder Diversität im Spielplan abzudecken. Die Theater müssen die entsprechenden Schichten einer Gesellschaft erreichen und abbilden, sich gesellschaftlich neu verankern. Da sind mancherorts ­Krisenphänomene sichtbar, aber Antworten sind auch möglich.

Es reicht nicht, Themen wie Gleichberechtigung, Rassismus oder Diversität im Spielplan abzudecken. Die Theater müssen die entsprechenden Schichten einer Gesellschaft erreichen und abbilden, sich gesell­ schaftlich neu verankern.

Was wäre denn ein Weg für die Theater, um sich gesellschaftlich besser aufzustellen? HL: Ich glaube, dass wir in Zukunft weniger stark unterscheiden werden zwischen fest abgesicherten Institutionen und einem völlig fragilen freien Bereich. Das wird sich annähern, und es passiert jetzt schon. Stadttheater übernehmen Arbeitsweisen der Freien Szene. Es ist jedoch wichtig, dass es gesellschaftlich durchdacht ist und nicht nur ein oberflächliches Nachrennen bestimmter Moden. Theater müssen genauer hinschauen, in welchem Umfeld sie leben und welche Kraft sie daraus ziehen können. Auch Fördersysteme werden sich in diesem Wandel umfassend reformieren und neuen kunstfreundlicheren Logiken folgen müssen. Ich möchte aber auch noch darüber nachdenken, wer eigentlich davon betroffen ist, dass wir im Kulturbereich keine Lehren aus der Coronazeit gezogen haben. Das sind doch gerade die Leute, die künstlerische Energie entwickeln, die beweglich sind. Die schwächen wir. Wir kürzen auch bei den Orten, die niederschwellig Zugänge ermöglichen, die in den Stadtteilen arbeiten und Menschen durch Kultur in die Gesellschaft hineinholen. Das klappt natürlich nicht immer gleich. Zu einer guten Kulturpolitik gehört es, auch das Scheitern möglich zu machen, Künstlerinnen und Künstlern eine Entwicklung zu ermöglichen. Wenn wir da kürzen, schwächen wir unsere Gesellschaft. Das ist ein Schuss ins eigene Knie. T

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Magazin Bericht

Angstlos! Heimatlos? Der Dokumentartheatermacher Georg Genoux erhält den LessingFörderpreis des Landes Sachsen bei gleichzeitiger Streichung der Mittel für seine Arbeit Von Viola Hasselberg

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Georg Genoux ist ein Regisseur und Künstler, der Geduld kultiviert und dem klar ist, dass das, was er tut, nur zum Preis einer völligen Erschöpfung zu haben ist. Diese Erschöpfung schreckt ihn aber nicht, denn sie ist meistens ein Zeichen für eine Pause, aus der sich auf seinem Weg immer wieder die Möglichkeit ergeben hat, ganz woanders neu anzufangen und sich selbst trotzdem treu zu bleiben. Diese Kraft und „Beharrungsresistenz“ ist schon ziemlich außergewöhnlich. Aktuell ist Georg Genoux künstlerischer Leiter des soziotheatralen Thespis Zentrums am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen und kuratierte dort von 2022 bis 2024 zusammen mit der Bühnenbildnerin Anastasia Tarkhanova das Festival Willkommen Anderswo. Im Januar 2025 wird ihm der Lessing-Förderpreis des Freistaats Sachsen verliehen. Gleichzeitig werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Jahresende seine kompletten künstlerischen Mittel für das Thespis Zentrum nicht weiter bewilligt, sodass diese modellhafte und existenziell wichtige Arbeit in Bautzen nicht fortgesetzt werden kann. Anerkennung und Kahlschlag in einem Atemzug! Eigentlich wollte Genoux die Leitung des Thespis Zentrums an drei Frauen (eine Ukrainerin, eine Kurdin aus

Anfänge in Moskau „Ich erlebe hier eine große Gefahr durch Rechtsradikalität und gleichzeitig die gutmütigsten und hilfsbereitesten Menschen, die ich in Deutschland kennengelernt habe. Leider vereinen sich in vielen Menschen oft beide Seiten. Hier habe ich das Gefühl, durch Theater wirklich etwas für und mit Menschen bewegen zu können. Das ist etwas sehr Kostbares“, sagt Genoux über Sachsen. Woher kommt diese Liebe zu Menschen, die Angstlosigkeit, sich tief in ihre Konflikte einzulassen? 1998 verließ Genoux das vor sich hindämmernde HelmutKohl-Deutschland, um als Zivildienstleistender in einer alternativen Schule in der Raketenbau-Stadt Zhukovski nahe bei Moskau ins eigene Leben zu starten: „Es gab

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Foto Viktoriia Horodynska

Georg Genoux in seiner Inszenierung „Das Land, das ich nicht kenne“ am Thespis Zentrum in Bautzen

dem Libanon und eine Rentnerin aus Bautzen) übergeben und sich selbst in die zweite Reihe des Teams zurückziehen, nachdem er rund zehn Inszenierungen verantwortet hat. Wenig sichtbaren Perspektiven eine Möglichkeit zum Ausdruck geben, sie in einen künstlerischen und menschlichen Dialog bringen, dafür bietet Genoux am DeutschSorbischen Volktheater eine Heimat. Für viele, die sich hier künstlerisch betätigen, gibt es kein anderes Asyl in der Stadt, die Tür des Thespis Zentrums steht immer offen. 2018 kehrte Genoux nach 20 Jahren in Russland, Bulgarien und in der Ukraine nach Deutschland zurück und erkundete auf eigene Faust in Sachsen ein ihm völlig unbekanntes Land. Als „Wessi“ saß er monatelang in der Dorfkneipe von Hagenwerder bei Görlitz, führte Gespräche mit Menschen, beobachtete und spann das Konzept für sein Filmprojekt bzw. für die Inszenierung „Das Land, das ich nicht kenne“, die am Theater Zittau zur Premiere kam. Von hier aus engagierte ihn der Intendant Lutz Hillmann für Bautzen. Genoux hat die Fähigkeit, mit Menschen eine Verbindung aufzubauen, deren Meinung er nicht teilt (Nazis, AfD-Anhänger:innen), ohne sich vor ihnen zu verstellen. Plötzlich sitzen Menschen gemeinsam auf seiner Bühne, von denen man befürchtet, dass sie sich gegenseitig – oder ihm den Kopf einschlagen. Sein Raum der Kunst hebelt die Wirklichkeit aus bzw. transformiert sie in etwas Drittes, oft mit Humor oder Poesie.


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Anerkennung und Kahlschlag in einem Atemzug!

einen unglaublichen Aufbruch, viel Enthusiasmus und eine riesige Meinungsvielfalt“, berichtet Genoux über das damalige Russland. Er landet schnell an der Staatlichen Akademie der Theaterkünste (GITIS) in Moskau und beginnt Regie zu studieren, wird vom charismatischen Künstlerpaar Elena Gremina und Michail Ugarov „adoptiert“ und gründet mit ihnen 2002 das später international erfolgreiche Teatr.doc. Sie arbeiten in einem Keller, in dem alles gesagt werden darf, produzieren ohne staatliche Förderung, Gremina und Ugarov setzten ihr mit TV-Serien verdientes Geld ein. Es gibt Stücke über massenhafte Vergewaltigungen in Familien, über im Gefängnis verstorbene politische Häftlinge. „Die Realität in Moskau wurde immer unwirklicher, aber in diesem kleinen Keller gab es auf einmal die Wirklichkeit und Realität auf der Bühne im Theater.“ „Theater, in dem nicht gespielt wird“ lautete der Slogan vom Teatr.doc. Genoux macht seine Diplominszenierung am GITIS, „Zeitnot“, über heimkehrende Soldaten aus dem Tschetschenienkrieg, die erste diplomierte Dokumentartheaterinszenierung an diesem Institut. Und er hat großen Erfolg. Gemeinsam mit den Psychologen Elena Margo und Arman Bekenov entwickelt er 2005 das interaktive Theaterprojekt „Demokratia.doc“, das in ungezählten Aufführungen bis 2013 in Form von Rollenspielen mit Menschen aus dem Publikum dokumentiert, was Menschen in ihrer jeweiligen Situation der Demokratie in Russland bewegt. Die Arbeit wird zum Dokument des Ermüdens und Verschwindens der Demokratie unter Putin. Genoux macht weiter mit sogenannten Erinnerungsdramen (Drama Pamjati), untersucht traumatische Ereignisse in der sowjetischen Geschichte. Das Sacharow-Zentrum, die Organisation Memorial und das National Center of Contemporary Art (NCCA) sind wesentliche Partner. Genoux hat immer noch Erfolg, obwohl es gefährlicher für Künstler:innen in Russland geworden ist, aber er verspürt eine große

Entfremdung, Zynismus und Opportunismus und verlässt 2012 das Land. Auf Einladung seiner Freundin Vasilka Bumbarova gelangt er nach Bulgarien, wo er – bald als künstlerischer Leiter – mit dem Theaterkollektiv Replica in Sofia drei Jahre lang Projekte realisiert. Die Arbeit im Kollektiv heilt ihn von der Erschöpfung der letzten Jahre in Putin-Russland. Als sich Erfolg einstellt, befallen Genoux jedoch wieder innere Zweifel. Er verlässt Bulgarien, um 2014 in der Ukraine neu anzufangen. Dort hat sich durch die Unruhen auf dem Maidan und dem Krieg im Donbass alles verändert. Mit der Autorin Natalka Vorozhbyt reist er in den Donbas, um in der gespaltenen, kleinen Stadt Nikolaivka eine zerstörte Schule wieder aufzubauen. Die Inszenierung „Mein Nikolaivka“ entsteht, aus der später der Film „School Nr. 3“ entwickelt wird. Ihr Theater nennen Genoux und Vorozhbyt Theatre of Displaced People, sie machen in Kyjiw und im Donbass Theater mit Schüler:innen und Bürger:innen. Der Kriegspsychologe Oleksii Karachynskyi unterstützt sie, im Winter kann man schwer heizen, Geld verdient keiner, aber das Goethe Institut in Kyjiw ist eine wertvolle Unterstützung. Irgendwann wird die psychische Belastung zu viel, aber Genoux betreibt noch bis Anfang 2022 gemeinsam mit dem ukrainischen Theatermacher Den Humenny und der russischen Künstlerin Anastasia Tarkhanova das soziotheatrale Theaterprojekt Misto to Go im Donbass. Seit 2018 hat er die Ukraine verlassen, in Richtung jenes ihm „unbekannten Landes“, von dem am Anfang dieses Textes die Rede war. T

Die Stühle Tragische Farce Eugène Ionesco

Ab 13.12.2024 Stadttheater Solothurn & Biel

www.tobs.ch

Nix ist normal

THEATER

TANZ

PERFORMANCE

MUSIK

THEATERRAMPE.DE Theater der Zeit 12 / 2024


Magazin Kritiken

Ballhaus Ost Berlin

Einfach auch mal labern „Faserland-Boys und Ich – Labern über Männerliteratur“ von Fatima Çalışkan – Dramaturgie und Ko-­Konzeption Felizitas Stilleke, ­Szenische Umsetzung und Ko-Regie Aurora Kellermann, Szenografie und Lichtdesign Raquel Rosildete, Kostüm Andreína Vieira dos Santos

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ntspannte Klaviermusik, ein aufgeräumter Schreibtisch – von Szene zu Szene mit mehr und mehr luxuriösen Alkoholika zugestellt – und: ein hohes Bücherregal, so ein richtig großes. „Zwei Meter mal zwei Meter vierzig. […] Denn wer viele Bücher hat, der liest auch viel, wer viel liest, weiß viel und wer viel weiß, der kann alles auf der Welt schaffen“, erklärt Fatima Çalışkan dem Premierenpublikum ihrer Inszenierung „Faserland-Boys und Ich“ im Ballhaus Ost in Berlin. In Ko-Produktion mit dem TATWERK | Performative Forschung bringt die Künstlerin hier eine monologische Performance auf die Bühne, in der feministisches Empowerment zum Labern einlädt – zum Labern über Männerliteratur. Christian Krachts Roman„Faserland“ gilt als bekanntestes Beispiel einer männlichen Popliteratur der neunziger und nuller Jahre. Inspiration findet Fatima Çalışkan in diesem Genre besonders durch eines: die Langeweile und die Oberflächlichkeit, von der diese Literatur durchzogen ist – die Selbstverständlichkeit, mit der „Faserland“-Boys durchs Leben tänzeln. Wieso können wir das nicht alle so machen? Die Frage ist gefundenes Fressen für kluge Feminist:innen wie Çalışkan.

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Woran können sich Kinder festhalten, wenn alles wegbricht? „Zwischen den Dingen sind wir sicher“

Theater Chemnitz

Romeo und Julia auf dem Schrotthaufen „Zwischen den Dingen sind wir sicher“ von Laura Naumann – Inszenierung Ulrike Euen, Bühne Stella Brauer, Kostüme Tabea Jorcke

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wischen innen und außen, Geborgenheit und Gefahr verläuft eine klare Grenze. Ein Wall aus Wellblechen soll die Behausung vor Müll, Gewalt und giftigem Regen schützen. Dabei bröckelt der Frieden im Inneren längst, den die elternlosen Geschwister gegen die unwegbare Welt aufrichten wollen. Das postapokalyptische Szenario von „Zwischen den Dingen sind wir sicher“ spielt Konflikte zwischen Kindern durch, die über Nacht groß werden mussten. Gerade weil die Geschwister Bandito und Sascha in die Elternrolle für ihren kleinsten Bruder Techno schlüpfen und Erziehungsberechtigte mehr nachahmen als sind, wiederholen sie auch die Grausamkeiten der Erwachsenen. Die Schauspielstudierenden Kevin Bianco, Luis Huayna, Dana Koganova und Hubert Chojniak probieren sich am Schauspiel Chemnitz in einer bedrückenden „Herr der Fliegen“Variation. Nur sind die Kinder nicht auf einer paradiesischen Insel auf sich selbst gestellt, wie im Roman von William Golding, sondern hausen in einer Ruinenstadt. Zwischen Wellblech und Autoreifen ergibt sich ein tristes Zukunftsszenario, für das Stella Brauer die Bühne und Tabea Jorcke die Kostüme gestaltete. Mit Regenjacken, Cargohosen und futuristischen Helmen weckt die Szenerie Assoziationen zu Science-FictionFilmen wie „Mad Max“ oder „Blade Runner“. Allerdings versucht sich die Inszenierung von Ulrike Euen nicht an einem gesellschaftskritischen Blick auf die Gegenwart, wie es im Genre üblich wäre, sondern bleibt bei sehr allgemeinen Überlegungen stehen. Ein paar Striche im Text und dafür mehr Nuancen in der Beziehung der Charaktere untereinander hätten dieser Nachwuchsinszenierung sicher gutgetan. Teilweise unbeabsichtigt komisches Kinderspiel trifft in der Studioaufführung auf einen überladenen und bedeutungsschwangeren Plot über die Radikalisierung traumatisierter Kinder und die Kraft der Liebe. Trotz einer aufkeimenden Love-Story, die eine mögliche Versöhnung zwischen den Welten andeutet, versinkt mit der überschäumenden Gewalt doch alles in Trostlosigkeit. Hoffnung soll das am Ende projizierte Märchenbild eines Schwanes spenden, in das sich der Junge Techno verwandelt habe, um der Bürde des Menschseins zu entkommen. Ist das der Ausweg aus der Tristesse? // Lara Wenzel

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Fotos links oben Marcus Glahn, unten Nasser Hashemi, rechts oben und unten Thomas Aurin

Vorm Hotel Sylter Hof: Fatima Çalışkan für „FaserlandBoys und Ich – Labern über Männerliteratur“

Ausgehend von der Beobachtung, dass immer wieder irgendein Typ um die 40 in ihrer Wohnung steht und ihr etwas von „Faserland“ erzählen will, entwickelt Fatima Çalışkan einen künstlerischen Versuchsaufbau: Wenn Kracht mit seinem Roman eine Kultur des modernen Dandys zelebrieren kann, dann spricht nichts dagegen, das Ganze auf der Bühne einfach mal nachzumachen, oder? Einfach auch mal labern. In lilafarbener Anzugjacke und glitzernden Absatzschuhen, rauchend und trinkend zum Dandy mutieren. Wieso nicht? In der Satire liegt eine Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach einer Leichtigkeit, die sonst immer nur den anderen zukommt – einer Leichtigkeit, die auf dem Privileg fußt, sorglos und belesen durch diese Welt wandeln zu können. Am Ende des Abends sitzt Çalışkan in einem bunten Mustermix aus Tüll, Glitzer und Jeansstoff neben ihrem Schreibtisch und lässt sich in einem imaginären Gespräch selbst von Christian Kracht interviewen. Auf die Frage, ob das Bücherregal nun wirklich dazu geführt hat, dass Fatima alles schaffen kann, antwortet diese unaufgeregt: nein. „Es ist nicht der Fluch, etwas sein zu wollen, was man nicht werden kann. Der Fluch ist zu glauben, man kann es werden“, erklärt sie ihrem imaginären Gesprächspartner. // Sophie-Margarete Schuster


Magazin Kritiken

Ein Gefängnis voller Leben: „Bernarda Albas Haus“

Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Partitur des Patriarchats

„Bernarda Albas Haus“ von Alice Birch nach Federico García Lorca – Regie Katie Mitchell, Bühne Alex Eales, Kostüme Sussie Juhlin-Wallen, Komposition Paul Clark, Melanie Wilson, Original-Sounddesign Melanie Wilson

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ernarda Alba sperrt das Gatter zum Hof zu. Kontrolliert die Türschlösser. Geht von Zimmer zu Zimmer und knipst das Licht aus: Die Hausherrin, ganz in Schwarz, schwarzer Rock, schwarze Bluse, flache Schuhe, klimpert mit den Schlüsseln. Es scheint, als gehe sie durch Wände. Kein Lächeln, kein Wort. Nur das Grillenzirpen, mal bellt ein Hund. Ihr Haus ist ein Gefängnis für alle, die darin wohnen. Auch für sie selbst. Und anschließend? Kommen die Bewohnerinnen wie in Zeitlupe an den Esstisch. Bernarda Albas Mann ist gestorben, und die Witwe hat verfügt, dass ihre fünf Töchter acht Jahre Trauer halten müssen. Kein Mann, keine Abwechslung – sondern Isolation. Plötzlich bricht das Licht aus dem Halbdämmer wie von einem unsichtbaren Schalter betätigt ins Taghelle, fällt die Szene in Normalzeit: Alltag. Zwar freudlos, aber Alltag. Junge Frauen im Gespräch, plaudernd. Diese Rhythmuswechsel sind bezeichnend für die hochpräzise Regie von Katie Mitchell: Sie inszeniert eine Partitur aus Worten und Gesten, spielt mit der Zeit, mit Beschleunigung und Stillstand, konstruiert ein Uhrwerk der Verzweiflung. Alles gedrosselt. Eine Ohrfeige der Mutter, das Verbrühen der Hände durch kochendes Wasser: Das sind eruptive, seltene, umso brutalere Momente. Man

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spürt in jeder Sekunde, dass sich hier eine Katastrophe anbahnt. Bernarda Alba vollzieht die Gewalt der Männer, sie besitzt ihre Töchter. Das Haus von Bernarda Alba ist ein aufgeschnittenes schmuckloses Gebäude mit zwei Geschossen, sieben Kammern oben, fast alle ohne Fenster, unten ein Esszimmer, Diele, eine Küche und eine Art Innenhof, den ein Eisengatter versperrt (Bühne Alex Eales). Katie Mitchell arbeitet mit Unsichtbarkeit, mit Ahnungen, Schatten, manchmal auch mit einem nur fernen Hintergrundgeräusch, einem wiehernden Pferd, einem vorbeifahrenden Krankenwagen (Komposition Paul Clark, Melanie Wilson). Auch wenn in ihrem Stück – wie im Original von Federico García Lorca – nur Frauen zu Wort kommen: Das Patriarchat bestimmt alles. Dieses Gefängnis steckt voller Leben, das macht die Inszenierung zu einem Ereignis. Das Brutale: Die Frauen vergiften sich gegenseitig mit ätzenden, eifersüchtigen Sätzen, weil sie den männlichen Blick auf ihre Körper zu ihrem eigenen machen. So gesehen ist Bernarda Albas Haus unsere Welt, wir alle wohnen darin. // Peter Helling

Ein distanzierter Blick auf Anthroposophie: „Die ­Erziehung des Rudolf Steiner“ von Dead Centre

Staatstheater Stuttgart

Wenn Erwachsene ihre Namen tanzen „Die Erziehung des Rudolf Steiner“ von Dead Centre (UA) – Regie Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel), Bühne Jeremy Herbert, Kostüme Mirjam Alom Pleines, Musik Kevin Gleeson, Video Sébastien Dupouey

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as früh gereifte Kind spricht mit Geistern und denkt sich in seine eigene Welt hinein. Die Anthroposophie verortet das britische Theaterkollektiv Dead Centre in einem Niemandsland zwischen dem ganzheitlichen Menschenbild und seltsam verirrten Ideen. In ihrer Stückentwicklung „Die Erziehung des Rudolf Steiner“ überblenden die Regisseure Ben Kidd und Bush Moukarzel die Jugend des Reformpädagogen und Schriftstellers Rudolf Steiner mit der Lebenswirklichkeit eines heutigen Waldorfkinds. In der Uraufführung im Staatstheater Stuttgart überschreiten die Künstler gleich in mehrfacher Hinsicht ästhetische Grenzen. Dass mit Levin Raser ein Kind in der Hauptrolle zu sehen ist, verblüfft das Publikum. Diese Setzung ist stark. Mit einer Souffleurin meistern die drei Kinderstatisten, die sich bei den Aufführungen im Schauspielhaus abwechseln, den komplexen Text souverän. Levin Rasers schauspielerisches Talent überzeugt. Und die Textmengen sind immens. Wenn er von Steiners Erweckungserlebnis mit einem Kräutersammler erzählt, kommt das ebenso spannend an wie der Umgang eines Kindes im 21. Jahrhundert vor den schrägen Waldorftheorien. Ziemlich cool zündet sich der Schüler eine Zigarette an und spricht: „Ihr seht, wenn man ein Kind auf die Bühne holt, stellen wir uns Fragen. Draußen in der Welt ist er einfach nur ein Junge. Aber wenn man etwas auf die Bühne holt, sieht man es wie zum ersten Mal.“ Die Anthroposophie neu zu betrachten, ist gerade in Stuttgart reizvoll. Wenige Gehminuten vom Theater entfernt, auf der Uhlandshöhe, steht die erste Waldorfschule der Welt – sie wurde 1919 gegründet. Heute gibt es 1214 Waldorfschulen auf der ganzen Welt, die nach Steiners Pädagogik geführt werden. Kritik vertragen die Verfechter der Idee nur schlecht. Umso spannender ist der distanzierte Blick des Kollektivs Dead Centre auf die Idee. // Elisabeth Maier

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Zehn mal zehn Prozent Eine Meditation über Zahlen und Fakten Von Marie Schleef

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel. 1 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Blutbestandteile: Blutplasma und Blutzellen. Verfügbar unter: https://www.blutspenden.de/rundums-blut/blutbestandteile-blutzellen-und-plasma/ (Zugriff am 3.11.2024) 2 Oxfam Media Briefing (21.9.2020) Confronting Carbon Inequality. Verfügbar unter: https://www. oxfam.de/system/files/documents/20200921-confronting-carbon-inequality.pdf (Zugriff am 2.11.2024) 3 Oxfam (15.1.2024), Bericht zur sozialen Ungleichheit, Inequality Inc. Verfügbar unter: https://www. oxfam.de/ueber-uns/publikationen/bericht-sozialeungleichheit-2024 (Zugriff am 30.10.2024) 4 Statistische Bundesamt (29.7.2024), Weltbevölkerung 2024: Mehr als acht Milliarden Menschen auf der

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1. Etwa die Hälfte unseres Blutes besteht aus Plasma. Es ist eine gelbliche, lebenswichtige Flüssigkeit, die als Transportmittel für Sauerstoff, Hormone oder Kohlendioxid in unserem Blut dient. Und dieses wertvolle Plasma besteht zu etwa 90 Prozent aus Wasser. Die restlichen zehn Prozent setzen sich aus einem Gemisch von Nährstoffen, Hormonen, Mineralien und über 120 verschiedenen Eiweißstoffen (Proteinen) zusammen.1 2. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat eine Studie zum Beitrag zum Klimawandel veröffentlicht, nach der die reichsten zehn Prozent in Deutschland für 28 Prozent der bundesweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind. Weltweit gesehen sind die reichsten zehn Prozent sogar für die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Damit ist auch die These widerlegt, die globale Mittelschicht trage den Großteil der verursachten Emissionen.2 3. Ein ebenfalls von Oxfam veröffentlichter Bericht zur globalen Ungerechtigkeit zeigt, dass die reichsten zehn Prozent zusammen 85 Prozent des heutigen Weltvermögens besitzen, während die ärmsten 50 Prozent zusammen nur ein Prozent besitzen. Umgerechnet entspricht die Ungleichheit also einer Situation, in der von 100 Personen eine Person 90 Prozent besitzt, während sich die restlichen 99 Personen zehn Prozent teilen.3 4. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beträgt der Anteil der europäischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung von derzeit über 8 Milliarden Menschen zehn Prozent. Während 90 Prozent der Weltbevölkerung nördlich des Äquators lebt, leben die restlichen zehn Prozent auf der Südhalbkugel.4 5. Laut Veröffentlichungen des Krebsinformationsdiensts sind bis zu zehn Prozent aller Krebserkrankungen erblich bedingt. Die restlichen 90 Prozent entstehen dagegen spontan durch Veränderungen im Erbgut. Gesunde

Zellen werden in Tumorzellen umgewandelt und führen zur Erkrankung, werden aber nicht an die Nachkommen weitergegeben.5 6. Das Karriereportal Stepstone veröffentlichte eine Eyetracking-Studie zu Bewerbungsverfahren. Diese ergab, dass beim Lesen einer Bewerbung die beigefügten Zeugnisse nur zehn Prozent der Gewichtung ausmachen, während sich die restlichen 90 Prozent vor allem auf den Lebenslauf und das Motivationsschreiben verteilen. 6 7. Beim Kauf einer Immobilie betragen die Nebenkosten derzeit etwa zehn Prozent des Kaufpreises – diese setzen sich aus der Grunderwerbsteuer, Notarkosten, den Grundbuchkosten, der Maklerprovision, eventuellen Modernisierungskosten sowie Umzugskosten und Finanzierungsnebenkosten zusammen.7 8. Gut ein Zehntel der deutschen Bevölkerung ernährt sich laut Bundesverbandes des Deutschen Lebensmittelhandels vegetarisch oder vegan. Vorreiter sind hier vor allem Frauen unter 30 Jahren. Dabei spielen vor allem Faktoren wie Umweltschutz, Tierwohl und Gesundheit eine Rolle. 8 9. In einem Seminar an der Goethe-Universität Frankfurt fließt die aktive Mitarbeit der Studierenden mit zehn Prozent in die Endnote ein. Die restlichen 90 Prozent setzen sich aus zwei Hausarbeiten und zwei kurzen Response Papers zusammen. Zum Bestehen dieses Seminars müssen 60 Prozent der geforderten Gesamtleistung erbracht werden. 10. 90 Prozent der Theaterkosten sind derzeit reine Fixkosten. Sie fließen in die Mietkosten sowie die Gehälter der festangestellten Mitarbeiter:innen. Der künstlerische Etat – die Produktionskosten und Budgets für das eigentliche künstlerische Programm – macht hingegen nur zehn Prozent des Gesamtbudgets aus. Und genau diese zehn Prozent sollen nun nach dem aktuellen Entwurf des Kulturbudgets 2025 & 2026 der Bundesregierung gekürzt werden.9 T

Erde. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/ Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/ bevoelkerung-arbeit-soziales/bevoelkerung/Weltbevoelkerung.html (Zugriff am 3.11.2024) 5 Krebsinformationsdienst, Erblicher Krebs. Verfügbar unter: https://www.krebsinformationsdienst. de/krebs-vorbeugen/krebs-vererbbar-und-gentest (Zugriff am 28.10.2024) 6 Stepstone (16.10.2018), Eyetracking Studie: So lesen Personalverantwortliche Bewerbungen. Verfügbar unter: https://www.stepstone.at/UeberStepStone/pressebereich/eyetracking-studie-so-­ lesen-personalverantwortliche-bewerbungen/ (Zugriff am 3.11.2024)

7 Immowelt (25.7.2024), Nebenkosten beim Hauskauf auf einen Blick. Verfügbar unter: https://www. immowelt.de/ratgeber/finanzieren/nebenkostenhauskauf-hausbau (Zugriff am 2.11.2024) 8 Tagesschau (19.9.2023), Gut ein Zehntel isst vegetarisch oder vegan. Verfügbar unter: https://www. tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/ernaehrungvegetarisch-vegan-100.html (Zugriff am 28.10.2024) 9 Nachtkritik (1.10.2024), Berliner Theater zum drohenden Spardiktat „Sonst wird diese Stadt öde und leer“. Verfügbar unter: https://nachtkritik.de/ recherche-debatte/spardiktat-in-berlin-stimmender-theater-zu-den-bevorstehenden-kuerzungenim-kulturbereich (Zugriff am 29.10.2024)

Theater der Zeit 12 / 2024

Foto links Hendrik Lietmann; rechts Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Radialsystem Oliver Proske, Sophiensæle Gedvilė Tamošiūnaitė, Theater Konstanz Ilja Mess, Theater Marie Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Konstanz Hannes Weiler inszeniert in Konstanz Elfriede Jelineks „Angabe der Person“. Nach seinen erfolgreichen Produktionen von „Quijote“ und „Das Bildnis nach Motiven des Dorian Gray“ verspricht die Kombination von Jelineks effektvollem Witz und Weilers einzigartigen Assoziationsketten neue spannende Sprachbilder. theaterkonstanz.de 7.12. (Premiere)

„Autsch – Warum geht es mir so dreckig?“

„WERDEN“ von Magda Korsinsky

Sophiensæle Berlin In der True-Crime-Performance „Autsch“ begeben sich Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen auf die Spuren des Mysteriums der allgemeinen Miserabilität. Wie können wir gemeinsam am guten Leben für alle arbeiten, wenn eigentlich niemand die Kraft dazu hat? 5. bis 8.12.

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Wie wird man, wer man sein will? In „WERDEN“ zeigen die Performerinnen* ihre Entwicklung zu Selbstbewusstsein und Stärke, es ist ein choreografisches Archiv der Erfahrung Schwarzer FLINTA* in Berlin, mehrperspektivisch und empowernd. 6. bis 9.12.

Theater Marie Mit zungenbrecherischer Verspieltheit erzählt das Stück „Fischer Fritz“ von Raphaela Bardutzky vom Ringen nach Worten und von der Dringlichkeit, darüber zu sprechen, wie wir altern wollen. 19. und 20.12. (Theater Winkelwiese Zürich)

Einar & Bert, Berlin Teresa Kovacs bringt in ihrer Studie Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch zusammen und zeigt, was es bedeutet, wenn der Nullpunkt – z. B. durch eine Katastrophe unseres technowissen­ schaftlichen Zeitalters – zum zentralen Energiefeld des Theaters wird. 12.12. (Buchpremiere)

Theater der Zeit 12 / 2024

„The whole Truth about Lies“ von NICO AND THE NAVIGATORS

Vera Bommer, Ingo Ospelt, Nancy Mensah-Offei

Radialsystem, Berlin Wer die ganze Wahrheit über Lügen sucht, wird im Paradoxen fündig – oder im Theater. Das neueste Projekt von NICO AND THE NAVIGATORS über Selbstbetrug, ­Fremdbestimmung, Notlügen und Trug­schlüsse. Infos & Tickets: navigators.de 12. bis 15.12.

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025

Chemnitz ist die zweite ostdeutsche Kulturhauptstadt Europas

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Theater der Zeit 12 11 / 2024


Theater der Zeit 12 11 / 2024

Foto Ernesto Uhlmann/radar studios

Nach Weimar 1999 wird das sächsische Chemnitz die zweite Kulturhauptstadt Europas im Osten Deutschlands, Eröffnung ist am 18. Januar 2025. Das Programm aus über 130 Projekten an den verschiedensten Orten der Stadt und des Erzgebirges stellt mit sei­ ner soziokulturellen Tiefenverflechtung in Geschichte und Gegenwart von Chemnitz und Umgebung in der Tradition der Kulturhauptstadtevents etwas Neues dar. Programm­ geschäftsführer Stefan Schmidtke erläutert im Interview diesen radikalen Ansatz und erklärt, warum Chemnitz 2025 ein Ereignis ohne Big Names sein kann. Die Architektur­ historikerin Annette Menting führt durch einzelne Orte und im Kunstinsert stellt die Kuratorin Agnieszka Kubicka-­Dzieduszycka das multidisziplinäre Projekt „#3000Gara­ gen“ vor, bei dessen Entwicklung sie selbst das Besondere von Chemnitz verstehen lernen konnte, wie es im kommenden Jahr vielleicht viele Besucher:innen in der bislang un­ gesehenen und unentdeckten Stadt, so das Motto „C THE UNSEEN“, erleben werden.

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C the Unseen Stefan Schmidtke, Geschäftsführer Programm der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025, über Chancen und Risiken eines Events ohne Stars im Gespräch mit Thomas Irmer

Stefan Schmidtke, Geschäftsführer Programm Chemnitz 2025

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Seit 1985 gibt es das Projekt der europäischen Kulturhauptstädte. Die historische Entwicklung von Wett­bewerb und Auswahl der Kulturhauptstädte kann man sich in der Ausrichtung des Programms der jeweiligen Kulturhauptstadt in drei Etappen vorstellen. Auf die erste Etappe mit historisch gegebenen Kulturhauptstädten wie Athen, Florenz, Amsterdam und Paris folgte mit Glasgow 1990 erstmals ein Projekt der Stadterneuerung, das für viele folgende Städte mit diesem Titel der Kulturhauptstadt bestimmend blieb. Später, das wäre die dritte Phase, traten noch die Fragen der Nachhaltigkeit und der regionalen Einbeziehung für die Programmentwicklung hinzu, die häufig eine Mischung aus internationalen Superstar-Magneten und lokalen Akteur:innen darstellte. Bei Chemnitz 2025 ist es radikal anders, alles kommt aus der Stadt und der sie umgebenden Region des Erzgebirges selbst. STEFAN SCHMIDTKE: Die Chem­ nitzer haben den Titel bekommen, weil sie wirklich radikal gesagt haben, wir wollen, dass es für unsere Stadt einen Beteiligungsprozess gibt. Das hat in den letzten 20 Jahren zwar verbal jede Bewerberstadt behauptet, doch einen wirklichen Beteiligungsprozess in Gang zu setzen, also nicht nur irgend­ wie ein kleines Projekt mit 25 Aus­ gesuchten zu machen, sondern auch einen stadtoffenen Prozess in Gang zu setzen, das war die Idee von Chemnitz, die in dem Auswahlverfahren im Be­ werbungsbuch 2 auch sehr deutlich abgebildet ist. Mit dem Bewerbungs­ buch 2 wurden 72 Projektideen nach Brüssel geschickt, die alle in Chemnitz und Umgebung verankert sind. Die wichtigste Information, die man im­ mer dabei geben muss: Kulturhaupt­ städte sind maßgeschneidert. Chemnitz, das ist zunächst mal Abwanderung, Niedergang einer In­ dustrielandschaft, aber trotzdem gro­ ßes tradiertes Potenzial. Es geht um die Belebung der Macher:innen und des Machergeists. Nicht der Wettbe­ werb der kuratorischen Truppenteile zählt, wer kauft die schönsten und teu­

Theater der Zeit 12 / 2024

Foto Peter Rossner

Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025


Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 ersten Dinge ein, sondern es geht darum, welche Initiativen kommen aus der Region und der Stadtgesellschaft und wie sind sie selbst, mit Unterstützung, in der Lage, die­ se umzusetzen. Die Formel von Chemnitz heißt also, es geht nicht darum, „was wir uns leisten können“, sondern darum, „was wir leisten können“. Wichtig ist: Wir sind eine lebendige europäische Region und wollen, dass möglichst viele Menschen aufmerksam werden auf etwas, das schein­ bar nicht wertgeschätzt wird. Der Titel „C the Unseen“ meint kein visuelles Problem, es geht vielmehr um die Frage, nehme ich die Dinge überhaupt wahr und wertschätze ich sie in der Wahr­ nehmung und bin ich bereit, sie wahrzu­ nehmen und darüber zu sprechen. Wer hat dieses Konzept entwickelt? SS: Das Kulturamt hat einen Bewer­ bungsstab aufgebaut und fand aus ganz vie­ len verschiedenen Belangen der Stadt Men­ schen, die Beteiligungsprozesse entwickelt haben. Aus diesen Beteiligungsprozessen – öffentlichen Hearings, Ideenwerkstätten, Mikroprojekten, Vernetzungsreisen und Konferenzen – ist dieses Bewerbungsbuch entstanden, so wie es nach Brüssel gegan­ gen ist. Es handelte sich dabei schon um einen basisdemokratischen Prozess, der versucht, so viel wie möglich aus der Stadt­ gesellschaft mit rein zu nehmen. Insofern ist es gelungen, die Pyramide sozusagen nicht nur mit der Spitze nach Brüssel zu schicken, sondern auch die Stehfläche, auf der sie steht, gut zu kommunizieren. Negative Demografie und Deindustrialisierung gibt es ja in vielen Regionen Europas. SS: Doch inwieweit spielte jetzt eben auch ein kritisches und fast verwundetes Selbstbild von Chemnitz eine Rolle? Es gab die sogenannten Mob-Bilder, die um die ganze Welt gingen. Es gab Ereignisse, die in gewisser Weise die Stadt stigmati­ siert haben jenseits dieser allgemeineren Problematik von Deindustrialisierung. Dazu der revidierte Namenswechsel, mit dem die Stadt in die DDR-Geschichte in einer besonderen Weise eingebunden war. Städte wie Magdeburg und Erfurt sind Landeshauptstädte geworden. Leipzig liegt an der wichtigsten Nord-Süd-ICE-Ver­

Theater der Zeit 12 / 2024

bindung zwischen Berlin und München. Dresden ist Landeshauptstadt – Chemnitz hat als dritte sächsische Metropole nicht allzu viel von diesen Entwicklungen nach der Wiedervereinigung gehabt. Karl-MarxStadt war aber wirklich mal die absolute Herzkammer des Ostblock-Maschinenbaus und der Textilmaschinenindustrie. Und das heißt, wenn das einmal zusammenbricht, ist dann auch nicht viel anderes da. In­ sofern ist die Entvölkerung von 310.000 Einwohner:innen auf 250.000 höchst pro­ blematisch, verbunden mit dem Verlust einer kompletten Generation an jungen, gut ausgebildeten Menschen. Das alles hat gravierende Auswirkungen gehabt. Im vorletzten Jahr hat Chemnitz die Talsohle durchschritten, seitdem gibt es wieder Zu­ zug und zieht Leipzig oder Dresden in der Entwicklung eben nach. Die Stadt befindet sich in einem vergleichsweise bei Weitem komplizierteren Selbstfindungsprozess, weil durch die Leere, die in der Stadt entstan­ den ist, auch viel Freiraum, der nicht sozial kontrolliert ist, entstanden ist. Was heißt das genau? SS: Indem sich eben verschiedene Nazi-Shops und -Initiativen dort einfach ­ eingenistet haben, weil es an zivilgesell­ schaftlichem Zusammenspiel fehlte. Und da sind wir in 2018. Die Idee, die Kulturhaupt­ stadt aufzulegen, war eben auch, die zivilge­ sellschaftlichen Lücken in dieser Stadt erst mal zur Kenntnis zu nehmen und sie mög­ lichst mit internationaler Zusammenarbeit und mit viel lokaler Zusammenarbeit in eine Art neues Geflecht zu bringen, indem man sagt, die Stadt wacht auf und engagiert sich in vielen Gebieten, im Besonderen ebenje­ nen zivilgesellschaftlicher Natur. Wenn man das so sehr aus der sozialen Realität, die man damit verändern will, heraus entwickelt, besteht da nicht die Gefahr, dass der Glanz der Internationalität mit diesen sogenannten Leuchttürmen, die Kulturhauptstädte ausgemacht haben, am Ende fehlt? Auch Kaunas hatte sich 2020, um mal ein Beispiel zu nennen, sehr stark mit der regionalen Identität beschäftigt als ehemalige Hauptstadt Litauens, die sich gegen das weltbekannte Vilnius, das schon Kulturhauptstadt war, behaupten wollte

Wenn du Selbstbewusstsein lancieren willst, dann musst du sehr risikofreudig sein. Das heißt, es gibt keine Tarnung mit Fremdgeschehen. „C the Unseen“ auf der ganzen Platte.

und dafür William Kentridge und Yoko Ono im Programm aufbot. Das macht Chemnitz nicht. SS: Genau, weil wir nicht über Agenturen einkaufen gehen. Ich glaube, wenn du Selbstbewusstsein lancieren willst, dann musst du sehr risikofreudig sein. Das heißt, es gibt keine Tarnung mit Fremdgeschehen, sondern es gibt „C the Unseen“ auf der ganzen Platte. Die Frage der Beteiligung der Menschen an Kultur im weitesten Sinne ist ein hochkritisches politi­ sches Thema geworden, weil mit der elitären Benutzung von Kulturbegriffen auch Politik gemacht wird. Wir erzählen die ungewöhn­ liche Geschichte einer Bewusstwerdung von Kultur in der Gesellschaft. Und das ist ein Projekt als Operation am offenen Herzen. Angesichts der Briefstapel, die bei mir eingehen, angefangen von anonymen Brie­ fen in Runenschrift, „ein Volk, ein Reich, eine Kulturhauptstadt, wir sind dabei“, bis hin zu Meckerbriefen, 17 Seiten lang, und handschriftlich verfertigten Postkarten, wo draufsteht: „Kultur ist das Wichtigste, was wir vor uns haben für unsere Stadt“, merken wir, das trifft absolut den Nerv die­ ser Region und der Zeit. Letzten Endes ist es aber auch so, dass alle unsere Initiativen in europäischer Partnerschaft, also auch in Internationalität zusammenarbeiten. Die Chemnitzer:innen haben nur nicht auf Big Names gesetzt, sondern sich ge­ dacht, eine Stadt, die nie Kunst und Kultur als Allerwichtigstes hatte, sondern immer Ingenieursgeist und Industriebetriebe, die braucht erst mal ein Grundverständnis für eine breite Kultur und muss dafür überall Partner finden. Und deswegen sind nun viele sehr glücklich, dass sie für ihre Pro­ jekte mit Partnern in über 30 Ländern zu­ sammenarbeiten.

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025

Die tschechische Seite des Erzgebirges ist historisch viel enger miteinander verstrickt als wir nach dem Norden hin.

Das ist der Beteiligungsprozess, den die Kulturhauptstadt selbst auslöst, wenn sie sich in Bewegung setzt. Das ist der mit Abstand anstrengendste und schwierigste Teil, aus dem aber am Ende – das Bewer­ bungsbuch hat 72 Projekte – noch einmal 60 neue, frische Projekte entstanden sind: ein Generationenprogramm, ein tsche­ chisch-polnisch-deutsches Programm. Dieser Anteil, die Europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie, hat die Ideen des Bewerbungsbuchs verdoppelt. Bei der großen Programmvorstellung Ende Oktober hatte man fast den Eindruck, dass die benachbarten Tschech:innen das auch mit als ihre Kulturhauptstadt sehen. SS: Die andere Seite des Erzgebirges mit Orten wie Jachymov, Karlsbad, Ústí nad Labem sind historisch, in der Hand­ werkskultur wie auch industriell, viel en­ ger miteinander verstrickt als wir nach dem Norden hin. Und deshalb muss man hier im Sinne von Euroregionen denken. Die Kultur-Staatsministerin Claudia Roth hat gesagt, die Kulturhauptstadt in Chemnitz ist eine wichtige Brücke in den Osten Europas.

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Sie haben ja auch eine eigene Formel dafür gefunden, die manche Leute vielleicht sogar ein bisschen seltsam finden oder sogar provozierend: Chemnitz ist eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land. SS: Wir müssen uns im Klaren sein, dass mit dem Wechsel eines Gesell­ schaftssystems, also einer gesellschaftli­ chen Organisation und Verwaltung, die Menschen trotzdem in einer gewissen Mentalität verharren und die Transforma­ tion der Mentalität ein intergenerativer Prozess ist, der nicht durch eine Wahl oder eine neue Währung erledigt ist. So haben wir übrigens noch einen ganz an­ deren Kontrastpartner im Rahmen der Kulturhauptstädte entdecken dürfen. Seit der EU-Erweiterung 2004 gibt es immer zwei europäische Kulturhauptstädte, eine in einem sogenannten alten EU-Land und eine in einem neuen EU-Land. Es entste­ hen dadurch relativ seltsame Kombina­ tionen, denn die Kulturhauptstädte sind dazu verpflichtet, Gemeinschaftsprojekte zu entwickeln. Unsere Hauptstadtschwes­ ter ist Nova Gorica in Slowenien direkt an der Grenze zu Italien. Die Kriegsgrenz­

ziehung hat das alte Görz aus dem Kö­ nigreich Jugoslawien Italien zugeschlagen und plötzlich waren auf der slowenischen Seite Hunderttausende von Menschen ohne administrative Verwaltung. Tito ließ ein neues Administrationszentrum schaffen, weil die Leute Rentenbeschei­ de, Pässe und alles Mögliche brauchten, und deswegen ist Nova Gorica entstan­ den. Wenn du in Nova Gorica durch die zentrale Einkaufsstraße gehst, könntest du verführt sein zu sagen, ich laufe in Karl-Marx-Stadt oder in Chemnitz über die Straße der Nationen. Das ist optisch eine Zeit und ein Stil. Der Witz aber ist, während wir in Karl-Marx-Stadt hinter der Mauer gesessen haben, waren unsere slowenisch-jugoslawischen Freund:innen weltweit unterwegs. Und jetzt kommt es so, dass wir die alte EU sind und jene die Frischlinge, die dazugekommen sind. Ich finde, das ist ein unglaublich schöner und beziehungsreicher Flip-Flop. Und es ist auch so, dass wir mit Nova Gorica locker fünf gemeinsame Projekte machen, wäh­ rend sich andere Kulturhauptstädte mit Mühe und Not irgendwie ein Projekt aus den Fingern saugen.

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Foto links Ernesto Uhlmann/radar studios, rechts Peter Rossner

Chemnitz aus der Luft


Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025

Die Grundidee von Theater der Welt 2026 in Chemnitz: eine Welterzählung aller Kontinente zu erschaffen.

Das internationale Festival Tanz | Moderne | Tanz soll im Sommer 2025 stattfinden

Im Projekt „#3000 Garagen“ werden verschiedene Kunstgattungen zusammengeführt (siehe Kunstinsert!) als eine der fünf Hauptsäulen des Programms. Daneben fällt vor allem die Bemühung um den Tanz auf, für den Chemnitz bislang kein besonderer Ort gewesen ist. SS: Sabrina Sadowskas „Odyssee in C“ ist die getanzte Odyssee von Sonnenauf­ gang bis Sonnenuntergang und soll den gesamten Stadtraum einmal atmosphä­ risch und auch physisch anders in Besitz nehmen. An einer riesenlangen Kette quer durch die Stadt an 18 Orten. Das ist wie ein Überlaufgefäß, wo wir wollen, dass es Tanzinitiativen aus Chemnitz gibt, die da einfach mitmachen, kuratiert von Sa­ brina Sadowska und insertiert mit tollen Sternen der europäischen Tanz- und Per­ formanceszene. Das genaue Programm kommt erst im März. Ein eher klassisches Theaterprojekt ist die Urführung der Oper „Rummelplatz“ nach Werner Bräunigs Roman über das wilde Leben der Uran-Arbeiter der Wismut, die das Uran für die sowjetische Atombombe aus dem Erzgebirge lieferte. Das Libretto

Theater der Zeit 12 / 2024

für Ludger Vollmers Oper wurde von Jenny Erpenbeck geschrieben, die wiederum postum entstehendes Material zu diesem Roman einbeziehen soll. SS: Der Roman ist unvollendet, es gibt dazu seit diesem Sommer eine Bür­ gerschreibwerkstatt, wo an ehemaligen Wismut-Standorten verschiedene Versio­ nen für das Ende des Romans ausprobiert werden – aus der erinnerten Lebens- und Arbeitswelt. Im Bereich Performance/Theater ist Chem­ nitz ganz im Sinne der Nachhaltigkeit gleich mit der nächsten Großveranstaltung gesegnet worden, mit der Vergabe von ­Theater der Welt. SS: Die Bewerbung Theater der Welt 2026 ist insofern besonders, weil hier von vornherein drei sehr unterschiedliche in­ stitutionelle Partner zusammenarbeiten. Der Bewerbungsführer ist zum ersten Mal für dieses Festival ein Fünf-Sparten-Haus. Also nicht nur die Schauspielabteilung des Theaters. Das Besondere ist außerdem un­ ser Partner, das Festival Atelier aus Brüssel für die Kulturhauptstadt GmbH, die eine komplett funktionierende Produktions­

struktur, Marketingstruktur, Drittmittel­ struktur hat, was üblicherweise Theater eben nicht haben. Die Grundidee von Theater der Welt 2026 in Chemnitz ist – daran sitzen wir im Moment –, dass Kurator:innen, die in Südamerika, Nordamerika, Westafrika, im Süden Afrikas, im mittelasiatischen Raum und in Ozeanien in ihren Gebieten als Fachleute eigenständig kuratieren und sich zu einem Kuratorium aus diesen sechs bis acht Menschen im Dialog der Findung der Werke auf die Konzeption einer Welt­ erzählung inhaltlich einigen. Wir sprechen bei Theater der Welt von zwischen 35 bis 40 Produktionen und schauen, dass aus je­ dem Bereich der Welt eine gleiche Anzahl an kuratorischen Vorschlägen kommt. Auch das ist ein sehr mutiges Vorhaben. Die Kulturhauptstadt GmbH wird der Producer, Drittmittelförderer und Durch­ führer sein. Die Kulturhauptstadt als Booster für internationales Theater in Sachsen? SS: So sieht es aus. Die Stadt hat alle Chancen. C the Unseen. T

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025

Karl-Marx-Monumentalplastik von Lew Kerbel, daneben der Chemnitz Open Space der Städtischen Kunstsammlungen

Ein Bergwerk der vielen Orte Foto Louis Volkmann

Bei Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt Europas werden mit Theater und Performances Geschichten aus der ganzen Region zu erleben sein Von Annette Menting

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 Chemnitz ist erst die zweite ostdeutsche Kulturhauptstadt nach Weimar 1999 und wird mit seinen historischen, kulturellen und städtebaulichen Besonderheiten eine ganz andere Kulturhauptstadterzählung bieten als viele ihrer Vorgänger quer durch Europa. Dem kommenden Titeljahr ging ein engagierter, längerer Prozess voraus mit einer Zustandsaufnahme, Revision der Situation sowie Entwicklung einer neuen Kulturstrategie und dem ersten Bid Book unter Einbeziehung verschiedener städti­ scher Akteur:innen aus Verwaltung, Ins­ titutionen, Kulturszene und Gesellschaft. Während dieses Bewerbungsprozesses kam es 2018 zu rechtsradikalen Aufmär­ schen, die die Stadt in der Innen- und Au­ ßenwirkung beeinträchtigten. Die Stadt­ gesellschaft reagierte unmittelbar darauf mit gemeinschaftsstärkenden Aktionen und das finale Bid Book begegnete der Situation offensiv mit dem Motto „C the Unseen – European Makers of Democra­ cy Chemnitz“. Teilhabe der Gesellschaft ist eine der zentralen Handlungsstrategien und das Angebot verschiedener Kultur­ formate adressiert Menschen unterschied­ lichster Interessen. Stefan Schmidtke, der Ende 2021 als Programm-Geschäftsführer nach Chem­ nitz berufen wurde, beschäftigte sich mit den im Bid Book vorgeschlagenen Projek­ ten, diskutierte, akzentuierte und struk­ turierte sie in fünf Programmfeldern. Da mit der Kulturhauptstadt zugleich die Ver­ knüpfung von Kunst, Kultur und Stadtent­ wicklung explizit formuliert ist, sind auch städtische Ämter für die Entwicklung von Interventionsorten als Räume für Kunst und Kultur eingebunden. Anders als ihr Name suggeriert, findet die Kulturhaupt­ stadt nicht nur in Chemnitz statt, sondern zugleich in der umgebenden Region von Mittweida bis Schwarzenberg und von Zwickau bis Seiffen. Angesichts der Herausforderungen für Stadt und Region zur Stärkung des ge­ sellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratieförderung werden auch im Kulturhauptstadtjahr spezifische Themen in Kunst und Kultur (weiter-)verhandelt. Die Programme zu Theater und Perfor­ mance werden von unterschiedlichsten Akteur:innen angeboten: vom Städtischen

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Fünfspartentheater, von der Freien Sze­ ne, von den Theatern der Region oftmals in Kooperation mit europäischen Künst­ ler:innen. Neben dem Repertoire umfasst das Angebot im Kulturhauptstadtjahr be­ sondere Uraufführungsprojekte, europäi­ sche Theatertreffen, Festivals und Konfe­ renzen zu den Darstellenden Künsten, die an unterschiedlichsten Orten in der Stadt und Region stattfinden.

Beginn des Parcours Angekommen am Chemnitzer Haupt­ bahnhof führt der Weg schon bald an den zentral gelegenen Theaterplatz mit Opern­ haus und Kunstsammlungen. Hier wird im September 2025 mit „Rummelplatz“ nach dem Roman des Chemnitzer Autors Werner Bräunig ein Auftragswerk von Ludger Vollmer (Komposition) und Jenny Erpenbeck (Libretto) zur Uraufführung kommen. Thema ist die Arbeit im UranBergbau, den die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut zwischen 1946 und 1990 vor allem im Erzgebirge betrieb. Die Geschichte über die Unmöglichkeit sinnvollen Lebens des in der DDR jahr­ zehntelang behinderten Buches ist in ei­ nem fiktiven Dorf angesiedelt und erzählt von seinen Menschen zwischen Bergbau, Hoffnung, Staatsmacht und Rummelplatz. Mit dem historischen Thema wird zugleich die Gegenwart in ihrem Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Lebenssituatio­ nen befragt. Ergänzend zur Uraufführung finden Schreibworkshops mit Autor:innen in Chemnitz und der Partnerstadt Łódź statt sowie die Begleitkonferenz „Rummel­ platz oder Realität?“. Im Juni 2025 wird das Festival Tanz | Moderne | Tanz unter dem Thema „Odys­ see in C“ stattfinden und zeitgenössischen Tanz in Chemnitz aufführen. Vor zehn Jahren von der Ballettdirektorin Sabrina Sadowska initiiert, wird das jährliche Fes­ tival inzwischen durch ein vereinsgetra­ genes Tanzbüro veranstaltet und steht bis heute in ihrer künstlerischen Leitung. For­ men der Bewegung und des Tanzes werden im Juni 2025 nicht nur in das Opernhaus, sondern zugleich in den Stadtraum von der Großwohnsiedlung Markersdorf und dem Flussufer bis zum Karl-Marx-Monu­

Viele hatten die Kultur­ hauptstadt auch als Impuls­ geber für die Entwicklung von Kunst- und Kulturorten verstanden.

ment gebracht und laden ein zu Rezeption und Aktivierung. Eine weitere Spielstätte der städtischen Theater ist das Schauspielhaus, das einer der Interventionsorte der Kulturhauptstadt ist. Die Spielorte für Schauspiel und Figu­ rentheater sollten bis 2025 saniert und für Aufführungen zur Verfügung gestellt wer­ den. Die Theatertradition dieses modernen Hauses (1980, Architekt Rudolf Weißer) ist bis heute in Chemnitz Orientierungspunkt mit Hinweisen auf Corinna Harfouch, Ul­ rich Mühe, Christian Grashof, Frank Cas­ torf und Hasko Weber, die zur DDR-Zeit hier gearbeitet haben. Letztlich bleibt das Schauspielhaus 2025 wegen des geplanten Umbaus geschlossen. Viele hatten die Kul­ turhauptstadt auch als Impulsgeber für die Entwicklung von Kunst- und Kulturorten verstanden, doch erwies sich der Planungs­ prozess in diesem Fall sehr komplex und die endgültige Entscheidung zum Umfang der Baumaßnahmen steht noch aus. Seit 2021/22 haben die beiden hier verorteten Sparten Schauspiel und Figurentheater eine provisorische Spielstätte bezogen.

Schauspiel im Spinnbau In Altchemnitz, einem von Industrieanla­gen und Brachen geprägten Quartier südlich des Stadtzentrums, wurde der ehemali­ ge Spinnereimaschinenbau zur Interims­ spielstätte Spinnbau umgestaltet. Figu­ rentheater und Ostflügel finden hier gute Raumbedingungen vor. Das Schauspiel nutzt den ehemaligen großen Kultursaal im Gebäude, der allerdings kaum mit Bühnentechnik ausgestattet ist und somit Aufführungsmöglichkeiten einschränkt. Allerdings ist in die Geschichte des Chem­ nitzer Schauspiels quasi eingeschrieben, trotz widriger Umstände anspruchsvolles Theater zu entwickeln.

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025

Das Schauspielrepertoire enthält in der Spielzeit 2024/25 u. a. zweisprachige Aufführungen wie „Herr Lem“ in Regie von Bogdan Koca und den Bob-DylanAbend „Rolling Thunder“. Außerdem das Projekt „Nonstop Europa!“. Das klingt, als sei es für das Kulturhauptstadt-Jahr 2025 initiiert, jedoch handelt es sich hierbei um die Weiterführung des europäischen Thea­ terfestivals und Schauspielschultreffens, das eine rund zehnjährige Tradition hat und im Kontext der Studioausbildung am Schauspielhaus einen Experimentierraum für besondere Projekte und Szenenstudien bietet. Schauspieldirektor Carsten Knödler erklärt, dass Anfang Mai 2025 ergänzend

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zu den Workshops auch Produktionen aus den europäischen Nachbarländern Tsche­ chien und Polen sowie vom Deutschen Theater aus Almaty in Kasachstan auf al­ len Bühnen und im Foyer des Spinnbaus zu sehen sind. Im Figurentheater kommt es zu einer Uraufführung als Teil des Projekts „Inside Outside Europe“. Diese Tetralogie ist ein außerordentliches Kooperationsprojekt mit den Theatern der Region in AnnabergBuchholz, Freiberg und Plauen/Zwickau sowie mit dem Chemnitzer Theater. Die vier einzelnen Uraufführungen widmen sich Themen der Region wie Grenzüber­ schreitungen in der Performance „Der

Für „Archäologie der Dinge“ wird das Figurentheater mit „#3000 Garagen“ verknüpft. Theater der Zeit 12 / 2024

Fotos Louis Volkmann

Oben der Spinnbau in Altchemnitz, unten die OFF-Bühne Komplex Sonnenberg

Clown und Europa“ (Mittelsächsisches Theater Freiberg) in der Regie von Petra Ratiu, dem European Dream und migran­ tischen Erfahrungen im Erzgebirge bei „EUdaimonía“ (Theater Plauen Zwickau) von der georgischen Autorin und Regis­ seurin Tamó Gvenetadze, die auch das recherchebasierte Auftragswerk „Call it Home“ (Theater Annaberg-Buchholz) anlässlich des Kulturhauptstadtjahres ent­ ­ wickelte. Als verbindendes Element arbei­ ten die vier Theater mit einem Bühnen­ bildentwurf von Nikolai Kuchin und Tina Hübner und veranschaulichen die ver­ schiedenen Europa-Interpretationen. Der Beitrag des Figurentheaters, das von Gun­ dula Hoffmann geleitet wird, entwickelt mit „Versuch über meinen Großvater“ in Regie von Karen Breece ein Recherchepro­ jekt zu Europa und Verstrickungen in den deutschen Faschismus, in dem Orte wie das tschechische Liberec (deutsch: Rei­ chenberg) angesichts einer sudetendeut­ schen Biografie erkundet und befragt wer­ den. Das Figurentheater hat sich in den letzten zehn Jahren auch mit Inszenierun­ gen für Erwachsene profiliert zu Themen des NSU-Komplexes und gesellschaftli­ chen Transformationen. Im April findet die erste Aufführung der dazu entstehen­ den Tetralogie im Spinnbau statt, danach wandert sie weiter in die Theater der Re­ gion und zugleich werden die einzelnen Stücke im Repertoire gebracht.Für die Ur­ aufführung „Archäologie der Dinge“ wird das Figurentheater mit dem Hauptprojekt „#3000 Garagen“ verknüpft, indem sie als Theater der gefundenen Gegenstände aus Chemnitzer Garagen entwickelt wird. Da­ bei verschieben die Regisseurin Julia Brett­ schneider und die Autorin Peggy Mädler die übliche Perspektive auf die zahlreichen Garagenhöfe an den Wohnsiedlungen der Stadt und erzählen das Stück aus der Sicht von Frauen, die selbst eine Garage be­ sitzen, deren Eltern, Großeltern oder


Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 Freunde eine Garage haben oder nutzen. Das Stück wird im August in einer mo­ bilen Garage an diversen Spielorten im öffentlichen Raum uraufgeführt und an­ schließend kommt es auch auf die Bühne des Figurentheaters im Spinnbau. Angesichts der Intention, Kunst, Kultur und Stadtentwicklung zu verbin­ den, wurden 2020 die Interventionsorte definiert – seinerzeit gehörte der Spinn­ bau noch nicht dazu. Doch ermöglicht ins­besondere dieser Ort kultureller Zwi­ schennutzung 2025 eine andere Wahrneh­ mung des brachliegenden Industriequar­ tiers und die Erkundung einer anderen Stadt­entwicklung in Altchemnitz.

drei Etappen jeweils zwei Künstler:innen aus europäischen Ländern, von Finnland bis Frankreich, zum Dialog über das Jah­ resthema „Gunst“, Privilegien und Un­ gleichheiten in der Nachbarschaft und in Europa eingeladen, um Situationen und Raum für Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu schaffen. In den oberen Etagen des Projekthau­ ses hat auch Gabi Reinhardt ihr Studio, wo die in Karl-Marx-Stadt geborene Regis­ seurin und Autorin mit „Der Bus ist abge­ fahren“ eine theatrale Stadtrundfahrt zum Thema Arbeit für die Kulturhauptstadt

entwickelt. Das recherchebasierte Projekt beginnt mit Workshops, zu denen Chem­ nitzerinnen für den Erfahrungsaustausch eingeladen werden. Anfang September starten die Aufführungen am Omnibus­ bahnhof in einem alten Bus der Marke Ikarus, also in einem Setting der DDR­ Mobilität, und adressiert damit auch an die Menschen, die selten im Theater zu fin­ den sind. Von hier aus führen Reiseleiterin und Laienspielerinnen zu verschiedenen Arbeitsplätzen und erzählen Geschichten von Frauen angesichts der scheinbar para­ doxen Frage, welchen Preis die Arbeit und

Aufbruch statt Abbruch Mit dem Sonnenberg, einem früheren Ar­ beiter:innenquartier, wird im Kulturhaupt­ stadtjahr auf ein weiteres Viertel außerhalb des Zentrums fokussiert. Nach der Wende kam es hier zu erheblichem Leerstand, we­ nig Entwicklungsimpulsen und im Rahmen des Stadtumbaus Ost zum Rückbau von brachliegendem Bestand. Der Chemnitzer Stadtakteur Lars Faßmann rettete einige dieser gründerzeitlichen Häuser 2010 vor dem Abbruch, indem er sie erwarb und zu erschwinglichen Produktions- und Ex­ perimentierräumen umwidmete. Sukzes­ sive konnten sich Kunst- und Kulturorte der Freien Szene in dem Kiez entwickeln. Stadträumlich besonders markant ist das Projekthaus Augustusburger Straße 102, in dessen Erdgeschoss das Lokomov als Lokal und Veranstaltungsort, die Galerie Hinten und in den oberen Etagen Ateliers, Werkstätten oder Proberäume eingerichtet wurden. Der konzeptionell für das Pro­ jekthaus verantwortliche Klub Solitaer e. V. wurde von der Kulturakteurin Mandy Knospe begründet und er führt darüber hinaus seit 2017 das Kunst-StadtraumProjekt „Dialogfelder“ durch. Bei diesem Residenzprojekt werden Künstler:innen für einige Wochen eingeladen, sich mit dem südlichen Sonnenberg und seinen Widersprüchen zu beschäftigen und in Performances und Interventionen darauf zu reagieren. Auf diese Weise möchte das Projekt die gefühlten Barrieren zum Quar­ tier durchbrechen. Auch 2025 werden in

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Oben der Open Space der Städtischen Kunstsammlungen, unten „The Cast Whale Project“, Installation von Gil Shachar in der Tiefgarage unter dem Theaterplatz, ­Beitrag zum Public-Art-Projekt „Gegenwarten/Presences“ 2024

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Thema Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 Man kann beobachten, dass dieser Titel in Chemnitz Hoffnung und Mut macht für weitere experimentelle Ansätze in Kunst und Kultur.

der Arbeitsplatz von ihnen fordern. Zu den Stationen gehören ein Stadion, ein Nagel­ studio und ein leerstehender Supermarkt – sie bilden den Kontext für die Reflexion von Arbeit aus verschiedenen weiblichen Perspektiven. An der Endhaltestelle kann der Austausch unter den Mitreisenden fortgesetzt werden. Eine Straße weiter hat sich die OffBühne Komplex seit 2015 entwickelt, in­ dem das leerstehende Haus Zietenstraße 32 auch zum Projekthaus wurde und in seinem Hinterhof die Bühne für Ko-Pro­ duktionen, Gastspiele und Residenzen der Freien Szene entstand. Die künstlerische Leiterin ist Heda Beyer, eine im tschechi­ schen Šternberk geborenen Theaterfrau, die auch Vorständin des Taupunkt e. V. ist. Neben verschiedenen Projekten wird dieser Verein für Theaterarbeit Ende Mai 2025 die Konferenz „All inclusive“ zum Stand des gegenwärtigen inklusiven Thea­ ters durchführen und hat dazu Theater­ leute und Produktionen aus Europa einge­ laden wie die Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst Brünn, das Pariser International Visual Théâtre, das Theater aus der Passage in Banská Bystrica, das Venture Arts Manchester; unmittelbar zu­ vor findet der Jahreskongress von flausen+ Bundesverband Freie Darstellende Künste in Chemnitz statt. Alle Initiativen haben die Aufmerk­ samkeit auf das Quartier gerichtet und mehr Menschen für den Ort interessiert. In dieser Aufbruchsstimmung konnte die Ab­ teilung Stadterneuerung der städtischen Verwaltung das Architekturbüro KAPOK Berlin für die Entwicklung eines Revitali­ sierungskonzepts der Stadtwirtschaft be­ auftragen. Der ehemalige Betriebshof ge­ hört zu den größten Interventionsflächen der Kulturhauptstadt und seine Umgestal­ tung zum Kultur- und Produktionshof ver­

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folgt das Prinzip partizipativer Planung, die etappenweise und in Vernetzung mit dem Quartier verwirklicht wird. Das an die Projekthäuser angrenzende Areal lag jahrelang brach und sollte für Akteur:in­ nen der lokalen Kreativwirtschaft wie das Fab Lab, das Band Camp und weiteren Kulturproduzent:innen zur Verfügung ge­ stellt werden. Im Frühjahr 2025 wird der Umbau fertiggestellt, darunter auch der zentrale Raum für Veranstaltungen und die Kiez-Kantine nach dem architektonischen Entwurf von Georgi und AFF Architekten, Chemnitz/Berlin. Entsprechend des aktu­ ellen Architekturdiskurses zu R ­ e-Use und Reparatur wird die Bausubstanz minimal­ invasiv instand gesetzt und ermöglicht da­ mit verhältnismäßig geringe Mietkosten. Bemerkenswert sind die geringen Eingrif­ fe in die historische Bausubstanz wie im Bereich des neuen Theater- und Veran­ staltungssaals, in dem lediglich stählerne Strukturen die Bestandskonstruktionen unterstützen, oder im Bereich der Fassa­ de, die As-found erhalten und instand ge­ setzt wird. Im Rahmen des Hauptprojekts ­„Makers, Business & Arts MBA“ wird die neue Stadtwirtschaft als urbaner Maker Hub zum Veranstaltungsort, an dem KoKreation, Experiment, Events in Verbin­ dung von kreativen Macher:innen, Kunst und Wirtschaft verhandelt werden.

Ein Netzwerk von Mikroprojekten Mit diesen Kulturorten im Stadtzentrum, in Altchemnitz und auf dem Sonnenberg sind exemplarische Orte vorgestellt, die die unverwechselbare Chemnitzer Kultur­ szene zeigen. Vieles gibt es darüber hin­ aus zu entdecken. Allein für Theater und Perfomance sind Orte wie das Weltecho, das Kulturhaus Arthur, das Fritz Theater und der Chemnitz Open Space hinter dem Karl-Marx-Monument zu erwähnen. Her­ vorzuheben sind weitere Hauptprojekte wie die Werkstatt für Kultur und Demo­ kratie in Europa, die aus 60 Mikroprojek­ ten von und mit Menschen aus der Stadt und Region besteht. Den „Purple Path“ kuratierte Alexander Ochs als Kunst-und Skulpturenweg, der durch Chemnitz und 38 Kommunen der Region führt zu Arbei­

ten von Monika Sosnowska in Glauchau, von Olaf Holzapfel auf der Dittersdorfer Höhe bei Amtsberg und von Osmar Osten am Chemnitzer Schillerplatz. Das Ereignis Kulturhauptstadtjahr kumuliert zwar im Jahr 2025, allerdings haben sich in der Stadt bereits zuvor äußerst interessante Kunst- und Kultur­ veranstaltungen entwickelt wie das als Qua­driennale angelegte Public-Art-Projekt „Gegenwarten/Presences“ der Städtischen Kunstsammlungen (seit 2020) und die mehrjährige Wanderausstellung „Offener Prozess“ zum NSU-Komplex vom ASA FF e. V. mit Stationen in unterschiedlichen Städten (seit 2020). Festivals fanden re­ gelmäßig statt wie das Theatertreffen neue unentdeckte narrative (seit 2016), die Pochen Biennale für Medienkunst (seit 2018), das Hutfestival für Straßentheater (2018) – und nicht zuletzt das KosmosFestival für Demokratie, das im Sommer 2018 als Reaktion auf die rechtsradikalen Aufmärsche erstmals stattfand. Die Projekte der Kulturhauptstadt sind nicht alle neu entwickelt, dennoch ist zu beobachten, dass dieser Titel in Chem­ nitz Hoffnung und Mut macht für weitere experimentelle Ansätze in Kunst, Kultur und Stadtentwicklung als Basis für ge­ sellschaftlichen Zusammenhalt. Mit der Er­ öffnung am 18. Januar 2025 beginnt das Kulturhauptstadtjahr, doch ähnlich wie sein Anfang wird auch das Ende nicht abrupt sein. Im Rahmen des kulturellen ­ Kapa­ zitätsaufbau-Programms haben die Theater Chemnitz, The Festival Acade­ my aus Brüssel und die Kulturhauptstadt ­Europas Chemnitz 2025 GmbH gemein­ sam eine erfolgreiche Bewerbung für ­Theater der Welt entwickelt, so dass die Stadt im Sommer 2026 Gastgeberin für Compagnien aus aller Welt sein wird. T

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Theater der Zeit

Foto Johannes Richter

Akteure

Die Installation „Ersatzteillager“ von Martin Maleschka im Rahmen von #3000Garagen im Museum für sächsische Fahrzeuge

Kunstinsert Modelle von Gesellschaft – „#3000Garagen“ bei Chemnitz 2025 Porträt Der iranische Schauspieler Mohammad-Ali Behboudi

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Martin Maleschka im Gespräch mit einem von etwa 30.000 Garagenbesitzer:innen in Chemnitz

Modelle von Gesellschaft Die Kuratorin Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka über „#3000Garagen“ der Kulturhauptstadt Chemnitz im Gespräch mit Thomas Irmer

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Fotos links oben Peter Rossner, unten Michelle Auerbach, rechts Maria Sturm

Akteure Kunstinsert

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Links: Die Fotografin Maria Sturm während ihrer Arbeit an der Fotoserie „Mitgliederversammlung“ im Rahmen von „#3000Garagen“, oben eines der Garagenporträts von Maria Sturm

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Oben links und unten rechts: Garagenkonzert vom Christian Nagel Quartett im Rahmen von „#3000Garagen“, unten rechts und oben links „#3000Garagen“-Fahrradkino

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Fotos Peter Rossner

Akteure Kunstinsert

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„#3000 Garagen“ scheint mit seinen über viele Orte verästelten Veranstaltungen das größte Projekt von „C the Unseen“ der Kultur­hauptstadt Chemnitz zu sein. AGNIESZKA KUBICKA-DZIEDUSZYCKA: Das ist in dem Fall die Frage, wie man die Größe definiert. Es ist aber wahrscheinlich das schrägste und zugleich unscheinbarste Projekt, das ganz viele Dinge, Ereignisse und Themen verbindet, die nicht so offensichtlich sind. Das Thema Garagen entstand in der ersten Phase der Überlegungen für die Bewerbung als Kulturhauptstadt. In Chemnitz gibt es etwa 30.000 Garagen in den verschiedensten Stadtlagen, oft in der Anlage großer Garagenhöfe. Man kann allein daran etwas von der Geschichte der Stadt erkennen, denn sie entstanden vor allem in den Brachen, die von den Bomben des Zweiten Weltkriegs in die Stadt gerissen wurden. Das ist nur ein äußerer Aspekt, denn wenn man hinter die Garagentore schaut, erkennt man noch viel mehr.

Künstler Martin Maleschka und Kuratorin Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka

Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka ist eine polnische Kuratorin für Medienkunst und Managerin interdisziplinärer Kulturprojekte. Sie studierte Germanistik an den Universitäten in Wrocław und Marburg, von 1995 bis 2021 arbeitete sie für die Organisation des ersten polnischen Medienkunstfestivals, der WRO Media Art Biennale. Außerdem kuratierte sie das Polnische Jahr in Österreich (2002–03) und koordinierte das Programm des Prix Visionca Festival for Creative Television in Wrocław (2006). Sie war ­kuratorische Direktorin für Medienkunst beim Sapporo International Art Festival SIAF 2020 und kuratierte die POCHEN Biennale 2022 in Chemnitz. Seit 2022 leitet sie das Projekt „#3000Garagen“, das Autogaragen als soziokulturelle Orte aktiviert und hinterfragt.

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Die Garagen boten Rückzug aus der Gesellschaft und waren zugleich Bildung von Gemeinschaft, denn in den Garagenhöfen war man auf gegenseitige Hilfe angewiesen. AK-D: Das ging ja schon mit ihrer Errichtung los, denn es bildeten sich kleine Gemeinschaften, um die Garagen zu bauen. Meist kannten sich die Leute für den Anfang, waren Nachbar:innen, Familie oder Kolleg:innen im Betrieb. Es entstand so die freie Form zivilen Engagements in einer Gesellschaft, in der ansonsten alles politisch kontrolliert wurde. In dieser Hinsicht wurde das Recherchefeld immer breiter. Z. B. habe ich erfahren, dass oft die Garagen oft nach der Wende, als viele ihre Arbeit in der Industrie und im Bergbau verloren hatten, als eine Art Ersatzarbeitsplatz genutzt wurden. Entsprechend fächert sich „#3000Garagen“ auf. Es gibt einen dokumentarischen Ansatz für die Biografien der Garagenbauer und -besitzer sowie deren materielle Objekte wie in Martin Maleschkas „Ersatzteillager“. Und es gibt eine performative Programmlinie, in der die Höfe zum Veranstaltungsort werden.

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Foto links oben Johannes Richter, unten Florian Bröcker, 2024, rechts Johannes Richter

Dort entstand eine eigene Welt, die viel mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen zu tun hat in der Zeit, als Chemnitz Karl-MarxStadt hieß. In dem Projekt wird eine bestimmte Mentalität erkundet, ein Tüftlertum, in dem der Ingenieursgeist des in dieser Region verbreiteten Fahrzeugbaus deutlich wird, zusammen mit einer Lebenspraxis in der Mangelwirtschaft. Einer der Slogans der Kulturhauptstadt behauptet sogar, dass Chemnitz eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land sei. Bringt „#3000Garagen“ das zum Ausdruck? AK-D: Von der Geschichte her, vor allem jener der Trennung und Teilung Europas, gehört Chemnitz zum ostmitteleuropäischen Raum, und diese Garagenkultur ist eine mentalitätsgeprägte Hervorbringung. Dazu gehört das Praktische, Bodenständige, dieses Erfinderische, möglichst alles selbst zu reparieren und nichts wegzuwerfen, was man nicht doch noch einmal gebrauchen könnte, eben eine Kreativität aus dem Mangel heraus. Ich komme aus Polen und kenne diese Mentalität, sie verbindet uns in gewisser Weise. Im Prinzip habe ich in der Tat Chemnitz als eine osteuropäische Stadt durch die Garagen kennengelernt.


Akteure Kunstinsert AK-D: Das hat sich alles erst allmählich und auseinander heraus entwickelt. Denn wie man sich leicht vorstellen kann, sind Garagen weder Thema noch Orte von Kultur, und wie man sie für performative Arbeiten nutzen kann, war noch eine ganz andere Frage. Folgende Komplexe haben sich herauskristallisiert: Garage als lebendiges Archiv, Garage als Freiraum, als kreativer Raum, als Gemeinschaftsraum und schließlich auch als Lernort. Es wurde schnell klar, dass keine dieser Dimensionen allein für ein Kulturhauptstadt-Programm ausreichen würde und dass sie auch miteinander verzahnt sind. Außerdem wurde uns sehr bewusst, dass man die Projekte mit den Garagenleuten zusammen machen muss, um so etwas wie ihre ethnologische Benutzung zu vermeiden. Drittens schließlich sollten die Sachen so verständlich sein, dass jemand aus Oslo oder Düsseldorf oder von sonstwo, wo es auch Garagen gibt, diese besondere Chemnitzer Erzählung erfassen und erfahren kann. Für die einzuladenden Künstler:innen hieß das wiederum, dass sie zu einer offenen, erweiterten Autorschaft bereit sein sollten, denn sie würden ja mit den Geschichten und Dingen der Garagenleute arbeiten. Und wir wollten unbedingt auch mit Frauen unterschiedlicher Generationen zusammenarbeiten – denn diese Garagenkultur war und ist schon sehr stark männerdominiert –, um verschiedene Arten von Neugier zu wecken.

Was lässt sich nun konkret in einer Garage oder in einem Garagenhof veranstalten? AK-D: Laut Sächsischer Garagenverordnung sind sie wirklich nur für das Abstellen motorisierter Fahrzeuge vorgesehen. Trotzdem gibt es ja noch den Raum zwischen den Garagenzeilen. Als Orte der Gemeinschaft sind sie natürlich für kleine Konzerte sehr gut geeignet, das erste hat im September 2023 im Vorfeld des Kulturhauptstadt-Jahres schon erfolgreich stattgefunden. Lesungen, Filmabende, Ausstellungen, Tauschbörsen, das wird an diesen verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden. Im Juni wird in einer Garagenanlage die neue Performance von Tanja Krone uraufgeführt und im August wird es ein Theater der gefundenen Gegenstände vom Figurentheater Chemnitz geben. Werden es denn am Ende tatsächlich 3000 Garagen sein? AK-D: Das ist vielleicht die Gesamtzahl aller Garagen in den beteiligten Höfen, nicht die Zahl der tatsächlich in das Projekt einbezogenen Garagen, wir haben aber bis jetzt genau 13.413 Garagen aus 28 Stadtvierteln katalogisiert, uns mit 42 Garagenvereinen und -gemeinschaften unterhalten und 457 Garagennutzer:innen sind in unsere Aktivitäten direkt involviert. Übrigens war auch eine Erkenntnis der Zeit- und Fahrzeuggeschichte in Chemnitz, wie die erste Garage, die wir direkt selbst nutzen kön-

Garagen sind in ihrer vermeintlichen Unscheinbarkeit eben eine Riesenentdeckung. Theater der Zeit 12 / 2024

Das kuratorische Team Michelle Auerbach, Vanessa Azeroth, Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka und Ann-Kathrin Ntokalou

nen, zu „#3000Garagen“ kam. Ein freundlicher Anrufer bot uns seine leere Garage an, weil sein Tesla da nicht mehr reinpasst. Garagen sind in ihrer vermeintlichen Unscheinbarkeit eben eine Riesenentdeckung, die mit zu dem Übertitel „C the Unseen“ beiträgt. Für mich als Kuratorin waren außerdem die Menschen hinter den Garagentoren eine große Entdeckung: pragmatisch und sehr offen, wenn man selbst ehrlich ist. Schließlich mussten sie ja auch erst mal die Unwahrscheinlichkeit überwinden, dass ihre Garagen für die Kulturhauptstadt Europas von Bedeutung sind. T

Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

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Akteure Porträt

Die Geduld der Veränderung Der iranische Schauspieler Mohammad-Ali Behboudi steht seit 40 Jahren auf deutschen Bühnen Von Stefan Keim

Szenen aus „Sonne/Luft“ von Elfriede Jelinek am Schauspiel Stuttgart. Regie FX Mayr

Mohammad-Ali Behboudi zeigt den Monolog „Ich werde nicht hassen” von Izzeldin Abuelaish seit vielen Jahren in Deutschland, Regie Ernst Konarek

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Theater der Zeit 12 / 2024


Akteure Porträt

Schauspieler ohne Deutschkenntnisse Dann kam die Revolution. Der Schah wurde abgesetzt und musste fliehen, die Geistlichen übernahmen die Macht. MohammadAli Behboudi war Aktivist in einer linken Partei. „Ich hatte die Wahl, mich zu ergeben oder unterzutauchen“, erzählt er. „Ich floh und kam nach Deutschland.“ Das war vor 40 Jahren. Ein Schauspieler ohne Sprachkenntnisse. In dieser Zeit benutzte er

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Fotos Regina Brocke

„Es ist an der Zeit, dass wir uns hinsetzen und miteinander reden.“ Ganz leise spricht Mohammad-Ali Behboudi den letzten Satz des ­Stückes „Ich werde nicht hassen“. Absolut still ist es im Saal. Die Aufforderung zum Dialog wird nicht sofort aufgenommen. Das Publikum hat zu viel erlebt in dem 90-minütigen Monolog. Behboudi hat einen palästinensischen Arzt verkörpert, der in einem Flüchtlingslager im Gazastreifen geboren wurde. Drei Töchter und eine Nichte wurden bei einem Angriff der israelischen Armee getötet. Die Geschichte ist wahr, das Stück basiert auf der Autobiografie von Dr. Izzeldin Abuelaish. „Ich werde nicht hassen“ – diese Worte berühren zutiefst. Weil nur der Verzicht auf Rache den Kreislauf der Gewalt durchbrechen kann. Mohammad-Ali Behboudi zeigt dieses Stück seit vielen Jahren in ganz Deutschland. Allein im Aachener DAS DA Theater hat er gerade 13 ausverkaufte Vorstellungen gespielt, innerhalb weniger Wochen. Mit nie nachlassender Intensität. „Ich versuche, die Geschichte jedes Mal neu zu erzählen“, sagt der Schauspieler, der fast genauso alt ist wie Izzeldin Abouelaish. „Ich schaffe erst mal Distanz und nähere mich dann wieder dem Charakter.“ An jedem Abend nimmt er das Publikum mit auf eine höchst emotionale Reise, lässt tiefe Trauer und Verzweiflung entstehen, findet die Kraft zur menschlichen Botschaft. Das Verschmelzen von Rolle und eigener Persönlichkeit ist typisch für Mohammad-Ali Behboudi. Besonders in seinen Monolog­stücken kommt das zum Tragen. „Barfuß nackt Herz in der Hand“ von seinem iranischen Freund und Kollegen Ali Jalaly hat er ebenfalls sehr lange gespielt, ebenso „Ein Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka, die Geschichte eines hochgebildeten Affen, in die Behboudi viele eigene Erfahrungen einfließen lässt. Er ist ein Schauspieler der leisen Töne, kann aber auch laut und derb werden, hat einen feinen Humor und die Fähigkeit, fast auf subtile Weise explosiv zu sein. „Der Schauspieler muss sich jedes Wort zu eigen machen“, sagt Mohammad-Ali Behboudi. „Das ist mein Job.“ Seine Schauspielausbildung bekam er im Iran, sein Lehrer kam aus Moskau und war ein direkter Schüler des legendären Konstantin Sergejewitsch Stanislawski. In Teheran musste der junge Behboudi allerdings darauf achten, nicht zu berühmt zu werden. Er stammt aus einer religiösen Familie, sein Vater war Ayatollah. „Die Familie wusste das nicht“, erzählt der heute 68-Jährige. „Das geschah alles heimlich. Manche Geschwister haben das vielleicht am Rande mitbekommen, zwei Neffen haben mich damals mal auf der Bühne gesehen.“ Früh fing Behboudi an, auch Regie zu führen, und gründete eine eigene Theatergruppe. In der Großstadt Teheran spielte und inszenierte er unter dem Radar.

Mit nie nachlassender Intensität: Mohammad-Ali Behboudi

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Akteure Porträt Prüfungskommission. Die Jury merkte sofort, dass hier zwei tolle Schauspieler vor ihnen standen, die nur leider Persisch sprachen. Es dauerte anderthalb Jahre, bis die beiden die Bühnenreifeprüfung ablegten, immer noch halb auf Persisch, halb auf Deutsch. „Wir wurden in einer sogenannten Exotenkartei registriert.“ Mohammad-Ali B ­ ehboudi schmunzelt bei der Erinnerung. Dann kam schnell das erste Engagement, gar nicht exotisch, in Maxim Gorkis „Nachtasyl“ unter der Regie von Wolf-Dietrich Sprenger. „Ich habe mich gefreut wie Bolle.“ Der Satz klingt wunderschön, weil ein bisschen persische Sprachmelodie mitschwingt.

Der Schauspieler Mohammad-Ali Behboudi

den Tarnnamen „Raschid“. So nennen ihn bis heute seine Freunde. Zunächst glaubte er nicht daran, dass er in seinem Beruf weiterarbeiten konnte und wollte Sport studieren. So kam Behboudi nach Köln, dort gab und gibt es eine bekannte Sporthochschule, er wurde angenommen. Und traf den ebenfalls aus dem Iran geflohenen Schauspieler Ali Jalaly sowie die Schauspielerin Vreneli Busmann, die später mit ihrem Mann Peter das Theater am Bauturm gründen sollte. Vreneli Busmann nahm die beiden jungen Iraner unter ihre Fittiche, inszenierte mit ihnen, gab ihnen Deutschunterricht und schickte sie zum Vorsprechen bei der Paritätischen

Die zutiefst humanistische Ausstrahlung ist Behboudis große Stärke, aber er würde auch gern böse Rollen spielen. 32

Dann ging es weiter, über das Staatstheater Stuttgart nach ­Zürich, Wuppertal, Bonn, das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel bis nach Oberhausen. Dort blieb Mohammad-Ali Behboudi 17 Jahre lang und wurde zu einer festen Größe im Ensemble. Er spielte in einer Uraufführung von Sibylle Berg, der wilden, ekstatischen Inszenierung „Sexus“ nach Henry ­Miller vom Regie-Berserker Andriy Zholdak – und immer wieder liebevoll, witzig und zart in den Familienstücken vor Weihnachten. Behboudi gestaltete politische Salons und inszenierte ­Stücke. „Lederfresse“ von Helmut Krausser war z. B. eine heftige und krasse Inszenierung, der sanfte Philosoph hat auch andere Seiten. Parallel spielte Behboudi eine Menge Rollen in Film und Fernsehen. Oft berichten Schauspieler seiner Generation, die aus dem arabischen Raum stammen, dass sie vor allem als Klischeefiguren besetzt wurden und entweder spätestens in ihrer dritten Szene jemanden erstachen oder erstochen wurde. Behboudi ist diesem Schicksal entgangen. „Ich würde gerne mal böse Rollen spielen“, sagt er, „weil man da als Schauspieler viel zeigen kann. Aber man sagt mir nach, dass ich dafür eine zu positive Ausstrahlung habe.“ Er will das ändern und lässt neue Fotos machen, die ihn von einer abgründig fiesen Seite zeigen. Doch natürlich ist die zutiefst humanistische Ausstrahlung auch eine große Stärke. Mohammad-Ali Behboudi hat nicht nur Dr. Abuelaish gespielt, sondern viele andere Ärzte. Beim Filmfest München hatte gerade „Im Rosengarten“ Premiere, ein Kinofilm über einen Rapper in der Sinnkrise – wieder mit Behboudi als Arzt. „Ich hab Angst, dass mich irgendwann Leute in der Wirklichkeit ansprechen und wollen, dass ich ihre Krankheiten behandle“, sagt Behboudi. Wieder ein ganz leises Schmunzeln, nur eine Andeutung. Ebenso wichtig wie die Kunst ist Mohammad-Ali Behboudi das politische Engagement. Oft läuft bei ihm zu Hause der Fernseher, er verfolgt internationale Nachrichten, nicht nur, aber auch Berichte aus seiner Heimat. Vor zwei Jahren hatte er große Hoffnungen, dass es zu Veränderungen kommen könnte. Aber der Widerstand wurde zusammengeschlagen. „Dieses System agiert sehr brutal“, erklärt Behboudi. „Es gibt Bilder von jungen Frauen und Männern, die geblendet wurden, deren Augen zerstört wurden. Die Regierung hält sich nur durch Gewalt in ihrer brutalsten

Theater der Zeit 12 / 2024

Foto David Reisler

Filme und Arztrollen


Akteure Porträt „Ich hab Angst, dass mich irgendwann Leute in der Wirklichkeit ansprechen und wollen, dass ich ihre Krankheiten behandle.“

Form.“ Er berichtet von Bildern, die gerade um die Welt gehen. Eine junge Studentin wurde von Sicherheitspersonal aufgehalten, weil sie ohne Kopftuch die Universität betreten wollte. Sie haben an ihrem Kleid gerissen. Daraufhin hat sie sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, als Zeichen des Protests. „Der Widerstand flammt immer wieder auf“, sagt Behboudi. Gemeinsam mit anderen Theater- und Filmschaffenden aus dem Iran hat er die Organisation Association of Iranian Film and Theatre Artists Abroad (www.aiftaa.com) gegründet, die Exilkünstler aus dem Iran unterstützt. Zudem ist er in der Bühnengenossenschaft GDBA aktiv. Als wir uns treffen, ist gerade Donald Trump wiedergewählt worden und die Ampelkoalition zerbrochen. Eigentlich keine Zeit der großen Hoffnungen. Mohammad-Ali Behboudi widerspricht: „Resignieren bringt nichts. Wir müssen weiter hoffen

und neue Wege suchen. Wir wissen aus der Geschichte, dass auch die ­Mongolenherrschaft und das Osmanische Reich irgendwann vorbei waren. Die Geschichte schreitet voran. Ich will künftigen Generationen vermitteln, dass wir ein Teil der Veränderung sind. Wir arbeiten daran, dass die Welt schöner wird. Ohne diesen ­Gedanken könnte ich, glaube, ich gar nicht weiterleben.“ Das ist der Mohammad-Ali Behboudi, der so oft als Dr. Abue­ laish auf der Bühne steht. Der ins Publikum blickt und sagt: „Es ist an der Zeit, dass wir uns hinsetzen und miteinander reden.“ Und der zusammen mit den Besucher:innen das Schweigen aushält, die Sprachlosigkeit. Weil man erst mal Worte finden muss. Aber der Anfang ist gemacht. Jeden Abend neu. T

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Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.


Foto Nadine Hitz – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138280995

Stück Mazlum Nergiz

Der Fluss als Supermetapher in Mazlum Nergiz’ Stück „Am Fluss“

Verschwinden bedeutet nicht vergessen Mazlum Nergiz über sein Stück „Am Fluss“, das New York der 1980er Jahre und den Körper als Ausgangspunkt im Gespräch mit Nathalie Eckstein

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Stück „Am Fluss“ „Am Fluss“ oder besser im Fluss verschwimmen 50 Jahre miteinander. „Die Zeit ist immer jetzt.“ So werden die Geschichten des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der Künstlerin Ana Mendieta, des Architekten Gordon Matta-Clark sowie die Aids-Epidemie in New York und die Konzentrationslager der Nazis in ein grenzenloses Kontinuum gebracht. Welche Funktion erfüllt der Fluss? MAZLUM NERGIZ: Der Fluss lenkt hier wie eine Kamera unsere Wahrnehmung. Er filmt die Landkarte einer verschwundenen Zeit. Wie jede Karte, wie jedes Bild handelt es sich auch hier um einen Ausschnitt, der immer darauf hinweist, was wir alles nicht sehen, welche Geschichten noch im Wasser enthalten sind, die möglicherweise auch bald wieder hochkommen könnten wie Ertrunkene. Eine zweite Funktion besteht darin, dass die formale Struktur des Flusses – alles fließt – eine sich ständig in Bewegung befindliche Konstellation ermöglicht. Diese entsteht vor allem durch die Zusammenführung der von dir erwähnten Stimmen, Positionen und historischen Ereignisse. Alle hier Aufgerufenen wirkten ob gewollt oder ungewollt um die Hafengebiete Manhattans. Gegen seinen Willen z. B. Wilhelm Reich, dessen Bücher hier 1956, ein Jahr vor dessen Tod, verbrannt wurden. Einige Ideen dieses exzentrischen Denkers und Erfinders, die hier zerstört wurden, verwebe ich mit anderen Geschichten, die ich hier auf diesem Gelände gefunden habe. Anlass dieser bis heute in den USA einmaligen staatlich verordneten Bücherverbrennung ist Reichs Behauptung, sein sogenannter Orgonakkumulator – eine Holzkiste – könnte Faschismus und Krebs heilen. Er starb im Gefängnis an einem Herzinfarkt. Reichs Werk hat es mir auch ermöglicht, die verschiedenen Zeitpunkte, die das Stück umfasst, in ein thematisches Gefüge zu setzen. Insbesondere in seinem Frühwerk geht es um die Möglichkeiten des Menschen zur Freiheit durch die Sexualität. Den eigenen Körper zu überwinden und ihn mit einem anderen zu verbinden. Seine Idee, dass nicht das Gedächtnis, sondern der Körper unsere Geschichte trägt, war mein Ausgangspunkt. Wie bist du vorgegangen in deiner Recherche? MN: Detektivisch habe ich angefangen zu suchen, wessen Leben hier in und um dieses Gebiet herum über die Jahre Spuren hinterlassen haben, die auf die eine oder andere Art und Weise mit Reichs Gedanken korrespondieren. In den 1970er und 1980er Jahren liegen die Anlegestellen am Hudson River in Ruinen. Künstler:innen sind fasziniert von den verlassenen Lagerhallen und schreiben sich mit ihren Praktiken direkt in die Gebäude ein. Gordon Matta-Clark führt hier 1975 eine seiner letzten Arbeiten aus. „Day’s End“ – ein mandelförmiger Schnitt in die Wand der leerstehenden Halle am Pier 52. Schwule Männer zieht es auch hierhin. Sie suchen Sex. Jahre später, während der Aids-Krise, verdienen viele Menschen Geld, in dem sie sich von Reichs Ideen über Krankheit und Bedeutung inspirieren lassen und die Kranken für ihr eigenes Sterben verantwortlich machen. Die Künstlerin Ana Mendieta wirkte nicht direkt an den Piers, doch stürzte sie nur eine halbe Stunde von dem Ort, an dem Reichs Bücher verbrannt wurden, in den Tod. Gegen 5:30 Uhr am

Theater der Zeit 12 / 2024

Wie Treibgut nähern sich uns die Geschichten aus der Distanz, wir sehen sie auf uns zukommen, dann sind sie plötzlich für einen Moment extrem präsent und detailreich, um gleich wieder von der Strömung fortgetrieben zu werden, bis wir nur noch ihre Umrisse sehen.

8. September 1985 fiel Mendieta 34 Stockwerke aus dem Schlafzimmerfenster in der 300 Mercer Street und schlug auf dem Dach eines Lebensmittelgeschäfts auf. Sie war 36 Jahre alt. Bis heute sind die Umstände ihres Todes nicht geklärt. In einem Interview sagte Mendieta einmal: „Energie ist auch Natur.“ Die Parallele zu Reichs Denken über den Körper als Austragungsort emotionaler wie auch physischer Konflikte ist während den Recherchen immer offensichtlicher geworden. Dialoge zwischen Landschaften und ihrem Körper bilden einen zentralen Schwerpunkt von Mendietas Praxis, in der sich Rituale, Skulpturen, Körper und Landschaften überblenden. Ihr Werkkomplex „Siluetas“ (Umrisse) besteht aus einer Vielzahl von Versuchen, Spuren ihres Körpers in Natur einzuschreiben. Beispielsweise hat sie sich an das Ufer eines Flusses gelegt und ihren Abdruck mit roten Pigmenten aufgefüllt. Auf Fotos dokumentiert sie anschließend, wie die Wellen ihre Spur wieder verwischen. Der Text wie der titelgebende Fluss treiben vor sich hin, der Fluss wird nicht nur Supermetapher, sondern performatives Prinzip des Textes. Was hat es damit auf sich? MN: Räume und Zeiten werden hier durchschritten und zusammengeschnitten. Bilder und Erinnerungen der Vergangenheit rasen vorwärts und rückwärts. Wie Treibgut nähern sich uns die Geschichten aus der Distanz, wir sehen sie auf uns zukommen, dann sind plötzlich für einen Moment extrem präsent und detailreich, um gleich wieder von der Strömung fortgetrieben zu werden, bis wir nur noch ihre Umrisse sehen. Ein Spiel also von ständiger Nähe und Distanz, Untertauchen, Auftauchen, Anwesenheit und Abwesenheit, das jedes Wort und jeden Gedanken extrem kostbar machen lässt, weil die Zeit zum Zuhören begrenzt ist. Das Echo einer vorangegangenen Szene hallt auch in die nächste oder vielleicht in die übernächste nach. Durchlässigkeit ist hier ein szenisches Bindemittel, welches die verschiedenen Spuren des Stückes miteinander in einen Dialog bringt. Die unterschiedlichen Textteile aus Prosa, chorischen Elementen und Dialogpassagen könnten selbst strukturformal als Ufer und Gewässer verstanden werden. In welcher Texttradition steht der Text selbst? MN: Am Ende des Stückes weise ich die wichtigsten Quellen aus. „Am Fluss“ ist aber kein Dokumentartheaterstück, sondern eines, das von der Recherche dieser historischen Materialien in-

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Stück Mazlum Nergiz

Schwuler Sex, die Freundschaft zwischen Dan und Christopher, die homophoben Aussagen von Wilhelm Reich – es geht immer wieder um Männlichkeit. Wie wird diese verhandelt? MN: Über Begehren. Das verwaiste Hafengebiet ermöglichte das Cruisen am helllichten Tag. Einige fühlten sich so ungestört, dass sie sich gar nicht die Mühe machten, die gefährlichen Ruinen zu betreten, und legten direkt am Steg los. Dieser hemmungslose Umgang mit Stadt, öffentlichem Raum und die Suche nach anonymem Sex ist in dieser Art, glaube ich, einzigartig – und sehr männlich. Alles, was die Männer hier taten – Orgasmus, Berührung, Auflockerung –, war eigentlich in Reichs Sinne, der die Begriffe Sexualpolitik und sexuelle Revolution prägte, der der Meinung war, dass der Ausstoß von sexueller Energie selber eine heilende Kraft besaß. Doch Reich meinte damit nicht Schwule und Lesben. Seine Radikalität beschränkte sich auf die Welt der Heterosexualität − Homosexualität war für ihn eine Krankheit und Symptom psychischer Störung, Ausdruck einer „abwegigen“ Entwicklung vom „Normalen“. Allen Ginsberg versuchte, bei Reich einen Termin zu bekommen, der ihm jedoch die Behandlung verweigerte. Reich behandelte keine Homosexuellen. Immer wieder ist bei der Lektüre seines Werkes dieser Knoten in meinem Kopf entstanden: Wie kann ein so emanzipatorischer Denker sich gleichzeitig so ressentimentgeladen einschränken? Und dann verwandelt sich auch noch der Ort, an dem seine Bücher verbrannt wurden, einige Jahre später in ein Cruisinggebiet. Reich kam wie viele andere aus Europa Ende der 1930er Jahre ins US-amerikanische Exil. Nur knapp sind sie den Gräueltaten der Nazis entkommen, viele haben Freunde und Familie in den Konzentrationslagern verloren. Ich wollte diese historische Dimension nicht ausblenden und habe mich gefragt, wie die Exilierten hier Jahre später, also in den 70ern und 80ern, noch über ihre Vergangenheit und ihren Verlust nachdenken. Wie hallt die Vergangenheit in den Räumen, die wir betreten, nach? Aus diesen Überlegungen habe ich dann neben die chorische Spur eine dialogische gestellt, um zwei Figuren an einem Ort in ein Gespräch zu bringen, das eigentlich die verbale Kommunikation verweigert. Cruising ist ja eher handlungsbasiert. Man geht, guckt und gafft. Dan und Christopher treffen sich hier und anstatt sich zu berühren, reden sie. Über die Länge einer Nacht reißen sie sich emotional auf, so wie man hin und wieder Fremden gegenüber schonungslos alles von sich preisgibt, in der Ahnung, dass man sich hier höchstwahrscheinlich nie wieder ­sehen wird. Die Inszenierung des Textes stellt sicher eine dramaturgische und inszenatorische Herausforderung dar. Die Uraufführung am Schauspielhaus Wien findet in Kooperation mit dem Slovenské národné divadlo, Bratislava statt. Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Text für die Bühne zu adaptieren?

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MN: Die Multiperspektivität ist eine Einladung für die Bühne. In seiner Panoramenhaftigkeit gibt es so unterschiedliche Stimmen und Gedanken, und der Text erlaubt es, seine eigenen Verbindungen herzustellen, Bilder für die intensiven Gefühle und Begegnungen zu finden. Wie bei einer Kamera kann man hier unterschiedliche Fokussierungen ausprobieren. Die DNA des ­Stückes – Energie und Geschichte – ist dabei in jeder Einstellung enthalten. T

Mazlum Nergiz, 1991 in Diyarbakır/Türkei geboren, schreibt Theaterstücke, Prosa und Essays. Er studierte Kulturanthropologie, Komparatistik, Medienkunst und Theater in Berlin, Weimar und Amsterdam. Sein Stück „Coma“ wurde 2021 mit dem Hans-Gratzer-Stipendium vom Schauspielhaus Wien ausgezeichnet. Er arbeitete als Regisseur u. a. am Schauspiel Hannover sowie gemeinsam mit Enis Maci an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Seit der Spielzeit 2023/24 ist Mazlum Nergiz Teil der Künstlerischen Leitung am Schauspielhaus Wien. Am 30. November wurde sein Stück „Am Fluss“ in der Regie von Christiane Pohle uraufgeführt. Foto Max Zerrahn

formiert ist, das von der permanenten Anwesenheit der Geschichte in unserer Gegenwart erzählt: Verschwinden bedeutet ja nicht vergessen. Als eine Art gespenstischer Kartografierung würde ich den Text mit Gertrude Stein in Beziehung setzen, die versucht hat, Stücke wie Landschaften zu schreiben.

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Theater der Zeit

Stück Am Fluss Von Mazlum Nergiz I lost two cities, lovely ones. And, vaster, some realms I owned, two rivers, a continent. I miss them, but it wasn’t a disaster. Elizabeth Bishop

Te quiero ride como a mí bike ROSALÍA Ich bin am Leben.

Sivan Ben Yishai

I: Der Chor spricht jetzt und immer.

II: Dan (≈ 45 Jahre) und Christopher (≈ 55 Jahre) sprechen 1975.

III: Christopher spricht 1990. Die Zeit ist immer jetzt.

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Stück Mazlum Nergiz

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W © rua. Kooperative für Text und Regie Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Wir sind am Wasser Und erzählen was wir sehen Hier am Fluss Wir stehen am Wasser Und sehen wer sich sucht Hier am Fluss Wir folgen dem Wasser Und suchen wer sich verliert Hier am Fluss Baute man einst Kriegsschiffe die jetzt friedlich verrotten Hier am Fluss Ist es ganz still Obwohl so viel passiert Hier am Fluss Besuchen jetzt Männer den verlassenen Hafen Pompeji Wie einige das Gebiet hier liebevoll nennen Zu Fuß spazieren sie in jenen Teil der Stadt Der abgeschottet ist vom Rest Eine eingestürzte Autobahnbrücke hat hier eine Lücke hinterlassen Jetzt bildet sie eine Schranke die zu passieren sich nur die trauen Die etwas suchen Sex Die Gegenwart die uns hier umgibt – die uns hält – ist ein von Asche bedecktes Gelände Brachliegende Lagerhäuser Einsame Uferpromenaden Verrottende Dachbalken Morsche Böden Stahlträger verrosten und brechen entzwei Gierige Käfer nagen am Holz Verwaiste Anlegestellen Denn es landen keine Schiffe mehr Nur Männer deren einzige Fracht ihr Körper ist Tagsüber legen sie sich ans Ufer Sonnen sich Lesen Zeitung Lutschen Schwänze Einige ziehen sich in die dunklen Lagerhallen zurück Andere werden sich direkt am Ufer hinknien und warten Sie sehen aus wie reglose Krokodile die sich in der Sonne aufwärmen Den Mund offen damit das Gehirn nicht explodiert Den Mund offen damit jemand kommt Nachts locken sich die Männer in die leeren Container und Trucks Eine stumme Parade zieht da an uns vorbei Man geht guckt und gafft Man ist ruhig Man ist nervös Man trifft sich Man trennt sich wieder

Man wird beobachtet Man wird ignoriert Man wird eingeladen Man wird abgewiesen Man geht als Fremder hinein Man wird berührt Man geht als Fremder wieder hinaus Man schließt die Tür nicht ab Steht sie offen sind weitere Gäste erlaubt Zuschauen – ok Mitmachen – nur nach Aufforderung Hier wird gehandelt Nicht geredet Einige ziehen danach in die Kirche Dort beruhigten früher die müden Hafenarbeiter ihre Beine und Seelen Der Altar – zerfallen Die Bänke – zersplittert Das bunte Fensterglas – gestohlen Gesegnete Trümmer Doch die Schutzheilige mit einer goldbemalten Weltkugel grüßt sie immer noch Die Männer knien vor ihr nieder Wir hören ihre Beschwörungen Wie sie beten Vielleicht beten sie für ihre Mütter Vielleicht beten sie ja für eine Gehaltserhöhung Vielleicht beten sie auch nur für eine sichere Rückreise Wir beten mit ihnen In diesen zerfallenen Tempeln Angezündete Zigaretten erleuchten sie nachts Ihre glühenden Köpfe hinterlassen Brandlöcher in der Atmosphäre Ein Tummelfeld tut sich auf Bilder der Vergangenheit zwängen sich durch sie vor und zurück Die Löcher werden größer Vergangenes fließt aus ihnen heraus Tusche die ineinander fließt Zeit stürzt ein und liegt in Ruinen 3. November 1957 7. Juli 1975 27. August 1978 3. Januar 1991 Ich schaue auf die Uhr Es ist immer JETZT Manchmal fragen wir uns Was hier wohl noch alles so war Wer wohl vor uns hier war Bevor die Stadt kam Und der Wald verschwand Wie es hier wohl roch Welche Tiere hier wohl lebten Das interessiert die meisten Männer hier aber nicht Sie graben sich lieber ineinander ein als in die Vergangenheit Die Geister halten sie für unbemannte Schiffe Die den Fluss rauf und runter plätschern

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Stück „Am Fluss“ Aber wenn die Büsche sich schütteln Wenn die Vögel im Flug stehen bleiben Wenn das Wasser in zwei Richtungen gleichzeitig fließt Dann sind die Geister da Wie die Männer treiben sie übers Gelände Es tritt auf Ein verwirrter Arzt fischt die Reste seiner verbrannten Bücher aus dem Fluss Er lehnt sich über den Steg Und steckt seine Hand ins brackige Wasser Die Glut seiner Gedanken zerfällt zu Asche Es tritt auf Die blutbeschmierte Künstlerin Die 34 Stockwerke hinunter stürzt Sie fliegt und fliegt Ein fallender Engel Kurz bevor sie landet fliegt sie wieder hoch Es tritt auf Der rastlose Architekt der durch die Gegend streift und die Gebäude aufschlitzt Als würde er ein Tier ausnehmen Er will Licht in die Dunkelheit bringen Und stellt aus was die Verborgenheit sucht Er will ein friedliches Gehege schaffen Und seine Grenze ist der abgenagte Kadaver der Stadt Es treten auf Zwei Männer die nicht nach Hause wollen Wir sehen sie jetzt Hier Und wir hören sie später Woanders Sie sind einander Prothesen Sie zeigen einander immer was ihnen fehlt Das sind unsere Freunde Das sind unsere Patienten Das sind unsere Liebhaber Wenn sie kommen begrüßen wir sie mit einem zärtlichen Gruß Wir heben unsere Hand und winken zur anderen Seite Hier am Fluss Stehen wir also und winken Am Ufer wähnen wir uns in sicherer Distanz Doch das Wasser hat sich schon längst aufgetürmt Die Wellen sehen im Sturm aus wie Berge Die Gischt peitscht uns Wir sind nass Einst glaubte man Ozeane wären auch nur Flüsse Riesige Strömungen die Erdmassen voneinander trennen Vielleicht ist es ja auch genau andersherum Flüsse sind Ozeane Formlos Maßlos Chaos Das Ufer keine Grenze

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DAN du bist aber kein bulle oder? CHRISTOPHER nein DAN was suchst du? CHRISTOPHER nix DAN wie nix? CHRISTOPHER – DAN komm schon CHRISTOPHER willst du zurück ans wasser? DAN warum? CHRISTOPHER wir könnten spazieren reden DAN ich bin hier nicht zum reden CHRISTOPHER entschuldigung DAN schon gut CHRISTOPHER ich gehe DAN wohin? CHRISTOPHER nach hause … ich muss morgen früh raus DAN … bleib doch noch hier oben haben wir die beste sicht CHRISTOPHER aber hier ist niemand DAN warte es kommen schon noch ein paar mehr sie trauen sich nur noch nicht sie beobachten jeden der zum hafen geht bevor sie eintreten müssen sie ausschließen dass jemand sie gesehen hat der sie kennt ihren chef vielleicht ihren bruder ihren vater ihren schwiegervater und wenn die luft rein ist dann kommen sie gleich … CHRISTOPHER … DAN – CHRISTOPHER – DAN was ist? CHRISTOPHER entschuldige DAN – CHRISTOPHER – DAN du hast diesen blick CHRISTOPHER ich schlafe schlecht … du erinnerst mich an jemanden DAN oh nein bitte nicht … CHRISTOPHER entschuldige

I Wenn wir ins Wasser starren Treiben Gedanken hoch Wie in Plastiktüten umhüllte Leichen die an die Oberfläche kommen Einmal Da haben wir uns zu lange Dinge ohne Licht vorgestellt Zum Beispiel Die Nacht Die Blindheit Den Schlaf Den Tod Zum Glück flog irgendwann ein Schatten übers Gelände Und schon war der Gedanke weg Hinterher haben wir verstanden Es war wieder ein Geist Es gibt so viele Wege wie Tote uns zeigen dass sie da sind Mal schalten sie ein Lied im Radio ein Mal fliegen sie einem ins Gesicht Mal lassen sie es schneien Mal lassen sie uns an etwas denken Immer wollen sie etwas Zum Beispiel einen Apfel in der Hand halten Die Hitze der Sonne spüren Einen Schluck Kaffee trinken Das Salz des Meeres auf den Lippen eines anderen schmecken Gehalten werden Hallo sagen Auch die Toten erinnern sich Und wenn sie es tun Überwinden sie die Grenze Deren Existenz ja der Beweis ist Dass es eine andere Seite gibt Ein DAHINTER WOANDERS EIN JENSEITS Und wenn uns etwas trifft Wie jetzt Wenn das Licht zwischen den Büschen schimmert Wie jetzt Ist es diese Grenze die wir mit dem Körper erkennen Wie jetzt Der Arzt Wie er jetzt einfach da steht Verloren und wütend Er ist groß und schön Seine schwarzen Schuhe glänzen im Mondlicht Jetzt ist er ganz nah Da Da Sehen Sie Da haben sie meine Bücher verbrannt Gansevoort Street … Drei Mal verbrennen sie meine Werke

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Stück Mazlum Nergiz 1933 die Deutschen Und gleich zwei Mal im Sommer 1956 die Amerikaner Zu jüdisch für die einen Zu kommunistisch für die anderen Zu pervers sagen sie Weil ich sage dass JEDER Mensch sexuelle Befriedigung braucht Zu radikal sagen sie Weil ich sage dass der Körper unsere Geschichte trägt Und nicht unser Gedächtnis Zu abwegig sagen sie Weil ich sage dass die Befreiung der Arbeiter und Frauen NUR durch die Befreiung ihrer Sexualität erfolgen kann Zu politisch sagen sie Weil ich sage dass der Faschismus eine emotionale Pest ist Zu verrückt sagen sie Weil ich sage dass ich die Menschheit von ihr heilen kann JA KANN ICH Zu gefährlich sagen sie Weil ich sage dass ich Krebs heilen kann JA KANN ICH … Und da Sehen Sie Da ist das Labor in dem ich Orgon entdeckt habe … Orgon … Orgon ist Leben Orgon ist Energie Orgon ist überall Wie es im Himmel strahlt   Wie es in den Baumkronen summt Wie es in der Erde vibriert Sehen Sie? Hören Sie? Spüren Sie? … Orgon schenkt uns Freiheit Doch Verletzungen und Trauma blockieren Orgon Und wenn Orgon nicht fließt Infizieren eingesperrte Gefühle die gesunden Zellen Hinterlassen schwere Schäden im Körper Es folgen Stauung Stagnation Degeneration Krankheit Fäulnis Krebs Und die größten aller Übel Faschismus

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Patriarchat Kapitalismus Für ein Leben in Freiheit und Gesundheit Empfehle ich daher regelmäßige Duschen in meinem Akkumulator Den habe ich selber gebaut Er konzentriert Orgon und sendet es direkt in den Körper weiter Um alles im Fluss zu halten Außerdem rate ich zu ganz viel Sex Berührung Loslassen Orgasmus Nichts kann kommen Wenn der Mensch nicht kommt … Ich bin davon überzeugt Dass die Sexualität das Zentrum des Lebens ist Basis allen Geschehens Das Lebensproblem schlechthin Es ist die sexuelle Energie Die unsere Gefühle und unser Denken leitet Die Kraft zur Freiheit Exakt Liegt in unserem Körper Es geht mir aber nicht um Ejakulation und Penetration Das ist reine Biologie und auch ordinär Nein Es geht mir um etwas Größeres Es geht mir Es geht … Um die Erfahrung unser Ego zu verlieren Wenn wir uns mit jemand anderem verbinden Wenn wir den Stau in uns lösen Wenn wir wieder fließen … Es geht also gar nicht ums Kommen Es geht ums Gehen … Ja … Vielleicht kommt die Zukunft ja nicht Sie geht Sie lässt los … Hier an diesem Fluss brennen meine Gedanken Zwischen all diesen Perversen … Einmal hat mich ein berühmter Schriftsteller angerufen ‚Guten Tag Wilhelm Reich Hier spricht Alan Ginsberg‘    Pfui Teufel Jetzt rufen mich auch noch die Päderasten an Nein nein nein Diesen degenerierten Tieren kann ich wirklich nicht helfen Ihre Krankheit und Entstellung ist das Produkt

einer Biopathie Ihr autonomer Lebensapparat ist gestört Die natürliche Pulsationsfunktion ausgesetzt Eine geschlechtliche Fehlidentifizerung Bei den meisten begründet in einer chronischen Sexualstauung Hemmung zwischen Mann und Frau sind die Folge Wir sehen also Homosexualität ist eine sexuelle Unterdrückung Eine abwegige Entwicklung die man als Krankheit bezeichnen muss Orgon fließt nur zwischen Mann und Frau Fließt Orgon von einem Mann zu einem anderen Mann Stockt die Energie Fließt Orgon von einer Frau zu einer anderen Frau Entzündet sich die Energie Und der Körper steht in Flammen So wie meine Bücher auch … Der Rauch ist verzogen Aber die Asche rieselt immer noch ins giftige Wasser Nichts verschwindet Schon gar nicht Ideen … Weil ich die Freiheit suche jagen sie mich Sie stecken mich ins Gefängnis … Ich schreibe Briefe an den Präsidenten ‚Dear Mr. President Ich gebe mir wirklich sehr viel Mühe mit dieser komplizierten Wirklichkeit klar zu kommen‘   … Leider leider kann auch er mir nicht helfen … An schlechten Tagen ist Jesus mir sehr nah Und Galileo auch … Sexuelle Revolution Klassenkampf + Sex = Freiheit Charakterpanzer … Das sind meine Begriffe Wissen Sie? Das bin ich … Das war ich … Wilhelm Reich … Orgon … Wolkenbrecher … Und jetzt

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Stück „Am Fluss“ Und ich … Ich bin jetzt ganz alleine im Weltraum Die Menschen sind armselige Plasmahaufen Ob das eine oder andere kaputtgeht dabei ist gleichgültig … Manchmal höre ich in den Wellen das Lied Wissen Sie Das Lied das sie über mich singen Das tröstet mich … ‚I still dream of Orgonon‘ I wake up crying … I hid my yo-yo In the garden I can’t hide you From the government Oh, God, daddy I won’t forget’

II

CHRISTOPHER und wo wohnst du? DAN – CHRISTOPHER ich hab ein zimmer im norden nichts besonderes DAN – CHRISTOPHER wie alt bist du? DAN – CHRISTOPHER ich bin 55 DAN – CHRISTOPHER wie heißt du? ich bin christopher DAN – CHRISTOPHER was machst du beruflich? DAN – CHRISTOPHER darf ich raten was du arbeitest? DAN nein CHRISTOPHER zahnarzt? DAN nein CHRISTOPHER autoverkäufer? DAN nein CHRISTOPHER lehrer? DAN nein darf ich raten was du arbeitest? CHRISTOPHER ja klar DAN ich glaube du machst viel mit deinen händen so wie du sie bewegst CHRISTOPHER wie bewege ich sie? DAN sie zeichnen kurven linien und punkte … bäcker? CHRISTOPHER nein DAN ja stimmt

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dafür sind sie zu zart ich würde sie gerne anfassen CHRISTOPHER – DAN musiker? CHRISTOPHER nein aber kurven linien punkte ist die richtige richtung DAN pscht keine tipps maler? CHRISTOPHER nein DAN dirigent? CHRISTOPHER nein DAN lehrer? CHRISTOPHER ja DAN was unterrichtest du? CHRISTOPHER mathematik DAN machts spaß? CHRISTOPHER ich mag zahlen ich mag ihre formen und farben was in unserem kopf passiert wenn die synapsen mathematik betreiben DAN was denn? CHRISTOPHER ich denke dabei an das leise zwitschern von vögeln DAN ja klar an was sonst CHRISTOPHER aber ich soll kindern rechnen beibringen dabei sind addition und subtraktion eigentlich keine mathematik ein stück käse erfüllt den selben zweck DAN käse? CHRISTOPHER je mehr käse desto mehr löcher je mehr löcher desto weniger käse also je mehr käse desto weniger käse DAN das erzählst du deinen schülern? CHRISTOPHER ja ich versuche ihnen die angst vor zahlen zu nehmen … und du? was machst du beruflich? DAN ich bin anwalt … ich glaube ja immer noch dass du ein bulle bist … CHRISTOPHER erzähl mir von einem fall … bitte komm schon DAN … ich hatte mal einen klienten zusammen mit seinem besten freund führte er eine bäckerei mein klient backte die brötchen und sein freund kümmerte sich um die finanzen

irgendwann war dieser verschwunden und mit ihm alles andere auch das geld die maschinen selbst die mehltüten die hefe und das salz hatte er mitgenommen alles nie wieder hatte er etwas von seinem freund gehört das verfahren wurde schnell eingestellt einem verschwundenen menschen den prozess zu machen ist schwierig in der zwischenzeit ist der bäcker senil geworden immer wieder rief er mich an und fragte nach dem betrüger er wollte ihn unbedingt treffen er hielt ihn mittlerweile wieder für seinen alten freund … kannst du dir das vorstellen? CHRISTOPHER was? DAN sich nicht mehr an den feind erinnern CHRISTOPHER klingt einsam … ist das ein panther auf deinem arm? DAN ja der freund meiner mutter hat ihn mir gestochen er hatte genau das gleiche CHRISTOPHER wie alt warst du? DAN 13 er war der erste mann mit dem ich sex hatte CHRISTOPHER wusste deine mutter davon? DAN ich glaub schon aber es war ihr egal CHRISTOPHER hat er dir weh getan? DAN nein überhaupt nicht es war großartig das beste was mir je passiert ist ich vermisse ihn noch nie hat mich jemand so festgehalten wie er … guck da ist schon wieder einer mit der kamera … mich hat letztens einer fotografiert ich lag am ufer und hab gelesen hab ihn gefragt warum er fotos macht er antwortete ‚damit sich andere erinnern wenn wir nicht mehr da sind‘ er meinte er bringt mir das bild beim nächsten mal mit CHRISTOPHER als wäre das hier euer zuhause DAN es gibt schlimmere orte CHRISTOPHER ich hab mich mal in das bild eines mannes verliebt den ich auf einer riesigen werbetafel am times square gesehen habe

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Stück Mazlum Nergiz da war ich erst ein paar monate hier kannst du dir das vorstellen sich in ein foto verlieben

I Männer sind wie Wasser Man kann sie nicht festhalten Alles schon ausprobiert Vater Bruder Liebhaber Nach und nach ist uns ein jeder entglitten Wie ein zu lange belichtetes Bild Alles was sich bewegt verschwindet Mit leeren Händen treiben wir weiter Richtung Unterlauf Dort wo jeder Fluss im Ozean aufgeht Hier befinden sich die sanftesten Täler Mäander und Aulandschaften Ablagerungsgebiet Sand Plastik Mineralien Jeans Schlamm Schuhe Körper Geröll Und es kann passieren dass hin und wieder sich etwas Oder jemand Dass hin und wieder sich etwas oder jemand löst Wasserleichen zum Beispiel Aufgedunsen treiben sie hoch wie Erinnerungen Wir sehen Ein Liebespaar Grünes weiches Weidenhaar hat sich zwischen den beiden verfangen Ineinander verschlungen Hand in Hand Fest verbunden Zusammen gleiten beide flussab – und hinterlassen nichts Katzen bewachen die Stadt Irgendwo wird ein Kind geschlagen Das Plätschern des fließenden Wassers Fische träumen Tauben schlafen

Die Gebäude hier sind voller Schnitte und ­Löcher Hier am Fluss Wo er fast ein U zeichnet Flirren die letzten Sonnenstrahlen über dem Horizont Hier am Fluss Bewegt sich etwas in der Luft Hier am Fluss Hält der Wind die Vögel fest Jetzt steht der Architekt auf einer Leiter Schlaghose Karohemd Lange ungewaschene Haare Mit einer riesigen Säge schlitzt er Sicheln und Kreise in die Wände Er dreht sich um Jetzt ist er ganz nah Da Da Sehen Sie Pier 52 Feinstes Stahlfachwerk Schon am Verrotten Aber noch nicht zerfallen Ideal Mich interessieren vergessene Gebäude wie dieses hier Leerstellen und Lücken Übrig gebliebene wertlose Räume Die von Zeit und Menschen zerfleischt wurden Mit meinem Pick Up fahre ich durch die Stadt und jage die Leere Bruchbuden Verlassene Lagerhallen Unbewohnte Familienhäuser Anarchitektur Wenn ich mich durch Stockwerke bohre Lege ich den Stoffwechsel dieser Orte wieder frei Wenn ich Häuser genau in der Mitte zerteile Öffne ich ihre Gehirne damit sie wieder atmen können

Kurz bevor sie kollabieren und für immer verschwinden Wenn ich mich durch Wände Böden und ­Dächer fräse Wie hier am Fluss Öffne ich das dunkle Innere Licht strömt in den Raum Aber in einer ganz bestimmten Form Ich stelle mir das Auge einer Katze vor Ja Oder eine Mandel … Ich will die Kraft dieses Gebäudes befreien Ich will sehen wie das Licht durch den Boden wächst Ich will sehen wie es sich über ein ganzes Jahr verbreitet Ich will den Fluss hier drinnen funkeln sehen … Und wie ich in Ruhe schneide und schlitze Merke ich dass ich gar nicht alleine bin Männer überall Schwule und andere Perverse Es wimmelt nur so von ihnen Aber Ungeziefer liebt ja die Dunkelheit Überall wo es nach Pisse und Scheiße riecht Weiß ich dass sie sich verstecken Und genau dort säge ich Einmal hat mich einer um Hilfe gebeten Ein anderer hat ihm das Messer ins Gesicht gestochen Während sie … Na ja … Sie wissen schon … Wer macht so etwas? Ihm lief das Blut übers Gesicht Und die anderen lutschten ungerührt weiter ­herum Ich habe mich als Polizist ausgeben und das ­Gebäude hier abgesperrt ‚Officer Gordon Matta-Clark‘

Wen Hui/Living Dance Studio

Caroline Beach & Saida Makhmudzade

Gosia Wdowik

Louise Lecavalier

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New Report on Giving Birth 06. & 07.12.

Highlights Dezember

She was a friend of someone else 06. & 07.12.

Was geht, Erdling? 13. & 14.12.

danses vagabondes 13. – 15.12.


Stück „Am Fluss“

II

DAN schau mal da siehst du zwischen den bäumen da sind schon drei lass uns dazu … komm schon … hey … hallo? … CHRISTOPHER entschuldigung DAN hör auf dich die ganze zeit zu entschuldigen CHRISTOPHER ent– DAN woran denkst du? CHRISTOPHER an kraft DAN klar woran sonst CHRISTOPHER die schnitte die löcher wer hat die kraft so etwas zu tun? DAN achso ein verrückter schneidet hier alles auf läuft mit einer riesigen säge rum und schlitzt die wände auf wenn das so weitergeht

kommen bald die bullen naja jetzt scheint aber das mondlicht rein und die männer sehen zwischen dem ganzen müll schöner aus als sie sind fickende elfen … CHRISTOPHER … sie haben schon wieder eine leiche im fluss gefunden mit aufgeschnittenem hals vielleicht wars ja der typ mit der säge DAN … mich haben sie mal gejagt mit stöcken und zerbrochenen flaschen … passiert hin und wieder … sag mal willst du wirklich nur gucken? … hast du überhaupt schon? … ach egal … ok … du bist aber keine jungfrau oder? … ich war mal bei den trucks plötzlich taucht da ein mann aus der dunkelheit auf groß und mit glatze verfolgt mich pfeift nach mir dann drehe ich mich um und verfolge ihn er spaziert hier hin genau da unten siehst du zwischen den containern geht er in die hocke und winkt mir mit seinen großen händen zu

SHAME

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CHRISTOPHER so wie du mir heute zugewunken hast … DAN da genau da auf den paletten nimmt er mich ich muss mich festhalten an seinem nacken seinen schultern der jacke seinen muskeln so hart stößt er zu und weißt du irgendwann höre ich den wind klapperndes blech und die lichter der autos breiten sich aus die risse in der wand glühen ratten so groß wie hunde die sich durch den müll wühlen verkohlte dielen ich sehe das alles GLEICHZEITIG und während er grunzt und sein schweiß auf mich fällt da verstehe ich ES endlich ich muss einfach loslassen weißt du um platz zu machen verstehst du zu verschwinden für dings hier du weißt schon für – das große ereignis das jeden moment eintreffen könnte und in dieser nacht ist ES dieser fremde den ich liebe und er macht so lange weiter bis ich komme dann steht er auf holt einen lappen aus seiner tasche streicht sich damit über stirn und mund und lach ‚jesus‘ und ich

6. – 8.12. © Klaus Handner

Sofort sind sie alle weggelaufen Richtig so Sollen sie alle gehen Sollen sie endlich alle gehen Das ist hier doch kein Freiluftpuff Ich muss meine Arbeit vor diesen Sadomasochisten beschützen Und wenn ich hier endlich fertig bin Mache ich aus dieser Ruine eine wunderschöne Kathedrale

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Stück Mazlum Nergiz ‚ja puh‘ … CHRISTOPHER … lebst du alleine? DAN jetzt bin ich doch hier mit dir CHRISTOPHER ja ok aber wartet eine frau zuhause auf dich? DAN nein … ich war mal mit einer frau zusammen CHRISTOPHER wie war ihr name? DAN CHRISTOPHER und wie heißt du? DAN CHRISTOPHER DAN du bist sehr neugierig CHRISTOPHER entschuldige … DAN … und du … du bist doch bestimmt verheiratet ich kenne einen parkplatz dort warten männer in ihren autos auf andere männer ehemänner meistens soll ich dich da hinbringen? CHRISTOPHER da war ich schon einmal war ich dort spazieren ich erinnere mich noch ganz genau die autos schimmerten und ich hatte das gefühl als ob ich unter wasser wäre stimmen sie kamen von überall und nirgends ist das ein mensch oder die menschheit ich verstand nichts schaute mich um riesige felsbrocken und müll sonst nichts das wasser schien immer langsamer zu fließen

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und irgendwann nicht mehr als hätte jemand die welt angehalten stille nichts passierte und dann änderte der fluss seine richtung DAN was hast du genommen? klingt ganz gut CHRISTOPHER und plötzlich dieser geruch dieser extrem deutliche geruch von tabak aber niemand am rauchen DA WAR NIEMAND es war der geruch von tabak den heinz rauchte DAN wer ist heinz? CHRISTOPHER ein freund mein freund DAN wo ist heinz jetzt? CHRISTOPHER tot DAN CHRISTOPHER sie haben ihn erschossen DAN CHRISTOPHER DAN CHRISTOPHER du hast gefragt … sie haben heinz erschossen als er gestolpert ist sie haben ihn schuhe testen lassen und er ist gestolpert im lager im lager ist er gestolpert DAN im lager? in was für einem lager? wovon redest du? CHRISTOPHER konzentrationslager sachsenhausen das war 1940 35 jahre sind es jetzt her den tag weiß ich leider nicht mehr DAN ich glaube mir reichts CHRISTOPHER ich habe nach dem krieg einen mann getroffen er war mit heinz im lager und hat mir alles er-

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zählt beide waren sie im schuhläuferkommando um schuhe zu testen heinz war turner die nazis wussten das und steckten ihn zu den schuhläufern im auftrag von unternehmen haben sie dort modelle getestet stiefel für die wehrmacht straßenschuhe für salamander gummi für continental und ig farben die teststrecke mit schotter sand lehm und schlacke ausgelegt 700 meter lang ich stelle mir vor wie heinz im kreis läuft jeden tag ein marathon die wachmänner stehen verteilt um den ring beschimpfen die läufer treten nach ihnen stellen ihnen beine auch alte müssen laufen irgendwann kommt der befehl IM SCHRITT und dann HÜPFEN kniebeuge arme hinter dem kopf und wie ein frosch hüpfen der sachsenhausener gruß nach ungefähr zwei stunden ist das sportmachen beendet die gefangenen müssen die schuhe ausziehen und die soldaten notieren in welchem zustand die schuhe vor der sportstunde waren und in welchem zustand sie danach sind … am achten tag stolpert heinz er trägt einen rucksack voller steine liegt am boden und hechelt ‚ich kann nicht mehr‘ da steht der wachmann schon über ihm zielt auf sein genick und drückt ab …

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Stück „Am Fluss“ welches modell er an diesem tag wohl getestet hat vielleicht hoffentlich einen von salamander die marke mochte er gerne … wärst du bloß mit mir mitgekommen … wir sollten eingezogen werden als der krieg ausbrach hatten schifftickets und gefälschte pässe aber heinz kam nicht … er wollte nicht nicht fliehen und nicht in den krieg … lange haben sie ihn gesucht er war immer noch im widerstand wo schon lange kein widerstand mehr möglich war schrieb pamphlete artikel und flugblätter … weißt du wie sie ihn gekriegt haben? erst schauten sie sich den dokumentarfilm biene maja an und hinterher zeigte heinz ihnen auf mit welchen mitteln der film versucht die kapitalistische welt als eine naturgegebene ordnung zu verteidigen das musst du dir mal vorstellen die welt ist im krieg fast alle seine freunde und genossen schon im lager und heinz hält reden über biene maja … er hatte größere angst vor dem nichtstun als vor der sicherheit … DAN wie habt ihr euch kennengelernt?

CHRISTOPHER heinz und ich wohnten beide bei einer alten frau die zimmer an studenten vermietete einmal war sie nicht da und nur heinz und ich in der wohnung … er kam in mein zimmer … hat mich auf den bauch gedreht in die hand gespuckt leise stieß er mich er wollte in mir einschlafen ‚ich will die ganze nacht in dir sein‘ hat er mir zugeflüstert dann ging er zurück in sein zimmer … immer wenn wir miteinander schliefen hat er zu mir gesagt ‚ich will die ganze nacht in dir sein‘ … weißt du? … sein gesicht war breit er hatte etwas von einem hai die großen augen weit auseinander spitze nase große hände … ich habe kein bild von ihm es ist so merkwürdig als hätte es ihn nicht gegeben … sagst du mir jetzt wie du heißt? … DAN … wieso erzählst du mir das alles? ich kenne dich nicht CHRISTOPHER das stimmt doch nicht … DAN … CHRISTOPHER schau mal … der fluss

… er ist voller bücher

I Einige hier interessieren sich gar nicht für die Männer Sie sitzen einfach nur so da Und betrachten die in den Himmel stechenden Gebäude aus Eisen Stahl und Zement Da kann ihnen jemand seinen Arsch direkt vor die Nase hinhalten Sie beobachten lieber die Enten Wie sie sich methodisch vom Kopf bis zum Schwanz schütteln Als spulte ein Video vor und zurück Der anschwellende und fallende Gesang der Zikaden Das Sum Sum Summen der Moskitos Die Männer strecken ihre Köpfe nach oben Der Himmel ist leer Stille Sie suchen ihn ab als hätten sie etwas verloren Stolpern über zerbrochene Rohre Fenster und Türen Treten auf Glas Es knirscht Die Erde die sie hält Trümmerhaufen vergangener Zukunft Jedes Dings immer schon Müll Jedes Bauwerk immer schon eine Ruine Alles was die Männer hier finden Ist schlichtweg das was übrig geblieben ist Einer notiert in sein Heft ‚Wenn alle Spuren unserer Existenz einmal verschwunden sind Für wen wird das dann eine Tragödie sein?‘ Er wundert sich über die Stille als er mit dem Aufschreiben fertig ist Nichts bewegt sich mehr Auch das Wasser nicht Wir warten

Ohne Norden

Wenn der Kompass streikt

Koproduktion Mi 29.01.25 20:00 Do 30.01.25 20:00 Fr 31.01.25 20:00 Sa 01.02.25 18:00

Recycled Illusions

Foto © Julian Salinas

Schlachthaus Theater Bern www.schlachthaus.ch


Stück Mazlum Nergiz Wir zählen 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 0 0 Und der Fluss fließt wieder In zwei Richtungen Gleichzeitig Schreie Da ist sie Wir sehen sie Die Künstlerin die nicht aufhört zu fliegen Die immer und immer wieder die 34 Stockwerke hinunter fliegt Der Engel der immer wieder hochfliegt Vor und zurück Sie trägt nichts außer einer blauen Shorts Ihre trockene Stimme fällt wie sprödes Haar auf den Boden Jetzt ist sie ganz nah Da Da Sehen Sie Das ist meine Wohnung 300 Mercer Street Nicht weit von hier 8. September 1985 Ich bin noch nicht tot Ich höre wie mein Mann die Polizei anruft Er schreit Seine Stimme überschlägt sich Total schrill Er klingt wie eine Frau ‚My wife is an artist and I am an artist ANA MENDIETA A-N-A Only one N Yes that’s my wife’s name Yes she’s from Cuba CARL ANDRE No accent on the E Yes that’s my name We had a quarrel about the fact that I was more Uh Exposed to the public than she was And then she went to the bedroom and I went after her And she went out of the window You see I am a very successful artist and she wasn’t Maybe that got to her And in that case Maybe I did kill her‘ Maybe Vielleicht hat er mich umgebracht Vielleicht auch nicht Ihr werdet es niemals erfahren …

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Carl und ich haben uns gestritten weil er behauptete ‚Der Körper ist entweder in Gefahr oder im Widerstand‘ Es war schon spät und ich betrunken NEIN Habe ich widersprochen Ich habe Carl immer widersprochen Aus Prinzip Nicht Entweder Oder Der Körper ist immer vieles gleichzeitig In Gefahr UND im Widerstand Bild UND Abbild Teil UND Ganzes Magie UND Gift … Ich wollte dass meine Bilder Magie haben Aber sie waren nicht echt genug Hatten keine Kraft Keine Magie Die meisten habe ich verbrannt Also habe ich meinen Körper eingesetzt und ­alles nur noch fotografiert … Da Das bin ich Vor 12 Jahren Sehen Sie? Gucken Sie ganz genau hin Dann erkennen Sie mich ‚Untitled (Rape Scene)‘ heißt diese Arbeit Als ich noch studierte Wurde eine junge Frau auf dem Campus ver­ gewaltigt und getötet Angst Ich hatte nur noch Angst Konnte an nichts anderes mehr denken Bin total durchgedreht Ich muss doch etwas tun Ich lade meine Klasse zu mir nach Hause ein Die Tür ist offen Meine Arme mit einer weißen Kordel am Tisch festgebunden Mein Gesicht liegt in einer Blutlache Die Unterhose hängt mir an den Knöcheln Um mich herum Zerrissene Kleidung Zerbrochenes Geschirr Direkt über meinem Kopf brennt ein Flutlicht Überall Schatten nur auf meinem Körper ­keine Über eine Stunde lang diskutieren sie während ich so da liege Ich höre jemanden fassungslos murmeln ‚Wer macht so etwas?‘ Ja Wer macht so etwas? … Das war das erste Mal dass ich meinen Körper benutzt habe

Um etwas zu machen … Ich habe etwas getan an das ich glaubte Von dem ich überzeugt war es tun zu müssen Da Sehen Sie Sümpfe Wälder Flüsse Ich habe mich ins Gras gelegt Und mit weißer Kreide den Lauf meines Körpers gezeichnet Dann habe ich gegraben Das Loch mit Tierblut Pigmenten und Schießpulver aufgefüllt Und alles angezündet wie eine Kerze Energie … Energie ist auch Natur Alles ist es … Hier Hier ist sie am Fluss Tief drückt sie sich in den nassen Sand Die Wellen füllen ihren Abdruck wieder auf Und langsam verschwindet sie Hier Hier liegt sie nackt auf dem Boden Blumen durchdringen sie Hier Hier ließ sie sich begraben Wir sehen nur wie die Erde tief einatmet Alles zieht sich zusammen Und wieder aus Alles entfaltet sich Hier Hier hat sie Inseln in der Form ihrer Silhouette gemacht Aus Schlamm Gras und Stöckern Wie Leichen treiben sie im Wasser Hier Hier hat sie einen Baumstamm mit Pilzen geschmückt Hier Hier hat sie ihren Körper aus dem Eis geschlagen Siluetas heißt diese Serie Umrisse Es sind Dialoge zwischen der Landschaft und meinen Spuren Ich habe mich in die Natur gelegt und bin in sie hineingegangen Das ist es was ich habe Natur und meinen Körper Ich bin eine Verlängerung der Natur Und die Natur eine Verlängerung meines Körpers … Und so werden wir eins … Ich hatte auch die Idee für eine Skulptur im Himmel Ich wollte ein Bild aus Rauch in die Atmosphäre schicken

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Stück „Am Fluss“ Diese Arbeit konnte ich leider nicht mehr ausführen … Nachts wenn ich das Haus hoch und runter fliege Und ich die Männer am Fluss herumschwirren sehe … Ihre Umrisse leuchten als wären sie Heilige … Oder Glühwürmchen Auf der Suche nacheinander setzen sie Licht frei … Nachts wenn ich das Haus hoch und runter fliege Obwohl ich Höhenangst habe Nachts also wenn ich das Haus hoch und runter fliege Und ich diese strahlenden Schatten sehe Schreibe ich WICHTIGE IDEEN in mein Notizbuch Begehren durchdringt alles Einen Vulkan machen – aus seiner Asche eine Armee formen Den Raum finden in dem sich die Toten erinnern Die Vergangenheit existiert als gegenwärtiger Moment In den Falten liegen die Schätze Terror entsteht aus dem Alltäglichsten Wasser ist Macht Alles was sich bewegt verschwindet Die Bewegung ist das Versteck Den Himmel beobachten Warten – bis sich die Ordnung offenbart Zeit als Trost – irgendwann kommt alles wieder zurück

II

CHRISTOPHER schau doch mal … der fluss … warum werfen sie bücher in den fluss? wer macht so etwas? DAN mein vater hat meine bücher auch immer weggeworfen … an schlechten tagen wenn er mich mit einem buch in den händen sah hat er mir damit so lange aufs gesicht geschlagen bis mir das blut aus der nase kam an guten tagen wenn er mich mit einem buch in den händen sah hat er es mir weggenommen und in den müll geworfen und mich aus dem haus CHRISTOPHER und deine mutter was hat sie getan? DAN wenn ich stunden später an die tür geklopft habe um wieder reingelassen zu werden

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rief sie nur aus dem wohnzimmer ‚du kannst noch nicht rein‘ … was sagt eine mutter zu ihrem kind wenn es nachts aufwacht und angst hat hmm? CHRISTOPHER DAN dass es in ihren armen geborgen ist dass es für immer geliebt wird dass nichts diese liebe beenden kann mit der sie ihn hält eine liebe ohne ende und nicht ‚du kannst noch nicht rein‘ CHRISTOPHER DAN einmal sperrte mein vater sie drei tage lang im keller ein am vierten tag hat sie mich angefleht sie zu befreien sie brauchte mich ich wusste wo er den schlüssel versteckte zwischen seinen hosen ich habe zu ihr gesagt ‚aber nur wenn du mich mitnimmst‘ sie war überrascht‚ wohin soll ich dich mitnehmen du mistvieh dan dan dan mach auf‘ CHRISTOPHER dan … hallo DAN ich wusste sie würde ohne mich fliehen und die panik in ihrer stimme verriet mir dass sie wusste dass ich sie verraten würde ‚du musst mich mitnehmen wenn ich dir aufmache‘ und so habe ich meine mutter aus dem keller befreit und wir sind von zuhause weggerannt widerwillig hat sie mich mitgenommen wir sind zu dem mann mit dem panther auf dem arm wie gesagt wäre es nach mir gegangen hätten wir dort bleiben können sie ist aber wieder zurück zu meinem vater diese dumme kuh … als sie gestorben ist rückte mein vater tagelang ihre leiche nicht raus ich durfte das haus nicht verlassen irgendwann roch es nach fisch und benzin ich schrieb auf einen großen zettel HILFE und klebte ihn an mein fenster irgendwann alarmierten die nachbarn die polizei ‚erst das gold dann den körper‘ schrie mein vater

meine mutter hatte ihren schmuck versteckt als hätte sie geahnt dass er sich darauf stürzen würde als hätte sie gespürt dass sie sterben würde wie er das ganze haus auseinandernimmt wie er mit der leiche unterm arm jede ritze absucht als wäre der leblose körper meiner mutter eine taschenlampe nein ein kompass oder nein eine maske die er sich überziehen kann und er wartet darauf dass das wissen ihres leblosen körpers osmotisch auf ihn übergehe und er fragt sich wo sind die erinnerungen gespeichert? wo muss ich drücken?

I Sagen wir Es war einmal was ein mal war Es war einmal ein Kaiser Er dachte darüber nach wie er die Zukunft kontrollieren könnte Er wollte sich nämlich zur Quelle der Wahrheit ernennen Die Geschichte sollte mit ihm beginnen Die Nachkommenden sollten sich ausschließlich auf ihn beziehen Und nicht auf seinen verhassten Bruder Seine Berater rieten ihm die Vergangenheit abzuschaffen Alles Gedenken an Vorgänger oder Mitstreiter auszulöschen Der Kaiser war überzeugt dass Wasser sich für dieses Unterfangen bestens eignete Die Flut zweier Flüsse ließ er auf die Stadt seines Bruders lenken So lange bis nichts mehr zu sehen war – außer Wasser Danach beauftragte er den Bau seiner gigantischen Grabanlage Hier setzt er bis heute seine kosmische Herrschaft fort Beschützt von einem Terrakotta-Heer lebensgroßer Soldaten samt Streitwagen Pferden und Waffen Lange schon war dieser Kaiser tot Als plötzlich die Stadt seines Bruders wieder auftauchte Untergegangene Fragmente ragten hervor als ob sie nach Luft schnappten Erinnerungen die nichts mehr miteinander verbindet außer dass sie mal verbunden waren Steine die mal eine Brücke bildeten Von Muscheln übersäte Bibliotheken Straßen aus Korallen Weiche Algenfelder auf Dächern

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Stück Mazlum Nergiz Sagen wir Wir atmen ein Sagen wir Wir halten den Atem an Sagen wir Wir warten bis das Wasser die Stadt wieder freigegeben hat Sagen wir Wir atmen aus Zeit als Trost Irgendwann kommt alles zurück

II

DAN nach dem tod meiner mutter hat mein vater fotos von sich machen lassen ich musste sie für ihn abholen der fotograf überreichte mir die mappe und lobte mich ‚dein vater kann sich glücklich schätzen dich als sohn zu haben‘ zuhause betrachtete er seine fotos ließ sich nichts anmerken danach steckte er sie zurück in die mappe und zündete sie an … er ging auf mich los ich war vorbereitet und schlug ihm mit einem baseballschläger zusammen es tat so gut ich musste mich zwingen aufzuhören um ihn nicht umzubringen diese gewalt die aus mir herausbrach sie hatte etwas schöpferisches ich bewunderte das werk das ich schuf mein auf dem boden liegender vater … zum schluss spuckte ich ihn an und verließ die wohnung … für immer … am tag als er die fotos machte bin ich ihm heimlich gefolgt als er das geschäft verließ habe ich den fotograf gebeten seine bilder mit einem portrait meiner mutter zu belichten ich will meinem vater erzählte ich dem fotografen zum geburtstag ein letztes bild mit seiner ehefrau schenken auf dass sie miteinander verbunden bleiben sagte ich für immer auf dass sie ihn verfolge für immer dachte ich …

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CHRISTOPHER … ich stelle mir vor wie dein vater vor dem fotografen sitzt sein gesicht seine blasse haut reglos sitzt er auf einem stuhl die hände im schoß wartet er darauf dass das licht sein abbild einfängt und der fotograf präpariert seine platte mit chemischem licht macht er aus etwas unsichtbarem etwas sichtbares wie ein detektiv spürt er alles in den gesichten seiner porträtierten auf was er alles sehen kann und was nicht wie dein vater nervös an den knöpfen seiner jacke dreht wie er auf die stellen seines körpers hinweist die noch keiner berührt hat die zu oft berührt wurden die ignoriert verachtet vergessen beschämt verehrt wurden und wie punkte verbindet der fotograf diese stellen er weiß er braucht mindestens zwei um eine linie zu ziehen und noch mehr um ein leben zu zeigen … DAN nimmst du meinen vater in schutz? CHRISTOPHER nein ich stelle ihn mir nur vor … DAN … CHRISTOPHER … woher kommen nur diese ganzen bücher? DAN im norden verbrennen sie müll bestimmt kommen die von dort CHRISTOPHER vielleicht wollte jemand die bücher ja auch retten … warte ich hol eins … DAN … und was steht drin? CHRISTOPHER ich kann nichts lesen … es ist alles verkohlt … danke DAN wofür? CHRISTOPHER dass du geblieben bist DAN ich hab dir doch zugewunken CHRISTOPHER du hast mich gefunden ich will dich nicht verlieren … entschuldigung DAN … CHRISTOPHER ich gehe jetzt nach hause willst du mit? DAN ok

I Wir treiben durch die Stadt Unsere Beine schwer vom Stehen Unsere Augen müde vom Gucken Wir ziehen an den Schlachthöfen vorbei Männer in weißen Schürzen schieben tote Tiere an Stangen durch die Halle Als wären sie Kleidungsstücke Die Stadt – ein Kadaver Die Schornsteine – verfaulte Därme Jede Öffnung dieses Körpers zeugt von Spuren Vernarbte Oberfläche Seefahrer Hafenarbeiter Gangster Irre Künstler Melancholiker Bänker Alle waren sie hier Jedes zerschlagene Fenster Jede eingetretene Tür Ein Loch zum Gucken Ein Schnitt zur anderen Seite Pulsierende Dunkelheit Blitzendes Schwarz Farblose Signale formen sich mit jedem Lidschlag Ein unsichtbarer Vogelschwarm aus Licht Das Auge pocht Umrisse von schnellen Schatten Die Büsche zittern Vögel können sich nicht mehr bewegen Das Wasser fließt in zwei Richtungen – gleichzeitig Es sind Natürlich Die Geister Ihre Erinnerungen tauchen in der Zukunft auf die zurückliegt Und in der Vergangenheit die sie noch erwartet Die Männer kehren aus den zerschnittenen Ruinen zurück Und ihre Körper sind auch zu Ruinen geworden Sie gehen zum Licht Sie kommen ans Ufer Sie versammeln sich um uns Sie schließen sich uns an Eine unsichtbare Krankheit attackiert ihre Körper Die Männer liegen weinend in unseren Armen Sie fragen sich Bin ich so böse? Ist so viel Schlechtes in mir? Was habe ich getan dass ich das verdiene? Was hat sich angestaut in mir? Wir küssen ihre Wunden Flecken und Tumore Wir streicheln sie stumm Einige Männer verlassen uns schon wieder Ihre Körper sprechen laut Lauter als ihre Stimmen Einige Männer sterben heimlich still und verborgen Andere Männer schlafen in den Händen ihrer Liebhaber ein

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Stück „Am Fluss“ Einige legen sich auf die Straßen Andere harren hier in der Kirche aus und beten einfach bis sie tot sind Auf dass sie in den Armen der Schutzheiligen ruhig und gesegnet einschlafen Einer hat uns besonders berührt Als er uns zum letzten Mal hier am Ufer besuchte Und mit uns picknickte Schaute er traurig aufs Wasser und sagte ‚Ich möchte einfach mit einem großen Schwanz im Mund sterben‘ Wir vergessen diesen Blick nicht Wir verabschieden uns mit einem zärtlichen Gruß Blitze schießen durch die tiefen Schluchten unseres Gehirns Alles was wir wissen und nicht Alles was wir verstehen und nicht Alles was wir fühlen und nicht Baut sich auf wie ein karges Gebirge Und in den Falten liegen die Schätze Wir heben unsere Hand und winken vom Ufer zur anderen Seite

III 06. August 1990. Du schläfst. Ich sammle lange, dünne Äste auf, die ans Ufer gespült wurden, ramme sie in den Sand und spanne das blaue Handtuch über sie. Ich will nicht, dass du einen Sonnenbrand kriegst. Der enge Verband um deinen Kopf, den der Arzt erst gestern ausgetauscht hat, ist rostig und braun an der Stelle, wo der Tumor war. Schweißperlen bilden sich um deinen Bauchnabel. Der Fluss, an dessen Ufer wir liegen, ist breit und verläuft in krummen Windungen. Weiden. Die langen Zweige wachsen bald ins Wasser. Ich denke an Peitschen. Die Glocken der Dorf­ kirche spielen eine traurige Melodie. Vielleicht sollten wir wieder zurück ins Hotel? Bestimmt tut die Hitze dir nicht gut. Ich streiche mit dem Zeigefinger über deinen Bauch. Du hältst den Atem an. Ich ziehe dicke, weiße Linien Sonnencreme über deine Arme, Beine und Bauch. Ein großer Keks, mit Zucker überzogen. Das bist du. In kreisrunden Bewegungen massiere ich die fettige Creme ein. Der Geruch von Lavendel und Pinien. Dann lese ich eine Reportage über die noch ungeöffnete Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers. Das Grab könnte ein Faksimile des Reiches enthalten, das von Quecksilber bewässert wird. Manche Passagen

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lese ich vor. Das chinesische Kaiserreich wurde von Qin Shi Huangdi gegründet. Er lebte im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Ärzte bereiteten ihm Elixiere zu. Er schickte einen Minister auf eine weite Reise über die östlichen Meere. Sein Auftrag: den Trank des ewigen Lebens zu finden. Der Minister kehrte nicht zurück. Also begann Qin Shi Huangdi mit den Vorbereitungen für ein anderes ewiges Leben. Er wollte seine kosmische Herrschaft von der Geisterwelt aus fortsetzen. Sein Grab: ein unterirdischer Palast, beschützt von lebensgroßen Soldaten aus Ton. Inklusive Streitwagen, Pferden und Waffen. Eine historische Notiz besagt, das Grab des Kaisers sei eine Nachbildung der Landkarte Chinas: Qin Shi Huangdi habe den Jangste, den Gelben Fluss und die Ozeane aus Quecksilber nachbilden lassen. Die Decke des Grabs sei von den Himmelskonstellationen geschmückt, der Boden mit einer Darstellung des Landes. Doch niemand weiß, was wirklich alles darin verborgen liegt. Das fußballfeldgroße Grab des Kaisers bleibt vorerst verschlossen. ‚Der Leichnam des Kaisers von China liegt also in einer riesigen Pfütze aus Quecksilber?‘ Du streckst dich und gähnst. Hebst dein Becken und ziehst deine Badehose aus. Dann stehst du auf. Still betrachtest du meinen improvisierten die dunkelroten FleSonnenschutz. Und ich cken auf deinen Unterschenkeln. Ich kann sie noch zählen. Du drehst dich um. Ich weiß, dass du zur anderen Seite schwimmen willst. Der Himmel ist leer. Ich zähle die Sterne. Unsichtbar. Unendlich. Würde ich alle miteinander verbinden, die erloschen sind, als wir uns in diesem zerfallenen Lagerhaus vor 20 Jahren trafen, ergäben die Linien eine Karte UNSERER Zeit. Wieso hast du ausgerechnet mir zugewunken? Und als ich oben auf dem Geländer ankam, hast du es bereut? Wie ruhig du warst. Verloren. Ausgehungert. Du hast gewartet. Auf mich, auf irgendwen. Ich wusste – du würdest bleiben. Ich wusste mit dir will ich leben. Ich habe geredet, damit du bleibst. Es hat funktioniert. Manchmal erinnere ich mich an dich. Als ob du schon tot wärst.

Vögel ziehen herauf. Eine Drohung. Oder eine Prophezeiung. ‚Sind das Kraniche?‘, frage ich dich. Mittlerweile liegst du im Wasser. Du hältst dich an den Zweigen der Weide fest. Deine Augen geschlossen. Deine Beine weich tänzeln sie, streicheln sich, ziehen Kurven, peitschen dann sinnlos, grausam das Wasser und bewegen sich nicht von der Stelle. Ich stehe auf und schreie deinen Namen. Dan! Zu spät. Dein Kopf ist nass. Die Bandage hat sich gelöst. Ich stelle mir den Fluss voller Quecksilber vor. Du bist der Kaiser, über dessen Grab die Flüsse dei-

nes Reiches fließen. Eine Armee beschützt dich. Für immer.Wir überqueren den Fluss. Die Strömung ist zu stark. Wir müssen umkehren. Ich will aber nicht. Nicht umkehren. Ich feuere uns an. Wir müssen nur diese heftige Stelle in der Mitte passieren. Du hechelst schon wie ein Hund. Ich will aber nicht zurück. Nein. Überquere das Ufer. Und dann wirst du leben. Ich weiß das. Auf der anderen Seite sonnt sich ein altes Ehepaar. Nackt. Die Frau wirft uns entsetzte Blicke zu. Sie will uns nicht. Je länger wir hier stehen, mitten im Fluss, desto beunruhigter wirkt sie. Brauchen wir Hilfe? Ja. Ich drehe mich um und sehe nur noch deinen Kopf. Krampfhaft hältst du dich und ein Buch, das du mitgenommen hast, über Wasser. Eine umspülte Ruine. Wir sind zurück im Hotel. Ich liege auf dem Bett. Es ist heiß. Die Klimaanlage funktioniert nicht. Der Fernseher läuft. Du rasierst dich im Badezimmer. Ich darf dir nicht helfen. Meine Hände zittern zu sehr dabei, sagst du. In den Nachrichten: Ein Paar hat sich umgebracht. Zwei Männer. Aneinandergebunden haben sie sich 35 Stockwerke hinuntergeworfen. Ich stelle mir vor, wie beide vorher noch die Wohnung putzen. Einen frischen Blumenstrauß auf den Esstisch stellen. Dann eine Flasche Wein öffnen. Sich zuprosten. Der letzte Schluck. Einer öffnet schonmal das Fenster, während der andere das Seil präpariert. Beißend kalter Wind bläst ihnen entgegen. Ein Vogel fliegt vorbei. Touristen fotografieren Straßenschilder. Winken dem Paar zu. Die Sonne dieses letzten Tages begrüßt sie. Ihr Licht wärmt noch nicht. Und es fällt ihnen umso leichter, sich zu verabschieden. Auch in den Nachrichten: Überlegungen, jeden ins Krankenhaus eingelieferten Patienten auf HIV zu testen. Wie hoch muss die Anzahl derer sein, die mit gebrochenen Rippen eingeliefert und mit einem positiven Testergebnis wieder entlassen werden? Weiterhin: Ein berühmter Tennisspieler stirbt mit 26 Jahren aus unerklärlichen Gründen. Seine Freundin sagt, er kämpfte schon lange mit Herzproblemen. Bilder zeigen ihn, abgemagert und ohne Haare. Sieht so jemand aus, der an Herzproblemen leidet? Ich schalte um. Eine Frau mit blonden Haaren und straff operiertem Gesicht spricht in einer Talkshow darüber, dass jede Krankheit einen Grund und eine Bedeutung hat. Der Körper nur ein Gefäß, in dem eingesperrte Gefühle und

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Stück Mazlum Nergiz Selbsthass Schaden anrichten. Allein mit der Kraft positiver Gedanken habe diese Frau ihren Krebs besiegt. Jede noch so schwere Krankheit könne mit der Technik der Selbstliebe wie ein Poltergeist ausgetrieben werden. ‚Wie denn?‘, fragt der skeptische Moderator. Sie lächelt und fordert ihn auf. ‚Wiederholen Sie: „Ich strahle vor Gesundheit.“ „Ich bin ein wunderschöner Mensch.“‘ Der Mann schließt die Augen. Spricht die Sätze nach. Lacht. Dann stellt sie ihr ABC der Krankheiten und Ursachen vor. Akne entstehe durch Abneigung gegen sich selbst. Arthritische Finger durch den Wunsch zu bestrafen. Asthma durch unterdrücktes Weinen. Hass der beste Nährboden für Krebs. Alzheimer folge aus Eifersucht. Sich selber die Schuld für die eigene Krankheit geben. Was für ein beruhigender Gedanke. Ich schalte den Fernseher aus. Gestern Nacht hat sich jemand an mich erinnert. Ich bin aufgewacht. Wie betrunken stolpere ich vom Bett ins Badezimmer. Licht an. Das elektrische Summen der Glühbirnen. Ich warte auf ein Zeichen. Ein Bild. Irgendwas. Aber es kommt nichts. Mit einer Hand berühre ich den Spiegel. Dort, wo meine Stirn ist. Dann öffne ich das Fenster. Wind. Ich denke an Dinge, die ich noch berechnen möchte. Etwas einfaches. Ein Spinnennetz. Etwas Schweres. Die Struktur, die das Meer im Sand hinterlässt. Und dann bläst mir der Geruch von Tabak in die Heinz. Die Zeitpunkte meines Lebens Nase gleiten ineinander. Jedes Bild ein Punkt. Die Entfernung von mir selbst zu einem Ort ist stets eine positive reelle Zahl. 1, 2, 3. 1991–1940 sind …51 51 Jahre bist du schon tot. Ein Mensch ist ein Ort. Eine Erinnerung auch. Ich ziehe die Verbindungen. Ein perfekter Kreis. Wie schnell er wächst. Eine immer größere

Ebene entfaltet sich. Hinter jedem Ding lauert ja doch etwas Größeres. Ein Raubtier. Amnesie. Räume. Ich schließe das Fenster und lege mich auf den Boden. Dann schlafe ich ein. Du kommst aus dem Bad. Deine dicken, schwarzen Haare. Ein Ort, an dem man sich festhalten kann. Immer noch. Aber ich traue mich nicht zu ziehen. Was würde ich dann alles in der Hand halten? Knochen spitzen deine Haut an. Dein Gesicht ist voller Flecken, Schnitte und Blut. Ich stehe vom Bett auf. Reiße Klopapier in Stücke und lege sie auf deine kleinen Wunden. Dann frage ich dich: ‚Glaubst du, es gibt irgendwann eine Generation gerechter Menschen?‘ Du lachst mich aus. ‚Wie kannst du noch an Gerechtigkeit glauben? Schau mich an.‘ ‚Nicht Gerechtigkeit. Gerechte Menschen‘, sage ich. Du überlegst. ‚Ich glaube an Rache Rache als Gerechtigkeit.‘ Deine Grübchen, die beim Lachen entstehen, lassen die Klopapierfetzen abfallen. Ich lege wieder welche auf die Schnitte. Kurz überlege ich, ob ich auch die Flecken bedecken soll, aber dann müsste ich dein ganzes Gesicht mit Papier auslegen. Dich zur Mumie machen. Dir alles aus dem Körper ziehen. Auch die Krankheit. Und wenn ich dafür deine Erinnerungen mit Chlorophyll getränkten Taschentücher aus­ löschen müsste ich würds tun. Ich denke an deine Mutter. Wie sie auf dem Foto deines Vaters erscheint. Wen musst du rächen, Dan? Und wer rächt sich an dir? Glaubst du, du hast deine Krankheit verdient? Ich berühre deine Lippen. Die Klimaanlage schaltet sich ein. Alles, was lebt, reagiert auf Wärme. Licht.

­–

– ENDE –

QUELLEN & MATERIALIEN Wesentliche Themen und aufgerufene Figuren verdanken sich der Lektüre Olivia Laings Everybody: A Book About Freedom (2021, Picador) und dem Archiv des Sportmuseums Berlin. Weiterhin: Fiona Anderson: Cruising the Dead River. David Wojnarowicz and New York’s Ruined Waterfront (2019, The University of Chicago Press) Philip Ball: Flowing Rivers of Mercury (2015, Chemistry World) Kate Bush: Cloudbusting (1985, EMI) Anne Carson: Float (2016, Knopf) Dietmar Dath: Maryam. Kein Nachruf für euch. (2021, Bayerischer Rundfunk) Melissa Jacques: Making Cruising Dwelling (2014, Performance Research) Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer (1959, Europäische Verlagsanstalt) Aurora Karrer Reich Collection, National Library of Medicine Robert Katz: Naked by the Window: The Fatal Marriage of Carl Andre and Ana Mendieta (1990, Atlantic Monthly Press) Alexander Kluge: Der Konjunktiv der Bilder. Meine virtuelle Kamera (K.I.) (2024, Spector Books) Cormac McCarthy: Stella Maris (2022, Pan Macmillan) Anne Michaels: Held (2024, Bloomsbury Publishing) Wilhelm Reich: Reich Speaks of Freud (2013, Farrar, Straus and Giroux) Stephanie Rosenthal: Traces: Ana Mendieta (2013, Hayward Publishing) Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste (2018, Suhrkamp) Kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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Theater der Zeit

Foto Julian Baumamm/Münchner Kammerspiele

Diskurs & Analyse

„Habibi Kiosk“ der Münchner Kammerspiele – ein Ort der Teilhabe als durchlässiges Fenster zur Stadt

Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Viola Hasselberg „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen!“ Serie Post-Ost: Tino Pfaff „Die ‚hohe‘ Kunst, Freiheit und Sicherheit gegeneinander aufzubringen“

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Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen! Warum wir neue Demokratieerzählungen brauchen Von Viola Hasselberg

Viola Hasselberg, seit September 2020 leitende Dramaturgin und stellvertretende Intendantin der Münchner Kammerspiele. Studium der angewandten Theaterwissenschaft, Musik und Politikwissen­ schaft an der Universität Hildesheim. Einjähriges Forschungsstipendium in Polen. Ab 1999 gemein­ same Theaterleitungen mit Barbara Mundel (Luzerner Theater, Theater Freiburg) für eine starke künst­ lerische Vernetzung mit der Stadt auf dem Weg zu einem „Stadttheater der Zukunft“.

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Nichts ist okay. Alles ist anders. Klammes Gefühl im Bauch. Angst? Wirklichkeit, die einsickert ins Bewusstsein. 80 Jahre Frieden und steigender Wohlstand, kein Normalzustand. Das „Normale“ kommt nicht zurück, auch wenn wir es uns so gewünscht haben, nach dieser wahnsinnigen Zeit mit Corona, auch wenn wir uns suggerieren, unsere „alte Normalität“ funktioniere weiter mit neuen Geräten. Die Komfortzone ist vorbei, natürlich auch in den Theatern, jetzt geht es um alles. Und keiner weiß, wie es ausgeht. „Zeitenwende“ ist so ein Wort, das suggeriert, irgendwo wären die Voraussetzungen unserer Welt um 180 Grad gedreht worden, und jetzt müsste man einfach eine beherzte Wendung hinlegen, um wieder auf dem richtigen Kurs zu sein. Viel übler, viel bitterer das Eingeständnis, dass sämtliche unserer großen Erzählungen nicht stimmten, und zwar schon lange nicht mehr. Die Zeitenwende ist das Ergebnis ausgeblendeter Wirklichkeiten und Widersprüche. Die wirtschaftliche Erzählung („Wachstum kommt allen zugute, Wohlstand = Konsum = Demokratie“) beißt sich aufs Schärfste mit der wissenschaftlichen Erzählung („Die Beschleunigung unseres Ressourcenverbrauchs ist mörderisch, die Erde ist dabei, kaputtzugehen.“). Alles, was uns Zuversicht und Stolz gegeben hat, weil wir uns gern als Teil des Fortschritts gesehen haben, engagiert für eine weniger ungerechte Welt, dreht sich um, spricht gegen uns. Der „Westen“ ist ein großer Zerstörer, unser Konsum konsumiert endgültig die Demokratie. Es überfordert uns, dies alles mit uns selbst in Verbindung zu bringen. Seit uns auch hierzulande der neue Kriegszustand einholt, die Demokratie plötzlich „wehrhaft“ werden muss, haben wir keinen Kopf mehr fürs Klima. Der Nachfolgebericht des Club of Rome („Die Grenzen des Wachstums“, 1972) konstatiert 50 Jahre später: „Das größte Problem ist heute, dass wir Wahrheit nicht mehr von Lüge unterscheiden können.“ Mit welchen sozialen Techniken eignen wir uns die Welt an? Welches Menschenbild setzen wir voraus? Damit sind wir bei der Kunst oder im Theater. Im Theater geht es darum, dass ich meine Wahrnehmung von Welt hinterfrage. Dass ich Zweifel zulasse. Aber auch darum, dass ich mich berühren lasse, mich verbinden kann, mich erkannt und getröstet fühle. Das führt zu Erschütterungen. Gerade sind wir für Erschütterungen wenig empfänglich, weil wir zermürbt sind und lieber Erzählungen produzieren, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, eindeutige Erzählungen, die Sicherheit versprechen oder klare Feind:innen benennen. Man kann es Wirklichkeitsverweigerung nennen. „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“, haben wir uns 2020 beim Start unserer Intendanz an den Kammerspielen vorgenommen. Dieses Leitmotiv stimmt für die Münchner Kammerspiele im Jahr 2024 noch immer, aber es kostet inzwischen deutlich mehr, sich daran zu halten. 2020 stand für uns der Begriff „Multiperspektivität“, der in Jörg Bochows erstem Beitrag dieser Reihe ganz am Ende auftaucht, am Anfang unserer dramaturgischen Überlegungen. Das hatte sicher mit dem Profil bzw. dem Selbstverständnis der Kammerspiele als dem „Theater der Stadt“ zu tun: „Multiperspektivität“ als Ansatz einer dramaturgischen Suchbewegung, möglichst viele, auch marginalisierte Stimmen dieser Stadt hörbar zu machen, sie in Verbindung zu bringen. Die „Verwettbewerblichung“ aller Lebensbereiche ist etwas, das man in dieser Stadt

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Foto Sandra Singh/Münchner Kammerspiele

Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #03


Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #03 spüren kann. Die Fassade muss stimmen. Die Kammerspiele liegen an einer „Fassadenstraße“, die Maximilianstraße ist eine der teuersten Straßen der Stadt. Unsere Arbeit begannen wir mit einem multiperspektivischen Dramaturgieteam, in dem Kolleg:innen aus Damaskus und Teheran vertreten waren, Spezialist:innen für Inklusion, Tanz und Performance sowie für neue Autor:innenschaften. Unser als Kraftzentrum des Hauses verstandenes Ensemble sollte mit neuem Selbstverständnis Spieler:innen mit körperlicher und geistiger Behinderung einschließen, wir wollten ein zugängliches Theater für ein diverses Publikum werden. Der Umbau geht (zu) langsam. Nach vier Jahren, in der Halbzeit der Intendanz, würde ich sagen: Gescheitert sind wir häufig dort, wo wir ein auf Theorie betriebenes „Engineering“ der guten Absichten verfolgt haben. Erfolgreich sind wir dort, wo wir sehr langfristig und beharrlich Ziele verfolgen, Unerwartetes entstehen kann und ein Lernen aus Fehlern möglich war. Es gibt sie, die Erfolge einer „die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassenden“, multiperspektivischen Dramaturgie: neues Publikum mit viel Reibung, ein körperliches Theater in vielen Sprachen, tragfähige Allianzen. Langfristige, künstlerische Theaterpartnerschaften („Sisterhoods“ mit Kyiv, Damaskus, Lomé) gehören dazu, wir bauen aktuell ein osteuropäisches Theaternetzwerk zur Frage „How to defend democracy“ zwischen Polen, Litauen und der Ukraine auf. Mit unserem Hausregisseur Jan-Christoph Gockel und einem mitreisenden Teil des Ensembles entstanden z. B. zwei politisch-poetische Stückentwicklungen

Wir brauchen neue Demokratieerzählungen, auch in der Kunst, im Theater. Demokratie ist eine kulturelle Leistung.

zwischen München und Burkina Faso bzw. Togo. Sie erzählen die Geschichte der kolonialen Vergangenheit gemeinsam, ohne die Perspektiven zu verwischen oder zu vereinfachen. In der zweiten Inszenierung „Les statues rêvent aussi“ führte das zu einem Theaterabend über die fiktive Rückführung einer geraubten Prinzessin, die als Beutekunst in einem Münchner Museumskeller ausharrt. Ein Abend in afrikanisch-deutscher Besetzung, der von einem afrikanisch-deutschen Regieduo (Jan-Christoph Gockel, Regie, und Serge Aimé Coulibaly, Choreografie) erarbeitet und als Simultanstück in München und Lomé gezeigt wurde – das afrikanische und das europäische Publikum konnte sich über die Live-Schnittstelle im Video beobachten und zuwinken. Diese Sorte von Multiperspektivität innerhalb eines geteilten, gemeinsamen Kunsterlebnisses ist die – technisch aufwendige – ideale Variante des Zieles, aus verschiedenen Perspektiven auf eine ambivalente Gegenwart zu blicken und dabei Empathie auszulösen. Ein weiteres Beispiel war unsere Inszenierung „Antigone“ in leichter Sprache. Die Regisseurin Nele Jahnke probte mit einem gemischten Ensemble behinderter

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Sprich mit HAUtie HAU4

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Ein Projekt von HAU Hebbel am Ufer, Philisha Kay und allapopp für dgtl fmnsm. Gefö rdert durch: Fö rderprogramm digitale Entwicklung im Kulturbereich der Berliner Senatsverwaltung fü r Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #03 und nicht-behinderter Spieler:innen. Der tradierte Text über verbotene Trauer klang völlig transparent und neu, war plötzlich zugänglich und vor allem konkret für verschiedenste Zuschauer:innen. Was also kann das Theater in Zeiten der „Polykrise“, in der „Zeit der Monster“ (Antonio Gramsci), in der die alte Welt im Sterben liegt und die neue noch nicht geboren wurde? Wie kommen wir an die Superkraft der „Polymöglichkeiten“, die das aktuell Vorstellbare überschreiten? Gerade scheint der Denkraum immer enger zu werden, wir versinken im Chaos von Anfeindungen und Boykotten. Unser Urteilsvermögen speist sich aus einer Dominanz des binären Denkens und von auf das Zweidimensionale beschränkten Erfahrungen. Oft genug lassen wir dabei die Körper zurück. Das wirkt sich aus auf unsere Demokratie, unser Menschenbild und die Möglichkeit, uns über Kunst und Kultur zu begegnen. Die Historikerin Hedwig Richter, mit der wir für die Kammerspiele zwei Projekte erfunden haben, die sich mit (unterschätzter) weiblicher Demokratiegeschichte beschäftigen, sagt in ihrem letzten Buch: „Das vorherrschende destruktive Menschenbild nährt sich nicht zuletzt aus einer ebenso triumphalen wie zerbrechlichen Maskulinität, die den Menschen, ggf. auch den weiblichen, vor allem im ewigen Kampf um Macht und Stolz sieht.“ Wir brauchen neue Demokratieerzählungen, auch in der Kunst, im Theater. Demokratie ist eine kulturelle Leistung, setzt ein Menschenbild voraus, in dem wir uns für das Wohlergehen anderer interessieren, an Aushandlungsprozesse glauben. Diese Fähigkeit zur Empathie müssen wir irgendwie erlernen und erproben. Das ist die politische Aufgabe für die Künste: uns mit sinnhaften Erzählungen zu inspirieren, die die Wirklichkeit nicht ausblenden oder vereinfachen, die uns Möglichkeiten geben, wieder in Selbstachtung zu leben, es miteinander auszuhalten. Die israelische Soziologin Eva Illouz weist auf die Rolle der Gefühle für den demokratischen Meinungsaustausch hin. Unsere Entscheidungen und Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen sind eben nicht nur an der Vernunft geschärfte Gedanken, sondern ihnen liegen Gefühle zugrunde wie Hoffnung, Angst, Scham, Stolz, Zorn, Neid und Enttäuschung. Was Illouz nahelegt, ist die Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension unserer Gefühle. Mehr als nacheinander alle wichtigen „Themen“ im Theater abzuarbeiten, kommt es jetzt darauf an, die Geschichten hinter den kollektiven Gefühlen aufzuspüren und sie so zu erzählen, dass diese Gefühle annehmbar werden. Oder aber teilbar, wenn es um positive Gefühle geht: Neugier, Großzügigkeit, Kraft. Theater als Ort für direkten emotionalen Austausch in einer Gesellschaft, die von Kontakt überfordert ist, die ihre Hemmschwellen für Hass weit abgesenkt hat. Theater als Startrampe in eine Zukunft der Veränderungen. Woran arbeiten die Kammerspiele jetzt, was sind die Werkzeuge, welche Perspektiven eröffnen sie? „Themen“, die in „Begleitprogrammen“ verpackt werden, sind es definitiv nicht. Stattdessen versuchen wir, durch eine Praxis des erweiterten Kuratierens einen Resonanzraum rund um und in den Kammerspielen zu schaffen, der für verschiedene vulnerable Gruppen ausgerichtet ist, aber zunehmend auch für Menschen, die im Gespräch bleiben wollen (oder in eines zurückkehren). Das sind kostenlose, mit Menschen aus der Stadtgesellschaft entwickelte Angebote im

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„Habibi Kiosk“, es geht um Teilhabe, den Vorraum des Theaters. Der „Habibi Kiosk“ etabliert sich als Ort, an dem sich Menschen wahrgenommen und gesehen fühlen, der aber nicht zwangsläufig deren Weltbilder reproduziert. Widersprüche und Konflikte (auch shitstorms!) bleiben nicht aus, wir proben die „Ruhe nach dem Sturm“. Seit dieser Spielzeit programmieren wir unsere Studiobühne, den „Werk*raum“, konsequent mit einem anderen „Betriebssystem“: als schnellere Bühne für Experimente, neueste Dramatik und partizipative Kunst mit eigener Bar im Treppenhaus. Nach den ersten sechs Wochen kann man sagen: Es gibt ein riesiges Bedürfnis des Publikums nach Gespräch und Verstehen und beeindruckende Beiträge von Zuschauenden. Sicher besteht die Herausforderung, dieses inszenierte Spannungsverhältnis der Perspektiven auf ein Schauspielhaus mit 650 Plätze zu übertragen. Auch dieser Versammlungsraum lebt, wenn jede(r) etwas gibt, Schauende und Spielende. Ich komme auf die kollektiven Gefühle zurück, diejenigen, die vor dem Impuls liegen, aufeinander einzuhacken oder recht zu behalten. Zorn, Enttäuschung, Trauer, Stolz, Scham – wir werden versuchen, sie noch genauer zu fokussieren und „multiperspektivisch“ aufzuschließen, sie teilbar zu machen. Das Theater in polarisierenden Kriegszeiten ist für uns ein Ort, sich mit Erinnerungskultur kritisch und sinnlich auseinanderzusetzen, als Arbeit an der Gegenwart. Wir haben zu wenig Wissen über Geschichte und stehen atemlos in der Meinungskakofonie, ob es um unser Verhältnis zu Russland oder um die blinden Flecken der Nachkriegszeit, um die Kontinuität von Antisemitismus und Rassismus geht, um Beispiele zu nennen, die wir künstlerisch kontinuierlich bearbeiten. Manchmal sind im Theater Zukunftsszenarien nicht darstellbar, sondern lediglich das tröstende Verstehen, wie wir in diese Gegenwart gekommen sind: Kunst als Speicher für Menschlichkeit, die sich nicht nur auf der einen Seite findet. Unter der Regie der jungen litauischen Künstlerin Kamilė Gudmonaitė versammelten wir als musikalisch-tänzerische Gratwanderung „Ха́та – Zuhause“ ukrainische und russische Menschen, die hier in München leben, streng voneinander getrennt in zwei Teilen einer Inszenierung. Die Spannung über den Abgrund war im Zuschauerraum genauso spürbar wie die Verbindungen, wenn beide Seiten über ihren individuellen Verlust von Menschlichkeit und Freiheit reden. Ist das alles zumutbar oder zu schwer, zu wenig hoffnungsvoll, zu wenig lustig oder gut verkäuflich? Die Bilder von morgen sind manchmal einfach, und es bedeutet viel, sie im Theater auch rauschhaft zu feiern: Im Ensembletanzstück „In Ordnung“ stellte die Choreografin Doris Uhlich eine Reihe aus 17 Personen der Größe nach an der Bühnenrampe auf: Der Kleinste war der Schauspieler Samuel Koch in seinem Rollstuhl, die größte Person war ein sehr groß gewachsener Schauspielstudent, dazwischen fand sich irgendwo das älteste Ensemblemitglied Walter Hess (84 Jahre), Ensemblespieler:innen mit Behinderungen, Spieler:innen unterschiedlicher Ethnien. Die Inszenierung bringt die Aufstellung nach Größe, diese (An-)Ordnung, immer hochtouriger durcheinander. Ein Schwarm Bühnentechniker:innen kommt dazu, Menschen und Bühnenbauten, alles gerät in eine atemberaubende Bewegung: Welches Bild ergeben wir zusammen? Nichts bleibt, wie es war. T

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost

Die „hohe“ Kunst, Freiheit und Sicherheit gegeneinander aufzubringen Von Tino Pfaff

Nach den Landtagswahlen und im Angesicht der aktuellen Regierungsbildung in Sachsen, Thüringen und Brandenburg laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser Serie meldet sich die Generation Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Endlich am Ziel: Ende November 1989 im Rathaus Salzgitter. Die Fahrt war lang. Bevor wir ankamen, luden uns ein paar Nonnen zum Essen in ihr Kloster ein. Nun sitze ich in einem Vorraum auf einer Bank, die Beine überschlagen. Um mir die Zeit zu vertreiben, tu ich so, als lese ich eine Westzeitung. Ich war gerade fünf Jahre alt. Meine Eltern standen an. Es gab Westgeld. Endlich! (Einige Tage vorher hatten wir es bereits versucht, doch der endlose Stau auf den Straßen zwang uns zur Umkehr. Alle wollten sie nach „drüben“, ihr Begrüßungsgeld abholen.) Wir übernachteten bei einer netten Familie, die Ankömmlinge beherbergte. Dafür bekamen sie Geld von der BRD. Am nächsten Tag setzten wir uns wieder in den Trabi und fuhren nach Hause. Das ist er also, der Westn? Weihnachten 1989: Ich bekam eine Carrera-Autobahn, wow! Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Mit zwei Autos, Kabel-Fernbedienungen und sogar mit einer Brücke. Das ist er also, der Westn? Karneval 1990: Wir waren bei Verwandten in Köln. (Irgendwer von denen war vor einigen Jahren in den Westen abgehauen.) Der Karnevalszug war endlos. Überall Menschen in Kostümen. ­Lachend. Tanzend. Spendabel. Unaufhörlich flogen Süßigkeiten und kleine Spielzeuge von den Wagen. Überwältigend! Später, wieder zu Hause, machten meine Eltern ein Foto von meiner Schwester, mir und dem riesigen Berg aus Süßigkeiten und Spielsachen. Das ist er also, der Westn? Mitte der Neunziger: Die westdeutschen Vermieter:innen ­teilten meinen Eltern mit, dass wir ausziehen müssen. Das Haus ­sollte renoviert werden. Das fühlte sich gar nicht gut an. Waren wir doch erst kurz nach dem Mauerfall umgezogen. Nach langem Hin und Her entschieden sich meine Eltern, der Aufforderung nachzukommen. Das Haus wurde nie renoviert und modert bis heute vor sich hin. Das ist er also, der Westn. Auch Mitte der Neunziger: Meine Mutter war gerade arbeitslos geworden. Zuvor war sie als Verkäuferin in einem Lebens­ mitteldiscounter tätig. Es war schwer, einen neuen Job zu finden. Keiner wollte sie gerecht bezahlen. „Verkaufen kann doch jede:r, da nehmen wir doch lieber die Ungelernten, die kosten nicht so viel“, war die Devise. Das ist er also, der Westn. Das war es also, dieses Freiheitsversprechen „ausm Westn“. Ab da gab es unendlich viel von allem, was das Haben-Wollen begehrt. Genauso aber auch unendlich viel Ausbeutung und Zerfall.

Foto privat

Wenn die Alten von früher erzählen

Sozialphilosoph, Publizist und Aktivist Tino Pfaff

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„Wir hatten ja kaum was.“ „Och, damals gings uns gud, ma hadden was ma brochten.“ „Nüscht konnste anstelln, ohne dass de Stasi abends vor dar Dür stand.“ „Och, den ganzen Gram hammer früher nich gebrocht.“ „Wir warn einer der Ersten, die nach‘m Westen sin un das Begrüßungsgeld geholt ham.“ Ja, was denn nun? Das Projekt Freiheit scheint für viele Ex-Ostdeutsche mindestens ambivalent, wenn nicht sogar gescheitert. Auf die Euphorie nach dem Mauerfall folgte schon wenige Jahre später Ernüch­ terung. Der Westen brachte im Antlitz von Freiheit vor allem Arbeitslosigkeit, Ausverkauf und Ungleichheit. Freiheit und Sicher­ heit wurden in vielerlei Hinsicht zu ausgemachten Feinden. Das DDR-Sicherheitsgefühl, das viele Ex-Ostler:innen heute plötzlich

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost vermissen, nährte sich aus Horizontbeschränkung und Angst­ mache. Die Sehnsucht nach Freiheit war entsprechend groß. Doch als sie dann erlebbar wurde, machten sich Überforderung und Orientierungslosigkeit breit. „Damals war alles besser“ und „in der DDR war ja nicht alles schlecht“ wurden zu Slogans ganzer Ex-Ost­generationen. Dies ist ebenso nachvollziehbar wie unsinnig. Nachvollziehbar, da das Versprechen des Westens eine neoliberale Scheinfreiheit ist, die Teilhabe verspricht, wenn man unaufhörlich leistet. Als wäre das nicht fatal genug, zeigte sich, dass dieses Versprechen nie für alle gelten kann. Höher, schneller, weiter und dann der Fall und das Ganze von vorne. Oder: gleich unten bleiben. Unsinnig, weil die DDR nun mal ein autoritärer Staat war, der sich durch Überwachung, Staatspropaganda und Repressionen aufrechterhielt. Eine Diktatur bleibt eine Diktatur. Für mich als Wendekind (kurz vor dem Mauerfall fünf Jahre geworden), vor allem aber Nachwendekind (im ersten Nach­ wendejahr eingeschult), waren die Neunziger eine turbulente Zeit. Lehrer:innen, die mit dem neuen Bildungssystem ohne Pro­ paganda­auftrag völlig überfordert schienen. Erwachsene, die keine Ahnung hatten, was in der Welt der Jugend los war. Unkontrollierbare Reizüberflutung mit Aufforderungen zum Konsum. Unzählige leerstehende Produktionsstätten, die es uns Jugendlichen ermöglichten, in eine Parallelwelt zu verschwinden. Ein Drogenmarkt, der unter dem Radar von Erwachsenen, Polizei und Pädago­ gik seinen Lauf nahm. Und, damit es nie langweilig wurde, ein sich rasant ausbreitender – hoch gewaltbereiter – Nazikult. Und was bekamen wir zu hören? „Beschwert euch nich, ihr habt doch alles, ma hatten damals nüscht.“ „Spritzt du dir au dieses Kiffzeuch?“ oder „Als wir jung waren, hammer noch rischtsch gespielt.“ Keine Orientierung von überforderten Erwachsenen zu bekommen, brachte eines mit sich: Die tatsächlich Orientierungslosen waren wir, die Post-Ost-Kinder.

Zurück in die Diktatur Wir haben es bei den Ex-Ossis mit Generationen zu tun, deren Kosmos durch eine Diktatur konstruiert und später mit Chaos überhäuft wurde. Statt Freiheit und Sicherheit zusammenzudenken, stehen sie in einem Entweder-oder-Verhältnis. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die teilsberechtigte Enttäuschung dazu führt, sich Altes zurückzuwünschen. Die Nostalgie an die Vertrautheit des beschränkten DDR-Alltags blüht auf, wenn altbekannte Spielarten auftauchen. Die neofaschistische AfD und das autoritär-kommunistische BSW wissen dies zu nutzen. Das von ihnen postulierte Freiheitsversprechen, sei nur mit exklusiver Sicherheit möglich. Diese Exklusivität schafft ein „Wir“ gegen „die Anderen“. Darin eingefasst ist die Markierung von Sündenböcken. Das sind einerseits die Regierenden „da oben“, die alle unter einer Decke stecken oder sogar zentral gesteuert werden. Anderer­seits irgendwer weiter unten. Hm, wen haben sie da wohl ausgewählt? Ach ja, Migrant:innen. Wo kann die Erzählung von den „bösen Anderen“ besser funktionieren als in einem Landesteil, in dem sich nicht wenige vor und nach der Wiedervereinigung abgehängt, ungleich und

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i­ rgendwie auch besetzt fühlen? Ergo weniger wert als die Wessis. Es ist makaber, der eigenen Aufwertung wegen werden Mit­menschen für alle (realen oder erfundenen) Missstände im Land verantwortlich gemacht. Das betrifft sowohl jene, die Ost- und Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit aufgebaut h ­ aben, als auch jene, die aktuell einwandern, um den Sozialstaat aufrechtzuerhalten, oder schlicht vor Krieg und Zerstörung fl ­ iehen, die wir zum Teil mitverantworten. Nach unten treten bringt auch keine Meter, oder? Doch! Wenn man fest genug tritt, dann vergrößert sich der Abstand, weil die anderen fallen. Es ist eine propagandistische Kunst, in einer komplexen Welt, vereinfachte Lösungen zu servieren. Wahrheit spielt dann keine tragende Rolle mehr. Das Konstrukt der feindseligen Koalition ist perfekt. Um dies endgültig zu verkomplizieren, hat man da noch „linksgrün-versiffte Woke“, die ebenfalls Kompliz:innen der Verschwörung sind. All das geschieht vor der Kulisse eines sozialökologischen Zusammenbruchs, dessen Wucht kaum mehr aufzuhalten ist. Und so vertreibt man sich lieber mit vielerlei Nonsens die Zeit, statt die echten Probleme der Gegenwart gemeinsam anzupacken. Was können wir Post-Ossis dagegen tun? Nichts!? Na ja, zumindest nicht viel. Wir können aufklären. Bei den Fakten bleiben. Oder uns aus dem Staub machen. Ich habe kaum Antworten. Obwohl, eine vielleicht doch: Wir können die Kritik an „denen da oben“ mit Wahrheit füllen, in der Hoffnung, dass es uns genügend gleichtun. Auf dass sie erkennen, auf welchen Abwegen sie sich befinden und – hoffentlich nicht zu spät – zur Besinnung kommen. Wir können die Machtverhältnisse in dieser kapitalistischen Demokratie aktiv verändern, indem wir Gemeinsinn und Gemeinschaftlichkeit als Maxime erklären. Auf die Praxis übertragen würde sich dies durch Akte der Vergesellschaftung verwirklichen lassen. „Die da oben“ hätten dann weniger Macht weiterhin unsere Bühne in Schutt und Asche zu legen. Die eigentlichen Ängste der Ex-Ossis, nämlich die Angst vor Anschluss- und Identitäts­verlust, könnten so – da bin ich überzeugt – entkräftet werden.

Was hat das alles mit Kunst und Theater zu tun? Es ist eine Kunst, die Lüge dem Fakt vorzuziehen, um sich des Wertig-Seins zu vergewissern. Um nicht zu denen ganz unten zu zählen und die Hoffnung aufrechtzuerhalten, irgendwann zu denen ganz oben zugehören. Diese Kunst ist längst zu einem ­desaströsen Theater geworden. Eine volle Bühne, auf der sich kaum noch an das Drehbuch gehalten wird. Das Bühnenbild spricht Bände: Die Vorhänge brennen, die Kulisse sieht aus, als wäre ein Tornado durchgerauscht. Die Prominenz auf der Bühne quatscht sinnfrei durcheinander, keiner blickt mehr durch. Und das Publikum? Das rennt panisch umher, reißt die Stühle aus den Verankerungen, zieht sich an den Haaren und haut sich die Köpfe ein. Doch niemand kommt auf die Idee, den Alarm auszulösen. Oder vielleicht doch? Was nur, wenn es „eine Woke“ ist? Wird dann jemand zuhören? T

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Theater der Zeit

Foto Bernd Schönberger

Report

„Franziska Linkerhand“ nach Brigitte Reimann, Regie und Bühnenbearbeitung von Johanna Wehner am Staatstheater Cottbus

Frankreich Nationaltheater im Krisenmodus Cottbus/Berlin Adaptionen von Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ Mecklenburg-Vorpommern Das kleine Ernst-Barlach-Theater in Güstrow erhielt den Theaterpreis des Bundes Ingolstadt Neustart am Stadttheater Nigeria Niedergang der Theaterszene Albanien Ein Showcase in Tirana Hamburg Fringify Festival

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Ende der Exception Culturelle Die französischen Nationaltheater arbeiten nur noch im Krisenmodus Von Eberhard Spreng

„La Mouette“ in der Regie von Stéphane Braunschweig am Théâtre de l’Odéon

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Tout Paris war im November ins Théatre de l’Odéon gekommen, um die Abschiedsinszenierung eines Theatermannes zu erleben, der das Haus seit 2016 sehr erfolgreich geführt hat. Stéphane Braunschweig inszeniert Tschechows „La Mouette“ (Die Möwe) als einen Abgesang auf Tschechows Welt der ländlichen Idyllen. Auf einem engen Streifen vor dem eisernen Vorhang spielen die ersten Szenen: das übliche Warmlaufen der Gelangweilten, der Künstler:innen und derer, die es gern werden würden, der Etablierten und des Nachwuchses. Eine Gesellschaft auf Landpartie, die sich herzlich auf die Nerven geht. Erst des jungen Treplevs avantgardistisches Stücklein öffnet den Bühnenraum. Dieser apokalyptische Monolog, den das genervte Gutshofspublikum unterbricht und über den es sich lustig macht, ist eine dystopische Zukunftsvision, die man in „Möwe“-Inszenierungen selten ernst nimmt. Sie ist dann immer nur Auslöser für Streit und Drama. Aber diese dramaturgische Nebensache macht Regisseur Stéphane Braunschweig nun zum Kern seiner Inszenierung. Der eiserne Vorhang geht also hoch und gibt den Blick frei auf eine große postapokalyptische Landschaft. In dieser „Möwe“ ist die Welt nach der Umweltkatastrophe wirklich schon verspielt. Das Reden über Kunst und Welt wird zum tristen Abgesang. Stéphane Braunschweig inszeniert eine pessimistische „Möwe“ als nicht durchgängig aufregendes Schauspielertheater, das das Publikum im Théâtre de l’Odéon mit freundlichem Applaus quittierte. Die Aufführung steht für das Ende einer Epoche. Vielleicht auch für das Ende der Exception Culturelle, dieser bevorzugten Position der Kultur in Frankreichs Politik auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Konkret droht das Ende einer gesicherten Mittelausstattung der Nationaltheater, zu denen das Odéon – Théâtre de l’Europe gehört. Der Finanzminister hat dem Kulturetat Kürzungen von über 200 Millionen Euro auferlegt. Die Kulturministerin Rachida Dati spart vor allem in Paris und davon sind insbesondere die Nationaltheater betroffen. Unter dieser Perspektive hatte der erfolgreiche Theaterleiter die Option einer Vertragsverlängerung ausgeschlagen. Nach Zahlung der Fixkosten bleibe kein Geld für die Kunst mehr, will sagen für neue Produktionen, so argumentierte Stéphane Braunschweig. In Frankreich können verdiente Theaterleiter nach dem Ausscheiden aus den Intendantenverträgen eine freie Compagnie gründen und dafür beim Kulturministerium Gelder beantragen. Dies tat Braunschweig rechtzeitig. So ist denn auch seine „Möwe“ nur durch solche zusätzlichen Mittel überhaupt zustande gekommen. Aus eigener Kraft hätte das Nationaltheater sie schon nicht mehr finanzieren können. Braunschweigs im letzen Jahr verkündeter Abgang erschütterte die Kulturszene und markiert den Wechsel aus dem Krisenmodus in eine schleichende Agonie. Schon seit Jahren hatte es keine Mittelerhöhungen zum Ausgleich der gestiegenen Energiekosten und Lohnanpassungen mehr gegeben, zu denen die Nationaltheater tarifvertraglich verpflichtet sind. Aus Rücklagen hat man den realen Rückgang der Subventionen vorübergehend ausgleichen können. Das ist nun vorbei.

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Fotos Simon Gosselin

Report Frankreich


Report Frankreich Modell Privattheater An einem weiteren Pariser Nationaltheater hat diese Notlage bereits seit dem Saisonstart zu einem kuriosen Spielplan geführt: Wajdi Mouawad spielt seit September drei Monate lang immer nur ein Stück: Sein „Racine carée du verbe être“, eine Autofiktion, in der er mit ungehemmter Fabulierlust autobiografische Varianten durchspielt: Was wäre geschehen, wenn er im Libanon als kleiner Junge während des Bürgerkriegs mit seinen Eltern 1978 nach Rom statt nach Paris geflogen wäre? Was für Perspektiven hätten sich eröffnet, wenn seine Familie in Beirut geblieben wäre? Der Autor, Regisseur und hier auch Schauspieler schafft sich ein Bündel von Alter Egos, mögliche Biografien eines Menschen, die bei jeder neuen zufälligen Abzweigung andere Richtungen genommen hätten. Er tut dies mit einem 15-köpfigen Ensemble und in 43 Figuren. Gerne folgt man allen erzählerischen Details in diesem biografischen Möglichkeitsraum und langweilig wird das auch nach Stunden nicht. Zu clever verknüpft der Autor die fiktiven Familiengeschichten. „Racine carrée du verbe être“ schreckt vor kaum einer der großen ethischen oder moralischen Daseinsfragen zurück. Es gibt in Europa kaum einen zweiten Theater­menschen, bei dem das gut geht. Mouawad entfesselt einen narrativen Zauber, dem das Publikum über sechs Stunden gerne folgt. Nur: Die Premiere war vor zwei Jahren. Neues ist im Théâtre National de la Colline auch in seinem zweiten Saal kaum zu sehen. Ein über Monate in Serie gespieltes Erfolgsstück als Cash Cow für prekär finanziertes Theater? Dieses Modell mussten Privattheater immer praktizieren. Es ist bei aller Übertreibung aber auch gar nicht so weit von dem entfernt, was der Kulturministerin für die Zukunft des französischen Theaters vorschwebt. In ihrer Studie „Mieux Produire Mieux Diffuser“ wird vor allem eine bessere Auswertung für die staatlich subventionierte Bühnenkunst gefordert. Eine Studie hatte herausgefunden, dass die Aufführungen der staatlich geförderten Theater mittlerweile im Schnitt an ihren verschiedenen Tourneespielorten nur 3,7 Mal aufgeführt werden. Außerdem müssen sich heute viel mehr Ko-Produzenten zusammenfinden, um eine Neuproduktionen überhaupt stemmen zu können. Waren es früher etwa fünf, sind z. B. bei Philippe Quesnes „Le Jardin des Délices“ (Der Garten der Lüste), der im November bei den Performing Arts Season in Berlin gastierte, 17.

Längere Laufzeiten Weniger produzieren, länger auswerten. Das bedeutet aber auch, dass die freien Compagnien, auf denen die Vielfalt der französischen Bühnenlandschaft beruht, anders subventioniert werden müssen. Denn bislang gilt deren Förderung der Gebietskörperschaften Staat, Region, Departement und Kommune neuen Projekten. Nun denkt man darüber nach, gegebenenfalls auch Neuaufnahmen als „Création“ zu bewerten. Schüttere knapp 10 Millionen Euro lässt sich die Kulturministerin das Projekt Neuordnung von Produktion und Vertrieb kosten. Die Szene bewertet dies als eher symbolisch und befürchtet für die Zukunft einen großen Verlust an Arbeitsmöglichkeiten im Bereich des Spectacle Vivant, des Theaters also.

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Während die Theaterszene mit einer Verschärfung der französischen Sparpolitik rechnet, hat das locker von September bis Dezember in den Kulturkalender gestreute Pariser Herbstfestival, das sich als Promoter innovativer Bühnenformen versteht, schon mal ein Genre besonders in den Fokus gerückt. Neben den in der Regel billigeren Performances sind dies vor allem autobiografisch eingefärbte Soli. Guy Cassiers (man sah bei den Berliner Festspielen z. B. seinen großen Proust-Zyklus) inszenierte Jean-René Lemoines „Face á la Mère“ als mit Lichttechnik und Bühnennebel aufgeplusterte Solomeditation im großen MC93. Das Théâtre de la Bastille zeigt mit „Cécile“ eine Szenensammlung aus dem

„Racine carrée du verbe être“ von Wajdi Mouawad in eigener Regie am Théâtre National de la Colline

bunten Leben der Aktivistin Cécile Laporte, die sie selbst über drei Stunden mit dem ganzen Charme-Repertoire einer Stand-upComedien performt. Auch der neue Leiter des Odéon – Théâtre de l’Europe, der Gesamtkunstwerker Julian Gosselin, will Performatives auf die Bühne des großen Nationaltheaters bringen. Die Nachfrage, ob das mit den knappen Mitteln zu begründen ist, verneinte er allerdings vehement. Und doch gilt: Der Leitungswechsel am Odéon markiert auch den Epochenwechsel, den das französische Theater derzeit durchmacht. T

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Report Cottbus, Berlin

Bauend scheitern Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“ in zwei konträren Auffassungen am Staatstheater Cottbus und am Berliner Maxim Gorki Theater Von Thomas Irmer

Susann Thiede und Christian Ehrich und „Franziska Linkerhand“ am Staatstheater Cottbus

Es ist schon erstaunlich, wie sich das Interesse an Brigitte Reimann in den letzten Jahren immer weiter gesteigert hat. Was genau dahinter steckt, ist schwer auszuloten, denn die von ihr beschriebenen Lebenswelten erscheinen heute aus einer fernen, vergangenen Zeit. Die Zahl der postumen Veröffentlichungen übersteigt mittlerweile die der zu Lebzeiten (1933–73) erschienenen Werke Reimanns. Die Biografie des Literaturwissenschaftlers Carsten Gansel mit dem Titel „Ich bin so gierig nach Leben“ ergründet den Werdegang der Autorin, die Kontexte ihrer Erzählungen, Hörspiele und auch eines ungewöhnlichen Filmfeuilletons, dazu die Krankheitsgeschichte bis zu ihrem frühen Krebstod, aber diese Frage nach der heutigen Bedeutung Brigitte Reimanns wird auch auf diesen 700 Seiten nicht beantwortet. „Franziska Linkerhand“, die Geschichte einer jungen Architektin in den Mühlen der frühen DDR, bleibt als unbeendetes Hauptwerk der Autorin unbestritten und wird inzwischen – eher retrospektiv – als „Kultbuch“ gehandelt. Auch im Theater hat „Franziska Linkerhand“ schon eine ausgewachsene Biografie. Sie beginnt 1978, damals waren Roman-

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adaptionen noch etwas sehr Seltenes, in Schwerin mit Christoph Schroths Inszenierung einer von Bärbel Jaksch und Heiner Maaß geschriebenen Fassung. Vor fünf Jahren inszenierte Daniela Löffner das Buch am Deutschen Theater Berlin als Hauptakt zum Spielzeitmotto „30 nach 89“ und somit als Beitrag für eine vertiefende Auseinandersetzung mit der DDR – der Debattenpegel kochte da nicht auf 100 Grad. Die Inszenierung versuchte behutsam, die Figur der Franziska mit ihren Ansprüchen und Enttäuschungen ins Heute zu führen, griff aber mit ihrer karikaturartigen Darstellung der Verhältnisse und männlicher Vorgesetzten zu kurz. In Cottbus eröffnet Johanna Wehners sechsköpfiges Ensemble, am Bühnenrand aufgereiht, ziemlich überraschend und überrumpelnd mit Fragen ans Publikum: Was ist Glück? Wie willst du leben? Und mit wem? Bist du glücklich? Auf solch herausforderndes Fragen kommt natürlich nicht allzu viel aus dem Parkett, es ist eher die Ansage, auf welcher Themenebene es nachfolgend in den Roman hinein geht. Die Bühnenbearbeitung Wehners ist reichlich zwei Stunden lang und die ganze erste Hälfte gilt der Herkunft Franzis-

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Fotos links Bernd Schönberger, rechts Ute Langkafel MAIFOTO

Report Cottbus, Berlin kas ganz nach klassistischer Erforschung. Bürgerlich-kleinbürgerliches Elternhaus mit entsprechenden Kulturwerten in Nazizeit und Nachkrieg, vorgetragen im kollektiven Erzählmodus mit dem Aufblitzen einer kleinen Figurengestaltung hier und da. Praktisch als Riesenexposition für den zweiten Teil, in dem nun Franziska im Aufbau von Neustadt (das Cottbus nahe Hoyerswerda) das Ringen um jeden Zentimeter sozialer Wohnkultur erlebt. Die Bühne von Benjamin Schönecker zeigt einen kleinen Würfelbau, der in etwa so groß ist wie ein Gewächshaus im Schrebergarten, dazu ist der Boden mit kleinen Büscheln von Heidekraut bedeckt – das im Roman Franziska vom Geliebten Ben mitgebracht bekommt. Die offene Spiel- und Erzählweise gewinnt hier zwar deutlichere Konturen für die Figuren, aber allzu viel bleibt nur aus der Ferne angerissen. Susann Thiede hat als Frau Hellwig – mit ihrer im Alkoholismus endenden Biografie – einen wirklich beeindruckend bestürzenden Auftritt, und am Ende kommen auch die damaligen Tabuthemen Vergewaltigung und Selbstmord in den Schluchten sozialistischer Massensiedlungen zur Sprache. Aber dass Bauen, Architektur und urbanes Planen nicht nur ein Unterbringen von Arbeitern waren, sondern – wie in Reimanns Roman – auch eine Metapher für eine dann scheiternde Utopie vom besseren Leben, davon lässt die Inszenierung wenig erkennen und verstehen. Zum Schluss dann wieder die ins Publikum gegebenen Fragen nach dem Glück. Die Sache bleibt so klein und lilafarbgedimmt wie das Heidekraut. Einen ganz anderen Weg schlägt Sebastian Baumgarten am Maxim Gorki Theater ein. Hier senkt sich eine ganze WBS-70-Wand mit Türen und Fenstern der DDR-Neubauten für das Thema industriellen Wohnbauens aus dem Schnürboden, die der in New York geborene Architekt Sam Chermayeff für das Bühnenbild einsetzt, und es geht anders als in Cottbus unmittelbar zur Sache, wie sie über die Franziska-Figur und ihre Biografie weit hinausweist. Diese gibt es gleich in dreifacher Variation und Verkörperung von Katja Riemann, Maria Simon und Alexandra Sinelnikova. Die stehen am Bühnenrand und erzählen ihre Neustadt-Desillusionierung in geradezu anklagendem Stakkato und ähnlicher Kleidung aus Ringel­ shirt und blauen Hosen. Baumgarten will die somit abstrahierte Figur nicht in heutige Selbstverwirklichungs- und Glücksdiskurse bringen, sondern ihm geht es um die Kritik der Architekturmoderne, in der Linkerhand in Hoyerswerda ja praktisch nur als Episode gelten kann und der WBS 70 Teil einer weltweiten Problematik ist. Dementsprechend taucht Le Corbusiers Manifest der „Carta von Athen“ (1930) an den Seitenflächen der Bühne einmal auf und – offenbar aus Audio und Video mit KI manipuliert, aber toll gefunden vom Videokünstler Chris Kondek – ein Statement des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, der im Regenwald eine ganze neue Hauptstadt für sein Land entwarf. Die ersten Bewohner:innen von Brasilia fanden es zunächst befremdlich, dann aber sehr gut, und das ist zumindest eine das Thema aufbrechende Parallelerzählung zur Geschichte von Brigitte Reimanns Neustadt, die in dieser Inszenierung nicht mit der Selbstmordproblematik in „seelenlosen Fernsehhöllen“ (Reimann) endet, sondern mit Einspielungen von den Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, als der Abstieg der einstigen DDR-Planstadt unausweichlich schien und darin ein noch einmal anderes Sozialverhalten hervorbrachte.

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Beide Inszenierungen können – und vielleicht wollen – dem Roman kaum entsprechen und machen doch etwas verschieden Interessantes daraus.

Beide Inszenierungen können – und vielleicht wollen – dem Roman kaum entsprechen und machen doch etwas verschieden Interessantes daraus. Hätte Brigitte Reimann, die ja mit dem DDR-Großarchitekten Hermann Henselmann viel im Gespräch war, aus der DDR ausbrechen und mit Oscar Niemeyer sich unterhalten können, hätte sie vielleicht für ihren Roman ein Ende gefunden, zumindest für eine noch mehr einleuchtend kritische Verschränkung von Architektur und Gesellschaft. So muss alles, auch bei den Theaterversuchen, am Ende immer offen bleiben. T

„Linkerhand“ nach dem Roman „Franziska Linkerhand“ am Maxim Gorki Theater, Fassung Sebastian Baumgarten und Holger Kuhla, Regie Sebastian Baumgarten

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Report Güstrow

Stolz der Bürger:innen Der Theaterpreis des Bundes und 100.000 Spenden-Euro für das Ernst-Barlach-Theater im mecklenburgischen Güstrow Von Juliane Voigt Das älteste Bürgertheater Mecklenburg-Vorpommerns in Güstrow

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älteren Leute, wer sich jetzt auf den Weg macht mit den Jacken die Treppe runter.“ Eine Sanierung ist zwar schon lange fällig, sagt sie, aber der Landkreis Rostock hat diese noch nicht in Aussicht gestellt. Daran aber könnte sich bald etwas ändern. Denn Rückenwind kam jüngst aus Berlin. Mit dem Theaterpreis des Bundes und 100.000 Euro Preisgeld. In der Kategorie „Privattheater und Gastspielhäuser“ hat die Jury das Theater ausgezeichnet. Mehrmals in der Woche und an den Wochenenden gibt es Konzerte, Theater, auch niederdeutsche Stücke, Musical, Oper, Kindertheater, Puppenspiel oder Kabarett. Durch alle Altersgruppen hindurch sorge das für hohe Besucherzahlen. Auch die Vermittlungsangebote, Stückeinführungen, ­Publikumsgespräche, Lehrerstammtische und Workshops wurden gelobt. Was die Jury aber überzeugt habe, seien neue Koopera­ tionen mit der Freien Szene im Bereich zeitgenössischer Tanz und Zirkus. Heißt es in der Begründung.

Bürgerschaftliches Engagement Johanna Sandberg findet das fabelhaft. 100.000 Euro! Eingeplant hat sie die für eine Bürgerbühne. Bis jetzt wird der Theaterbetrieb von ihr und drei Mitarbeiter:innen (darunter einem Mann) getragen. Jetzt soll eine fünfte Stelle dazukommen. Für Theaterpädagogik. „Es gibt hier ja kein festes Ensemble, wir sind ein Gastspieltheater. Deshalb finde ich es wichtig, dass die Güstrower:innen die Bühne auch als ihre begreifen. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, unabhängig von ihrer Herkunft oder sozialem Hintergrund sollen hier selbst Theater spielen können“, sagt sie. Einmal im Jahr könnte so vielleicht eine eigene Produktion entstehen. Sie verlässt sich auf die Theaterbegeisterung der Güstrower:innen. Die hat sie nämlich kennengelernt. Johanna Sandberg ist aus der Nähe von Göttingen nach ­Güstrow gezogen. Hat mit dem Theater die Corona-Schließungen überstanden und mit vielen Ideen auch selbst dafür gesorgt, dass das Theater wieder Teil der Stadtöffentlichkeit geworden ist. Mit dem Bundes-Förderprogramm „Tanzland“ hat sie über eine Koope-

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Fotos Steffen Goitzsche

Amerika will es also wirklich noch mal wissen mit diesem Präsidenten. In Deutschland will der Chef der Grünen Partei an die Macht, an der „kabbeligen“ Ostsee herrscht Nebel, in Güstrow wird ein neuer Bürgermeister gewählt und im Theater mit großem Orchester „Don Quixote“ von Richard Strauss aufgeführt – am Cello ein Weltstar: David Geringas. So hätte Uwe Johnson vielleicht diesen Tag dokumentiert. Und am Ende seine mecklenburgische Heldin auf die Fähre gesetzt, mit der New York Times unterm Arm, vorbei an der Freiheitsstatue, die den Kopf gerade ein bisschen hängen lässt. In New York hat Johnson ein paar Jahre gelebt und mit den Jahrestagen einen Weltbestseller gelandet. Der Mittelpunkt seiner Welt als Jugendlicher aber war bis zu seinem Abitur 1952 die Kleinstadt Güstrow in Mecklenburg. Es gibt keine Auskünfte darüber, doch man kann davon ausgehen, dass er als Jugendlicher dort auch im Theater war. Noch im Mai 1945 war in dem kleinen klassizistischen Schauspielhaus nämlich der erste Vorhang wieder hochgezogen worden. Als erstes Theater weit und breit überhaupt, sagt Johanna Sandberg, seit drei Jahren hier Intendantin. Die Güstrower:innen, sagt sie, lieben ihr Theater, das seit 1957 Ernst-Barlach-Theater heißt – nach dem anderen berühmten Sohn der Stadt, der damals populärer war als der später abtrünnige Schriftsteller. Ein Ensemble gibt es seit 1963 nicht mehr, es wurde ein Gastspieltheater. Aber Güstrow hat eine lange Theatertradition. 1828 war es mittels Bürgergeld, was damals noch eine andere Bedeutung hatte als heute, gebaut worden. Inspiriert vom Weimarer Klassizismus – mit Schaufassade zum Schloss. Mit der Sanierung 1957 zog wie in vielen Theatern in der DDR der Schick der Leipziger Oper ein, mit den üblichen Holzvertäfelungen, schlichtem Messingzierrat und dunkelroten Stuhlpolstern. Seitdem gibt es auch das prächtige untere Foyer mit einem Boden aus dunklem Marmor und einem raffinierten Treppensystem. Das ist denn auch schon eines der Hauptprobleme, die ­Johanna Sandberg umtreiben. Das Haus ist nicht barrierefrei. Im Untergeschoss sind die Garderoben und das Theaterbüffet, mit Prosecco und Theaterbrezel. „Da überlegen sie dann oben, die


Report Güstrow 100.000 Euro kamen aus einer richtig groß angelegten Spendenaktion für eine neue Theaterbestuhlung zusammen.

ration mit der Tanzkompagnie Neustrelitz, der circus-dance-Kompanie overhead projekt Köln und dem Stadttheater Herford zeitgenössischen Tanz nach Güstrow geholt, mit Publikumsgesprächen und Filmbegleitprogramm. „Ich habe in den letzten zehn Jahren davor in einer Konzertagentur gearbeitet, Tanz war für mich auch neu. Und das hat mich dann eben genau deshalb interessiert.“ Die studierte Theaterwissenschaftlerin hat auch ein Schauspielabo eingeführt. Lädt freie Theatergruppen ein, aber auch Tourneetheater, wie das Harztheater oder das Theater der Altmark Stendal, übernimmt selbst die Stückeinführungen, stellt unterschiedliche Regie­ handschriften vor. „Es kann schon passieren, dass mich beim Gemüsehändler jemand anspricht und irgendwas nicht verstanden hat, was er auf der Bühne gesehen hat“, sagt Sandberg, die seit drei Jahren gern in Güstrow lebt und bei jeder Aufführung im Zuschauerraum sitzt. Leute begrüßt, einen kurzen Draht hat zu vielen, ohne die das Theater nicht das wäre, was es heute ist. Vor fast 200 Jahren haben Güstrower Bürger:innen das Theater mit Spenden gebaut. Es ist deshalb das älteste Bürgertheater in Mecklenburg-Vorpommern. Bis heute gehört das bürgerschaftliche Engagement aber offensichtlich zum guten Ton in der Stadt. Heidemarie Beyer ist Vorsitzende des Theater-Fördervereins. Sie hat Johanna Sandberg vor Kurzem 100.000 Euro Spendengelder überreicht. Eigentlich sorgt der Förderverein dafür, dass Schüler:innen der umliegenden Dörfer und Städte regelmäßig mit Bussen ins Theater gefahren werden können, der Verein finanziert die Busse. Oder dass Güstrower:innen gemeinsam in umliegende Theater fahren, jährlich wird eine Theaterfahrt organisiert. Aber die 100.000 Euro kamen aus einer richtig groß angelegten Spendenaktion für eine neue Theaterbestuhlung zusammen. „Denn die sahen wirklich schlimm aus, das ging nicht mehr“, erinnert sich die 75-Jährige an das Elend. Das wäre zwar Sache des Landkreises gewesen, aber darauf warten wollte keiner mehr. „Wir wollten einfach etwas tun.“ Für 250 Euro konnten Stuhlpat:innen sich also, das war die Idee, einen Klappsitz mit Namensplakette sichern. Und die waren prompt weg. „Auch als wir das Geld schon zusammen hatten,

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­ amen immer noch Leute, die einen Stuhl mit ihrem Namen haben k wollten.“ So Beyer. Die 365 roten Klappsessel waren von 1988. ­„Irgendjemand wusste dann plötzlich, welche Firma die damals in der DDR produziert hat“, sagt Johanna Sandberg. „Und siehe da: Die gab’s noch! Deshalb konnten die Sitze alle aufgearbeitet werden, wurden neu bezogen und aufgepolstert.“ Das Geld reichte sogar, um das Parkett abzuziehen und neu zu versiegeln. Mit insgesamt 12 Millionen Euro jedoch ist die Gesamtsanierung des Hauses veranschlagt. Der Landkreis Rostock müsste aktiv werden. Es geht um Abriss und Neubau eines Nebengebäudes, um energetische Sanierung, Barrierefreiheit und die Sanitäranlagen. Weggucken kann Rostock jetzt allerdings nicht mehr. Die Spendenaktion hat für große Aufmerksamkeit gesorgt. Gerade haben die Güstrower Stadtvertreter:innen auch einen zeitweiligen Ausschuss zur Sicherung des Theaters gegründet, von dem aus sie schnell agieren oder Fördergelder beantragen können. Das deutlichste Signal aber, dass Güstrow sein Theater dringend braucht, ist der Theaterpreis. Mit dem die Bürger:innen eine Bühne bekommen. In vier Jahren wird das Theater 200 Jahre alt. Die theaterbegeisterten ­Güstrower:innen würden spätestens dann das Haus gern richtig neu eröffnen. Und wie man sich jetzt schon denken kann – mit einer eigenen Jubiläumsinszenierung. T

Johanna Sandberg leitet das Ernst-Barlach-Theater

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Péter Polgár als Claudius in „Hamlet“ in der Regie von Christoph Mehler, Bühne und Kostüme Jennifer Hörr, am Stadttheater Ingolstadt

Coffee to stay Mit dem Neustart will das Stadttheater Ingolstadt am Puls der Stadtgesellschaft fühlen und erfindet dafür eine Stadtdramaturgin Von Christoph Leibold

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Sicher, man hätte auch mit „Hamlet“ anfangen können. Aber Oliver Brunner hat sich für eine andere Setzung entschieden. Zur Eröffnung seiner Intendanz am Stadttheater Ingolstadt inszenierte Oberspielleiterin Mirja Biel, ebenfalls neu am Haus, „Opening Night“ nach dem gleichnamigen Film von John Cassavetes. Im Zentrum: Myrtle Gordon, einstmals gefeierte Schauspielerin, die – nunmehr mittleren Alters – nur noch Klischeerollen angeboten bekommt: frustrierte Frauen, die sich allein über die Beziehungen zu Männern oder ihren Kindern definieren. Aus Protest sabotiert Myrtle die Proben des Stückes, in dem sie aktuell besetzt ist. Dorothea Arnold spielt das mit der Widerständigkeit einer Frau, die nicht sicher ist, wie es weitergehen soll im Leben, nur eins steht für sie fest: so wie jetzt ganz bestimmt nicht! Biel inszeniert die Geschichte souverän als Theater im Theater – mit dem Publikum verteilt auf zwei gegenüberliegenden Seiten des Geschehens, wobei die eine Hälfte der Zuschauenden auf die Bühne auf der Bühne schaut, die andere in deren Backstage­ bereich. Die Kulissen werden immer wieder gedreht, die Perspektiven damit geswitcht. Videoprojektionen ergänzen das Ganze um Einblicke in die Garderobe und Traumsequenzen. Anders als im Stück, das Myrtle spielt und das überkommene Geschlechterbilder reproduziert, geht es bei Cassavetes um deren Dekonstruktion. Indem Biel die Grenzen zwischen den Handlungsebenen verschwimmen lässt, erschüttert sie zudem die Gewissheiten: Was ist Fiktion, was Realität? Ein faszinierendes, schillerndes Vexierspiel und im Gegensatz zur desaströsen Opening Night, die dem Abend den Titel gibt, eine gelungene Premiere, die erste starke Argument lieferte, in Ingolstadt weiterhin ins Theater zu gehen. Um außerdem all jene zu erreichen, die sich selbst davon nicht verführen lassen, geht das Theater unter Oliver Brunner aber auch den umgekehrten Weg: hinaus in die Stadt. Mit „Bodies in Urban Spaces“ z. B., einem vom Wiener Choreografen Willi Dorner eingerichteten Parcours, auf dem einem durch die Stadt spazierenden Publikumstross lebendige, oft skurrile Standbilder begegnen: zwei Performer, die sich unter eine Parkbank gezwängt haben, die Körper eingeklappt wie Schweizer Taschenmesser; ein ganzes Knäuel aus Menschen, das einen Türrahmen ausfüllt; oder ein einzelner Mann, einen Meter über dem Boden kopfüber eingeklemmt zwischen einem Verkehrsschild und einer Wand. Die Akteure – allesamt sport- oder theaterbegeisterte Amateure aus Ingolstadt, die sich über ein Casting beworben haben – setzen das Publikum buchstäblich in Bewegung. Körperlich. Und zugleich im Kopf. Weil sie die altvertraute städtische Umgebung mit neuem Blick erlebbar machen. Der fällt nebenbei auf unzählige Plakate, mit denen das Theater die Stadt bespielt. Aber nicht, um Aufführungen zu bewerben. Stattdessen: Grußbotschaften in 23 verschiedenen Sprachen. Jede und jeder soll sich willkommen fühlen im Theater, unabhängig von der kulturellen Herkunft, aber auch von Alter, Klasse oder Geschlecht. Deswegen hat Oliver Brunner auch die Position einer Stadtdramaturgin neu geschaffen. Lisa Schacher wird u. a. regelmäßig mit einem „Coffee to stay“Wägelchen unterwegs sein. Das Angebot: Kaffeeklatsch. Ins-Gespräch kommen. Über Gott und die Welt. Und klar, auch über Theater. Letzteres muss aber nicht sein.

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Fotos links Germaine Nassal, rechts Hannes Rohrer

Report Ingolstadt


Report Ingolstadt Brunner geht es vor allem darum, „Vertrauen aufzubauen“, und das funktioniere eben nur, „wenn man sich die Zeit nimmt, miteinander einen Kaffee zu trinken.“ Für ihn steht fest, dass sich „über die Kanäle, die wir kennen“ (Plakate, Flyer, Internetauftritt) „nur die üblichen Verdächtigen erreichen lassen“. Um den Puls der Stadtgesellschaft besser zu fühlen, soll Stadtdramaturgin Schacher eine Gruppe von „Critical Friends“ aufbauen. Menschen aus verschiedensten, vor allem theaterfernen Communitys, die die Arbeit von Brunners Team, „bewusst bespiegeln“, sich also beispielsweise Vorstellungen ansehen, um anschließend zu beschreiben, was ihnen gefällt, aber auch was fehlt, also „was aus ihrer Sicht nicht oder möglichweise sogar falsch erzählt wird“. Denn: „Das Theater ist ein lernender Organismus, und es ist toll, wenn wir in diesem Prozess Feedback bekommen“. So könnten die kritischen Theaterfreund:innen auch zu Impulsgeber:innen für den Spielplan werden – damit am Ende nicht zu viel Kanon à la „Hamlet“ darauf landet.

Interkulturelle Empathie Den darf es freilich trotzdem weiterhin geben in Ingolstadt. Und es gab ihn auch im Eröffnungspremierenreigen. Aber eben nicht als Big Bang am ersten Abend, sondern erst zwei Wochen später, in Szene gesetzt von Christoph Mehler. Dessen Regiearbeiten knallen in der Regel auch so. Mehler ist ein versierter Dramenverdichter. Das hat er in Ingolstadt bereits unter Vorgängerintendant Knut Weber bewiesen, mit einem 90-Minuten-Tschechow („Drei Schwestern“). Seine Klassikerkondensate erzeugen mitunter einen Druck, der sich im Idealfall mit Wumms entlädt. Big Bang eben. Im ungünstigeren Fall werden Stoff und Figuren in ein Schema gepresst, das sie eindimensional erschienen lässt. So leider auch hier, wo Anabel Möbius in der Titelrolle die meiste Zeit mittig auf einer düster-kargen Schräge steht: ein kleiner (Dänen-)Prinz auf dem Planeten der Finsternis, stets kurz vor der Hyperventilation. Hamlet als Zitterer statt Zauderer. Während in der Bühnenmusik immerhin Facetten der Endzeitstimmung anklingen, kennt Möbius’ Hamlet schnaufend und schotternd nur eine Tonlage: den Jammerton Ohhh. So verpufft die Spannung, der große Knall(er) bleibt aus. Dass Hamlet mit einer Frau besetzt ist, scheint hier übrigens weniger als feministisches Statement zu verstehen sein, eher als Absage an die Konvention des Kanons, universelle Menschheitsthemen vorzugsweise am Beispiel (weißer) Männer zu verhandeln. Für Intendant Oliver Brunner wäre es sowieso das Ziel, dass irgendwann alle alles spielen können und auf der Bühne class, race und gender egal werden. Auf dem nach wie vor weiten Weg dorthin kann es indes nicht schaden, Stücke anzusetzen, denen Identität nicht egal ist, sondern die sie offensiv thematisieren, um ein Bewusstsein für die damit verbundenen Herausforderungen zu schaffen. So ein Stück ist „Istanbul“, das mithilfe von Songs der Königin des türkischen Pops Sezen Aksu die Geschichte eines sogenannten Gastarbeiters erzählt. Der so simple wie wirkungsvolle Kniff des gut gelaunten Liederabends: Er dreht den Spieß einfach um. Klaus kommt 1961 auf der Suche nach Arbeit durch ein Anwerbeabkommen an den Bosporus, lässt

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zunächst Frau und Kind zurück in Deutschland, fühlt sich erst einsam in der Fremde, holt später die Familie nach, wird schließlich doch heimisch. Ein Abend, der Klischees auf den Kopf stellt und auf Anhieb ein Publikum angezogen hat, in dem auch die türkischstämmige Community der Stadt sichtbar vertreten ist. Die Inszenierung von Aslı Kışlal punktet mit bestechendem Tempo und Timing – dank einer Liveband, die Aksus Ethnopop­ kracher als mitreißende Türken-Disco unplugged interpretiert. Und dank eines gemischten Ensembles aus Deutschen und (Deutsch-) Türken, das ebenso lustvoll mit Stereotypen jongliert, wie es hingebungsvoll die Schmerzpunkte von Gastarbeiterschicksalen aufsucht. Ralf Lichtenberg als Klaus und Sarah Horak als dessen Ehefrau Luise haben dazu extra ein wenig Türkisch gelernt, um die Hits in der Originalsprache zu singen. „Ist das nicht kulturelle Aneignung?“, unterbricht sich Lichtenberg einmal, als er gerade eines der Lieder schmettert. Nun, sollte das zutreffen, dann bitte unbedingt mehr davon! Weil es hier bedeutet, sich die Sorgen und Sehnsüchte von Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu eigen zu machen. Im Theater nennt man das: mitfühlen. Die Bühne als Schule interkultureller Empathie? Es wäre gewiss nicht das Schlechteste, was ein Stadttheater leisten kann. T

Szenen aus „Opening Night“ von John Cassavetes – Regie Mirja Biel, Bühne Matthias Nebel, Kostüme Carolin Schogs

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Report Nigeria

Drohender Blackout Die früher als Kulturmotor Afrikas blühende Theaterszene Nigerias ist im Niedergang Von Joshua Alabi

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Nigerias Theaterlandschaft stand immer für kulturelle Ausdruckskraft und politischen Diskurs. Nun läuft sie Gefahr, in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Der ehemals maßgebliche, ja strahlende Bestandteil der nigerianischen Kulturlandschaft sieht sich mittlerweile belastet von zahlreichen Widrigkeiten. Dennoch gibt eine kleine, aber entschlossene Gemeinschaft von Theaterschaffenden nicht auf und kämpft hartnäckig weiter für das Fortbe­ stehen dieser lebendigen Kunstgattung. Mit diesem Artikel möchte ich die vielseitigen Probleme beleuchten, die das Theater und die Darstellenden Künste Nigerias im Allgemeinen bedrohen: mangelnde strukturelle Unterstützung seitens der Regierung, politische Instabilität, Inflation und ökonomischer Niedergang, hohe Abwanderung, schlechtes Marketing sowie der Einfluss von Film, TV und Technologie. Außerdem betone ich hier die Widerstands- und Innovationskraft ihrer Künstler:innen und einer neuen Generation, die allen Problemen zum Trotz Veränderungen bewirken.

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Fotos Blessing Okunlola

Die Produktion „Waterside” von Joshua Alabi


Report Nigeria Während der Pandemie, als weltweit die Theater ihre Pforten geschlossen hatten, habe ich gemeinsam mit meiner Firma Kininso Koncepts nach Möglichkeiten gesucht, wie wir weiterarbeiten können. Von den Techniken, die wir uns damals angeeignet haben, profitieren wir heute noch. Vor allem habe ich auf Zusammenarbeit und Unternehmergeist gesetzt, und beim Kampf gegen die Hindernisse, denen sich die Branche gegenübersieht, kann beides nicht hoch genug geschätzt werden. Ob mithilfe digitaler Innovation, des Laientheaters oder internationaler Partnerschaften – immer ist es mir gelungen, mich anzupassen und zu überleben. Während des COVID-Lockdowns hat Kininso seine Vorstellungen online gezeigt. So haben wir z. B. für unser innovatives Projekt „Home Theatre“ Ausschnitte aus Stücken in qualitativ hochwertigen Formaten aufgenommen und über das Internet übertragen. Das war zwar keineswegs ideales Theater, doch die Kunst blieb am Leben, und vor allem hat es den Leuten gefallen. In „Telephone Whispers“ haben wir die Zuschauer:innen in unserer Datenbank angerufen und kurze Stücke über das Telefon gespielt. Zwar haben wir damit kein Geld verdient, aber der Gemeinschaftsgeist blieb lebendig, und in der Pandemie gab es etwas zu lachen. Diese Arbeiten brachten einen Lichtblick in die ansonsten ziemlich öde Landschaft, und wir konnten zeigen, dass wir alles daransetzten, damit die Show weiterging. Nach vielen Kämpfen konnte ich interessanterweise mit dem Romanprojekt „Dear Beloved Friend“ Erfolge erzielen, denn es wurde – mithilfe unseres niederländischen Partners Studio Dries Verhoeven – das erste Digital-/Mixed-Media-Projekt Afrikas.

Bis in die späten neunziger Jahre ging es den Darstellenden Künsten in Nigeria dank verschiedener Gruppen wie der des Nobelpreisträgers Wole Soyinka und anderen gut, sie genossen Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit.

Hause an, daraus ging schließlich auch Nollywood hervor. Der technische Fortschritt hat die Szene der Darstellenden Künste in Nigeria verändert. Könnte dies die Ablenkung gewesen sein, die zum Niedergang der Theaterbranche führte, oder war das vielmehr ein strategischer und heimlicher Plan der Regierung, um eine ­Branche zu schwächen, die für ihre politische Kritik bekannt war? Die einzige Branche, die Nigeria als Land in jeder Hinsicht bereichert und geformt hat, sind die Darstellenden Künste, und genau diese Branche wird von der Regierung konsequent ignoriert. Laut dem Theaterregisseur Kelvin Mary Ndukwe gleicht das Verhältnis zwischen Regierung und Theater „zwei parallelen Linien“ – sie haben keinerlei Berührung. Es gab einzelne Initiativen wie die des ehemaligen Gouverneurs Ambode des Bundesstaats Lagos, der sechs Theater baute. Keines davon wurde je in Betrieb genommen. Eines wurde 2020 während der EndSARS-Demonstrationen kurz nach dem COVID-Lockdown zerstört. Es liegt etwa 700 Meter von meinem Büro entfernt und ist trotz meiner unablässigen Forderung, die Leitung zu übernehmen, nicht in-

Theaterboom und Nollywood In Nigeria haben die Darstellenden Künste schon lange eine entscheidende Rolle für die öffentliche Meinungsbildung gespielt und Minderheiten eine Stimme gegeben. Die sich verändernde politische Landschaft und das schwindende Interesse unserer Regierung an Kunst und Kultur haben der Branche allerdings einen schweren Schlag versetzt. Zwar hat die Regierung noch nie Geld für Kunst etwa in Form von Stipendien oder Infrastruktur bereitgestellt, aber in jüngeren Jahren sind auch kleine Initiativen einzelner Sponsoren und Unterstützung von Unternehmen gänzlich verschwunden. Von den sechziger bis in die späten neunziger Jahre ging es den Darstellenden Künsten in Nigeria dank verschiedener Gruppen wie Hubert Ogunde, Duro Ladipo oder der des Nobelpreisträgers Wole Soyinka und anderen gut, sie genossen Glaubwürdigkeit, zahlreiches Publikum und Aufmerksamkeit. Diese Künstler haben das Theater für gesellschaftspolitischen Kommentar genutzt und dafür auch Elemente afrikanischer Kulturen genutzt. In ihren Arbeiten kombinierten sie eine Vielfalt aus Musik, Tanz, ­Poesie und Maskenspiel, die das African Total Theatre bildeten. Sie zeigten ihre Vorstellungen auch an unkonventionellen Orten und tourten mit Lastwagen und kleineren Fahrzeugen durch ­Nigeria, Westafrika und sogar Europa. Nach erfolgreichen Vorstellungen kündigten sie die nächsten an, zogen so nie gesehene Zuschauer­ mengen an und konnten Extravorstellungen spielen. Mit der aufkommenden Videofilmbranche schauten sich die Leute Filme zu

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Autor und Regisseur Joshua Alabi

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Report Nigeria aufmerksam gemacht, uns gegen Machtmissbrauch und Straffreiheit ausgesprochen, den Stummen eine Stimme gegeben und die Jugend zur Meinungsäußerung aufgefordert. Allen Einschränkungen zum Trotz stellen wir weiterhin die herrschenden Zustände infrage und drehen die Narrative um.

„Dear Beloved Friend“ von Studio Dries Verhoeven und Kininso Koncepts

stand gesetzt worden. Meine Bitten und Forderungen stießen auf taube Ohren, und vor Kurzem wurde das Oregun-Theater abgerissen, in Schutt verwandelt und ist für immer verschwunden. Darin zeigen sich alle aktuellen Schwierigkeiten, mit denen das nigerianische Theater zu kämpfen hat, namentlich politische Instabilität, fehlende nachhaltige Förderung und tief liegende Strukturprobleme. Die Demonstrationen von 2020 haben auch Geschäfte und Häuser beschädigt, aber allein das Theater wurde nicht wiederaufgebaut. Schließlich ist es nach Meinung einiger Regierungsbeamter bloß ein Ort, an dem Menschen ihr Leben lang herumspielen, ohne der Gesellschaft etwas Greifbares anzubieten. Im Übrigen wurde das Theaterhaus auch schon vor der Zerstörung versperrt und musste ungenutzt bleiben – ebenso wie die anderen fünf Theater. Der gesamten Theaterbranche fehlt es an Infrastruktur und politischer Unterstützung, insbesondere abseits der Großstädte stehen nur wenige Spielstätten zur Verfügung, die oft in miserablem Zustand sind. Die Regierung fördert lieber öffentliche Infrastrukturprojekte, die in den Medien gut aussehen, dann aber nicht weiterverfolgt werden. Theater jedoch bleiben geschlossen und stehen leer. Trotz dieser Schwierigkeiten finden wir einen Umgang mit der tückischen politischen Landschaft. Kininso Koncepts ist bekannt dafür, mithilfe von Metaphern und auf subtile Weise zentrale politische Probleme anzusprechen, ohne den Zorn der Behörden auf sich zu ziehen. Wir haben uns mit mutigen und provokativen Untertönen einen Namen und auf korrupte Systeme

Es geht darum, das Theater zu demokratisieren und in großem Stil zugänglich zu machen. 68

Nigerias ökonomische Probleme haben die Schwierigkeiten der Darstellenden Künste und der Theaterbranche noch intensiviert. Eine hohe Inflationsrate, zunehmende Arbeitslosigkeit und eine schwankende Währung treiben die Kosten für Theaterbesuche und -produktionen in die Höhe. Und seit Kurzem kommt noch der „talent drain“ hinzu, die Abwanderung junger Nigerianer:innen nach Europa und Amerika. Das alles hängt zusammen, denn in Ländern, in denen das ökonomische Ungleichgewicht zur Norm geworden ist, geht es dem Theater schlecht. Diese Branche trifft der Absturz zuerst. Für Arbeitslose oder Menschen mit geringem Einkommen ist es purer Luxus, sich ein Stück anzusehen. Ein heikles Gleichgewicht zwischen „mindshare“ – Theater soll bei Unterhaltung erste Wahl sein – und „pocket share“ – wie viel will und kann man dafür ausgeben. Es wirkt geradezu taktlos, Menschen, die in anderen, existenziellen Bereichen kaum über die Runden kommen, zum Kauf von Theaterkarten überreden zu wollen. Die Inflation hat die Produktionskosten um mindestens 110 Prozent aufgeblasen. Das einzige Nationaltheater ist eine Baustelle (und kann seit zehn Jahren nicht bespielt werden), und das einzige freie Theater spielt nur zu Ostern und Weihnachten – und dann nur kommerzielle Musicals. Andere bespielbare Theaterräume gibt es in Nigeria nicht. Die Glover Memorial Hall in Lagos, ein ehemals britisches Gebäude, das kürzlich renoviert wurde, kann man zwar mieten, jedoch ist es für Theatergruppen nicht attraktiv. Trotz seiner sehr guten Lage und der Renovierung kommen kaum Zuschauer:innen, wahrscheinlich wegen der hohen Mieten und der schlechten Bedingungen. Demzufolge müssen viele Produzenten alternative Spielstätten suchen. Ich verfolge die Strategie, ungewöhnliche Spielstätten auszuprobieren, so dass ich jetzt Experte für Arbeiten an speziellen Orten oder für die Suche nach den unmöglichsten Spielorten für meine Inszenierungen bin. Mich freut, dass inzwischen viele diese Möglichkeiten ausprobieren, die ich seit Jahren propagiere. Wer gesponsert wird, mietet teure Spielstätten, aber auch die sind nicht immer optimal, man hat mit schlechter Akustik, mangelnden Parkplätzen oder hohen Kosten zu kämpfen. Viele Gruppen sparen daher am Wesentlichsten, verkleinern die Besetzung oder machen Kompromisse bei der Produktionsqualität. Einige Gruppen haben sich angesichts der allzu schwierigen Bedingungen in der Theaterbranche endgültig aufgelöst. Die Kartenverkäufe brechen ein, daher suchen viele Gruppen nach anderen Einnahmequellen, um sich über Wasser zu halten. Einige probieren es jetzt mit Freilufttheater. Meine Organisation konnte Gastspiele in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden etc. zeigen und hat Vorstellungen digital übertragen. Wir finanzieren unsere Produktionen zusätzlich mit Crowdfunding. Diese Methoden konnten zwar momentane Eng-

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Fotos links Blessing Okunlola, rechts Joshua Alabi

Finanzierung über Kredite


Report Nigeria

„Home Theatre“ von Joshua Alabi

pässe entspannen, sind aber keine langfristigen Lösungen. Außerdem muss man betonen, wie wichtig Privatvorstellungen, früher Vorverkauf und Sponsoren für das Überleben der Branche sind. Crowdfunding ist für Investoren ein Zeichen, dass die Theaterbranche finanziell in Not ist. Daher bleibt die langfristige Finanzierung ein Hauptproblem für die meisten Theatergruppen in Nigeria. Traditionelle Musik, Lokalsprachen, Tänze und Rituale sind Bestandteile der Produktionen. Wenn es mit der Branche weiter bergab geht, besteht auch die Gefahr, dass kulturelle Praktiken zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden. Nigeria droht, einen existenziellen Teil seiner kulturellen Identität zu verlieren. Traditionelles Erzählen, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde, ist zunehmend gefährdet, da immer weniger Produktionen auf die Bühne kommen und junge Menschen immer weniger Möglichkeiten haben, diese Kunst zu erlernen. Gerade in einem Land, das kulturell so vielfältig ist wie Nigeria und wo Theater eine so zentrale Rolle im Erhalt indigener Sprachen und kultureller Praktiken spielt, ist das besorgniserregend. Anstatt finanzielle Förderung zu erhalten, müssen Theatergruppen mittlerweile Kredite zu unhaltbaren Bedingungen annehmen, sodass sie von Schuldenlast und Bürokratie erdrückt werden. Allerdings ist die Branche nicht allein dadurch zu retten, dass regierungseigene Theatersäle für die Nutzung geöffnet werden. Letztlich muss mehr in Strukturen investiert werden, aber in

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einem Land, dessen Politik kein Interesse an Kultur hat, muss die Branche private Mittel eintreiben und Partnerschaften aufbauen können. Nur so könnten wir und andere Produzenten mehr Produktionen auf die Bühne bringen und mehr Publikum generieren, ohne von der aktuell drohenden Finanzlast erdrückt zu werden. Es geht darum, das Theater zu demokratisieren und in großem Stil zugänglich zu machen. Mit willigen Käufern und fähigen Anbietern kann Theater ein attraktives Produkt werden kann, sofern einerseits die Käufer über geeignete Räumlichkeiten verfügen und andererseits die Anbieter ebensolche Verträge, Förderungen, Zugang und Infrastruktur wie in anderen Branchen erhalten. Ist die mächtige Theaterbranche in Nigeria also noch zu retten? Die Antwort ist ja, aber nicht ohne eine kollektive Anstrengung, sonst gehen die Lichter aus. Schließlich gilt: The show must go on. T Aus dem Englischen von Henning Bochert Joshua Alabi ist Autor, Regisseur, Kreativberater und Produzent aus Lagos (Nigeria). Er ist der Gründer und Kreativdirektor von Kininso Koncepts Production. Seine Arbeiten legen einen Schwerpunkt auf sozial engagiertes Theater, Filmemachen und kulturelle Innovation. 2014 erhielt er den Mervin Stutter Award beim Edinburgh Festival Fringe (Vereinigtes Königreich). Beim KUSS-Festival 2023 gewann die Kininso-Produktion seines Stückes „Kolofu“ den dritten Preis.

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Report Albanien

Chai Latte für die Chefanklägerin Ein Showcase im albanischen Tirana verortet sich zwischen Tradition und Zukunft Von Lina Wölfel

Albanien, das kleine Land in Südosteuropa boomt. Allein in den letzten beiden Jahren wurden in der Hauptstadt Tirana zahlreiche Bauprojekte mit internationaler Förderung gestartet, der Tourismus floriert, verstärkt seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen 2022. Kein Wunder also, dass sich auch die Theaterszene des Balkanstaats einem internationalen Publikum präsentieren möchte. So findet der Kosovo-Albania-Theatre-Showcase, eine Art Leistungsschau des Theaters dieser Balkanregion, in diesem Jahr erstmalig in Tirana statt – und nicht, wie die Jahre zuvor im kosovarischen Pristina. „Die Mauern zwischen Ost und West, der Eiserne Vorhang an der ungarischen Grenze, die Berliner Mauer, die Mauer in Albanien sind gefallen, aber sind die Mauern in den Köpfen der Menschen auch gefallen?“, fragt Ema Andrea. Das albanische Theater ist nach Nordmazedonien die unterfinanzierteste Theaterszene Europas. Lange hat man versucht, mit dem Fernsehen mitzuhalten, das Publikum mit Komödienadaptionen und Unterhaltungsformaten überhaupt in die Theater zu locken. Theater als kommerzialisiertes Unterhaltungsmedium, das sich gut verkauft. Die Entwicklung dahingehend, Theater als Diskurs- und Verhandlungsinstanz zu begreifen, ist noch neu. Was auch am System an sich liegt: Altin Basha, Generalintendant des Albanischen Nationaltheaters, spricht mit dem Kulturminister Albaniens aktuell über einen Systemwechsel. „Die Theater funktionieren wie Inseln, sie sind nicht miteinander verbunden. Agieren solitär. Selbst innerhalb Albaniens gibt es kaum Gastspiele und Ko-Produktionen“, so Basha. Eine Freie Szene existiert nahezu nicht.

„The Internationals“ von Jeton Neziraj, Regie Aktina Stathaki, produziert von Mediterranean Performance Lab – Griechenland

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Gerade in diesem Sinne ist der Showcase ein historisches Ereignis. Eine Öffnung des albanischen Theaters für die Welt, „a gathering our generation dreamt of“, so Gjergj Prevazi, Leiter des National Experimental Theatres in Tirana. Tragbar ist diese Schau nur durch langjährige und kontinuierliche Arbeit mit internationalen Stiftungen und Kulturinstitutionen, wie z. B. Allianz Kultur oder dem Goethe Institut. „Wir sind auf diesen Austausch angewiesen. Dadurch dass wir lange so isoliert waren und es durch die finanzielle Situation immer noch sind, gibt es nur wenige Möglichkeiten sich weiterzuentwickeln“, stellt Jeton Neziraj fest. Nachdem der Dramatiker Neziraj jahrelang als künstlerischer Leiter des Nationaltheaters Kosovo tätig war, leitet er heute das von ihm gegründete Qendra Multimedia Zentrum in Pristina, das sich dem zeitgenössischen Theater widmet und den Showcase ausrichtet. In seinen Theaterstücken verwebt er popkulturelle Sujets mit einem kompromisslos zynischen Blick westlicher Betrachtungen und Interventionen auf dem Balkan und zählt damit zu jenen Autoren, die eine Brücke zwischen Unterhaltung und Diskurs setzen. In seinem Stück „The Internationals“, das in einer griechischen Inszenierung von Between the Seas: Mediterranean Performance Lab gezeigt wird, werden so die Bombardierung von Belgrad durch die NATO als Telefonat zwischen Mutter Teresa, Bill Clinton und Madeleine Albright erzählt, die immer noch abschätzige Haltung zentraleuropäischer Länder gegenüber dem Kosovo an einem

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Fotos links George Danopoulos, rechts Armend Nimani

Wahrheit statt Propaganda


Report Albanien

„Six Against Turkey“ von Jeton Neziraj, Regie Blerta Neziraj, produziert von Qendra Multimedia – Kosovo

­ anilla Chai Latte verhandelt, den die damalige Chefanklägerin V des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, Carla Del Ponte, in Pristina bei Starbucks bestellt und überrascht ist, dass er genauso schmeckt wie in Europa. Mit „The Internationals“ erzählt Neziraj kritisch von internationalen Organisationen, die nach dem Jugoslawienkrieg den Kosovo überschwemmt haben, und fragt sich, warum international mehr über Organhandel berichtet wird als über 15.000 Kriegstote. Das Gastspiel aus Griechenland ist ironisch, verspielt, witzig und pointiert, lokalisiert im Barraum des Tulla Culture Centers, und zählt damit zu den eher westlich geprägten Inszenierungen des Showcases. Von anderer Machart waren z. B. Produktionen wie „The Traitors Niche“ vom Kosovarischen Nationaltheater oder Gorkis „Vassa Zheleznova“ vom City Theatre of Korça in Albanien, denen man ihre Theatertradition zwischen osmanischen und rus-

Die Theater funktionieren wie Inseln, sie sind nicht miteinander verbunden. Agieren solitär. Selbst innerhalb Albaniens gibt es kaum Gastspiele und Ko-Produktionen. Theater der Zeit 12 / 2024

sischen Einflüssen durchaus ansieht. Auch wenn sie professionell erarbeitet sind, sind die Abende für ein westeuropäisches Publikum durchaus schwer zu rezipieren. Hier dominieren eine ausgestellte, übertriebene Spielweise, überspitzte Emotionen, archetypische Rollenanlagen und veraltete Geschlechterbilder. Grundlegend zeigen sich die eingeladenen Produktionen als ästhetische Collage von Versuchen. Es gibt neue Stoffe, es gibt neue Narrative, es wird mit diversen Ästhetiken experimentiert. Diese bleiben aber oft beim Experiment. Gleichzeitig fehlt es an kontinuierlichen finanziellen Ressourcen, um Versuche und Entwicklungen zu verstetigen. Während einer Podiumsdiskussion zur Theaterlandschaft im postkommunistischen Albanien meldet sich schließlich eine junge Studentin. In diesem Moment entpuppt sich die Debatte konkret als eine, welche auch die jüngere Generation emotional beschäftigt. Folgerichtig stellt sie die Frage, ab wann Machende, aber auch das Publikum überhaupt in der Lage sind, kritisch, distanziert und analytisch auf die kommunistische Herrschaft zu blicken. Und sieht genau darin die Aufgabe ihrer Generation: „It is so unfair to not have a truth, that isn’t touched by propaganda.“ Ganz klar: Theater ist da nicht genug. Das ist die Aufgabe der Politik. Aber Theater hat die Möglichkeit, Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern erfahrbar zu machen. Der Kosovo-AlbaniaTheatre-Showcase ist dafür mehr als ein wichtiger Anfang. T

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Report Hamburg

Hamburger Marathon Das internationale Fringify Festival behandelte Identitäten im Wandel Von Marcus Peter Tesch

Mit neuem Namen startete das Fringify – Independent Arts Festival Hamburg (vormals Hauptsache Frei Festival) in seine zehnte Ausgabe und setzt dabei ein klares Zeichen für die kulturelle Vielfalt der Stadtgesellschaft und einen internationalen Austausch. Unter der neuen Leitung von Ksenia Ravvina und Alexandar Hadjiev umfasste das Programm im vergangenen Sommer sowohl Beiträge aus Hamburg als auch überregionale und internationale Performances. Aus einer regionalen Leistungsschau wird damit eine Plattform für Künstler:innen, die innovative Impulse setzen. Sichtbar bleibt die hohe Qualität, in der die Hamburger Freie Szene trotz prekärer Förderstrukturen seit Jahren produziert – in einer Diversität und Formenvielfalt, die keinen internationalen Vergleich zu scheuen braucht. Als inhaltlicher Schwerpunkt ist ein Fokus auf Arbeiten erkennbar, die sich auf vielfältige Weise

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Die nächste Ausgabe von Fringify — Independent Arts Festival findet vom 5. bis zum 8. Juni 2025 statt. Der Open Call läuft bis zum 31. Dezember 2024. Mehr Infos unter www.fringify.hamburg.

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Foto Juha Hansen

Szene aus „The Garden Of Falling Sands“ von Yolanda Morales am LICHTHOF Theater

mit der Erzählung marginalisierter Gemeinschaften, Körper und Identitäten im Wandel auseinandersetzen. Eine der wohl eindrücklichsten Arbeiten war „The Garden of Falling Sands“ der in Hamburg lebenden, mexikanischen Choreografin Yolanda Morales im LICHTHOF Theater – eine virtuos gebaute Tanzshow in einem magisch-entrückten Raum. Dem technisch hochpräzisen sechsköpfigen Ensemble gelingt in diesem soghaften performativen Ritual das Kunststück, über kleinste Gesten einen mehrjährigen Rechercheprozess zum mexikanischen Cumbia-Colombiana-Tanz nachzuzeichnen – und damit Themen wie Ausgrenzung sozial Benachteiligter, Selbstermächtigung, race und Gender ganz selbstverständlich und fast beiläufig zu erzählen. Formal schlichter, aber ebenfalls eindringlich macht sich Mona Farivar im monsun.theater in ihrer Soloperformance „TIKKÉ TIKKÉ – PIECE TO PIECE“ an die Auseinandersetzung mit einer Lebensrealität zwischen zwei Sprach- und Gesellschaftssystemen: dem Iran, aus dem ihre Eltern stammen, und einem Deutschland, in dem Körpernormative von einer weißen Dominanzgesellschaft definiert werden. Identität ist hier ein umkämpfter, schutzbedürftiger Begriff, der gegen Anfeindung und Rassismus verteidigt werden muss. Im berührenden Solo „Still Dying Swan“ arbeitet Amancio Gonzalez, langjähriger Tänzer der Frankfurter Forsythe Company, sein lebenslanges Streben nach tänzerischer Perfektion und das fortwährende Scheitern an körperlichen Grenzen auf. In einer für das Fringify Festival konzipierten Version wird seine Performance um einen Prolog erweitert: ein Gespräch zwischen Gonzalez und der Berliner Dramaturgin Dandan Liu, in dem ungeschönt jene Themen verhandelt werden, die es nur allzu selten auf die Bühne schaffen. Gerade in der Unsicherheit und Fragilität dieses Gesprächs über das Ende einer Karriere und das Altern als Tänzer wird eine transgenerationale Verbundenheit zwischen Liu und Gonzales spürbar, die zutiefst anrührt. Bei Nolundi Tschudis saukomischem und hintersinnigem „Tanz der tausend Würste“ in der Superbude St. Pauli bleibt dem Publikum immer wieder das Lachen im Mund stecken. Irgendwo zwischen politischer Varieténummer und Rauminstallation beschwört sie als Hyperqueen in einem Bühnenbild aus, ja, 1000 handgenähten Stoffwürsten, monologisch ein Individuum im Spannungsfeld zwischen Massenbewegungen, andauerndem Rechtsruck und autoritären Sehnsüchten. Ein kluger Text, der viel Raum für Interaktion mit dem Publikum lässt. Generell fiel auf, wie die Besucher:innen über die fünf Festivaltage während der sehr gut besuchten Veranstaltungen zu einer lockeren, gut gelaunten Community zusammenwachsen. Das mag auch an der gut funktionierenden Konzeption des Festivals als eine Art Marathon über insgesamt 13 Spielorte liegen, bei dem das Publikum von Veranstaltung zu Veranstaltung weitergeleitet wird. Neugierig und offen hat Hamburg sich auf diese Neuausrichtung des Fringify Festivals eingelassen und man darf gespannt sein auf die nächste Ausgabe im kommenden Juni. T


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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Werkschau Gottfried Pilz

Der kürzlich verstorbene Gottfried Pilz zählt zu den renommiertesten Bühnen- und Kostümbildnern des Musiktheaters. Seine feinsinnigen, beeindruckenden Arbeiten entwickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur – im Lauf der Jahre mit einer zunehmend abstrakten und minimalistischen Bildsprache. Er arbeitete u. a. mit den Regisseuren John Dew, Götz Friedrich, Günter Krämer, Stefan Herheim und George Tabori zusammen. In der reich bebilderten Publikation sind großformatige Fotografien, Zeichnungen, Figurinen und Bühnenbildmodelle zu sehen. Es ist ein konzentrierter Ausschnitt mit 15 Projekten aus 50 Schaffensjahren einschließlich Regiearbeiten. Besonderer Bestandteil der Ausgabe sind die Camera-obscura-Aufnahmen der Fotografin Karen Stuke.

„Celan“, Staatstheater Mainz, 2003

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Ansichten des Original-Notebooks von Judith Malina

Zwei Leben in einem Buch

Judith Malinas legendäres „The Piscator Notebook“ erscheint erstmals auf Deutsch Im Gegensatz zum Kollegen und Miterfinder des epischen Theaters Bertolt Brecht ist Piscator mitsamt seinen prägenden Modernisierungsleistungen auf der Theaterbühne so gut wie vergessen. Diesem Vergessen hoffte Judith Malina, mit ihrem Notizen-Projekt entgegenzuwirken. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs, auf der Flucht vor den Nazis in Berlin, den Stalinisten in Moskau, hatte es Erwin Piscator 1939 nach New York verschlagen. An der legendären New School for Social Research gründete er, als sich abzeichnete, dass er am Broadway nicht würde inszenieren können, den Dramatic Workshop. Piscator wurde Lehrer. Fünf Jahre später sprach die damals 19-jährige Judith Malina bei ihm vor. Und weil sie den Meister überzeugte, erhielt sie ein Stipendium und zwängte sich, gegen seine Überzeugung, Regie sei nichts für Frauen – wie er fand –, in die Regieklasse hinein. Wenn ihr eigenes Theater auch anders aussah als Piscators Inszenierungen, sie blieb eine ernsthafte Nachfolgerin. Ihre Begegnung sei vorherbestimmt gewesen, so Malina in den einleitenden Sätzen der Notizen.

In ihrem Text gelang ihr die historische Klammer. Sie erinnerte an den ästhetischen Aufbruch im brodelnden Berlin der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und an die Umstände einer politisierten, kraftvollen Avantgarde im New York der fünfziger Jahre. Heute, 70 Jahre später, in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts, in denen die glückliche Ära des Friedens in Europa sich dem Ende zu nähern scheint, lohnt es, diesen Zusammenhängen nachzugehen. Das Ineinander von politischer und ästhetischer Überzeugung, für die Erwin ­ ­Piscator und Judith Malina stehen, prägt die Theater­arbeit und die Performancekunst bis heute. Aus dem Nachwort von Anna Opel

Judith Malina: Notizen zu Piscator Herausgegeben von Anna Opel 236 S., 25 € (Print oder digital)

Theater der Zeit 12 / 2024

Fotos unten links © Karen Stuke, Berlin/www.theaterfoto.com, oben Mitte Peter Hönnemann, rechts unten Tom Dombrowski, rechs oben Birgit Hupfeld

Gottfried Pilz Bühne Kostüme Regie Kerstin Schröder (Hg.) 160 S., 26 € (Hardcover oder E-Book)


Analyse des Epischen Theaters

RECHERCHEN 170 Matthias Rothe Tropen des Kollektiven Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater 260 S., 22 € (Print oder digital)

Die künstlerische Arbeit am Theater ist unmittelbar kooperativ und immer auch Arbeit an ihrer eigenen Form. Theatermacher:innen in der Weimarer Republik haben dies voraussetzend versucht, im mitlaufenden Verweis auf ihr Tun eine bessere, nicht kapitalistische Gesellschaft real und imaginativ vorwegzunehmen. Wieso endete dieser Versuch in einem Lob der großen Produktion statt in einer Befreiung von ihr? Oder in einer naiven Verwendung rassistischer Stereotypen? Tropen des Kollektiven beantwortet diese Fragen, indem es ein solches Scheitern von Utopie am Beispiel des Epischen Theaters – der Piscator-Bühne, der Truppe 31, der Versuche-Gruppe, zu der Bertolt Brecht gehörte – nachvollzieht. Weil das Buch nach dem Verwertungsregime künstlerischer Arbeit schlechthin fragt, gelten die Antworten, die es gibt, nicht nur für die Theateravantgarde.

Walter Gropius, Total Theater for Erwin Piscator, Berlin, 1927

Theater der Zeit 12 / 2024

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In der linken Hälfte differenziert Rembrandt in „Christus heilt die Kranken“ (1647–49) die Nebenfiguren noch weiter aus. Es gibt einen jungen Mann in reicher Tracht, den die Erzähltheorie seit Franz K. Stanzel einen „Reflektor“ nennt.

Nebenfiguren Die Nebenfigur ist keine Nebensache, aber das bedeutet nicht, sie zur heimlichen Hauptfigur zu erklären. Stattdessen gilt das Interesse dieses Bandes der Frage, welche Funktionen Nebenfiguren innerhalb einer Handlung, einer Partitur, eines Tableaus oder einer Szenografie einnehmen und wie die Wahrnehmung des Auftrittskontexts durch ihre Anwesenheit beeinflusst wird. Nebenfiguren werden innerhalb von Konstellationen etabliert und ihrerseits eingesetzt, um Konstellation zu modellieren: als Respondierende oder Kommentierende, als Instanzen der Intervention und immer wieder als Instanzen des Blickes. Sie konstituieren sich relational, sekundär und als Effekt einer Betrachtung, die nicht auf solitäre Akteure, sondern auf eine je spezifische repräsentationale Ordnung gerichtet ist, an der Nebenfiguren durch ihre Auftritte Anteil haben.

RECHERCHEN 171 Nebenfiguren Herausgegeben von Stefanie Diekmann und Dennis Göttel 268 S., 22 € (Print oder digital)

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Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. ­Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 5.12. Scène 24. Neue französischsprachige Theaterstücke, Hans Otto Theater Potsdam 12.12. Teresa Kovacs: Theater der Leere, Einar & Bert Berlin 13.12. Matthias Rothe: Tropen des Kollektiven, Literaturforum im Brecht-Haus Berlin

Bücher in Vorbereitung Annette Menting: Schauspielhaus Chemnitz Zirkuskunst in Berlin um 1900 Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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Theater der Leere macht die Katastrophen des technowissenschaftlichen Zeitalters zum Ausgangspunkt für die Annäherung an das Theater und zeigt, dass die Leere im zeitgenössischen Theater mehr ist als ein bloßes Nichts. Im Gegenteil, sie ist das Potenzial und die Möglichkeit einer radikalen Transformation des Theaters selbst.

Das Fukushima-Musiktheater „Kein Licht“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann

Theater der Leere Untersuchungen zu Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch Von Teresa Kovacs

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Theater und Katastrophe sind aufs Engste miteinander verwoben. Dies gilt insbesondere für die Tragödie; eine Gattung, die vom gewaltsamen Einbruch eines unabwendbaren Unglücks geprägt ist, ausgelöst durch einen nicht aufzulösenden Konflikt. Die Gesänge des antiken griechischen Chors warnen vor den möglichen verheerenden Folgen menschlichen Handelns und fragen, ob sich das scheinbar tragische Schicksal nicht doch in eine Chance verwandeln lässt. Der Chor versucht, die tragischen Held:innen in die richtige Richtung zu lenken; er plädiert für Bescheidenheit und warnt vor Hybris. Da diese Warnungen in der Regel ungehört bleiben, übernimmt der Chor in der Tragödie eine weitere Funktion: Er trauert um die Opfer der Katastrophe und die endlose Kaskade der Gewalt, die sich vor seinen Augen ausbreitet. Am deutlichsten wird dies in Sophokles’ Antigone formuliert, wenn der Chor auf die Nachricht, dass das Gesetz des Staates gebrochen und Polyneikes bestattet wurde, mit dem Aufschrei reagiert: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer, als der Mensch.“ Theater der Leere wendet sich der Katastrophe zu, lenkt den Blick aber nicht auf das katastrophale Ereignis selbst, sondern auf den vermeintlichen ground zero, den die Katastrophe zurücklässt. Ausgehend von diesem Nullpunkt diskutiere ich zwei miteinander verbundene Fragen: erstens, was passiert, wenn man die hochexperimentellen Theaterformen und -praktiken, die sich seit den 1970er Jahren entwickelt haben, aus der Perspektive des Nullpunkts – der das gegenwärtige technowissenschaftliche Zeitalter überschattet – betrachtet? Und zweitens, kann es im Theater ein Nichts oder eine Leere geben, die nicht einfach leer ist, sondern eine andere Form der Möglichkeit eröffnet? Mit anderen Worten: Muss die Leere notwendigerweise ein Endpunkt sein oder ist ihr auch eine Zukunft inhärent? Die erste Frage hat einen theaterhistorischen Impetus. Sie zielt darauf ab, die fortwährende Beziehung des Theaters zu den Naturwissenschaften hervorzuheben und eine alternative Perspektive auf das zeitgenössische Theater zu entwickeln, die dessen Verwicklung in die größten Bedrohungen unserer Gegenwart – nämlich die Atom-

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Foto Ursula Kaufmann, Essen

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck


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technologie und die globale Erwärmung – in den Blick bekommt. Die zweite Frage ist theoretischer, konzeptioneller Natur, da sie die Katastrophe und die von ihr erzeugte Leere als Möglichkeit einer Transformation der theatralen Form selbst diskutiert. Dies, so zeige ich, weist schließlich über das Theater hinaus und verbindet die theatrale Transformation mit Fragen des sozialen, politischen und ökologischen Wandels. […]

Fluktuationen der Leere, oder: Taumeln zwischen Leben und Tod Sophokles’ Antigone inszeniert ein eigenartiges Pulsieren zwischen Leben und Tod, sodass beide Kategorien nicht mehr klar fixierbar scheinen. Diese radikale Überarbeitung hat mit Antigones Widerständigkeit gegenüber dem Gesetz ihres Onkels, König Kreon, zu tun, das die Beerdigung ihres Bruders Polyneikes verbietet. Antigone kämpft für ihr Recht, ihren Bruder zu bestatten, selbst wenn dies bedeutet, dass sie dem Bruder lebend in den Tod folgen muss. Polyneikes’ unbestatteter und unbetrauerter Leib widersetzt sich der klaren Einordnung als tot. Er erscheint im Stück eher als lebender Toter, da er noch als Leiche das Schicksal der Lebenden bestimmt und leitet. Andererseits kann Antigone, obwohl sie noch lebt und für das Recht der Bestattung kämpft, nicht einfach als lebendig betrachtet werden. Sie ist eine tot-Lebende, deren Leben und Zukunft das Sterbebett ist. Indem die Tragödie die Kategorien von Leben und Tod verkompliziert, reflektiert sie über die Bedingungen der Möglichkeiten des Nicht-/Existierens. Antigone kreiert eine dynamische Beziehung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, zwischen Determinismus und Kontingenz und zwischen dem, was war, und dem, was noch sein könnte. Elfriede Jelinek webt Sophokles’ Antigone in den Epilog von Kein Licht (2011) ein, ihrem Stück über die Nuklearkatastrophe in Fukushima. Sie tut dies, da auch ihr Theater die dynamische Beziehung zwischen Leben und Tod auslotet. Ja, mehr noch, Leben und Tod werden bei Jelinek auf den Theatertext selbst bezogen, der die Form des Dramas hinter sich lässt und

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stattdessen das Theater mit prosaähnlichen Texten ohne Figuren oder Typen, Dialoge, lineare Handlung und Regieanweisungen konfrontiert. Die Autorin selbst behauptet, dass ihre Stücke aufgrund der fehlenden Handlung und der nicht vorhandenen antagonistischen Held:innen vom Publikum oft als langweilig empfunden werden. „Es tut sich nichts“, so die Autorin in ihrem poetologischen Essay „Grußwort nach Japan“. Und dennoch, so die Autorin weiter, sind es gerade das Fehlen von Figuren und einer linear ablaufenden Handlung, die ihre Stücke leben und gedeihen lassen. „Deshalb glaube und hoffe ich, daß auch meine Stücke irgendwie leben […], aber anders, als wenn sie richtige Menschen und ihre Taten und Untaten imitieren würden.“ Der Begriff des Lebens bezieht sich hier nicht mehr auf die Darstellung von Menschen innerhalb der theatralen Handlung, sondern auf den Text selbst, der sich wurzelartig ausbreitet und die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem ebenso wie zwischen Materie und Form verwischt. Jelinek verwendet immer wieder die Metapher des Rhizoms, insbesondere die Wurzel des Bambus, wenn sie über ihr Schreiben spricht. Der Bambus symbolisiert für sie eine Existenz zwischen Leben und Tod, Werden und Zerstörung; denn auch, wenn man die Pflanze an der Oberfläche zerstört, so wächst sie doch unterirdisch weiter und kann jederzeit wieder zum Leben erwach(s)en. Jelineks Theater kehrt also zur Erkundung der feinen Linie zwischen Leben und Tod zurück, die Sophokles’ Antigone charakterisiert und die Vorstellungen von Kontinuität und Diskontinuität, Determinismus und Kontingenz, von dem, was war, und dem, was noch sein könnte, verkompliziert. Rückkehr meint hier allerdings nicht die Wiederkehr von etwas Vergangenem, sondern eher eine Neuerfindung unter veränderten Bedingungen. In Jelineks Theater bestimmt das eigenartige Schwanken zwischen Leben und Tod nicht mehr die Figuren und ihr Schicksal, sondern zieht in die Struktur des Textes und des Theaters selbst ein, indem Text und handelnder/schreibender Körper auf unheimliche Art und Weise miteinander verwoben zu sein scheinen. Jelinek insistiert darauf, dass ihr Theater

gleichzeitig Leben hervorbringt und Leben nimmt. Dies beschreibt sie am Beispiel der Schauspieler:innen ebenso wie am Beispiel des Körpers der Autorin selbst: Die Schauspieler:innen würden Leben verlieren, wenn sie die Texte der Autorin auf der Bühne zum Leben erwecken, da sich das Theater von ihrer Vitalität nährt. Gleichzeitig bedeute Theater für die Schauspieler:innen jedoch auch, temporär dem Tod zu entfliehen. Der Text selbst entsteht aus diesen Fluktuationen. So vergleicht die Autorin ihr Schreiben damit, auf einem Todesfloß zu stehen und mithilfe eines Charon-Stabs Fetzen aus dem Chaos herauszufischen. So entwickelt Jelinek einen Autor:innenbegriff, der sie zur blinden Bildhauer:in ihrer Texte macht. Es ist das ständige Schwanken zwischen Leben und Tod, zwischen Existenz und Nichtexistenz, das das ‚Theater der Leere‘ kennzeichnet. Es ist ein Theater voller Gespenster, Untoter und unheimlicher Stimmen, die von jedem Körper und von jeglichem Ursprung losgelöst sind, die uns aber dennoch erreichen und auf eine Zukunft verweisen. T Buchpremiere mit Teresa Kovacs am 12.12., 19 Uhr Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin

RECHERCHEN 172 Teresa Kovacs Theater der Leere. Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch Verlag Theater der Zeit, Paperback mit 228 S., € 22

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Magazin Bücher

Modell der Zukunft oder nur Versuch? Ein Materialbuch dokumentiert Volker Löschs Dresdner Bürgerchortheater Von Tom Mustroph

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Stefan Schnabel lässt in „Volkstheater der Zukunft: Die Gruppe Volker Lösch und der Dresdner Bürgerchor“ die Praxis des Bürger­chors Revue passieren. Theater möge die Welt verändern, ist die Hoffnung immer neuer Generationen von Theatermacher:innen. Die Gruppe um den Regisseur Volker Lösch, die 2003 den Dresdner Bürgerchor aus der Taufe hob, kann zumindest für sich in Anspruch nehmen, Theater neu akzentuiert, Skandale ausgelöst und Bewusstseinsprozesse bei den Beteiligten in Gang gesetzt zu haben. Stefan Schnabel, als Dramaturg an vielen Bürgerchorinszenierungen – nicht nur in Dresden – beteiligt, gibt in „Volkstheater der Zukunft“ Einblicke in die Produktionsweise dieses Großkollektivs mithilfe von Essays, Stücktexten und Kritiken. Stark wird das Buch, wenn die Protagonist:innen zu Wort kommen. Als die 33 Chormitglieder im Kontext der ersten Produktion „Orestie“ (2003) nach ihrer Vorstellung von Demokratie befragt wurden, ist das Panorama der Antworten enorm. Demokratie sei „nur ein Wort, eine nette Idee, nur leider nicht realisierbar“. Andere feiern sie als „Maximum an persönlicher Freiheit“, auch das Mehr an Freiheitsgraden gegenüber der DDR-Gesellschaft wird betont. Wieder andere sehen in Demokratie nur eine „freundliche Benutzeroberfläche für das Kapital“. Schon damals konnte man also eine fundamentale Desillusionierung bemerken. Rauer wurde der Ton bei der Folgeinszenierung „Die Weber“ (2004). Auch die Fragen an den Chor waren nun rauer. Der Konkurrenzkampf um einen Arbeitsplatz wurde befeuert, nach der Angst, ihn zu verlieren, und nach den Schuldigen an der Misere gefragt. Der Wille zur Anpassung an den Job, der sich in den Antworten widerspiegelte, die in den Text der Inszenierung einflossen, war enorm. Wie auch die Wut über erlittene Demütigungen, nicht als schlesische Weber im Stück von Gerhart Hauptmann, sondern als Dresdner Studenten, Angestellte, Hausfrauen und Arbeitslose. Sie äußerte sich in Fantasien wie „einfach die formulare den leuten in den rachen stopfen“, „böse mit meiner pistole rumfuchteln“, „das arbeitsamt in hellen flammen“ aufgehen sehen und eben auch die damalige TalkshowQueen Sabine Christiansen erschießen. Diese Mordfantasie, geäußert vom Chor der Weber, gab den Anlass für ein Aufführungsverbot. Schnabel schildert im Buch die Umstände, lässt durch den Reprint damals veröffentlichter Texte das Für und Wider im Raume stehen.

Was einigen Verbotsbefürwortern seinerzeit offenbar entging, war der Prozess der künstlerischen Umformung. Es handelte sich selbstverständlich nicht um einen plumpen Mordaufruf. Die Gedanken der Einzelnen wurden zu einer Art „reimlosen Lyrik“ verschmolzen, wie Günther Heeg in seinem einleitenden Text im Buch betont. Es war eine Lyrik, die Dissonanzen herausstellt, die Gewalt der gesellschaftlichen Zustände und Formen der Reaktionen darauf sichtbar macht. Die Frage liegt nahe: Hätte die Inszenierung, statt sie zu verbieten, ernster genommen werden müssen? Hätte die Wut, die da zum Ausdruck kam, und die sich inzwischen leicht als Triebkraft für die steigenden Zustimmungswerte für die AfD interpretieren lässt, nicht lieber als Anlass für verändertes politisches Handeln genommen werden sollen? Der Titel „Volkstheater der Zukunft“ legt ein Ja nahe. Auch Heeg feiert die Bürgerchor-Praxis als „Motor und Werkzeug der Selbstaufklärung des Publikums und Anstifter für politische Auseinandersetzungen“. Regisseur Lösch wirkt da skeptischer, bilanziert, „politisch wirkungslos“ geblieben zu sein: „Wir haben es nicht geschafft, das Klima in Dresden entscheidend zu verändern.“ Dass Schnabel diese ernüchternde Bilanz im Buch unterbringt, spricht für die Ernsthaftigkeit des Unterfangens sowohl auf der Bühne wie auf dem Papier. Verblüffend ist allerdings, dass der Frageradar des künstlerischen Teams der vorgestellten Produktionen vor allem auf das Ausforschen der negativen Energien von Ausgegrenzt- und Gedemütigtsein, von Enttäuschungen und Wutfantasien gerichtet ist und so gar keinen Sinn für die zwar kurzen, aber auch in Dresden befreienden Momente von 1989 und 1990 zu haben scheint. Der Reformflügel des SED saß mit Modrow und Berghofer schließlich in Dresden. Und die Gruppe der 20, die sich im Oktober 1989 aus den Demonstrationen herausgebildet hatte, war im Grunde genommen die Version 1.0 eines Bürgerchors. T Stefan Schnabel: Volkstheater der Zukunft: Die Gruppe Volker Lösch und der Dresdner Bürgerchor. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2024, 288 S., € 24

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Theater der Zeit 12 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Dimitra Theodoraki-Krönung (Hospitanz) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de

Autorinnen / Autoren 12 / 2024 Joshua Alabi, Autor und Regisseur, Lagos Viola Hasselberg, Dramaturgin, München Peter Helling, Kritiker und Redakteur, Hamburg Christoph Leibold, Kritiker und Redakteur, München Annette Menting, Architekturhistorikerin, Leipzig Tom Mustroph, Journalist und Kritiker, Berlin Tino Pfaff, Sozialphilosoph, Publizist und Aktivist, Weimar Marie Schleef, Regisseurin, Berlin Sophie-Margarete Schuster, Autorin, Berlin Eberhard Spreng, Kritiker, Berlin Markus Peter Tesch, Autor und Dramaturg, Berlin Juliane Voigt, Kritikerin und Autorin, Stralsund Lara Wenzel, Kritikerin, Leipzig

Erratum: Im letzten Heft wurde im Text „Frühlingstheater“ behauptet, die Correctiv-Recherche wurde auch am Deutschen Nationaltheater in Weimar aufgeführt. Die Recherche wurde in Weimar jedoch lediglich als Stream gezeigt.

© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 04.11.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit tdz.de

Vorschau 1 / 2025

Foto rechts picture-alliance / akg-images / Udo Hesse | Udo Hesse

Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 31. Dezember 2024 Im Februar ist der 80. Geburtstag von Thomas Brasch ein kleines Jubiläum des vor allem wegen seiner Lyrik und seiner Shakespeareund Tschechow-Übersetzungen unvergessenen Dichters. Für das dramatische Werk und die Prosa sieht das schon anders aus. In ihm tauchen immer wieder Versuche mit der Figur des Eulenspiegel auf – und laden als ein zentrales Brasch-Thema zur Entdeckung ein.

Theater der Zeit 12 / 2024

Außerdem ein Essay der Regisseurin Marie Schleef über das historische Phänomen der unheimlichen „Sleeping Beauties“, mechanisch bewegte Frauenpuppen in ihrem sich vor allem männlichen Blicken aussetzenden Schlaf.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Jutta Maria Staerk ist seit 2008 künstlerische Leiterin des COMEDIA Theaters Köln, eines der größten freien Kinderund Jugendtheater Deutschlands. Zuvor leitete sie internationale Festivals und arbeitete an Theatern in Hannover, Braunschweig, Linz und Konstanz. Von 2009 bis 2024 war sie im Vorstand der ASSITEJ Deutschland. Ende des Jahres verlässt sie das COMEDIA Theater und arbeitet zukünftig freiberuflich.

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Das Theater für junges Publikum hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Wie würden Sie die ästhetische und inhaltliche Entwicklung beschreiben? JUTTA MARIA STARK: Hin zu einer größeren Bandbreite an Genres und Formen. Junges Musiktheater und Tanztheater sind wichtiger geworden, das Schauspiel hat sein Repertoire an Formen und Stoffen enorm erweitert, das Figurentheater ist auch hier experimenteller geworden. Das Junge Theater ist auch Vorreiter in Bezug auf Inklusion und Diversität, eine natürliche Folge davon, dass eine Kunstform ihr Publikum kennt und die gesamte Gesellschaft im Blick hat, über alle sozialen und Herkunftsgrenzen weg. Die jüngste Entwicklung – mit partizipativen Modellen auch das Publikum stärker einzubinden – ist ein wichtiger weiterer Schritt, der erstaunliche Ergebnisse hervorbringt. Hier bekommen junge Menschen auf der Bühne eine Stimme, die sie anderswo in der Gesellschaft auch schon seit einiger Zeit erheben. Das Ganze begleitet und unterstützt von den Profis. Das Jugendtheater hat es in dieser Zeit geschafft, mehr als Kunstform wahrgenommen zu werden, nicht nur als Einstieg für die Kleinen. Wie weit seid ihr – an der COMEDIA, aber auch darüber hinaus – gekommen? JMS: Professionell produziertes Theater ist Kunst. Egal, für wen, egal, mit wem auf der Bühne. Auch die Schauspiel- und Regieschulen haben die Chancen des Berufsfelds Junges Theater erkannt. Die Klugheit der Inszenierungsidee zählt, die ästhetische Form, das Können und die Energie im Raum. Das Theater für junges Publikum kann sich da sehen lassen, das Niveau ist hoch – nicht zuletzt erzeugt durch Austausch und Ansporn durch die Internationale Szene auf den Festivals in Deutschland. Mit der Entwicklung an der COMEDIA bin ich da hochzufrieden, auch deswegen gebe ich das jetzt gerne in die Hände der nächsten Generation, mit der ich seit zwei Jahren bereits die Verantwortung teile. Politisch wird das Jugendtheater deutlich stärker wahrgenommen. Haben Sie den Eindruck, das sichert die Arbeit, wenn es jetzt wieder zu Kürzungen in den Kulturetats kommt?

JMS: Das hoffen wir, aber die Haushalte sind allenthalben ja noch in der Diskussion. Gute Zeichen sind die Festlegung von Honoraruntergrenzen und das Neue Förderprogramm der BKM „Fair p(L)ay“ für faire Bezahlung im Theater für junges Publikum. Und die Pandemie hat gezeigt, wie essenziell wichtig Kunst für Kinder und Jugendliche und ihre Entwicklung ist. Was mit einer Gesellschaft passiert, die nicht mehr in öffentliche Diskussion geht. Wie schnell Radikalisierung im www-dominierten Zuhause entsteht. Wie sprachlos Kinder werden, die nicht mehr im Austausch sind, gemeinsam rezipieren und das aufarbeiten können … Die Theater für junges Publikum leisten einen großen Teil der ästhetischen Erziehung, was die Schulen kaum noch schaffen. Wie sehen Sie diese Entwicklung? JMS: Für die Theater ist kulturelle Bildung schon immer impliziter Bestandteil der Arbeit für das Zielpublikum. Nur leider oft nicht ausreichend honoriert. Die Schulen tun, was sie können, gerne mehr, von mir aus. In NRW spüre ich erste vorsichtige Schritte der verschiedenen Ministerien aufeinander zu. Ich hoffe, das wirkt sich aus. Viele in dem Feld sehr engagierte Lehrer:innen wären froh über mehr Räume und Zeiten für das Theater. Für den kommenden offenen Ganztag sind die Theater kompetente Partner:innen im Aufbau von Strukturen ästhetischer Bildung, das bieten wir seit Jahren an. Wir sind gesprächsbereit. Kann man mit Theater die Welt retten? Oder wenigstens besser machen? JMS: Natürlich. Denn es sind ja immer kluge, denkfreudige, zu Engagement bereite Menschen, die etwas verändern. Solche, die offen sind für Fragen, für Infragestellung, die bereit sind zur Diskussion, fähig zu Einigung, demokratiefähig eben. Dass Menschen in diesen Fähigkeiten gestärkt werden, dazu trägt das Theater für junges Publikum bei. Mit der Kunst, den Begleitprogrammen, der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den Themen der nächsten Generationen. Also: natürlich ja. T

Theater der Zeit 12 / 2024

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Was macht das Theater, Jutta Maria Staerk?


Seit 10 Jahren – Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

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