Recherchen 172 – Theater der Leere

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Teresa Kovacs Theater der Leere Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief, René Pollesch



Teresa Kovacs – Theater der Leere. Heiner Müller, Elfriede Jelinek, ­Christoph Schlingensief, René Pollesch


Dieses Projekt wurde vom Presidential Arts and Humanities Program der Indiana ­University und von Indiana University’s College Arts and Humanities Institute (CAHI) gefördert.

Teresa Kovacs Theater der Leere Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christopf Schlingensief, René Pollesch Recherchen 172 © 2024 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ­ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de Gestaltung: Tabea Feuerstein Korrektorat: Iris Weißenböck Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-524-2 (Paperback) ISBN 978-3-95749-560-0 (ePDF)


Recherchen 172

Teresa Kovacs Theater der Leere. Heiner ­Müller, Elfriede Jelinek, Christoph ­Schlingensief, René Pollesch



Inhalt

Vorwort und Danksagungen

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Einleitung 13 Theater und Leere Grundlosigkeit, Un/Bestimmtheit und Wandelbarkeit I 46 Unfall, Explosion, Atomblitz Das ›Theater der Leere‹ denken II 79 Raum-Zeit-Verlust Quantenwelt und zerebrales Subjekt bei ­Heiner Müller III 111 Endzeit. Zeitenende Murmelnde Stille bei Elfriede Jelinek IV 142 Dunkelphase, Wunde und ­Metamorphose Kontinuierliche Bewegung und radikale Möglichkeit bei ­Christoph Schlingensief V 176 Darwin-Theater Unvorhersehbarkeit, Queerness und Mehr-als-Menschliches bei René Pollesch VI 205 Theater nach dem Ende der Welt

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Vorwort und Danksagungen

Vorwort und Danksagungen An einem regnerischen Tag im März 2018 fand ich Unterschlupf im Geffen Contemporary, einem der kleineren Standorte des Museums für zeitgenössische Kunst in Los Angeles. Zunächst war ich lediglich dankbar, endlich einen trockenen Raum betreten zu haben, nachdem ich stundenlang im strömenden Regen durch die Straßen von Downtown LA gelaufen war. Dieses unmittelbare Gefühl der Erleichterung wandelte sich jedoch schlagartig in einen viel stärkeren Eindruck, da ich mich inmitten von Adrián Villar Rojas’ Installation The Theater of Disappearance wiederfand. Eingetaucht in diese Installation vergaß ich, dass ich mich in einer der größten Metropolen der Welt befand, während mich die Installation paradoxerweise in genau jene Straßen zurückdrängte, aus denen ich zuvor zu fliehen versucht hatte: Sie erinnerte an die kleinen Läden und Restaurants von »Little Tokyo«, in dessen Nachbarschaft sich das Museum befindet – jedoch nicht in ihrer gegenwärtigen Form. Vielmehr hatte ich den Eindruck, einen Spaziergang durch die Ruinen einer lange vergangenen Großstadt zu machen. Rojas’ Werk besteht aus zahlreichen Kühlgeräten, die voll von menschlichen Abfällen sind; alte Turnschuhe und Plastikdrähte, Nylonjacken, Glasflaschen und künstliche Gliedmaßen finden sich dort. Diese Objekte sind inmitten von Fleischatrappen, Fischknochen und getrockneten Blumen platziert, sodass jedes einzelne Kühlgerät eine Art Stillleben entstehen lässt, das Licht auf die conditia humana im 21. Jahrhundert wirft. Die Kühlschränke sind umgeben von Steinbrocken, Holzkisten mit menschlichen Skeletten und Säulen, die Schichten aus Stein und Glas offenlegen. In dieser unheimlichen Landschaft kam mir eine Zeile von Heiner Müller in den Sinn: »Die Landschaft mag ein toter Stern sein, auf dem ein Suchtrupp aus einer andern Zeit oder aus einem andern Raum eine Stimme hört und einen Toten findet.«1 Unter dem Eindruck von Rojas’ Arbeit hatte ich das Gefühl, den Satz neu zu verstehen. Ich fühlte mich in diesem speziellen Raum wie eine Suchende aus einer anderen Zeit und wie eine Zeitgenossin des Leichnams; Leben und Tod flossen auf eigenartige Weise ineinander. Diese Erfahrung brachte mich dazu, mich dem Theater von Heiner Müller zuzuwenden und nach den Ruinen und kontami­ nierten Landschaften Ausschau zu halten, die wir darin finden. So erkannte ich, dass das zeitgenössische Theater tief mit der Erfahrung der Zerstörung und des Ruinösen verwoben ist, da es erkundet, was

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Vorwort und Danksagungen

es bedeutet, auf einem zerstörten Planeten zu leben. Das Ruinöse in diesem Theater ist nicht nur mit der Trauer über das Verlorene verbunden, sondern auch mit der Frage, wie man inmitten von Ruinen (über-)leben und ja, sogar gedeihen kann. Es ist in dieser Untersuchung weit mehr als nur eine Metapher. Vielmehr ist es mit einer Praxis verbunden, die auf die Möglichkeit einer Zukunft hinarbeitet und nach der gemeinsamen Gestaltung der Welt fragt; eine Praxis, die sich der komplexen Beziehungen zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem, Kultur und Natur, Leben und Tod bewusst ist. Im Zuge der Arbeit an diesem Vorwort sind mir noch einmal Notizen in die Hände gefallen, die ich im Sommer 2019 gemacht habe, kurz, nachdem ich nach Bloomington übersiedelt bin, um meine neue Stelle an der Indiana University anzutreten: er Entwurf für dieses Buch entstand an einem heißen SepD tembermorgen, kurz nachdem ich in mein neues Zuhause, Bloomington, gezogen war. Dort erklärte mir jeder, dass dieser September ungewöhnlich heiß wäre. Dies seien, so fügten alle hinzu, klare Auswirkungen der globalen Erwärmung, die zum drängenden Thema unserer Zeit werden wird. Es war derselbe Tag, an dem die New York Times über die internationalen Klimastreiks berichtete. Die Berichterstattung nährte durchaus ein Verständnis unserer Gegenwart als apokalyptischen Raum, der sich bald in einen postapokalyptischen verwandeln könnte, wenn niemand etwas unternimmt. Einige Jahre, eine globale Pandemie und zwei verheerende Kriege später hat sich dieser Eindruck einer Welt in Trümmern nicht zum Besseren verändert, sondern vielmehr verstärkt. Das Theater, dem ich dieses Buch widme und das sich damit beschäftigt, eine Zukunft in einer Zeit zu finden, in der es scheinbar keine Zukunft gibt, scheint daher noch aktueller zu sein als im Jahr 2019. Und doch ist es kein Buch, das sich darauf beschränkt, düstere Bilder unserer Gegenwart zu entwerfen; vielmehr zeichnet es die spannenden und manchmal überraschend spielerischen Wege nach, mit denen Theatermacher:innen experimentieren, um Leben und Zukunft in Ruinen zu finden. Dieses Buchprojekt hat mich über mehrere Jahre beschäftigt und es wurde durch die Erfahrungen auf dem Weg und die Menschen, die mich auf dieser Reise begleitet haben, geprägt. Theater der Leere ist das Ergebnis meines fortwährenden Nachdenkens über das zeitge-

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Vorwort und Danksagungen

nössische Theater, das sich immer wieder jeglicher Beschreibung zu entziehen scheint. Über die letzten 15 Jahre habe ich wiederholt versucht, das theatrale Imaginäre unserer Gegenwart, das über das Drama und das repräsentative Theater hinausgeht, fassbar zu machen und zu benennen. Es hat mehrere Jahre und einige glückliche, oft unerwartete Begegnungen gebraucht, um Worte zu finden, mit denen ich beschreiben konnte, was ich anfangs nur geahnt hatte. So ein langwieriger, intensiver Denkprozess ist nur mit der nötigen Unterstützung möglich. Daher bin ich unendlich dankbar für die großzügige Förderung durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), für den Presidential Arts & Humanities Award und Production Grant der Indiana University und IU’s College Arts and Humanities Institute (CAHI), die es mir erlaubt haben, mich über mehrere Jahre hinweg voll und ganz auf meine Forschung zu konzentrieren bzw. die die Produktion dieses Buches unterstützt haben. Ein Buch wie dieses entsteht niemals in einem abgeschlossenen Kämmerchen, sondern es nährt sich aus all den inspirierenden Konstellationen, in denen ich mich während der Arbeit an diesem Buch wiedergefunden habe. Der erste Dank gilt meiner Heimatstätte, dem German Studies Department der Indiana University. Ohne die Unterstützung und das Vertrauen meiner Kolleg:innen wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben. Fritz Breithaupt, Michel Chaouli, Irit Dekel, Susanne Even, Gergana May, Bill Rasch, Benjamin Robinson, Johannes Türk und Marc Weiner haben alle auf ihre Weise dieses Projekt inspiriert und beeinflusst – sei es, indem sie sich mit mir durch wichtige Fragen gearbeitet haben; sei es durch ihre Liebe zu Worten und Ideen und ihre Hingabe zum kritischen Denken. Das intellektuelle Leben, das wir an diesem Department kultiviert haben, spielte ebenfalls eine wichtige Rolle für das Buch, bietet es doch Gelegenheit zum Austausch mit Kolleg:innen, Doktorand:innen, Student:innen und Besucher:innen wie Burkhardt Wolf, Wolfram Eilenberger, Arne Höcker und Uwe Wirth. Besonders die Doktorand:innen unseres Departments haben mich immer wieder dazu angeregt weiterzudenken; ein besonderer Dank gilt hier den Studierenden der Kurse »Wounded Heroes«, »Literature and ­Climate Change« und »Assembling the Precarious«. Die Diskussionen in diesen Kursen haben viele Fragen aufgeworfen, die dieses Buch bereichert haben. Unter all den Doktorand:innen, die hier zu nennen wären, gilt mein ganz besonderer Dank Katharina Schmid-Schmidsfelden, K ­ atherine Pollock, Cynthia Shin, Maria Fink, Nina Morais, Bettina Christner, Louise Bassini, Lanre Okuseinde und David Gould. Ihre Leidenschaft

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für experimentelle Kunst und alles Unkonventionelle hat mich immer wieder von Neuem angetrieben. Darüber hinaus haben wir im November 2023 in unserem Department eine Arbeitsgruppe für Theater und Performance ins Leben gerufen, die Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Fachbereichen zusammenbringt und die für mich bereits in dieser kurzen Zeit eine unschätzbare Quelle der Inspiration und Energie war. Neben meinem eigenen Department schätze ich die Indiana University im Gesamten als einen lebendigen Ort des gemeinsamen Denkens und Arbeitens. Dabei denke ich v. a. an die anregende Gruppe rund um das Cultural Studies Program (besonderer Dank gilt hier Ray Guins, Rebekah Sheldon und Tess J. Given), aber auch an die zahlreichen Kolleg:innen und Freund:innen, die mich auf meinem Weg hier in Bloomington begleitet haben, wie Mark Roseman, Roberta Pergher, Jennifer Goodlander, Sonia Velazquez, Alyson C ­ alhoun, Joan ­Hawkins, Anke Birkenmaier, Ed Dallis-Comentale und meine ehemaligen Kolleg:innen Shane Vogel (jetzt Yale University) und Ilana ­Gershon (jetzt Rice University). Und doch – wie bei allen Reisen – kann das, was dieses Buch geprägt hat, nicht auf meine heutige Heimat beschränkt werden. Das German Studies Department der University of Michigan, an dem ich zwei Jahre als Postdoc verbracht habe, hat mich mit Gesprächen, Freundschaften und jeglicher Form der Unterstützung bereichert. Hier möchte ich besonders Kerstin Barndt, Andreas Gailus, Julia Hell, Johannes von Moltke, Helmut Puff und Scott Spector, aber auch Malcolm Tulip und Tzveta Kassabova (beide vom Department for Theatre & Drama) hervorheben. Ich schätze mich unglaublich glücklich, dass ich mit ihnen einen intellektuellen Raum teilen konnte, der weit über den Campus hinausging und alle möglichen Feste beinhaltete. Ich bin auch voller Dankbarkeit für alles, was ich von der Gruppe an Wissenschaftler:innen gelernt habe, mit denen ich während meiner Zeit in Wien zusammenarbeiten durfte. Dazu zählt insbesondere die Gruppe rund um das Jelinek-Forschungszentrum, das neben seiner Leiterin Pia Janke von so vielen talentierten und leidenschaftlichen jungen Wissenschaftler:innen (ein besonderer Dank an ­Christian Schenkermayer) und Jelinek-Expert:innen wie Inge Arteel, Uta Degner, Ulrike Haß, Gitta Honegger, Brigitte Jirku, Regina Kecht, Monika Meister, Artur Pełka, Katharina Pewny und Monika S ­ zczepaniak mit Leben erfüllt wird; sie alle haben meine Leidenschaft für die Diskussion und das Verständnis des Theaters auf so vielfältige Weise angefacht und unterstützt. Leider kann ich hier nicht alle Kolleg:innen aus

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dieser Zeit nennen, die mir ans Herz gewachsen sind und denen ich zu großem Dank verpflichtet bin, da ich von so vielen inspirierenden und klugen Köpfen umgeben war. Besonders hervorheben möchte ich allerdings Silke Felber. Wir haben jahrelang ein Büro geteilt und eine Form des kollaborativen Denkens kultiviert, die mich seither inspiriert. Ich schätze mich glücklich, dass diese Freundschaft bis heute anhält. Neben diesen institutionellen Verbindungen sind es zahlreiche weitere Kolleg:innen und Freund:innen, mit denen ich meine Ideen für das Buch geteilt habe und die einen wichtigen Einfluss auf mein Denken und insbesondere auf dieses Buch hatten, denen ich danken möchte. Es waren Kolleg:innen wie Marc Silberman, ­Emmanuel Béhague, Claudia Breger, Paul Buchholz, Matthew Cornish, Jack ­ Davis, Leonie Ettinger, Megan Ewing, Peter Höyng, Kristopher ­Imbrigiotta, Olivia Landry, Richard Langston, Klaus Mladek, Tanja Nusser, ­Benjamin Lewis Robinson und Anna Senuysal, die meine Leidenschaft für das zeitgenössische Theater teilen und die sich in den vergangenen Jahren kritisch mit meinem Projekt auseinandergesetzt haben. Ebenso dankbar bin ich für das andauernde Gespräch mit Elfriede Jelinek, Kevin Rittberger und Jürgen Kuttner, die meine Arbeit und mein Denken auf so vielfältige Weise inspiriert haben. Darüber hinaus bin ich dankbar für die Einladungen der Heiner Müller Gesellschaft (hier ein besonderer Dank an Marten Weise und seine Frage zu Störung und Gewalt), an die NYU, Rutgers, Wisconsin-Madison, die University of Cincinnati, die Freie Universität Berlin, die University of Leeds, die Universität Straßburg und die Sorbonne, die es mir ermöglicht haben, (frühe) Ideen in Verbindung mit diesem Buch zu entwickeln, meine Gedanken zu ordnen und Argumente zuzuspitzen. Ein großer Dank gilt Julia Lückl, die mit ihrem Blick auf das Manuskript geholfen hat, Ungenauigkeiten und stilistische Fehlgriffe zu reduzieren. Darüber hinaus bin ich voller Dankbarkeit für alles, was Harald Müller und Paul Tischler von Theater der Zeit für mich getan haben. Zu guter Letzt darf ich jene Person nennen, die dieses Projekt und mein Denken mehr inspiriert hat, als ich es mir je hätte wünschen können. Andrés Guzmán, du bist nicht nur mein treuer Begleiter, wenn es um die geteilte aufrichtige Liebe und Leidenschaft für das geht, was wir herausfinden und in Worte fassen müssen, sondern du forderst mich auch immer wieder aufs Neue heraus und inspirierst mich, die Grenzen meines Denkens neu zu erkunden. Ohne dich hätten es einige meiner wichtigsten Dialogpartner:innen nie in dieses Buch geschafft. Ich bin unendlich dankbar, dass du mich täglich mit

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Gedanken und Ideen umgibst, von denen ich manchmal eine aufgreifen und mir zu eigen machen kann. Es gibt nichts Schöneres als die Denkpartnerschaft mit dir.

1 Müller, Heiner: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, in: ders.: Werke 5. Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 84.

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Einleitung

Theater und Leere Grundlosigkeit, Un/Bestimmtheit und Wandelbarkeit Wir sind nicht weniger und nicht mehr als niemand. Als Niemande sind wir nichts. Wir sind nicht mehr als Niemande. Wir sind. Wir sind nicht nichts, sogar die Erde hat doch vorhin das Haupt vor uns geneigt, das ist doch nicht nichts! Irgendwo ist nicht ­heute und nicht gestern, dort leben die dann immer, die niemand sind, die niemand sieht, die dazwischen, und niemand weiß, woher sie ­gekommen sind. ——Elfriede Jelinek, Epilog?

Theater und Katastrophe sind aufs Engste miteinander verwoben. Dies gilt insbesondere für die Tragödie; eine Gattung, die vom gewaltsamen Einbruch eines unabwendbaren Unglücks geprägt ist, ausgelöst durch einen nicht aufzulösenden Konflikt. Die Gesänge des antiken griechischen Chors warnen vor den möglichen verheerenden Folgen menschlichen Handelns und fragen, ob sich das scheinbar tragische Schicksal nicht doch in eine Chance verwandeln lässt. Der Chor versucht, die tragischen Held:innen in die richtige Richtung zu lenken; er plädiert für Bescheidenheit und warnt vor Hybris. Da diese Warnungen in der Regel ungehört bleiben, übernimmt der Chor in der Tragödie eine weitere Funktion: Er trauert um die Opfer der Katastrophe und die endlose Kaskade der Gewalt, die sich vor seinen Augen ausbreitet. Am deutlichsten wird dies in Sophokles’ ­Antigone formuliert, wenn der Chor auf die Nachricht, dass das Gesetz des Staates gebrochen und Polyneikes bestattet wurde, mit dem Aufschrei reagiert: »Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer, als der Mensch.«1 Theater der Leere wendet sich der Katastrophe zu, lenkt den Blick aber nicht auf das katastrophale Ereignis selbst, sondern auf den vermeintlichen ground zero, den die Katastrophe zurücklässt. Ausgehend von diesem Nullpunkt diskutiere ich zwei miteinander verbundene Fragen: erstens, was passiert, wenn man die hochexperimentellen Theaterformen und -praktiken, die sich seit den 1970er

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Einleitung

Jahren entwickelt haben, aus der Perspektive des Nullpunkts – der das gegenwärtige technowissenschaftliche Zeitalter überschattet – betrachtet?2 Und zweitens, kann es im Theater ein Nichts oder eine Leere geben, die nicht einfach leer ist, sondern eine andere Form der Möglichkeit eröffnet? Mit anderen Worten: Muss die Leere notwendigerweise ein Endpunkt sein oder ist ihr auch eine Zukunft inhärent? Die erste Frage hat einen theaterhistorischen Impetus. Sie zielt darauf ab, die fortwährende Beziehung des Theaters zu den Naturwissenschaften hervorzuheben und eine alternative Perspektive auf das zeitgenössische Theater zu entwickeln, die dessen Verwicklung in die größten Bedrohungen unserer Gegenwart – nämlich die Atomtechnologie und die globale Erwärmung – in den Blick bekommt. Die zweite Frage ist theoretischer, konzeptioneller Natur, da sie die Katastrophe und die von ihr erzeugte Leere als Möglichkeit einer Transformation der theatralen Form selbst diskutiert. Dies, so zeige ich, weist ­schließlich über das Theater hinaus und verbindet die theatrale Transformation mit Fragen des sozialen, politischen und ökologischen Wandels. Indem dieses Buch das zeitgenössische Theater durch die Leere hindurch denkt, geht es über die negativen Begriffe hinaus, die auch bislang im Sprechen über dieses Theater immer noch dominieren – ein Theater ohne sich linear entfaltende Handlung, ohne Charaktere und ohne Dialog. Stattdessen entwickelt es eine neue Terminologie, die es ermöglicht, die reichhaltigen, pulsierenden Bewegungen und Handlungen zu beschreiben, die das, was auf den ersten Blick als bloßes Nichts erscheint, erfüllen. Ich nähere mich den oben skizzierten Fragen mit Fokus auf das deutschsprachige Theater,3 insbesondere auf das Theater von Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch – eine Liste, die sich leicht durch Namen wie Einar Schleef, Dimiter Gotscheff, Heiner Goebbels, Kathrin Röggla und Robert Wilson erweitern ließe. Wenn wir uns der jüngeren Generation von Regisseur:innen, Dramatiker:innen und Performancekollektiven zuwenden, dann kommen u. a. Florentina Holzinger, Susanne Kennedy, Thomas Köck und Kevin Rittberger in den Blick. Die Entscheidung, ausschließlich auf vier Theatermacher:innen zu fokussieren, ist meinem Anliegen geschuldet, die Besonderheiten der Arten und Weisen hervorzuheben‚ auf die sich das ›Theater der Leere‹ in einzelnen Arbeiten entfaltet, anstatt lediglich generelle Tendenzen zu beschreiben und dabei all jene Details außer Acht zu lassen, die das ›Theater der Leere‹ so vielseitig machen.

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Einleitung

Obwohl dieses Buch die Theorie des ›Theaters der Leere‹ mit dem engen Fokus auf vier deutschsprachige Theatermacher:innen entwickelt, behauptet es jedoch nicht, dass dieses Theater auf einen spezifischen sprachlichen und kulturellen Kontext beschränkt ist. Im Gegenteil: Was wir im deutschsprachigen Theater beobachten können, verbindet sich mit experimentellen Formen, die weit über den deutschsprachigen Raum hinausgehen. Eine Traditionslinie, die den meisten Leser:innen sofort in den Sinn kommen dürfte, ist das Theater des Absurden, insbesondere Samuel Beckett, der die Leere unter dem Eindruck des technowissenschaftlichen Zeitalters erforschte.4 Auch das existenzialistische Drama unterhält eine enge Beziehung zur Erkundung des Nichts. Obwohl diese Traditionen am offensichtlichsten mit der Leere und dem Nichts verbunden sind, sind sie nicht die einzigen Referenzrahmen für dieses Buch. Im Gegenteil, versteht man das ›Theater der Leere‹ als ein Theater, das aus der Leere hervorgeht, so sind all jene Theaterexperimente von zentralem Interesse, deren Form ohne die Leere nicht zu denken ist – auch wenn es die Leere nicht immer zum Thema macht. Tendenzen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die auf das hindeuten, was ich als ›Theater der Leere‹ bezeichne, teilen mit späteren Arbeiten den Versuch, die theatrale Form und Ästhetik auf der Grundlage eines Interesses an Metamorphose, Transformation, Chaos und einer intensiven Erkundung des Nichts zu überdenken. Diese Versuche erlauben es, eine Linie von Hölderlins, Nietzsches und Wagners radikaler Revision der griechischen Tragödie bis zur frühen Avantgarde und Theatervisionären wie Antonin Artaud, Adolphe Appia, Edward Gordon Craig, Erwin Piscator, Friedrich Kiesler und Tennessee Williams zu ziehen.5 Daneben ist Bertolt Brechts Arbeit an einem Theater für das wissenschaftliche Zeitalter entscheidend für die Entstehung des ›Theaters der Leere‹ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beide Stränge haben radikale Theaterexperimente auch außerhalb des deutschsprachigen Kontexts inspiriert, die dem deutschsprachigen Theater vergleichbare Brüche und Zäsuren verursachten. Der italienische Theatermacher Carmelo Bene ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil er sich gegen das westliche Repräsentationstheater wandte und mit einem Theater experimentierte, das die Sprache zerstört und das Unbekannte und Unbewusste – das Bene selbst als Leere bezeichnete – sichtbar macht.6 Ein anderes Beispiel ist die britische Dramatikerin Sarah Kane, deren radikale Theaterexperimente immer von einem Zustand der Katastrophe ausgehen – seien es Kriegsbombardements oder Massenvergewaltigungen – und die gesellschaftspolitische wie

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Einleitung

innere Leere erkunden.7 Außerhalb Europas ist darüber hinaus Butoh zu nennen, eine japanische Tanzform, die als Reaktion auf Hiroshima und Nagasaki entstanden ist. Abschied vom postdramatischen Theater

Es mag überraschen, dem Wandel der theatralen Form in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Buch zu widmen, hat sich doch HansThies Lehmann in seiner bahnbrechenden Studie Postdramatisches Theater (1999)8 eingehend damit beschäftigt.9 Lehmanns Paradigma hat die theaterwissenschaftliche Forschung zum zeitgenössischen Theater in den letzten Jahrzehnten dominiert,10 was an den zahlreichen Übersetzungen und Beiträgen sichtbar wird, die sich zentral auf dieses Paradigma beziehen. Während sich einige dieser Studien auf einzelne Aspekte von Lehmanns Buch konzentrieren und diese weiter ausarbeiten – oft indem sie ihr weitere ›Post‹-Konstruktionen hinzufügen –, spekulieren andere darüber, was nach dem ›postdramatischen Theater‹ kommen könnte. Hier finden sich nicht nur Forderungen für ein Ende des postdramatischen Theaters und einen ›neuen Realismus‹, sondern auch Arbeiten, die von einem ›post-postdramatischen Theater‹ sprechen.11 Ich füge mit diesem Buch weder eine weitere ›Post‹-Konstruktion zu der bereits langen Liste hinzu, noch stimme ich in den Chor ein, der das ›postdramatische Theater‹ als konform mit dem Neoliberalismus abtut und deshalb einen neuen Realismus fordert.12 Stattdessen gebe ich dem postdramatischen Theater eine Zukunft, und zwar gerade weil ich zugleich auch Abschied von ihm nehme. Dieser Abschied erlaubt es mir, Werke, die bisher unter der Kategorie des postdramatischen Theaters subsumiert wurden, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und so ein Potenzial aufzudecken, das diesen Werken zwar innewohnt, aber bislang verborgen blieb, da wir uns ihnen zu einseitig über Lehmanns Paradigma zugewandt haben. In diesem Sinne sehe ich meine Arbeit als eine Fortsetzung von Lehmanns bahnbrechender Studie, die zugleich jedoch auf einen Abschied von diesem Paradigma angewiesen ist. Solch ein Abschied ist notwendig, da Lehmanns Studie in eine Sackgasse geraten ist, die die aktuellen wissenschaftlichen Debatten über das zeitgenössische Theater zu überschatten beginnt. Lehmann führte das Paradigma des postdramatischen Theaters ein, um experimentelle Praktiken und Ästhetiken zu beschreiben, die sich ab den 1960er Jahren zu entwickeln begannen und nicht mehr in Kategorien des ›Dramas‹ zu fassen waren.13 Seine Studie hat entscheidend dazu beigetragen, das Ideal des Dramas infrage zu stellen. Ebenso

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Abschied vom postdramatischen Theater

hat sie die Befreiung des Theaters von seiner engen Definition als ›Diener‹ der Literatur befördert. Lehmann fokussiert in seiner Studie auf die Aufführungspraxis – auch wenn er den theatralen Text dabei nie vollständig aus den Augen verliert – und beleuchtet verschiedene theatrale Praktiken und Formationen jenseits des Dramas, die er im antiken griechischen Theater ebenso ausfindig macht wie in zeitgenössischen Aufführungen. Die historische Form des Dramas, so betont er, beherrschte die westliche Theaterlandschaft nur von etwa 1800 bis ins frühe 20. Jahrhundert, während sich davor und danach Formen wie das Volkstheater, das mittelalterliche und barocke Drama und Formationen wie der Chor und die Boten finden, die über die Prinzipien des Dramas hinausgehen. Um zu betonen, dass das Drama nur eine mögliche Form des Theaters ist, unterscheidet Lehmann schließlich zwischen einer ›prädramatischen‹, einer ›dramatischen‹ und einer ›­postdramatischen‹ Phase im europäischen Theater.14 Er stützt sich hier auf Peter Szondi, der in seiner Theorie des modernen Dramas (1956) die Historizität der dramatischen Form und die Wechselbeziehung von Form und Inhalt aufgezeigt hat. Während Lehmann, aufbauend auf Szondi, überzeugend für die Geschichtlichkeit des Dramas argumentiert, ist seine eigene Konzeption des postdramatischen Theaters jedoch nicht in der Lage, adäquat zu erklären, wie sich theatrale Formen nach dem Ende des Dramas weiter verändern können.15 Dies ist auf seine Hinwendung zur Dekonstruktion zurückzuführen, mit der er versucht, Szondis Hegelianismus zu überwinden, der für ihn für Totalität und Teleologie steht.16 Lehmann zufolge sind Drama und Dialektik miteinander verknüpft. »Das Drama verspricht ­Dialektik«, wie er feststellt. Diese Dialektik weise dem Drama eine »endlich sinnerfüllte Perspektive [zu] […] – Versöhnung in der idealistischen Ästhetik, geschichtlicher Progress in der marxistischen Geschichtsbetrachtung«17. Mit dieser Ablehnung der Hegel’schen Dialektik beraubt Lehmann die Geschichtlichkeit der theatralen Form jedoch letztlich einer Zukunft. In Ermangelung eines Konzepts für die Zukunft haben Theatermacher:innen und -wissenschaftler:innen gleichermaßen begonnen, das postdramatische Theater als unpolitisches, postmodernes und selbstgefälliges Spiel zu kritisieren, das neoliberale Strukturen wiederholt und reproduziert, anstatt in sie einzugreifen und sie tatsächlich zu verändern. Ich stelle Lehmanns Gleichsetzung von Drama und Dialektik und seine anschließende Ablehnung jeglicher Dialektik infrage. Genauer gesagt widerspreche ich seiner Lesart, dass Dialektik notwendigerweise Teleologie und Totalität bedeutet, und behaupte, dass Theater-

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Einleitung

macher:innen, indem sie sich vom Drama abwandten, nicht unbedingt auch von der Dialektik abkehrten. In diesem Buch möchte ich vielmehr zeigen, dass im zeitgenössischen Theater eine alternative Dialektik am Werk ist, die auf einen verborgenen Materialismus des Aleatorischen und der Kontingenz beruht – eine Dimension, die Lehmann übersehen hat, da er ausschließlich die dominante materialistische Tradition von Ratio, Notwendigkeit und Teleologie im Sinn hatte.18 Diese Wiederentdeckung einer Dialektik führt schließlich zu einer alternativen Rahmung des zeitgenössischen Theaters, die dessen Beziehung zu den Wissenschaften und der Technologie in den Vordergrund rückt, von der man oft glaubte, sie sei mit Brecht und seiner Forderung nach einem Theater für das wissenschaftliche Zeitalter zu einem Ende gekommen.19 Brecht beschäftigte sich intensiv mit Quantenphysik und Biologie, bewertete aber nach den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki deren Potenzial für soziale und politische Veränderungen und deren Übernahme in den Theaterbereich neu.20 Wenn ich hervorhebe, dass Theater, Wissenschaften und Technologie auch nach Brecht weiterhin miteinander verflochten blieben und nicht erst in den letzten Jahren unter dem Eindruck von KI und Klimawandel wieder vermehrt in den Fokus der Theatermacher:innen gerückt sind, dann betone ich ein alternatives Szenario für die Entwicklung einer neuen theatralen Form seit den 1970er Jahren jenseits des Aufstiegs der Massenmedien, der für Lehmann der einzige wichtige Bezugspunkt war.21 Fluktuationen der Leere, oder: Taumeln zwischen Leben und Tod

Sophokles’ Antigone inszeniert ein eigenartiges Pulsieren zwischen Leben und Tod, sodass beide Kategorien nicht mehr klar fixierbar scheinen. Diese radikale Überarbeitung hat mit Antigones Widerständigkeit gegenüber dem Gesetz ihres Onkels, König Kreon, zu tun, das die Beerdigung ihres Bruders Polyneikes verbietet. Antigone kämpft für ihr Recht, ihren Bruder zu bestatten, selbst wenn dies bedeutet, dass sie dem Bruder lebend in den Tod folgen muss. Polyneikes’ unbestatteter und unbetrauerter Leib widersetzt sich der klaren Einordnung als tot. Er erscheint im Stück eher als lebender Toter, da er noch als Leiche das Schicksal der Lebenden bestimmt und leitet. Andererseits kann Antigone, obwohl sie noch lebt und für das Recht der Bestattung kämpft, nicht einfach als lebendig betrachtet werden. Sie ist eine tot-Lebende, deren Leben und Zukunft das Sterbebett ist. Indem die Tragödie die Kategorien von Leben und Tod verkompliziert, reflektiert sie über die Bedingungen der Möglichkeiten des Nicht-/

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Fluktuationen der Leere, oder: Taumeln zwischen Leben und Tod

Existierens.22 Antigone kreiert eine dynamische Beziehung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, zwischen Determinismus und Kontingenz und zwischen dem, was war, und dem, was noch sein könnte. Elfriede Jelinek webt Sophokles’ Antigone in den Epilog von Kein Licht (2011) ein, ihrem Stück über die Nuklearkatastrophe in Fuku­ shima.23 Sie tut dies, da auch ihr Theater die dynamische Beziehung zwischen Leben und Tod auslotet. Ja, mehr noch, Leben und Tod werden bei Jelinek auf den Theatertext selbst bezogen, der die Form des Dramas hinter sich lässt und stattdessen das Theater mit prosaähnlichen Texten ohne Figuren oder Typen, Dialoge, lineare Handlung und Regieanweisungen konfrontiert. Die Autorin selbst behauptet, dass ihre Stücke aufgrund der fehlenden Handlung und der nicht vorhandenen antagonistischen Held:innen vom Publikum oft als langweilig empfunden werden. »Es tut sich nichts«, so die Autorin in ihrem poetologischen Essay »Grußwort nach Japan«. Und dennoch, so die Autorin weiter, sind es gerade das Fehlen von Figuren und einer linear ablaufenden Handlung, die ihre Stücke leben und gedeihen lassen. »Deshalb glaube und hoffe ich, daß auch meine Stücke irgendwie leben […], aber anders, als wenn sie richtige Menschen und ihre Taten und Untaten imitieren würden.«24 Der Begriff des Lebens bezieht sich hier nicht mehr auf die Darstellung von Menschen innerhalb der theatralen Handlung, sondern auf den Text selbst, der sich wurzelartig ausbreitet und die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem ebenso wie zwischen Materie und Form verwischt. Jelinek verwendet immer wieder die Metapher des Rhizoms, insbesondere die Wurzel des Bambus, wenn sie über ihr Schreiben spricht. Der Bambus symbolisiert für sie eine Existenz zwischen Leben und Tod, Werden und Zerstörung; denn auch, wenn man die Pflanze an der Oberfläche zerstört, so wächst sie doch unterirdisch weiter und kann jederzeit wieder zum Leben erwach(s)en.25 Jelineks Theater kehrt also zur Erkundung der feinen Linie zwischen Leben und Tod zurück, die Sophokles’ Antigone charakterisiert und die Vorstellungen von Kontinuität und Diskontinuität, Determinismus und Kontingenz, von dem, was war, und dem, was noch sein könnte, verkompliziert. Rückkehr meint hier allerdings nicht die Wiederkehr von etwas Vergangenem, sondern eher eine Neuerfindung unter veränderten Bedingungen. In Jelineks Theater bestimmt das eigenartige Schwanken zwischen Leben und Tod nicht mehr die Figuren und ihr Schicksal, sondern zieht in die Struktur des Textes und des Theaters selbst ein, indem Text und handelnder/schreibender Körper auf unheimliche Art und Weise miteinander verwoben zu

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Einleitung

sein scheinen. Jelinek insistiert darauf, dass ihr Theater gleichzeitig Leben hervorbringt und Leben nimmt. Dies beschreibt sie am Beispiel der Schauspieler:innen ebenso wie am Beispiel des Körpers der Autorin selbst: Die Schauspieler:innen würden Leben verlieren, wenn sie die Texte der Autorin auf der Bühne zum Leben erwecken, da sich das Theater von ihrer Vitalität nährt. Gleichzeitig bedeute Theater für die Schauspieler:innen jedoch auch, temporär dem Tod zu entfliehen. Der Text selbst entsteht aus diesen Fluktuationen. So vergleicht die Autorin ihr Schreiben damit, auf einem Todesfloß zu stehen und mithilfe eines Charon-Stabs Fetzen aus dem Chaos herauszufischen.26 So entwickelt Jelinek einen Autor:innenbegriff, der sie zur blinden Bildhauer:in ihrer Texte macht – eine Formulierung, die ich später in der Einleitung im Kontext der Theoretisierung der Leere wieder aufgreifen werde. Es ist das ständige Schwanken zwischen Leben und Tod, zwischen Existenz und Nichtexistenz, das das ›Theater der Leere‹ kennzeichnet. Es ist ein Theater voller Gespenster, Untoter und unheimlicher Stimmen, die von jedem Körper und von jeglichem Ursprung losgelöst sind, die uns aber dennoch erreichen und auf eine Zukunft verweisen. Explosion des Dramas

Jelineks Theater ist nicht denkbar ohne die radikale Transformation der theatralen Form, die sich bei Heiner Müller findet. Ich betrachte Müllers Bildbeschreibung (1984) als den tiefgreifendsten Bruch mit jeglicher theatralen Konvention, in dem sich die Verwandlung des Dramas in ein ›Theater der Leere‹ vollzieht.27 Bildbeschreibung ist nur wenige Seiten lang, hat keinen ausgewiesenen Sprecher, besteht aus nur einem, sich über mehrere Seiten erstreckenden Satz und nimmt das Genre der Ekphrasis auf – nur um das Bild im Laufe der Beschreibung radikal zu entziehen bzw. zu zerstören. Bildbeschreibung war im Moment seines Erscheinens so ungewöhnlich, dass der Text Jelinek dazu veranlasste, ihre Art und Weise, für das Theater zu schreiben, zu überdenken: I ch habe nach dem Lesen von Heiner Müllers Bildbeschreibung plötzlich dieses, auch mein Unbehagen an Dialogen bemerkt. Man müßte vielleicht an eine andere Art von Stückpartituren denken, die nicht mehr dialogisch funktionieren [...]. Wenn ich je wieder etwas mache für die Bühne, dann eher in dieser Richtung; prosaähnliche Texte.28

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Explosion des Dramas

Jelinek änderte nach dem Lesen von Müllers Bildbeschreibung tat­ sächlich, welche Art von Texten sie für die Bühne verfasste. Sie begann, die für sie heute paradigmatisch gewordenen Textflächen zu schreiben, die durch ihren prosaähnlichen Stil charakterisiert sind, der meist gänzlich auf Dialoge, Figuren oder Typen, Handlung und die Unterteilung in Haupt- und Nebentext verzichtet.29 Die neue theatrale Form, die in Müllers Bildbeschreibung ihren extremsten Ausdruck findet, entsteht unter dem Eindruck der Möglichkeit einer totalen Vernichtung durch Atomwaffen, während sie zugleich die langsame Gewalt enthüllt, die durch die Konzentration auf die kommende Apokalypse meist verborgen bleibt.30 Bereits die ersten Zeilen des Textes nehmen deutlich auf das technowissenschaftliche Zeitalter Bezug, wenn der Erzähler die Anordnung der Bäume im Bild als »pilzförmig«31 beschreibt. Dieser Begriff evoziert nicht nur die Rauchwolke, die bei der Explosion einer Atombombe entsteht, sondern er erlaubt darüber hinaus Assoziationen zum Pilz als jenem Organismus, der von radioaktiven Emissionen lebt und der auch in radioaktiv verseuchten Gebieten überleben kann.32 Was sich daran anschließend entfaltet, sind höchst irritierende Szenen, die von einem tiefen sexuellen Begehren geprägt sind, das bei Müller immer auch ein gewalttätiges, tödliches Begehren ist. So tragen die Szenen zwischen Mann und Frau, die der Sprecher beschreibt, deutliche ­Zeichen der Gewalt, die jedoch auch Zeichen der Leidenschaft sein könnten: [ D]er hochlehnige Stuhl davor hat eine Besonderheit: seine vier Beine sind in halber Höhe mit einem Draht verbunden, wie um zu verhindern, daß er zusammenbricht, ein zweiter Stuhl liegt weggeworfen rechts hinter dem Baum, die Lehne abgebrochen [...], welche Last hat den Stuhl zerbrochen, den anderen unfest gemacht, ein Mord vielleicht, oder ein wilder Geschlechtsakt, oder beides in einem.33 Bildbeschreibung ist ein Totentanz, der Frau und Mann auf der dünnen Linie zwischen Leben und Tod balancieren lässt. Während der Mann an der Kippe zum Abgrund steht, wird die Frau als von den Toten Zurückgekehrte beschrieben, die zwischen ihrem »vielleicht täglichen Mord« und ihrer »vielleicht täglichen Auferstehung«34 gefangen ist. Das, womit Müller seine Rezipient:innen in diesem Stück konfrontiert, ist mehr als ein postmodernes Kunstwerk oder eine bloße Traumfantasie. Vielmehr macht Bildbeschreibung die Schrecken und

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Einleitung

Freuden der Grundlosigkeit des Seins erfahrbar. Dieses Fluktuieren zwischen Sein und Nichtsein geht weit über das menschliche Dasein und die unmittelbare Gegenwart hinaus: »Schutz vor dem Steinschlag, der von den Wanderungen der Toten im Erdinneren ausgelöst wird, die der heimliche Pulsschlag des Planeten sind.«35 Müllers Theater eröffnet eine planetarische Dimension. All diese höchst irritierenden Momente, die Bildbeschreibung inszeniert, kulminieren in dem, was Müller selbst das Ende des Bildes und der Darstellung nennt: »I think the text is exploding the image. It begins with the image, and the image explodes. At the end there is no image anymore.«36 Das Ende des Bildes ist schließlich untrennbar mit dem Ende des Dramas verbunden. So verknüpft Müller auch die Verwandlung des Dramas in eine neue theatrale Form mit der Explosion, wenn er am Ende von Bildbeschreibung anmerkt, dass der Text als die »Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur«37 verstanden werden muss. Die Explosion des Bildes sprengt also zugleich das Drama, das an eine Form der Repräsentation durch das Auge, den Blick und die Beobachtung gebunden ist,38 und erlaubt die Entstehung eines neuen Theaters, in dem die Dominanz des Auges dem Ohr und allgemeiner allen anderen Sinnen weicht.39 Durch den Entzug des Bildes regt Müller dazu an, die komplexe Verflechtung zwischen dem Un-/Sichtbaren, dem Un-/Hörbaren und dem Im-/Materiellen zu untersuchen. Konziser formuliert führt Bildbeschreibung auf die radikalste Art und Weise vor, was Müllers Theater im Allgemeinen vollzieht: Es stellt gängige Vorstellungen von Repräsentation zutiefst infrage. Bei Müller ist das Theater nicht mehr darauf begrenzt, ein Ort des Sehens zu sein (gr. theatron abgeleitet von gr. theasthai = sehen, schauen), sondern es wird zu einem Ort des Hörens und Fühlens.40 Der radikale Bruch mit konventionellen Darstellungsformen macht dieses Theater heute so aktuell, setzen sich doch Dramatiker:innen und Regisseur:innen zunehmend mit der Frage auseinander, wie das Theater am besten auf die Herausforderungen des Anthropozäns reagieren kann.41 Während die aktuellen Debatten im deutschsprachigen Raum das Theater wieder verstärkt mit dem Drama und dem bürgerlichen Repräsentationstheater identifizieren, geht das Theater, das mit Müller Gestalt annimmt, weit über die gegenwärtig oftmals kritisierte Limitation des Theaters auf Verkörperung von Individuen und die Darstellung von menschlichen Konflikten hinaus. Als ein Theater, das das Bild entzieht und die Macht des Blickes und der Zentralperspektive zerstört, wie sie in die Architektur der europäischen Theater eingeschrieben ist, ist es in der Lage, soziale, politische und

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Explosion des Dramas

planetarische Probleme zu erfassen, die mit Dingen verwoben sind, die zu klein und gleichzeitig zu groß sind, um sie auf der konventionellen Bühne erscheinen zu lassen.42 Dabei stellt es den Maßstab als analytisches Instrument infrage und erfordert stattdessen ein Denken in Begriffen der Topologie und Seismologie.43 Wie die feministische Theoretikerin und Wissenschaftsphilosophin Karen Barad zeigt, ist diese Umarbeitung der Bedeutung des Maßstabs im technowissenschaftlichen Zeitalter unumgänglich. Wenn ich von Umarbeitung spreche, dann tue ich dies, um zu betonen, dass es nicht einfach darum geht, dem Maßstab seine Bedeutung abzusprechen; vielmehr kann er nicht länger als gegeben begriffen werden. Denn wie Barad argumentiert, kann das, was weit entfernt erscheint, tatsächlich ganz nah sein. Ja, es kann sogar ein untrennbarer Teil von den uns unmittelbar umgebenden Dingen sein.44 Die neuen theatralen Formen, die sich ausgehend von Müllers Bildbeschreibung entwickelt haben, konfrontieren uns mit diesem Oszillieren zwischen Nähe, Distanz und Verstrickung, mit dem wir gegenwärtig konfrontiert sind, indem sie auf die Möglichkeit aufmerksam machen, den Maßstab nicht mehr länger als stabilen Grund für das Verständnis der Welt zu begreifen. Bildbeschreibung ist ein Theater, das sich bewusst mit der Grundlosigkeit des Seins im techno­ wissenschaftlichen Zeitalter auseinandersetzt und daraus Energie schöpft, um die theatrale Leere zu ermöglichen. Es ist ein Theater mit Geschichte und Geschichtlichkeit, aber ohne Ursprung. Folglich beschreibe ich Müllers theatrale Experimente als den Unfall und den Bruch, der zur Transformation der theatralen Form selbst führt. Ausgehend von seiner Arbeit an der Sprengung des Dramas zeichnet dieses Buch ein Theater der Grundlosigkeit, der Unbestimmtheit und der Wandelbarkeit nach, das derzeit die deutschsprachige Theaterlandschaft dominiert. Während Müller, Jelinek und Schlingensief eine kontinuierliche Beziehung zur Katastrophe und zum tragischen Modus als treibende Kraft ihres Theaters teilen, ist Pollesch ein interessanter Außenseiter, da bei ihm die Katastrophe in den Hintergrund rückt. Was wir hier sehen können, ist, dass es – obwohl Katastrophe und Leere eng miteinander verbunden sind – eine Möglichkeit für ein ›Theater der Leere‹ gibt, das nicht mehr auf die Katastrophe angewiesen ist. Allen vier gemeinsam ist jedoch, dass sie sich mit Fragen der Repräsentation und des Maßstabs auseinandersetzen. Sie verunsichern, was sichtbar ist und daher gewöhnlich von uns als etwas wahrgenommen wird, und dem, was unsichtbar und daher scheinbar nichts ist. Darüber hinaus bringen alle vier die

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Unterscheidung zwischen Leben und Tod ins Wanken und enthüllen gerade dieses schwankende Dazwischen als ein großes Potenzial für das Werden. Sie tun dies im ständigen Dialog mit etablierten theatralen Figurationen und Formationen und erfinden auf diese Weise zentrale Begriffe wie katharsis, anagnorisis, Gesamtkunstwerk und Brechts Lehrstück durch die veränderte Ontologie und Epistemologie des technowissenschaftlichen Zeitalters neu. Die Leere ist nicht leer: Potenzial und Zukünftigkeit

Dieses Buch versteht die Leere nicht im Sinne eines bloßen Nichts, sondern als den unbestimmten Ursprung und die Voraussetzung für alles, was ist und noch sein könnte. Als eine solch radikale Öffnung ist die Leere mit der Zukunft verbunden; eine Zukunft, die jedoch weder eine Teleologie noch eine Metaphysik der Gegenwart impliziert. Indem mein Buch Leere als radikales Potenzial begreift, reiht es sich in das seit Jahren in Theorie und Philosophie wachsende Interesse am Nichts ein – ein Interesse, das die Theatertheorie bislang jedoch noch nicht erreicht hat. Das Nichts wurde in den letzten Jahren von einer Vielzahl von Intellektuellen theoretisiert, darunter Alain Badiou, Slavoj Žižek und Timothy Morton, die alle betonen, dass das Nichts nicht einfach leer ist.45 Während mein Buch zwar in Dialog mit diesen Arbeiten tritt und mein Denken ohne Zweifel von ihnen geprägt ist, theoretisiere ich die Leere auf Grundlage von zwei ganz bestimmten Theoretikerinnen und Philosophinnen, die in diesem Zusammenhang bisher überhörte Stimmen geblieben sind: Catherine Malabou und Karen Barad. Dieser Fokus ist meinem Anliegen geschuldet, Theater und Naturwissenschaften stärker miteinander zu verknüpfen. Während Theater und Philosophie in engem Dialog stehen, ja mehr noch, das Theater üblicherweise als eine Form des szenischen Denkens und die Philosophie als eine Art »Architheater« betrachtet wird,46 hat das Verhältnis des Theaters zu den Naturwissenschaften bisher nur begrenzt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten.47 Malabou und Barad eröffnen für meine Studie faszinierende Perspektiven: Beide positionieren sich zwischen der Hegel’schen Dialektik und der Dekonstruktion und bieten somit eine dritte Position an, die es mir erlaubt, eine solche Perspektive auch in unser Verständnis von Theater einzuführen, das bislang vorwiegend durch Hegels Dialektik oder die Dekonstruktion bestimmt war.48 Diese Position bringt einen Modus des Werdens ohne Telos und Vorbestimmung zum Vorschein, der stattdessen von Wandel, Kontingenz und Unbestimmtheit geprägt ist und das Verhältnis zwischen Leben und Tod radikal umge-

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Die Leere ist nicht leer: Potenzial und Zukünftigkeit

staltet. Darüber hinaus schlagen beide eine Brücke zwischen Philosophie und Naturwissenschaften, wenn sie die Leere anhand der Biologie (Malabou) und der Quantenphysik (Barad) theoretisieren und damit auf jene Wissenschaften rekurrieren, die untrennbar mit dem modernen Theater verbunden sind. Malabou konzeptualisiert die Leere als plastisch, wobei Plastizität bei ihr die quasi unendliche Möglichkeit struktureller Veränderung bezeichnet, die durch die Abwesenheit von Determination ermöglicht wird. Sie entwickelt ihren Begriff der Plastizität zunächst anhand von Hegel,49 diskutiert ihn dann aber v. a. aus Perspektive der Biologie und Neurowissenschaft. In diesem Kontext wendet sie sich auch Charles Darwins Der Ursprung der Arten zu und liest die Studie gemeinsam mit Louis Althussers ›Materialismus der Begegnung‹. Wie sie zeigt, teilen beide ein Interesse am Nichts als Ausgangspunkt von allem, was ist. In Anlehnung an Althusser spricht Malabou auch von einem versteckten ›Materialismus des Aleatorischen‹.50 Wie sie zeigt, ist Darwin hier mit Althusser verwandt, da seine Studie über die Entstehung der Arten das Nichts zum ontologischen Ausgangspunkt macht. Ausgehend vom Argument einer ursprünglichen Leere argumentiert Darwin, dass die Wandlungsfähigkeit das wichtigste Merkmal einer Art ist.51 Malabou zeigt davon ausgehend, dass die quasi endlose Möglichkeit der strukturellen Veränderung eine Offenheit oder Abwesenheit von Vorbestimmung konstituiert, die eine Begegnung möglich macht. Darauf aufbauend argumentiert sie, dass Transformation und das Werden von Form also nicht unbedingt als total und abgeschlossen begriffen werden müssen. Vielmehr ist der Form eine Offenheit inhärent, da erst die Offenheit das Werden der Form überhaupt möglich macht. Malabou geht in weiterer Folge auch auf die grundlegende Verbindung zwischen der Variabilität der Individuen innerhalb derselben Art und der natürlichen Selektion zwischen diesen Individuen ein, die Darwin beschreibt. Diese natürliche Auslese würde die Zufälligkeit der Ersteren in eine Notwendigkeit verwandeln. In anderen Worten: Sie erlaubt das Annehmen einer Form, die dem natürlichen Anspruch der Lebensfähigkeit, Kohärenz und Autonomie des Individuums folgt.52 Während Darwins Theorie der natürlichen Selektion oft als ›Überleben des Stärkeren‹ verkürzt und missverstanden wird, zeigt Malabou also, dass er ein faszinierendes Modell für einen Prozess der Formgebung ohne Teleologie und Intention bietet. »Natural selection is paradoxically nonanticipatable, a promise of forms never chosen in advance, of differences to come.«53 In einem Selektionsprozess, der unvorhersehbar und ohne Endgültigkeit ist, werden die ent-

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stehenden Formen durch das Verschwinden des Benachteiligten und durch die Rückkehr der eliminierten lebenden Form zum Anorganischen geformt. Als solches wird das Unbelebte negativ zur Bedingung des Seins bzw. zum Projekt des Lebens.54 Mit Georges Canguilhem, den Malabou zitiert, können wir in einfachen Worten zusammenfassen: Der Tod ist ein blinder Bildhauer lebender Formen.55 Die komplexe Beziehung zwischen Leben und Tod, die Malabou hier beschreibt, prägt auch Barads Konzeptualisierung der Leere. Sie fasst die Leere vorwiegend in Begriffen des Gespenstischen und Geisterhaften und stützt sich bei dieser Konzeption auf die Quantenfeldtheorie, die im Gegensatz zur Newton’schen Physik nicht davon ausgeht, dass das Vakuum weder Materie noch Energie enthält. Vielmehr argumentiert sie, dass das Quantenvakuum aufgrund der Quantenunbestimmtheit nicht determiniert leer sein kann.56 Dies erlaubt es Barad schließlich, aufzuzeigen, dass das Vakuum – da es eben nicht determiniert leer ist – die Quelle allen Seins ist. »This indeterminacy is responsible not only for the void not being nothing (while not being something), but it may in fact be the source of all that is, a womb that births existence.«57 Wenn die Leere nicht leer ist, sondern das unbestimmte Potenzial aller In-/Existenz, dann ist die Leere nicht der Hintergrund, vor dem etwas erscheint, sondern ein aktiver, konstitutiver Teil eines jeden Dinges, wie Barad feststellt. Indem sie die Leere auf diese Weise konzeptualisiert, hebt sie hervor, dass sie das Leben mit dem Tod durchzieht und umgekehrt.58 Barad begreift die Leere also ähnlich wie Malabou als eine Potenzialität, die weder teleologisches Denken noch eine Metaphysik der Gegenwart befördert. Dabei lenkt sie aber auch ein, dass dieser Zustand des Nicht-/Seins schwer zu fassen ist, und stellt zur Veranschaulichung eine Analogie zur stillstehenden Membran eines Schlagzeugs her: Die Membran ist, nur weil sie gerade nicht bespielt wird, nicht einfach still; vielmehr säuseln in ihr alle möglichen Klänge. Es ist eine ›sprechende Stille‹.59 Auf der Grundlage dieser Analogie beschreibt Barad die Leere als uiet cacophony of different frequencies, pitches, tempos, meloq dies, noises, pentatonic scales, cries, blasts, sirens, sighs, syncopations, quarter tones, allegros, ragas, bebops, hiphops, himpers, whines, screams, are threaded through the silence, ready to erupt, but simultaneously crosscut by a disruption, dissipating, dispersing the would-be sound into non/being, an indeterminate symphony of voices.60

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Die Leere ist nicht leer: Potenzial und Zukünftigkeit

Ich zitiere diesen Absatz, weil Barads Charakterisierung der Leere als unbestimmte Sinfonie von Stimmen sofort an Jelineks polyphone Theatertexte erinnert. Ihre Texte konfrontieren die Rezipient:innen mit einer überwältigenden Anzahl von Klängen und Stimmen, die keine näher spezifizierte Quelle oder Ursprung haben. In ihren Texten herrscht Stille, die sich zugleich als »wuselndes Gemurmel« manifestiert. Dies zeigt, dass alles, was scheinbar still und unbewegt erscheint, alle möglichen Bewegungen und Geräusche miteinschließt; jene, die gewesen sind, und die, die sein (hätten) könn(t)en.61 Jelinek thematisiert dieses Schwanken zwischen Leben und Tod, zwischen Stille und Lärm in ihrer Dankesrede »Gesprochen und beglaubigt«. Hier ersetzt sie den Begriff des Schweigens durch den des Nichtsprechens, um die murmelnde Stille und das beredte Schweigen hervorzuheben, das ihre Texte charakterisiert: »Jetzt ist alles Sprechen und Nichtsprechen (ich sage nicht Schweigen), denn bei mir hält nie jemand den Mund auf der Bühne. Die sind nur solange da, wie sie sprechen.«62 Das Sprechen, das uns hier begegnet, ist ohne einen Körper und dennoch bleibt es paradoxerweise an einen Körper gebunden. Auch hier hilft Barads Ansatz, um diese paradoxe Beziehung zum Materiellen zu verstehen: Mit ihr lässt sich nachvollziehen, dass die Leere aufs Engste mit der materiellen Realität der Welt verbunden ist. Mit Bezug auf das Atom zeigt Barad, dass Materie aus Quantenfluktuationen besteht und damit Leere ein sie konstituierender Teil ist. Diese Fluktuationen, so Barad, erzeugen etwas Spukhaftes, das selbst in die kleinsten Teile der Materie eingeschrieben ist und nicht nur von allen unbestimmten Bewegungen der quasi endlosen möglichen Konfigurationen von Raum-Zeit-Materie heimgesucht, sondern auch konstituiert wird.63 In Anlehnung an die Quantenfeldtheorie schlägt Barad vor, diese geisterhaften Heimsuchungen als lebendige Unbestimmtheiten des Zeit-Seins zu begreifen.64 Das Spukhafte meint in diesem Sinne also nicht einfach die Erinnerung an eine (vermeintlich) abgeschlossene Vergangenheit, sondern es bezeichnet vielmehr die Dynamik der ontologischen Unbestimmtheit von Zeit-Sein/Sein-Zeit in ihrer Materialität. Barad bietet hier also ein Verständnis des Spukhaften, das über die bloße Form subjektiver menschlicher Erfahrung hinausgeht und als integraler Bestandteil des Werdens der Welt zu betrachten ist. Anders gesagt: Das Spukhafte übersteigt die individuellen, menschlichen Erinnerungen an Tote oder an vergangene Ereignisse, die nachklingen. Vielmehr reorganisiert der Spuk Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf komplexe Weise, indem er das Gespenstische von der Fixierung bzw. Verankerung in der Vergangenheit löst. Wenn die

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Gespenster in unsere bestehenden materiellen Bedingungen eingeschrieben sind, dann ist die Materie durchsetzt von Geschichte und Politik, die in die Vergangenheit ebenso wie in die Zukunft reichen.65 Wo genau aber ist die Leere, die Malabou und Barad im Kontext von Biologie und Quantenphysik beschreiben, im Theater? Das Theater unterscheidet sich gewiss von der natürlichen Selektion und dem Quantenvakuum, da es in ihm keinen ›blinden‹ Bildhauer gibt. Im Gegenteil: Das Theater ist ein höchst intentionaler Raum. Es folgt meist vordefinierten Kriterien, die eher Normen reproduzieren, anstatt das Unerwartete und Singuläre zuzulassen. Wenn es um die Leere im Theater geht, dann müssen wir also von dem ausgehen, was Malabou für die Leere im sozialen und politischen Bereich feststellt – nämlich dass wir annehmen müssen, dass diese Leere eventuell nicht existiert: [ I]f we could be certain of its existence, if we were able to know in advance, the encounter would never take place, and we would fall back into teleology again. The determination of this void of nothingness, of this point of possibility that opens all promise of justice, equality, legitimacy cannot be presupposed and cannot be as blindly and automatically regulated as in nature either. It has to be made possible.66 Anlehnend an Malabou behaupte ich für den Bereich des Theaters, dass wir davon ausgehen müssen, dass die Leere eventuell nicht existiert und daher möglich gemacht werden muss; sie ist eine Praxis und Arbeit. Die Theaterarbeiten, die ich in diesem Buch beschreibe, zeugen von dem Bewusstsein, dass die Leere eher eine Aufgabe als eine Selbstverständlichkeit ist. Die Leere, die in ihnen erzeugt wird, ist oftmals mit intensiven (Aus-)Brüchen (manchmal sogar in Form einer Atomexplosion) verbunden, die Momente entstehen lässt, in denen große Energie freigesetzt wird, die wiederum das Singuläre und Unerwartete ermöglichen. Die von mir besprochenen Arbeiten interessieren sich für das Scheitern, den Unfall, die Explosion und das Unqualifizierte, annehmend dass diese Momente im Theater dem nicht zuordenbaren Ort eine Form geben können. Auch hier schließe ich an Malabou an, die den ›unzuordenbaren Ort‹ als einen Ort ohne Eigenschaften, ohne Privilegien, ohne Vermächtnisse und ohne Tradition beschreibt.67 Wie Malabou argumentiert, können nur von diesem Ort aus neue Formen entstehen, die singulär, unvorhersehbar, unerhört und regenerierend sind.68 Da der unbestimmbare Ort mit Prozessen der Formung und Formgebung verbunden ist, wird in diesem Buch

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Auf dem Weg zu einem Theater der Leere: Nietzsche und Brecht

betont, dass die Ermöglichung des unbestimmbaren Ortes im Theater nicht einfach bedeuten kann, die Leere zu thematisieren, sondern dass die Werke ihre Energie und Form aus der ursprünglichen Abwesenheit von bestimmtem Sein generieren müssen. Auf dem Weg zu einem Theater der Leere: Nietzsche und Brecht

Auch wenn die Leere im Sinne des radikalen Potenzials erst mit der Explosion des Dramas und der Verwandlung der theatralen Form bei Heiner Müller das Theater zu bestimmen beginnt, sind auch schon in früheren historischen Theaterexperimenten Tendenzen zu erkennen, die auf eine solche Leere hindeuten. Das Theater ist die Kunstform der Maske und daher untrennbar mit der Leere als dem grundlosen Grund des Seins verbunden: Die Maske birgt immer das Risiko, dass sich hinter ihr nichts Ursprüngliches oder Wesentliches verbirgt, sondern dass immer nur eine andere Maske zum Vorschein kommt.69 Während also eine Untersuchung der Leere in verschiedenen historischen Theaterformationen in der Tat vielversprechend zu sein scheint, möchte ich im Kontext dieser Einleitung jene zwei wesentlichen Versuche hervorheben, das Theater neu zu denken, die tief in das ›Theater der Leere‹ eingeschrieben sind. Diese Versuche lassen sich unter den Namen Nietzsche – und mit ihm Hölderlin, Wagner und die frühe Avantgarde – und Brecht zusammenfassen. Während, wie Frank M. Raddatz erst kürzlich wieder betont hat, Nietzsche und Brecht zweifellos als die einflussreichsten Stimmen für die Neuformulierung des Theaters in der deutschsprachigen Theaterlandschaft gelten müssen,70 besteht die Besonderheit des ›Theaters der Leere‹ darin, dass hier diese beiden scheinbar gegensätzlichen, ja manchmal sogar widersprüchlichen Stränge ineinandergreifen. In diesem Zusammenhang ist von zentraler Bedeutung, dass sowohl Brecht als auch Nietzsche das Theater in seiner Beziehung zu den Wissenschaften definieren. Nietzsche versucht, es durch eine Hinwendung zum Dionysischen neu zu erfinden, was für ihn die Bereiche des Unbewussten, des Unbekannten, des Rituals, der Ekstase und des Orgiastischen umfasst.71 Indem er die Nähe des abendländischen Theaters zum Dionysos-Kult betont, wird das Theater in seiner kathartischen Funktion wiederentdeckt und – durch Prozesse der Metamorphose und Transformation – zu einem wesentlichen Heilmittel des Individuums und der Gesellschaft erklärt. Eine solche Heilung ist, Nietzsche folgend, nur durch die Abkehr vom Prinzip der Ratio und der Logik möglich, das er mit Sokrates und – im Bereich des dramatischen Schreibens – mit Euripides identifiziert.72

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Die Kritik, die ­Nietzsche an Sokrates formuliert, stellt also zugleich eine wissenschaftliche Weltanschauung infrage, die auf Erkenntnis und Prinzipien von Ursache und Wirkung beruht. Die Kunst, davon war N ­ ietzsche überzeugt, und insbesondere die Wiedergeburt der Tragödie können als Mittel fungieren, um den wissenschaftlichen Menschen zu heilen und die auf Vernunft und Wissen beschränkte naturwissenschaftliche Perspektive zu ergänzen. In dieser Abkehr von jeglicher Ratio öffnet Nietzsche das Theater erneut für Geister, Gespenster und all jene Energien, die seit Sokrates mehr oder weniger vom Zentrum des dramatischen Konflikts verbannt waren. Inspiriert von dieser Neuinterpretation der altgriechischen Tragödie begannen Theatermacher:innen im 19. und 20. Jahrhundert, dionysische Elemente des Theaters jenseits des Dramas wiederzuentdecken. Dies bedeutete oftmals eine Abkehr vom Einsatz der Sprache als Träger von Bedeutung hin zur Sprache als Material. Als solches wurde mit Rhythmus, Klang und der sinnlichen Seite von Sprache und Stimme experimentiert. Man findet solche Tendenzen in Wagners Gesamtkunstwerk, in den Arbeiten der frühen Avantgarde, aber auch in Antonin Artauds Vision eines ›­Theaters der Grausamkeit‹. Im Gegensatz zu Nietzsche äußerte sich Brecht deutlich skeptischer gegenüber dem Dionysischen. Für ihn bedeutete der von Nietzsche gefeierte ekstatische Rausch nichts weiter als eine Drogenverabreichung, die das Publikum einlullt und in eine gefährliche Masse verwandelt. Ihm schwebte stattdessen – ganz in der Tradition von Sokrates und Euripides – ein Theater für das wissenschaftliche Zeitalter vor, das eine laborähnliche Situation der distanzierten Beobachtung ermöglicht.73 Brecht beschreibt dieses Theater in verschiedenen Zusammenhängen, am prominentesten aber in seinem Kleinen ­Organon für das Theater und in dem umfangreicheren, Fragment gebliebenen theoretischen Werk Der Messingkauf. In diesen Texten erläutert er sehr ausführlich die Forderung nach einer neuen Spielweise, die keine Identifikation und Einfühlung zulässt, sein Prinzip der Verfremdung, und die Verwendung epischer Elemente, die ein neues Theater auf der Grundlage aktuellster wissenschaftlicher Praktiken und Erkenntnisse entstehen lassen sollen. Und doch, so Raddatz, beschränkt sich Brechts Verständnis der Naturwissenschaften auf die modernen Naturwissenschaften, symbolisiert durch ihren Gründervater Galileo Galilei, dem Brecht ja bekannter Weise einen Theatertext gewidmet hat. Wie Raddatz zu Recht argumentiert, sind diese Art der Ausübung der Wissenschaften und das von ihnen geschaffene Weltbild in der Gegenwart problematisch geworden.74

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Auf dem Weg zu einem Theater der Leere: Nietzsche und Brecht

Das ›Theater der Leere‹ ist mit diesen beiden soeben skizzierten Strängen eng verbunden, transformiert und erfindet sie jedoch unter dem Eindruck des technowissenschaftlichen Zeitalters neu. Es ist verwandt mit Brechts Ideen für ein Theater, das mit Identifikation und Einfühlung bricht. Gleichzeitig ist Nietzsches Hinwendung zur attischen Tragödie und sein Interesse an ihrer heilenden Funktion in Verbindung mit der Betonung von Rhythmus, Klang und dem, was jenseits konventioneller menschlicher Kognition liegt, wesentlich für das ›Theater der Leere‹. Es ist genau diese Schnittstelle von Brecht und Nietzsche, an der das ›Theater der Leere‹ eine Ästhetik entwickelt, die kraftvoll in die Gegenwart interveniert. Wie Karen Barad argumentiert, ist das heutige Zeitalter nicht streng technowissenschaftlich, sondern durch und durch ›techno-­ militärisch-politisch-kapitalistisch-imperialistisch-rassistischkolonial‹.75 Das ›Theater der Leere‹ befragt die Bindung der Wissenschaften an Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus kritisch und ergänzt sie durch radikale, sinnliche Experimente, die auf eine komplexe und verschränkte Welt reagieren. Gleichzeitig bezieht es auch die ontologischen und erkenntnistheoretischen Verschiebungen ein, die sich durch neue wissenschaftliche Befunde ergeben und das geschlossene System des technowissenschaftlichen Zeitalters aufbrechen. Kurz gesagt: Es ist ein Theater, das als kritische Antwort auf die Verstrickung von Wissenschaft, Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus zu verstehen ist, das sich aber auch gleichzeitig produktiv auf die Naturwissenschaften bezieht. Denn diese offenbaren eine Form der Grundlosigkeit des Seins, die eine Zukunft verspricht, da sie eine Möglichkeit für Veränderungen in das gegenwärtige scheinbar geschlossene kapitalistische System einführt.76 Allgemeiner ausgedrückt ist die in den 1970er Jahren einsetzende Veränderung der theatralen Form untrennbar mit umfassenderen Fragen des Wandels und der Zukunft auf einem Planeten verbunden, der an einem Endpunkt angekommen zu sein scheint. Während ich die Biologie und die Quantenphysik als jene beiden Wissenschaften identifiziere, die entscheidend dafür sind, dass die Leere zu einer Quelle der radikalen Öffnung im Theater wird, taucht die Quantenphysik in diesem Buch auch im Zusammenhang mit der schlimmstmöglichen Katastrophe auf, die das kulturelle und politische Imaginäre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat: die vollständige Vernichtung des Planeten durch Nukleartechnologie. Die nukleare Bedrohung ist tief in das kulturelle, politische und wirtschaftliche Bewusste und Unbewusste der zweiten Hälfte

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des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. Sie hat in der Tat eine neue Subjektivität hervorgebracht, die zwischen zwei Formen des Todes steht – dem natürlichen Tod eines Individuums und dem Tod einer Spezies durch Ausrottung.77 Gegenwärtig wird diese Bedrohung von der Angst vor den Auswirkungen der globalen Erwärmung begleitet, die uns zu erkennen zwingt, dass die endgültige Zerstörung nicht etwas ist, das uns in der Zukunft erwartet, sondern dass wir bereits in der ­Gegenwart von extremen Formen der Gewalt umgeben sind. Mit Rob Nixon spreche ich in diesem Zusammenhang von der ›langsamen Gewalt‹ im technowissenschaftlichen Zeitalter.78 Indem ich die atomare Bedrohung mit der globalen Erwärmung in Verbindung bringe, zeige ich auf, dass die theatralen Formen, die sich in den 1970er Jahren zu e­ ntwickeln begannen, nicht veraltet und auf die Jahre des Kalten Krieges beschränkt sind. Im Gegenteil: Die theatrale Untersuchung der Leere, die in den 1970er Jahren begann, ist auch heute noch höchst relevant. Aufbau des Buches

Theater der Leere führt Aufführungen, Theatertexte, poetologische Texte und Kommentare von Autor:innen und Regisseur:innen zusammen und liest sie mit und durch Barad und Malabou. Dies ist meiner Überzeugung geschuldet, nicht der zurzeit gängigen Praxis zu folgen, Theatertext und Aufführung strikt voneinander zu trennen, sondern den Theatertext als eine mögliche Inszenierung auf Papier zu begreifen und ihn so gleichwertig zur Aufführung zu behandeln, jedoch ohne ihn hierarchisch über die Inszenierung zu stellen. Die Entscheidung, sowohl Theaterautor:innen als auch Regisseur:innen zu berücksichtigen, führt auf den ersten Blick zu einem Ungleichgewicht zwischen den einzelnen Kapiteln. Während in den Abschnitten zu Müller und Jelinek Inszenierungen der Texte nur kurz erwähnt werden und stattdessen ausschließlich die Theatralität des Textes selbst im Mittelpunkt steht, werden in den Kapiteln über Schlingensief und Pollesch ausschließlich Aufführungen analysiert. Dieses Ungleichgewicht ist aber notwendig und gewollt, denn nur so kann ich die Radikalität des Theaters von Müller und Jelinek hervorheben, die den Texten selbst eingeschrieben ist, jedoch in den bislang entstandenen Inszenierungen meist verloren geht. Das hat damit zu tun, dass beide Dramatiker:innen davon überzeugt sind, dass der Text bestehende Theaterinstitutionen herausfordern und sie mit einem Text konfrontieren muss, der noch auf sein Theater wartet. Müller betont dies bei zahlreichen Gelegenheiten, so z. B. in einem kurzen Statement von

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1974, in dem er erklärt: »Theatres are establishments and in need of literature’s endeavor to counteract this tendency of conservation. I consider plays which cannot be staged in their original written form a necessity.«79 Ich konzentriere mich in diesem Buch auf Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch, deren Arbeiten Einblick in ein Theater geben, das sich intensiv mit der Leere beschäftigt. Die bewusste Hinwendung zur Leere ist untrennbar mit der Auseinandersetzung der einzelnen Theatermacher:innen mit den Naturwissenschaften verbunden. Diese Beschäftigung drückt sich zum einen in der Entstehung dieses Theaters aus, die nicht von der Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Wissenschaften in die mögliche totale Vernichtung des Planeten durch Atomwaffen losgelöst werden kann. So konstatiert Müller selbst, dass sein Theater »die Katastrophen voraus[setzt], an denen die Menschheit arbeitet.«80 Zum anderen zeigt sie sich in dem offensichtlichen Interesse an den Naturwissenschaften: Obwohl Müller und Jelinek den Naturwissenschaften skeptisch gegenüberstehen und sich kaum auf einer tieferen Ebene damit auseinandersetzen, nehmen ihre Arbeiten dennoch die radikalen Veränderungen unseres Weltverständnisses vorweg, die v. a. die Quantenphysik und die Neurowissenschaften hervorbringen.81 Bei Schlingensief und Pollesch können wir ein offenes Interesse an und eine teilweise auch tiefere Auseinandersetzung mit beiden wissenschaftlichen Bereichen feststellen. Schlingensiefs besonderes Interesse gilt den Neurowissenschaften und der Funktionsweise des Gehirns, die ihn seit einem Vortrag über die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses, den er als Kind zusammen mit seinem Vater besuchte, faszinierten.82 Pollesch wiederum war ein begeisterter Leser von Donna Haraway und in seinen letzten Lebensjahren auch von Karen Barad, was ihn dazu veranlasst hat, wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Bereich der Biologie und Quantenphysik im Theater nutzbar zu machen. In seinen Werken finden sich die offensichtlichsten Bezüge zu den Wissenschaften; seine Stücke benennen und beschäftigen sich direkt mit bestimmten Experimenten, Wissenschaftler:innen und neuen Forschungsansätzen. In Theater der Leere konzentriere ich mich auf diese vier Theatermacher:innen, weil sie das deutschsprachige Theater auf singuläre Weise geprägt haben. Dennoch ist es mir wichtig zu betonen, dass diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Sie ist, ganz im Gegenteil, ein Ausgangspunkt, um über die Leere im Theater in verschiedensten Kontexten nachzudenken.

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Ich konzentriere mich in jedem Kapitel auf eine bestimmte Arbeit oder sogar nur eine bestimmte Szene, von der ausgehend ich die theatrale Praxis und Ästhetik der vier Theatermacher:innen im Allgemeinen diskutiere. Um den überwältigenden und schwer zu fassenden Werken gerecht zu werden, vermeide ich es dabei ganz bewusst, über sie in einer Weise zu sprechen, die diese Texte und Aufführungen unmittelbar lesbar macht. Stattdessen führt meine Analyse zunächst in die einzelnen, manchmal scheinbar disparaten Stränge ein und verweist erst später auf mögliche Verbindungslinien. Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie auch einzeln gelesen werden können. Daher erkläre ich die wichtigsten Konzepte nicht nur in der Einleitung und in Kapitel 1, sondern ich komme in den einzelnen Kapiteln – wo immer es notwendig erscheint – darauf zurück, sodass ein Zurückblättern zu anderen Kapiteln nicht unbedingt notwendig ist. Um den Leser:innen die Orientierung zu erleichtern, verweise ich zudem auf andere Kapitel und auf Berührungspunkte zwischen den einzelnen Theatermacher:innen. Das erste Kapitel dieses Buches, Unfall, Explosion, Atomblitz, entwickelt die Theorie des ›Theaters der Leere‹ weiter und diskutiert die Bedeutung von Bruch und Kontinuität ausgehend von Malabous Konzept der Plastizität. Meine Theoretisierung des ›Theaters der Leere‹ orientiert sich dabei eng an Heiner Müllers kurzer, rätselhafter Rede »Die Wunde Woyzeck«, die er 1985 in Darmstadt anlässlich der Verleihung des renommierten Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hielt. Der Blitz oder die Atomexplosion, mit der Müllers Rede endet, dient mir als Ausgangspunkt, um mich mit der Spekulation über die totale Zerstörung des Planeten durch Atomwaffen im Zusammenhang mit der Entstehung des ›Theaters der Leere‹ zu beschäftigen. Der Fokus auf den schlagartigen Ein- und Umbruch durch einen Moment großer Sprengkraft ist mein Ausgangspunkt, um die Plastizität des ›Theaters der Leere‹ sichtbar zu machen. Ich weise auf die Bedeutung der Explosion, des Unfalls und des Unvorhersehbaren hin, die jedoch nie ganz von der Erwartung und der Entschlossenheit abgekoppelt sind und Müllers Theater nicht nur thematisch, sondern auch poetisch und dramaturgisch prägen. In Anlehnung an Malabou zeige ich, dass die theatrale Form, die hier entsteht, am besten im Sinne einer »destruktiven Plastizität« gedacht werden kann. Ich betone, wie sich im ›Theater der Leere‹ eine Zukunft abzeichnet, die sich von einem Theater unterscheidet, das einem konventionellen Verständnis von Dialektik oder Dekonstruktion folgt. Dies wird besonders deutlich, wenn wir nach dem Modus der Heilung

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fragen, der in Müllers Rede mit der Formulierung, dass Woyzeck die offene Wunde sei, angesprochen wird. Ich zeige, dass das ›Theater der Leere‹ von einem Modus der Heilung geprägt ist, den Malabou Regeneration nennt. Als Theater der Regeneration bietet es eine Alternative zu Modellen der Erlösung und Errettung ebenso wie zu einem Denken in Begriffen der Narbe, die eine Spur hinterlässt. Schließlich wende ich mich der Frage der Geschichte und der Geschichtsschreibung zu, die für die Theatermacher:innen, die ich in diesem Buch bespreche, so wichtig ist. Geschichte und Geschichtsschreibung werden in der Forschung bislang vorwiegend mit der Methode der Archäologie verbunden. Ich dagegen schlage eine Hinwendung zur Seismologie vor. Diese teilt mit der Archäologie, dass sie sich einer linearen Geschichtskonzeption entzieht.83 Und doch geht die Seismologie noch einen Schritt weiter, da sie den sinnlichen Eindruck betont, der über den Blick hinausreicht. Der Seismograf reagiert auf Vibrationen; er spürt Brüche und Erschütterungen auf, die zwar unsichtbar, aber nicht ohne Wirkung sind. Die Kapitel 2 bis 5 analysieren einzelne Theatertexte und Aufführungen und beleuchten die vielfältigen Formen, die das ›Theater der Leere‹ annimmt. Kapitel 2, Raum-Zeit-Verlust, liest eine der rätselhaftesten Szenen aus Müllers Theatertexten, »Der Mann im Fahrstuhl«, die das Revolutionsstück Der Auftrag unterbricht. Diese Szene, die auch als eigenständiger Prosatext veröffentlicht wurde, lässt uns miterleben, wie ein Angestellter auf dem Weg zu seinem Chef aus Zeit und Raum zu fallen scheint. Die Zeit bewegt sich in dieser Erzählung nicht mehr linear und ist nicht mehr auf konventionelle Weise messbar, sondern sie entfaltet sich in einem ungewohnten, für den Erzähler nicht verständlichen Rhythmus. In ähnlicher Weise scheint der Aufzug, in dem sich der Angestellte befindet, nicht mehr im Raum verankert, da er ihn nicht einfach von einem Stockwerk zum anderen befördert, sondern durch Raum und Zeit reisen lässt und schließlich auf einer abgelegenen Landstraße in Peru quasi ›ausspuckt‹. In Anlehnung an Barad behaupte ich, dass wir in diesem kurzen Text einen Übergang von der Welt nach dem Modell Newton’scher Physik hin zu einem quantenphysikalischen Weltmodell erfahren. Das Ende dieser kurzen Erzählung ist besonders herausfordernd, da es ein Subjekt zeigt, das sich in einer neuen und ungewohnten Welt wiederfindet. Um dies zu erklären, beziehe ich Malabous Überlegungen zum ›zerebralen Subjekt‹ mit ein, das aus der Erfahrung des Unfalls oder Traumas entsteht, und behaupte, dass das, was wir am Ende von Müllers Text erleben, ein solch indifferentes Subjekt ist, das sich nicht mehr

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über den Trieb erklären lässt, sondern das geprägt ist durch die radikale Möglichkeit, sich jederzeit selbst zu verlieren. In Kapitel 3, Endzeit. Zeitenende, beschäftige ich mich mit Elfriede Jelinek und ihrer theatralischen Erkundung dessen, was es bedeutet, in Endzeiten zu leben – oder besser gesagt, in Zeiten, in denen die Zeit zu einem Ende gekommen und damit also sterblich geworden ist. Ich konzentriere mich in diesem Kontext auf ihr Stück Kein Licht, einen Text, der als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011 entstanden ist. Das Stück verschränkt Musik und radioaktive Strahlung, um auf diese Weise die materielle Realität des für unsere Augen nicht Wahrnehmbaren zu erkunden. Mehr als jede andere Theaterarbeit, mit der ich mich in diesem Buch beschäftige, entzieht Jelineks Stück dem Auge jeglichen visuellen Eindruck und schafft stattdessen ein Theaterstück, das in erster Linie unsere Ohren anspricht. Kein Licht ist voll von Geräuschen und Stimmen, die uns erreichen, aber keinerlei Ursprung haben. Die Bedeutung des Auditiven wird durch eine Geräuschkulisse betont, die die Stimmen der beiden angeführten Sprecher ›A‹ und ›B‹ begleitet, die sich manchmal als erste und zweite Geige, als Quantenpartikel, als Überlebende einer Katastrophe und als Suchtrupp adressieren. ›A‹ und ›B‹ sind also keine authentische Quelle eines Sprechens, sondern scheinen lediglich ein Werkzeug oder Instrument zu sein, das Botschaften aufnimmt, die aus heterogenen Zeiten und Orten stammen, und diese Signale in Sprache umwandelt. Mit Barad zeige ich, dass der Text das Murmeln der Leere greifbar macht, aus der alle Möglichkeiten des Nicht/Seins hervorgehen. Jelinek überarbeitet auf diese Weise nicht nur die Art und Weise, wie wir über Repräsentation im Theater nachdenken, radikal, sondern sie stellt auch den Begriff der katharsis infrage und verweist damit auf eine alternative Form der Heilung im bzw. durch das Theater. Wenn die Leere nicht leer ist, gilt das Versprechen der Läuterung durch die Reinigung durch bzw. von Gefühlen nicht mehr. Jelineks Theater (er-)findet daher eine radikal neue Form der katharsis, die von Emotionen losgelöst ist und ihre wichtigste Wirkung aus dem potenziellen Gleichgültig-Werden des Subjekts bezieht. Kapitel 4, Dunkelheit, Bewegung und Metamorphose, wendet sich schließlich dem Werk von Christoph Schlingensief zu. In diesem Kapitel greife ich den Begriff der Wunde wieder auf, der in ­Müllers Büchner-­Preis-Rede so zentral ist, und zeige, dass Wunde und Leere auch bei Schlingensief aufs Engste miteinander verwoben sind. Schlingensief inszenierte Wagners letzte Oper Parsifal in den Jahren 2005 bis 2007 in Bayreuth. Die Berührung mit Wagner kann als ein

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Moment größter Energie – als der besagte Unfall und die Explosion – angesehen werden, der Schlingensiefs Theater seine Form gibt. Seit seiner ersten Begegnung mit dieser Oper arbeitete sich Schlingensief obsessiv daran ab, stellt dabei die darin zelebrierte Erlösungsvorstellung infrage und ist darauf bedacht, eine Gegenerzählung zu finden, ohne die enorme Wirkkraft zu verlieren, die er in Wagner sah. So schuf Schlingensief zahlreiche kleine künstlerische Aktionen, in denen er die Oper in ungewohnten Kontexten und für ein ungewohntes Publikum – wie z. B. tote und lebende Tiere – präsentierte. All diese Versuche waren immer mit der Hoffnung verbunden, über die in Wagners Oper formulierte Erlösungsfantasie hinauszukommen. Diese Suche gipfelte in einem Kurzfilm, den Schlingensief für die Karfreitagsszene in seiner Bayreuther Inszenierung verwendete und der den organischen Zerfall eines Hasen im Zeitraffer zeigt. Wie Schlingensief betonte, repräsentiert der Film für ihn die Akzeptanz des Verschwindens als ein Gegenmodell zur Wagner’schen Erlösung. Schlingensief kehrte in den meisten seiner späteren Produktionen zu diesem Kurzfilm zurück, fasziniert von der Unschärfe der Grenze zwischen Leben und Tod im Verwesungsprozess. Anhand dieses Kurzfilms zeige ich, dass Schlingensief die Leere in seinem Theater durch die Hinwendung zu kinematografischen Prinzipien herstellt. Diese Prinzipien finden in der Entwicklung des »Animatographen«, einer sich ständig in Bewegung befindlichen Drehbühne, ihren ausgefeiltesten Ausdruck, da hier das Interesse für die Bewegung als transformative Praxis und Experimente mit dem Scheitern und der Täuschung des Auges verbunden werden. Bei der Konstruktion dieser Drehbühne war Schlingensief von der Funktionsweise des Gehirns inspiriert, die ihn auf den Zusammenhang von Zerstörung und Konstruktion aufmerksam machte – was er fast credoartig mit dem folgenden Satz zusammenfasste: »Erinnern heißt vergessen«. Wie ich zeigen werde, verwandelt Schlingensiefs ›Theater der Leere‹ Wagners Gesamtkunstwerk in eine Kunstform der Metamorphose, jedoch ohne jegliches Versprechen von Auferstehung und Aufhebung. In Kapitel 5 fokussiere ich schließlich auf René Pollesch, der sich von der Katastrophe löst und die Leere außerhalb des tragischen Modus neu erfindet. Mehr als alle anderen Regisseur:innen und Dramatiker:innen, die ich bespreche, befasst sich Pollesch mit den Naturwissenschaften und kehrt zu Brechts Lehrstück-Konzept zurück, um es für das 21. Jahrhundert neu zu erfinden. Ich bespreche in diesem Kapitel eines seiner jüngeren Stücke, Probleme Probleme Probleme (2019), in dem er das Doppelspaltexperiment für die Bühne

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adaptiert. Bei diesem handelt es sich um eines der entscheidendsten Experimente für die Entstehung der Quantenphysik: Das Doppelspaltexperiment zeigte, dass sich Partikel je nach experimentellem Setting sowohl wie Teilchen als auch wie Wellen verhalten können. Pollesch stützt sich auf dieses Experiment, um über ein queeres Theater nachzudenken, in dem jede Vorstellung von einer stabilen Identität durch den fortlaufenden Prozess des Werdens überarbeitet wird. Wie Barad argumentiert, wird dieser Prozess durch das spezifische Arrangement zwischen Messobjekt, Messendem und Messwerkzeug geprägt. Hier kann ich eine Brücke zwischen Quantenphysik und Biologie herstellen, indem ich eine Verbindung zu Polleschs Behauptung aufzeige, das Theater unserer Zeit müsse ein »Darwin-Theater« sein, wie er es in seinem poetologischen Text Der Schnittchenkauf fordert; ein Text, der sich deutlich auf Brechts poetologisches Fragment Der Messingkauf bezieht. Ausgehend von Malabous Darwin-Lektüre argumentiere ich, dass Darwins Theorie des Werdens im Bereich der Biologie etwas Ähnliches offenbart wie das Doppelspaltexperiment im Bereich der Physik. Polleschs Interesse an beidem, so die These, rührt von seinem Versuch her, das Theater zum ›nicht zuordenbaren Ort‹ zu machen, an dem das Unerwartete und Singuläre geschehen kann. Ich schließe das Buch mit einer Diskussion darüber, was das ›Theater der Leere‹ zu einer Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart beitragen kann. In diesem Zusammenhang wende ich mich der aktuellen Kritik am Theater als einer alten, überholten Kunstform zu, die nicht in der Lage sei, auf die drängendsten Probleme unserer Zeit zu reagieren (Malzacher, Raddatz). Ich stelle solche Behauptungen infrage und zeige, dass das ›Theater der Leere‹ eine theatrale Grammatik bereitstellt, um sich mit einer Welt auseinanderzusetzen, die nicht nur aus den Fugen, sondern auch aus jedem Maß geraten ist. In diesem Kapitel wende ich mich der anagnorisis zu und zeige, dass wir hier eine Öffnung finden, die das ›Theater der Leere‹ mit aktuellen ökokritischen Ansätzen in Verbindung bringt. Ich beziehe mich in diesem Kapitel v. a. auf Timothy Morton und Amitav Ghosh, die beide intensiv über den Moment der Erkenntnis nachdenken, um darzulegen, dass das ›Theater der Leere‹ eine neue Form der anagnorisis entwickelt, die unheimliche Begegnungen mit Entitäten zulässt, die stets zwischen Vitalität und Unbelebtheit schwanken. Abschließend zeige ich, dass das ›Theater der Leere‹ keineswegs ein Theater der Verzweiflung und der Schwere ist, sondern dass es ein Denken der Leichtigkeit und der Freude in die Erfahrung eines Lebens nach dem Ende der Welt einführt und damit ein genuines Charakteristikum des Theaters,

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nämlich ein leichtes Instrument zu sein, wie es Brecht im ­Messingkauf formuliert, fortschreibt.

­ 1 Hölderlin, Friedrich: »Sophokles: Antigonae«, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Michael Franz, Michael Knaupp und D. E. Sattler, Basel 1988, S. 261 – 407, S. 299, S. 349 – 350. 2 Im Kontext des westlichen und insbesondere des deutschsprachigen Theaters ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Katastrophen des späten 20. Jahrhunderts nicht vollständig von der Kaskade jener Katastrophen, die das frühe 20. Jahrhundert prägten, abgekoppelt werden können. Im Gegenteil: Das ›Theater der Leere‹ steht im Zusammenhang mit den ästhetischen Experimenten, die sich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Shoah und den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs entwickelt haben. Für eine allgemeinere Diskussion unseres Verständnisses der Katastrophe im 20. und 21. Jahrhundert und für eine Diskussion der Beziehung zwischen Shoah, Hiroshima und Fukushima siehe Nancy, Jean-Luc: After Fukushima. The Equivalence of Catastrophes, New York 2015. 3 Wenn ich hier von deutschsprachigem Theater spreche, dann tue ich dies nicht im Sinne eines Ausschlusses von Theaterpraktiken und -arbeiten in nicht-deutscher Sprache, sondern ich beziehe mich auf die Spezifität der deutschsprachigen Theaterlandschaft, die geprägt ist von Kunstschaffenden aus verschiedenen kulturellen Kontexten. Siehe in diesem Zusammenhang das Vorwort von ­Matthew ­Cornish und David Savran in ihrer Sonderausgabe zum Deutschen Theater: C ­ ornish, ­Matthew, David Savran: »Introduction. A Dialogue on Contemporary G ­ erman Theatre«, in: TDR: The Drama Review 67 (2023), H. 2, S. 6 – 13. 4 Beckett lehnte zweifelsohne die konventionelle Form des Dialogs ab und stieß mit seinem Theater an die Grenzen des Dramas. Dies gilt insbesondere für seine Stücke ab den 1960er Jahren, die jedoch weit weniger Einfluss auf die Theaterlandschaft hatten als seine früheren Stücke wie Warten auf Godot. Beckett kann im Zusammenhang mit dem ›Theater der Leere‹ nicht ignoriert werden, schließlich war er auch eine wichtige Inspiration für das Theater von Heiner Müller. Siehe in diesem Zusammenhang z. B. Kalb, Jonathan: »Samuel Beckett, Heiner Müller and Postdramatic Theater«, in: Samuel Beckett Today / Aujourd’hui 11 (2001), S. 74 – 83. 5 Ich möchte Nicole Rizzo, derzeit Doktorandin an der Indiana University Bloomington, danken, die mich auf Tennessee Williams aufmerksam gemacht hat. Williams ist im Zusammenhang mit diesem Buch besonders interessant, weil er den Begriff »plastisches Theater« verwendet, um das neue Theater zu charakterisieren, das ihm vorschwebt. Plastizität bedeutet für ihn organische Veränderung und Transformation. Er führte den Begriff im Dialog mit dem Maler Hans Hofmann ein, der den leeren Raum zwischen zwei Objekten in einem Gemälde als plastischen Raum bezeichnete, um zu betonen, dass dieser leere Raum nicht träge, sondern vital und aktiv ist (vgl. Hofmann, Hans: Search for the Real, and Other Essays, hrsg. v. Sara T. Weeks und Bartlett Hayes, Cambridge, MA 1967, S. 49). Plastisches Theater bedeutete für Williams einerseits, den leeren Raum, den er zwischen den verschiedenen Elementen des Theaters (Ton, Licht, Film usw.) identifizierte, bewusst zu machen, andererseits definierte er die Position des Dramatikers selbst durch diesen Begriff. Für ihn ist der Dramatiker nicht einfach ein Schriftsteller, sondern er ist derjenige, der – in Anlehnung an die Etymologie des englischen Begriffs playwright – ­Stücke aus verschiedenen Materialien konstruiert. Für eine konzise Einführung in das »plastische Theater« von Williams siehe Kramer, Richard E.: »›The Sculptural Drama‹. Tennessee Williams’s Plastic Theatre«, in: The Tennessee Williams Annual Review 5 (2002). 6 Während es bei Bene tatsächlich noch ganz im Sinne der Psychoanalyse um das Unbewusste geht, kann davon im ›Theater der Leere‹ nicht mehr die Rede sein, da wir es hier mit dem zu tun haben, was Catherine Malabou das ›zerebrale Subjekt‹ nennt. Siehe hierzu Kapitel 1. 7 Auch hier jedoch durchaus noch innerhalb des Paradigmas der Psychologie. 8 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Berlin 1999.

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9 Lehmann hat in seiner Studie weit mehr als nur den deutschsprachigen Raum in den Blick genommen. Dennoch zeichnet sich in seiner Studie ein Fokus auf das europäische bzw. westliche Theater ab. So finden theatrale Praktiken aus dem Globalen Süden und dem asiatischen Theater vorwiegend durch ihre Rezeption durch europäische Theatermacher wie Bertolt Brecht Eingang in sein Buch. 10 Als zweites, ähnlich einflussreiches Werk muss Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (Frankfurt a. M. 2004) genannt werden, die von der Performancekunst aus denkt und die Aufführung als Ereignis beschreibt, in dem nicht Repräsentation, sondern Präsenz im Mittelpunkt steht. Fischer-Lichtes Studie war im Kontext der Performancekunst äußert einflussreich, bietet aber keinen Ansatz für das Verständnis neuer Theatertextformen, weshalb es im Kontext dieses Buches, das Text und Aufführung gemeinsam denkt, weniger relevant ist. 11 Siehe z. B. Studien, die die ethische (Pewny, Katharina: Das Drama des Prekären, Bielefeld 2011) bzw. die transkulturelle Dimension (Heeg, Günther: Das ­Transkulturelle Theater, Berlin 2017; Kovacs, Teresa und Koku Nonoa (Hrsg): Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater, Tübingen 2018) des postdramatischen Theaters hervorheben oder das postdramatische Theater in einem theaterhistorischen Kontext diskutieren (siehe hier das Kapitel über »Eastern Directors and Postdramatic Historiography« in Cornish, Matthew: Performing Unification. History and Nation in German Theatre after 1989, Ann Arbor 2017). Darüber hinaus sind André Eiermanns Postspektakuläres Theater (Bielefeld 2009) sowie der von Stefan Tigges herausgegebene Band Dramatische Transformationen (Bielefeld 2007) gute Beispiele für neue ›Post‹-Konstruktionen und für die Fokussierung auf eine Hybridisierung der Form ›nach‹ dem postdramatischen Theater. Die wissenschaftlichen Debatten um Lehmanns Terminologie sind dokumentiert und kritisch reflektiert in dem Sammelband Postdramatik. Reflexion und Revision (hrsg. v. Pia Janke und Teresa Kovacs, Wien 2015). 12 In diesem Zusammenhang sind Bernd Stegemanns polemische Publikation ­Kritik des Theaters (Berlin 2013) und seine nachfolgende Veröffentlichung Lob des ­Realismus (Berlin 2015) zentral. 13 Lehmann hat das Paradigma des ›postdramatischen Theaters‹ von seinem Mentor Andrzej Wirth übernommen, der den Begriff 1987 in Analogie zur Postmoderne eingeführt hat, um die damals neuen Theaterpraktiken zu beschreiben (vgl. Wirth, Andrzej: »Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien«, in: Gießener Universitätsblätter 2 (1987), S. 83). Anders als Wirth grenzt Lehmann ›postdramatisch‹ jedoch dezidiert von ›postmodern‹ ab und macht deutlich, dass das postdramatische Theater nicht unbedingt mit der Moderne bricht. Siehe dazu seine Diskussion der beiden Begriffe im Kapitel »postmodern und postdramatisch« und »Wortwahl« in Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 27 – 30. 14 Um die historische Dimension besser zu verstehen, ist es hilfreich, Lehmanns erstes Buch Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie (Stuttgart 1991) miteinzubeziehen, in dem er die antike griechische Tragödie analysiert. In der Einleitung dieses Buches verwendet Lehmann zum ersten Mal den Begriff ›postdramatisches Theater‹, um die Nähe zwischen dem zeitgenössischen Theater und der griechischen Tragödie (die er als ›prädramatisches Theater‹ bezeichnet) zu betonen. 15 Damit will ich nicht behaupten, dass Lehmann das postdramatische Theater als das Ende der Geschichte betrachtet. Im Gegenteil, er macht in verschiedenen Kontexten deutlich, dass es neue theatrale Formen geben wird (vgl. Lehmann, Hans-Thies: »Für jeden Text das Theater neu erfinden«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 33). Und doch fehlt in der Theoretisierung seines Paradigmas jeder Begriff von Veränderung und Zukunft, was – wenn auch von Lehmann nicht beabsichtigt – an ein Denken im Sinne eines Endes der Geschichte erinnert. 16 Lehmann zeigt die Auflösung des Dramas im dramatischen Theater selbst auf und bleibt hier noch ganz bei Hegel, wenn er sich auf Christoph Menke stützt, der argumentiert, dass, da für Hegel die Versöhnung von Schönheit und Sittlichkeit wesentlich ist, das Drama am Anfang vom Ende der Kunst in der Kunst steht, da es diese Versöhnung nicht mehr herstellen kann. Ausgehend von dieser Annahme betont Lehmann noch einmal, dass postdramatisches Theater nicht ein völlig

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vom Drama abgekoppeltes Theater bedeute. Vielmehr sei es als »Entfaltung und Blüte eines Potentials des Zerfalls, der Demontage und Dekonstruktion im Drama selbst« zu verstehen; eine Virtualität, die »in der Ästhetik des dramatischen Theaters, wenn auch schwer entzifferbar, vorhanden« ist (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 68). 17 Ebd., S. 59, Herv. i. O. 18 Ich beziehe mich hier auf Catherine Malabou und ihre Diskussion der Materialismen von Darwin und Althusser (vgl. Malabou, Catherine: »Whither Materialism? Althusser/Darwin«, in: Brenna Bhandar und Jonathan Goldberg-Hiller (Hrsg.): Plastic Materialities. Politics, Legality, and Metamorphosis in the Work of Catherine Malabou, Durham 2015, S. 47 – 60). Auch wenn ich in Anlehnung an ­Malabou im gesamten Buch den Begriff ›Kontingenz‹ verwende, wird Kontingenz nicht als fehlende Notwendigkeit verstanden, sondern eher im Sinne dessen, was Jean-Luc Nancy als ›Zufall‹ oder inopiné (»unerwartet«, »plötzlich«) bezeichnet. Begriffe, die das Auftauchen des Unvorhergesehenen mit einer zusätzlichen Nuance der Unterbrechung, des Auftauchens und der Neuordnung der erwarteten Ordnung der Dinge ausdrücken (Nancy, Jean-Luc: »The Existence of the World Is Always Unexpected. Jean-Luc Nancy in Conversation with John Paul Ricco«, in: Heather Davis und Etienne Turpin (Hrsg.): Art in the Anthropocene. Encounters among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies, London 2015, S. 89). 19 Die Forschung hat diesen Aspekt von Brechts Theater weitgehend ignoriert. Eine Ausnahme bildet der Band Brecht und Naturwissenschaften, hrsg. v. Volker ­Issbrücker und Christian Hippe (Berlin 2017). Eine weitere Ausnahme ist die ­Studie von Lukas Mairhofer (Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik, Berlin 2023). Allgemeiner zum Thema Theater und Wissenschaften siehe Case, Sue-­Ellen: ­Performing Science and the Virtual, New York 2007. 20 Dies ist die gängige Lesart von Brechts Überarbeitungen seines Stückes Leben des Galilei aus den Jahren 1947 und 1955. 21 Das Theater teilt diese Tendenz mit der kontinentalen Philosophie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls skeptisch gegenüber den Naturwissenschaften war. Siehe z. B. die Kritik von Catherine Malabou an Derrida. Im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Österreich und Westdeutschland, ist die Skepsis gegenüber den Wissenschaften sicherlich auch vor dem Hintergrund des gewaltsamen Bruches der Forschung durch den Nationalsozialismus und einer bis in die 1970er und 1980er Jahre reichenden Präsenz von Wissenschaftler:innen, die im Sinne der NS-Ideologie forschten, zu sehen. Die englischsprachige Forschungslandschaft sieht anders aus. Hier liegen zahlreiche Studien zu diesem Themenkomplex vor. Siehe z. B. Shepherd-Barr, Kirsten E. (Hrsg.): ­Cambridge Companion to Theatre and Science, Cambridge 2020 sowie die reiche Forschung über Theater und Wissenschaft von Mike Vanden Heuvel (z. B. sein Artikel »Good Vibrations. Avant-Garde Theatre and Ethereal Aesthetics from Kandinsky to ­Futurism«, in: Anthony Enns und Shelley Trower (Hrsg.): Vibratory Modernism, London 2013). Allerdings liegt das Augenmerk hier v. a. auf der Wissenschaft als Inhalt des ­Theaters, nicht so sehr auf der theatralen Form. 22 Im gesamten Buch verwende ich den Schrägstrich zwischen Wörtern, um beunruhigende Dichotomien und binäre Unterscheidungen zu markieren. Ich folge hier Karen Barads agential realism, die den Schrägstrich benutzt, um zu zeigen, dass diese Binaritäten weder zusammen und auseinander sind, noch zusammen oder auseinander, sondern dass sie auseinandergeschnitten-zusammen-sind (eine Bewegung) (vgl. Barad, Karen: »Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness. Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable«, in: New Formations. A Journal of Culture/Theory/Politics 92 (2017), S. 78). 23 Jelinek veröffentlichte den Text 2012 auf ihrer Website als Epilog zu ihrem Stück Kein Licht, das sie unmittelbar nach der Kernschmelze im Kernkraftwerk Fuku­ shima Daiichi am 11. März 2011 schrieb. Dies ist nicht das einzige Stück, in dem Jelinek zu Antigone zurückkehrt. Ein weiteres Beispiel ist ihr ›Sekundärdrama‹ Abraumhalde (2008), das zusammen mit Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise inszeniert werden muss. 24 Jelinek, Elfriede: »Grußwort nach Japan«, in: Elfriede Jelinek (2012/14), https://­ original.elfriedejelinek.com/fjapanfestival.html (8. Mai 2024). 25 Vgl. ebd. Für eine ausführlichere Diskussion der Bedeutung von Text als etwas

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Lebendigem siehe Kovacs, Teresa: »Quantum Texturen. Eigenartige Lebendigkeit in Elfriede Jelineks Theater der Leere«, in: Lars Koch, Sarah Neelsen und Julia ­Prager (Hrsg.): Literarische Organotechnik. Studien zu einer Diskurs- und Imaginationsgeschichte, Berlin 2014, S. 221 – 238. 26 Vgl. Jelinek, Elfriede: »Es ist Sprechen und aus«, in: Elfriede Jelinek (2013), https:// original.elfriedejelinek.com/fachtung.html (8. Mai 2024). 27 Obwohl ich den Text Bildbeschreibung als den radikalen Bruch beschreibe, von dem aus sich das ›Theater der Leere‹ entwickelt, ist es wichtig, zu beachten, dass Müller dieses Theater bereits in den 1970er Jahren zu entwickeln begann. Dies wird in meiner detaillierten Analyse seines Stückes Der Auftrag von 1979 in ­Kapitel 2 deutlich werden. 28 Jelinek, Elfriede: »Statement für den ›Frauen im Theater-Workshop‹ beim jährlichen Treffen der Dramaturgischen Gesellschaft. Wien, 15.11.1987«, in: Dramaturgische Gesellschaft Berlin (Hrsg.): Frauen im Theater. Dokumentation 1986/87: Autorinnen, Berlin 1988, S. 98. 29 Eine ausführliche Analyse des Verhältnisses von Narration und Performance im Kontext des deutschsprachigen Theaters zu Beginn des 21. Jahrhunderts bietet Claudia Breger mit ihrer Studie An Aesthetics of Narrative Performance. ­Translational Theater, Literature, and Film in Contemporary Germany (Columbus 2012). Auch wenn das Buch über verschiedene Medien spricht und Brechts episches Theater und Heiner Müllers theatrale Experimente nicht berücksichtigt, bietet ihr Kapitel über »Antinarrative Acts«, das u. a. das Theater von Antonin Artaud diskutiert, interessante Einblicke in die narrative Performance, die auch im Kontext dieses Buches relevant sind. 30 Bildbeschreibung ist nur einer von vielen Texten Müllers, der auf die Atombombe anspielt. Die verwüsteten und kontaminierten Landschaften, die sein Werk prägen, deuten alle auf eine durch Atomkrieg zerstörte Welt hin. Bonnie Marranca bringt dies auf den Punkt, wenn sie von Müllers Werken als »Baedeker for the ­nuclear age« spricht (Marranca, Bonnie: »›Despoiled Shores‹. Heiner Müller’s Natural History Lessons«, in: Performing Arts Journal 11 (1988), H. 2, S. 17). 31 Müller, Heiner: »Bildbeschreibung«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 2. Die Prosa, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1999, S. 112. 32 Vgl. Barad, Karen: »No Small Matter. Mushroom Clouds, Ecologies of Nothingness, and Strange Topologies of SpaceTimeMattering«, in: Anna Tsing, Nils Bubandt, Elaine Gan und Heather A. Swanson (Hrsg.): Art of Living on a Damaged Planet, Minneapolis 2017, S. 114. 33 Müller: Bildbeschreibung, S. 114 – 115. 34 Ebd., S. 116. 35 Ebd. 36 Müller, Heiner: »Description of a Picture Is«, aus dem Deutschen von Carl Weber, in: Performing Arts Journal 10 (1986), H. 1, S. 96. 37 Müller: Bildbeschreibung, S. 110. 38 Theater wird in der Regel über das Sehen und den Blick definiert. Wichtig ist hier auch die Veränderung der Theaterarchitektur durch die Zentralperspektive in der Renaissance, die mit einem bestimmten Welt-, Wissens-, und Menschheitsbegriff in Zusammenhang steht, der heute kritisch befragt wird, weil er den Menschen und die menschliche Kognition in den Mittelpunkt stellt. Siehe in diesem Zusammenhang Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, Paderborn 2005. 39 Zur Verlagerung vom Visuellen zum Klang im deutschen Theater siehe den aufschlussreichen Artikel von David Roesner über deutsches Theater und Musik (vgl. Roesner, David: »From the Spirit of Music. Dramaturgy and Play in Contemporary German Theatre«, in: TDR. The Drama Review 67 (2023), H. 2, S. 105 – 123). 40 Wenn ich im Zusammenhang mit einer radikalen Überarbeitung der theatralen Repräsentation von der Verlagerung vom Auge und dem Blick zum Ohr und zu allen anderen Sinnen spreche, will ich damit nicht sagen, dass diese weniger historisch belastet sind. Wissenschaftler:innen wie Jonathan Sterne, Jennifer Lynn Stoever und Dylan Robinson, die auf dem Gebiet der Sound Studies arbeiten, haben auf die Verwicklung von Sound in racialization und andere Formen von Gewalt und Ausgrenzung hingewiesen. Darüber hinaus wächst das Interesse an Gerüchen in den Kunst-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Auch hier zeigt sich eine komplexe

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Geschichte und Beziehung zu Formen der Gewalt. Wichtige Beiträge zu diesem Thema stammen von Jonathan Reinarz, Anthony Synnott und Alain Corbin. 41 Ich habe beschlossen, in diesem Buch den Begriff des Anthropozäns nicht zu verwenden, um unsere Gegenwart zu adressieren, sondern stattdessen vom ›technowissenschaftlichen Zeitalter‹ zu sprechen. Ich tue das, um zu vermeiden, in einige der problematischen Muster zu verfallen, die der Begriff reproduziert, wie z. B. die Zentrierung auf ›den Menschen‹. Der Begriff ›Anthropozän‹ gewann im Jahr 2000 durch einen Vortrag des Atmosphärenchemiker Paul Crutzen an Popularität und wurde schnell zu einem wichtigen Konzept auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, um die zerstörerischen Auswirkungen menschlichen, insbesondere kapitalistischen Handelns auf den Planeten kritisch zu hinterfragen. Wissenschaftler:innen haben zahlreiche alternative Begriffe vorgeschlagen, um die Zentralstellung des Menschen aufzugeben und stattdessen die besondere Quelle der Zerstörung hervorzuheben (z. B. Jason Moores ›Kapitalozän‹). Eine andere Alternative ist, sich auf Fragen des Welt-Machens und eine alternative Zukunft zu konzentrieren (z. B. Donna Haraways ›Chthuluzän‹). Eine interessante Publikation zu Fragen der Ästhetik im Anthropozän ist der Sammelband von Heather Davis und Etienne Turpin (Art in the Anthropocene. Encounters among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies, London 2015). Im Kontext des Theaters siehe Bonnie Marrancas Ecologies of Theatre (Baltimore 1996), Baz Kerschaws Theatre Ecology. Environments and Performance Events (Cambridge 2007) sowie Una Chaudhuri und Shonni Enelows Research Theatre, Climate Change, and the Ecocide Project (New York 2014). Im Kontext des deutschsprachigen Theaters siehe Florian Malzacher (Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin 2020, S. 41 – 45), Frank Raddatz (Das Drama des Anthropozäns, Berlin 2021) und Thomas Oberender (Gaia Theater, Berlin, im Erscheinen). 42 Ich zeige in Theater der Leere, dass die theatralen Formen, die wir seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Theater finden, eine Möglichkeit bieten, sich dem zu nähern, was oft als undarstellbar oder nicht-repräsentierbar gilt. Dies ist deshalb so relevant, weil wir gegenwärtig mit dem konfrontiert sind, was der Philosoph und Ökologe Timothy Morton als ›Hyperobjekte‹ bezeichnet hat. Hyperobjekte sind Phänomene wie die globale Erwärmung, Atomwaffen und der Neoliberalismus – also alles, was die menschliche Wahrnehmung bzw. die etablierten menschlichen Wahrnehmungsweisen übersteigt (vgl. Morton, Timothy: Hyperobjects. ­Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013, S. 1). Ich komme darauf im letzten Kapitel dieses Buches zurück. 43 Siehe hier wiederum Barad, die darauf hinweist, dass im Atomzeitalter etwas so Kleines wie die Spaltung des Atoms globale Auswirkungen hat und umgekehrt, und daher vorschlägt, den Maßstab durch Topologie zu ersetzen (vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 63). Die Topologie betont die räumlichen Beziehungen und markiert das Zusammentreffen von Abstraktem und Konkretem. Sie wurde von einer Reihe von Theoretiker:innen wie Maurice Blanchot oder Gilles Deleuze bevorzugt, um ein Denken in Begriffen von Beziehungen und Rekonfigurationen von Zeit und Raum zu betonen. Bei Barad ist die fortlaufende Neukonfiguration von Raum und Zeit jedoch dezidiert mit der Materie verbunden, was es ermöglicht, die komplexeren Konstellationen zu erfassen, die sich in den von mir besprochenen Theatertexten zwischen Materie und Bedeutung sowie zwischen Mensch und Nicht-Mensch ergeben. Auf die Hinwendung zur Seismologie gehe ich in Kapitel 1 näher ein. 44 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 63. 45 Ich beziehe mich hier auf Slavoj Žižeks Less than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism (London 2012), auf Alain Badious Begriff der »Null«, wie er ihn in seinen Hauptwerken – Theorie des Subjekts (aus dem Engl. v. Heinz Jatho, Zürich 2009); Das Sein und das Ereignis (aus dem Engl. v. Gernot Kamecke, Zürich 2005); Logik der Welten. Das Sein und das Ereignis 2 (aus dem Engl. v. ­Thomas Laugstien, Zürich 2009) – entwickelt, und auf Timothy Mortons gemeinsam mit Marcus Boon und Eric Cazdyn verfasstes Buch Nothing. Three Inquiries on ­Buddhism (Chicago 2015). 46 Siehe hierzu z. B. Gabriel, Leon und Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld 2019; Lacoue-­Labarthe, Philippe: Musica ficta, Stanford 1994; Nancy, Jean-Luc: After Fukushima. The ­Equivalence of Catastrophes, New York 2015; Lehmann, Hans-Thies: »Das D ­ enken

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Einleitung

der Tragödie«, in: Arno Böhler und Susanne Granze (Hrsg.): Ereignis Denken – Theat Realität, Performanz, Ereignis, Wien 2009, S. 33 – 46; Puchner, Martin: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy, New York 2010; Rokem, Freddie: TheaterDenken. Begegnungen und Konstellationen zwischen Philosophen und Theatermachern, Berlin 2017. 47 Ausnahmen sind Case und Roach. Es gibt zahlreiche Studien, die eine Verbindung zwischen dem Theater und dem Labor herstellen, aber die meisten dieser Studien verwenden das Labor eher als Metapher, da sie sich kaum auf einer tieferen Ebene mit den Wissenschaften und verschiedenen Modi des Experiments beschäftigen. Siehe z. B. Primavesi, Patrick: »Theater als Labor und Experiment«, in: Stefanie Kreuzer (Hrsg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst, Bielefeld 2012, S. 131 – 62; und Haas, Maximilian: »Theoretische Bemerkungen zu einer Dramaturgie der nichtmenschlichen Anderen (nach Haraway)«, in: Sandra Umathum und Jan Deck (Hrsg.): ­Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 195 – 208. 48 Ich muss hier festhalten, dass ich die Dekonstruktion nicht vollständig hinter mir lasse, was auch für Barad und Malabou gilt. Stattdessen ist es ein überarbeitetes, materielles Verständnis dieses Ansatzes, das meine Analyse leitet. 49 Siehe hier ihre Monografie The Future of Hegel. Plasticity, Temporality and Dialectic, aus dem Franz. v. Lisabeth During, New York 2004. 50 Vgl. Malabou: »Whither Materialism?«. Malabou definiert diesen Materialismus als nicht-transzendent, da hier die Form nicht mehr an eine Äußerlichkeit gebunden ist, sondern durch die Abwesenheit eines Außen des Transformationsprozesses geformt wird. Mit anderen Worten ist die Materie »what forms itself in producing the conditions of possibility of this formation itself« (ebd., S. 48). Diese immanente Dynamik kann auf zwei Arten verstanden werden: Der dialektischen Teleologie folgend, wird der Prozess »governed by an internal tension toward a telos, which necessarily orients and determines every self-development« (ebd., S. 49). Allerdings geht hier, wie Malabou mit Althusser betont, die Struktur den Elementen voraus und unterliegt damit wiederum einer transzendentalen Analyse. Der Materialismus der Begegnung hingegen ist ohne Telos, denn »forms are encounters that have taken form« (ebd.). 51 Darwin verwendet dezidiert den Begriff ›plastisch‹, um diese Wandlungsfähigkeit zu beschreiben (vgl. Origin of Species by Means of Natural Selection; or, The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, 2. Aufl., London 1860, S. 13). 52 Vgl. Malabou: »Whither Materialism?«, S. 50 – 51. 53 Ebd., S. 51. 54 Vgl. ebd., S. 52 – 53. 55 Vgl. ebd., S. 52. 56 Die Leere, auch wenn sie aus unbestimmten Möglichkeiten besteht, ist nicht von der Materie abgekoppelt. Im Gegenteil, wie Barad in Bezug auf das Atom argumentiert, besteht die Materie aus Quantenfluktuation und ist als solche mit Leere verwoben. 57 Barad, Karen: »What Is the Measure of Nothingness? Infinity, Virtuality, Justice«, in: 100 Notes—100 Thoughts / 100 Notizen—100 Gedanken No. 099: Karen Barad. dOCUMENTA 13 (2012), S. 9. 58 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 78. 59 Vgl. ebd., S. 77. 60 Barad, Karen: »On Touching the Stranger Within. The Alterity that Therefore I Am«, in: Poetry Project (2018), https://www.poetryproject.org/library/poemstexts/on-touching-the-stranger-within-the-alterity-that-therefore-i-am (6. Februar 2023). 61 Vgl. Jelinek, Elfriede: »Fremd bin ich«, Elfriede Jelinek (2011), https://original. elfriedejelinek.com/fmuelh11.html (8. Mai 2014). 62 Jelinek, Elfriede: »Gesprochen und beglaubigt (Rede zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2009)«, Mülheim and der Ruhr (2009), https://www1. muelheim-ruhr.de/kunst-kultur/theater/stuecke/%2522gesprochen_und_beglaubigt%2522_von_elfriede_jelinek/956 (3. Mai 2024). 63 Vgl. Barad: »No Small Matter«, S. 113. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd., S. 106 – 107.

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Endnoten

66 Vgl. Malabou: »Whither Materialism?«, S. 56. 67 Vgl. ebd., S. 57. 68 Vgl. ebd. 69 Siehe dazu Werner Hamacher (»The End of Art with the Mask«, in: Stuart Barnett (Hrsg.): Hegel After Derrida, New York 1998, S. 105 – 130.), der einen solchen Mangel an Essenz in Hegels Diskussion der Komödie aufzeigt. 70 Vgl. Raddatz, Frank M: »Abenteuer Gaia. Nietzsches und Brechts Theatersysteme im Licht des Anthropozäns«, in: Lettre International 138 (2022), S. 102. 71 Vgl. Nietzsche, Friedrich: »Die Geburt der Tragödie«, in: ders.: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 1, Berlin 1979. 72 Vgl. ebd., S. 56 – 60. 73 Vgl. Raddatz: »Abenteuer Gaia«. 74 Vgl. ebd., S. 106 – 109. 75 Vgl. Barad: »Troubling Time/s« und Barad: »No Small Matter«. 76 Ich stütze mich auf Mark Fishers Analyse unserer Gegenwart, der den Verlust der Zukunft, den wir seit dem Ende des Kalten Krieges erleben, in Capitalist Realism. Is There No Alternative? (Alresford 2009) treffend beschreibt. 77 Schwab, Gabriele: Radioactive Ghosts, Minneapolis 2020, S. 26. 78 Nixon hat diesen Begriff in Slow Violence and the Environmentalism of the Poor (Cambridge 2011) geprägt. Der Zusammenhang zwischen nuklearer Bedrohung und globaler Erwärmung wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Weltuntergangsuhr (Doomsday Clock) seit 2007 neben der nuklearen Vernichtung auch die globale Erwärmung als größte Bedrohung der Menschheit in Erwägung zieht. Für eine kritische Diskussion der Verstrickung der Weltuntergangsuhr mit Militarismus und Kolonialismus siehe Barad: »Troubling Time/s«, S. 57 – 59. Ich spreche darüber ausführlicher in Kapitel 1, wenn ich die Spannung zwischen dem ›nuklearen/klimatischen Erhabenen‹ und dem ›nuklearen/klimatischen Alltäglichen‹ diskutiere. 79 Müller, Heiner: »I Do Not Believe in a Harmony Between Theatre and Literature«, in: ders.: Werke 8: Schriften, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 170. 80 Müller, Heiner: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, in: ders.: Werke 5. Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 84. 81 Jelinek beschäftigt sich gelegentlich mit der Chemie. Das hat biografische Gründe, denn ihr Vater war Chemiker, der den Holocaust überlebte, weil er sich verpflichtete, für die Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten zu arbeiten. 82 Vgl. Kluge, Alexander: »Parsifal verlernen«, in: dctp.tv (2022), https://www.dctp.tv/ filme/alexander-kluge-parsifal-verlernen?thema=zu-parsifal (15. Jänner 2023). 83 Siehe in diesem Zusammenhang insbesondere Michel Foucaults Archäologie des Wissens (Frankfurt a. M. 1969).

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Kapitel 1: Die künstlerische Arbeit fotografieren

I Unfall, Explosion, Atomblitz Das ›Theater der Leere‹ denken Wenn der Zweifel an der Veränderbarkeit der Welt wächst, verstärkt sich der Wunsch, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. ——Heiner Müller, »Für immer in Hollywood« If plasticity means what is vital and supple, it is nonetheless always susceptible to petrifaction. If it expresses what is most essential and primal in life itself, it is no less in alliance with the atomic bomb (­Plastikbombe). A living and vital notion, plasticity is also a m ­ ortal notion. Sheltering, as long as it is possible, the space liberated by the interplay of the extremes between a living kernel and the nuclear ­nucleus, existing on the plane of saturation and vacancy, this is what the future requires. ——Catherine Malabou, The Future of Hegel

Heiner Müller beendet seine kurze, rätselhafte Rede »Die Wunde ­Woyzeck« mit der Imagination einer atomaren Explosion, »die das Ende der Utopien und der Beginn einer Wirklichkeit jenseits der Menschen sein wird«1. Im Mittelpunkt dieser Rede, die Müller im Oktober 1985 in Darmstadt anlässlich der Verleihung des renommierten Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hielt,2 steht die Frage nach einer Zukunft. Diese wird mit Hoffnung und Angst erwartet, während die Rede gleichzeitig von einer kühlen Gleichgültigkeit geprägt ist, die in scheinbarem Widerspruch zu beiden steht. Zudem ist der kurze Text dominiert von der Verschränkung solch widersprüchlicher Begriffe wie Tod, Zerstörung, Aufbau und Veränderung, deren Verhältnis nie vollständig geklärt wird. Es ist dieser paradoxe Rahmen, den Müller kreiert, um die gespenstische Wiederkehr historischer und literarischer Figuren zu ermöglichen, die deutschen Epen (Kriemhild) ebenso entspringen wie sie auf Müllers Zeitgenoss:innen (Ulrike Meinhof) anspielen. Die Namen, die hier auf- und angerufen werden, konfrontieren uns mit immer neuen Konstellationen von Gewalt, Unrechtsherrschaft und gescheiterter Revolution. Gleichzeitig durchbricht die Rede den

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engen Rahmen der deutschen Geschichte, wenn Müller etwa auf Afrika verweist:3 Blitzartig bricht dieser andere Kontinent in den Reigen deutscher Revolutions- und Herrscherfiguren ein, unterbricht ihn und verweist damit auf weiter gefasste Fragen von Unterdrückung und Gewalt wie den deutschen Kolonialismus – Erfahrungen, die in der Gegenwart weiterleben, sich mit ihr verschränken und komplexe Konstellationen schaffen. Ich mache den von Müller imaginierten Atomblitz, der die Rede beendet, zum Ausgangspunkt dieses Kapitels, das die Theoretisierung des ›Theaters der Leere‹ fortführt. Der Atomblitz ist das unvorhergesehene Ereignis, das in einem einzigen Augenblick alles verändert. Wie ich zeigen werde, bedeutet dieses explosive Moment im ›Theater der Leere‹ nicht einfach die vollständige Vernichtung, sondern es erweist sich auf zweierlei Ebenen als komplexes und paradoxes Ereignis: Müller enthüllt die Explosion als ein zerstörerisches Moment, das in verborgene Formen der Gewalt eingebettet ist, und er versteht es als eine Öffnung, der das Potenzial für Veränderung innewohnt. Als solche trägt die Explosion paradoxerweise eine Zukunft und sogar eine – in Momenten der Gewalt und des radikalen Bruches entstehende – Idee von Freiheit in sich. Es kann im ›Theater der Leere‹ also einen radikalen Bruch geben, der nicht zur völligen Zerstörung führt, sondern zu einer anderen Art von Möglichkeit. Diese Möglichkeit bedeutet jedoch nicht, dass es sich um ein Theater handelt, das Wiedergeburt und Erlösung verspricht. Vielmehr führt das ›Theater der Leere‹ eine alternative Möglichkeit ein, die anhand von Konzepten der Plastizität und der Regeneration neu gedacht werden muss.4 Um dies zu zeigen, berücksichtige ich neben »Die Wunde ­Woyzeck« auch einige weitere ausgewählte Texte Müllers, die sich mit dem Atomkrieg und den mit ihm verbundenen Fantasien einer nahenden Apokalypse auseinandersetzen, wie sie Müller für die Gesellschaft des Kalten Krieges beobachtet. Obwohl die Rede nur aus drei Absätzen besteht, enthält sie alle wichtigen Prinzipien des ›Theaters der Leere‹; sie ist quasi der Schlüssel zu Müllers Theater. Was mich daran besonders interessiert, ist, dass Müller hier eine Subjektivität einführt, die durch die Möglichkeit geformt ist, jederzeit zu explodieren, gleichgültig zu werden und sich selbst zu ersetzen – und dass er dieses Subjekt zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit Fragen der theatralen, aber auch der politischen, sozialen und ökologischen bzw. planetarischen Trans-/Formation im Atomzeitalter macht.

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I Unfall, Explosion, Atomblitz

Zukunftsverlust

»Die Wunde Woyzeck« beginnt mit den Worten »Immer noch« und konfrontiert die Rezipient:innen damit zunächst mit Stagnation: »Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann.«5 Alles, was in der Rede gesagt wird, entspringt dieser kleinen Phrase des »immer noch«, durch die das Gefühl einer schmerzhaften Dauer und eines geschlossenen und gegen Veränderungen resistenten Systems entsteht. ­Woyzeck, eine der zerrissensten Figuren des deutschen Theaters, wird immer noch von Militär und Medizin ausgebeutet, während er gleichzeitig Marie, seine Geliebte und Mutter seines Kindes, weiter quält. Mehr noch, das missbräuchliche System des Frühkapitalismus, das in Georg Büchners Theaterfragment Woyzeck (1836) dargestellt wird, existiert nicht nur immer noch, sondern hat sich weiter etabliert und bildet nun eine ganze Nation – »staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von Gespenstern«6. Man kann diese ersten Zeilen der Rede als eine Vorwegnahme der Erosion und des Verlusts von Zukunft lesen, wie sie der Politikund Kulturtheoretiker Mark Fisher im Kontext jener Veränderungen beschreibt, die seit 1989, also seit dem Ende zweier konkurrierender politischer und ökonomischer Systeme, beobachtbar sind.7 Fisher baut in seiner Analyse des Verlusts von Zukunft auf Derridas Marx’ ­Gespenster (1994) auf: Ausgehend von Derridas Hauntology, die eine Ontolgie der Gegenwart im Sinne einer Heimsuchung durch eine verlorene Vergangenheit und einer Zukunft, die erst kommen muss, entwirft, argumentiert Fisher, dass es konkret der Verlust des Kommunismus selbst, sein Verschwinden und damit die Unmöglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus ist, der die Gegenwart heimsucht. Ohne diese Alternative sind wir in einer Gegenwart gefangen, in der alles unter die Ordnung des Kapitalismus subsumiert ist und in der selbst die Vorstellung einer anderen Zukunft durch den Glauben ersetzt wird, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Obwohl Müller nur ahnen konnte, was Fisher als Leben in einer ›business ontology‹8 beschreibt, weist seine Rede deutlich auf einen solchen Verlust von Zukunft hin. Der Kapitalismus steht in Müllers Rede aber nicht für sich, sondern ist aufs Engste mit Militarismus und Nationalismus verschränkt, wie sie in der atomaren Konkurrenz des Kalten Krieges zum Ausdruck kommt. Auch das Atomzeitalter hat eine neue Form des Spukes und der Heimsuchung hervorgebracht. Seit der Spaltung des Atoms kommen Gespenster nicht mehr ausschließlich aus der Vergangenheit, sondern ebenso aus der Zukunft, wie Gabriele Schwab überzeugend dargelegt hat. Sie spricht vom ›Phantasma des mutierten

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Zukunftsverlust

Körpers‹, das das atomare Zeitalter prägt, und verweist damit auf einen doppelten Spuk, der sich nicht mehr nur auf die unmittelbaren Opfer einer Atomkatastrophe bezieht, sondern auch die eventuell noch kommenden, mutierten und verunstalteten Körper der Nachgeborenen miteinschließt.9 Diese neue Form des Spuks durchzieht Müllers Theater leitmotivartig, was u. a. in seinem wiederholten Rückgriff auf einen Satz aus Brechts Fatzer-Fragment zum Ausdruck kommt: »Wie früher Geister kamen aus der Vergangenheit / So jetzt aus der Zukunft ebenso.«10 Schließlich wird Müllers Theater selbst von Gespenstern heimgesucht, die sich nicht mehr auf die Vergangenheit beschränken lassen, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf komplexe Art und Weise miteinander verschränken.11 So hält er beispielsweise in seinem Kommentar zu V ­ erkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1983) fest, dass er die Landschaft als toten Stern imaginiert, »auf dem ein Suchtrupp aus einer andern Zeit oder aus einem andern Raum eine Stimme hört und einen Toten findet«12. In seinem Theater konfrontiert uns Müller mit den zukünftigen Katastrophen, die sich gleichzeitig in die ruinösen Landschaften der Gegenwart einschreiben und von Bewohner:innen aufgespürt werden, die sowohl Wiederkehrer aus der Vergangenheit als auch Cyborgs aus einer fernen Zukunft sein könnten. In diesem Un/Toten-Reigen bearbeitet Müller den schmerzhaften Bruch und die Zerrissenheit, die er in seiner Gegenwart erlebt und die das Gefühl erzeugen, sich plötzlich an einem völlig fremden Ort mit unbekannten Dimensionen zu befinden. Kurz gesagt, in einer unvorstellbaren Raum-Zeit, die sich jeglichem Zugriff entzieht.13 Müller erforscht nicht nur die neuartige Gespenstigkeit, die durch radioaktive Strahlung entsteht, sondern er fragt zugleich, inwieweit Atomzeitalter und Kapitalismus verschränkt sind und zu einem Gefühl der Zukunftslosigkeit beitragen. Sabu Kohso beschreibt diese Verflechtung sehr detailliert, wenn er zeigt, dass die Atomtechnologie mehr als alles andere daran beteiligt ist, das Ende des Kapitalismus auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Die Nukleartechnologie führt zivile Sphäre und Militärtechnologie eng, da das Atom als Waffe und Energieressource eingesetzt werden kann und daher kapitalistische Wirtschaft und staatliche Souveränität verbindet: »­Nuclear power is essentially Janus faced: military and civilian. It offers to the state a dystopian dream of sublime weaponry and to capitalism a utopian dream for sublime energy.«14 Davon ausgehend argumentiert Kohso, dass spätestens die Nuklearkatastrophe in Fukushima deutlich gemacht hat, dass es nicht nur unmöglich ist, sich das Ende des

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Kapitalismus vorzustellen, sondern dass es ebenso unmöglich ist, das Ende der Atomtechnologie zu imaginieren. Mehr noch, Fukushima hat gezeigt, dass der Kapitalismus und die Nukleartechnologie sogar eine Katastrophe solchen Ausmaßes unmittelbar in ihr System einbeziehen können, ja, sie sogar produktiv nutzbar machen. »It is a revelation for us all, showing us the real existence of the nuclear regime that feeds itself by distributing the nexus of nuclear production globally, a regime that not only persisted in this production after the worst disaster but utilized the catastrophic situation in order to maintain its rule.«15 Kohso spricht in diesem Zusammenhang von einem ›Zombie-Leben‹ des Kapitalismus,16 das von einer Kaskade an Katastrophen angetrieben wird, denn diese erfordern beständige Nachsorge, die wiederum als Produkt des kapitalistischen Marktes verkauft werden kann. Daher argumentiert Kohso auch, dass wir es mit einem ›apokalyptischen Kapitalismus‹ zu tun haben, der selbst das Ende der Welt überdauern werde.17 Müllers Theater antizipiert einen solchen in der Gegenwart zu beobachtenden Zombie- bzw. apokalyptischen Kapitalismus, wenn es uns damit konfrontiert, dass das Ende der Welt zu einem festen Bestandteil seines tödlichen Lebens geworden ist. Die Nukleartechnologie steht mehr als alles andere für die Fähigkeit zur totalen Vernichtung des Planeten und erweist sich damit als der bestmögliche Antrieb, um dem Zombie-Kapitalismus zum Gedeihen zu verhelfen. Und doch erkundet Müllers Theater auch die andere Seite der Katastrophe, wenn es betont, dass mit der Explosion eine große Energie freigesetzt wird, die eine Öffnung für ein Werden ohne Determination schafft und damit Chance und Möglichkeit in ein vermeintlich geschlossenes System einführt. Totale Vernichtung als Spekulation und als täglich gelebte Gewalt

Bevor ich näher auf die Öffnung und die Explosion als Chance und Möglichkeit eingehe, will ich die zerstörerische Seite der Nukleartechnologie weiter beleuchten und im Kontext des ›Theaters der Leere‹ diskutieren. Während der kapitalismuskritische Impuls des deutschsprachigen Theaters in der Tradition Brechts fixer Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion ist, ist die Auseinandersetzung des Theaters mit der Nukleartechnologie in ihrer Komplizenschaft mit dem Kapitalismus bislang nahezu ein blinder Fleck geblieben.18 Ausschließlich im Kontext von Brechts Leben des Galileo (1943) und Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1962) finden wir Diskussionen um Theater, Wissenschaft und Ethik;19 darüber hinaus gibt es punktuelle Analysen einiger weniger wahrgenommener Stücke wie Max Frischs

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Totale Vernichtung als Spekulation und als täglich gelebte Gewalt

Die Chinesische Mauer (1947/69), Carl Zuckmayers Das Kalte Licht (1955), Hans Henny Jahnns Die Trümmer des Gewissens (1961) und Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964). Während die Nukleartechnologie gewöhnlich auf der inhaltlichen Ebene diskutiert wird, argumentiere ich, dass sich das atomare Zeitalter in viel stärkerem Maße in das deutschsprachige Theater eingeschrieben hat: Es findet sich nicht nur auf der Informations- und Ideenebene von Theaterstücken repräsentiert, sondern es prägt auch deren Dramaturgie und dringt in seiner ganzen Komplexität in sie ein, indem es zu einer radikalen Überarbeitung der Kategorien von Zeit, Raum, Kausalität, Maßstab, Leben und Tod sowie des Menschlichen und Nicht-Menschlichen führt. Wenn ich in diesem Buch also von einer Beziehung des Theaters zum Atomzeitalter spreche, dann geht es mir nicht so sehr um Werke, die sich inhaltlich mit der Nukleartechnologie beschäftigen. Vielmehr zeige ich, dass sich das Atomzeitalter in die Dramaturgie und Form des Theaters selbst eingeschrieben hat. Meine Analyse entfaltet sich daher im Spannungsgefüge des technowissenschaftlichen Zeitalters, das wesentlich durch ein Schwanken zwischen der reinen Spekulation über die totale Zerstörung und der täglichen Erfahrung von Gewalt gekennzeichnet ist. Müllers Theater ist klar durch diese Spannung strukturiert. Dies wird deutlich, wenn man sein Gespräch mit Uwe Wittstock aus dem Jahr 1985 miteinbezieht – ein Gespräch, in dem Müller sich direkt mit der Möglichkeit eines Atomkriegs auseinandersetzt und sich kritisch über eine Gesellschaft äußert, die im Denken an eine kommende Apokalypse gefangen ist.20 Müller wendet sich hier dezidiert gegen einen neuen Hype um einen möglichen, durch einen Atomkrieg ausgelösten Weltuntergang, wie er ihn v. a. in Westdeutschland beobachtet. Er behauptet, dass die Fixierung auf den Weltuntergang die Gewalt, der Menschen und Nichtmenschen bereits täglich ausgesetzt sind, unsichtbar macht. Darüber hinaus entlarvt er diese Fokussierung auf eine kommende Apokalypse als die Haltung einer apathischen Gesellschaft, die jegliche Verantwortung für die Welt leugnet und Freiheit als Faulheit gegenüber der Welt und der sozialen Sphäre missversteht. Was Müller hier beobachtet, kann und muss im Kontext der theoretischen und philosophischen Debatten seiner Zeit gelesen werden, die sich mit der Veränderung des menschlichen und des planetarischen Lebens im Atomzeitalter beschäftigen. Einer der ­ bedeutendsten Beiträge stammt hier sicherlich von Derrida, der in seinem bahnbrechenden Essay »No Apocalypse, Not Now (Full Speed Ahead, Seven Missiles, Seven Missives)« (1984) über die nukleare

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­ erstörung als etwas reflektiert, das es noch nie gegeben hat und über Z das daher nur spekuliert werden kann, während er zugleich darauf beharrt, dass Atomwaffen bereits ganz reale, beobachtbare Auswirkungen auf unseren Planeten haben. Diese materielle Seite ist in den meisten Auseinandersetzungen jedoch ein blinder Fleck geblieben. Stattdessen wird die atomare Krise zumeist durch ihre reine Textu­ alität und ihre Abwesenheit von der materiellen Welt definiert. Sie ist das u ­ ndenkbare, außergewöhnliche Ereignis.21 Gabrielle Hecht spricht daher von einem ›nuklearen Exzeptionalismus‹, der die Diskurse über die Atomtechnologie in weiten Teilen der westlichen Welt geprägt hat.22 Jessica Hurley verweist ebenfalls auf diese Vorstellung, wenn sie zeigt, dass bislang zwei ›charismatische Megakonzepte‹ den Diskurs über Atomwaffen organisieren, nämlich die ›Textualität der Bombe‹ und das ›nukleare Erhabene‹.23 Hurley und andere haben jedoch überzeugend argumentiert, dass dies eine fatale Fehlwahrnehmung ist, die die tatsächlichen Zerstörungen verdeckt, die unter dem Begriff des ›Atomtests‹ seit dem 16. Juli 1945 andauern – nämlich genau seit jenem Tag, an dem die erste Atombombe in New Mexico auf dem Gebiet indigener Bevölkerung abgeworfen wurde.24 Hurley führt daher das Konzept des ›nuklearen Alltäglichen‹ ein, das die realen Auswirkungen auf die Umwelt, die Infrastruktur, die Körper und das soziale Leben betont – Folgen, die bereits täglich beobachtet werden können und die Existenz eines militarisierten Kapitalismus, in dem Gewalt verherrlicht und priorisiert wird, sichtbar machen.25 Aus heutiger Sicht müssen wir dem nuklearkapitalistisch-militärischen Regime, das unser Denken über das menschliche und planetarische Leben prägt, einen weiteren Aspekt hinzufügen: die Gefahr der globalen Erwärmung.26 Ihre Bedrohung teilt einige der zentralen Charakteristika des atomaren Zeitalters. Denn auch die globale Erwärmung inspiriert apokalyptisches Denken und wird oftmals als das Undenkbare, außergewöhnliche Ereignis wahrgenommen, das noch nie zuvor eingetreten ist, während sie bereits Realität ist und wir ihre Auswirkungen – die jede:n betreffen, wenn auch in ungleicher Weise – täglich beobachten können. Ähnlich wie bei der nuklearen Bedrohung, bei der die Fixierung auf die noch bevorstehende totale Vernichtung die anhaltende Gewalt verdeckt, die bereits in der Gegenwart durch Atomwaffen entfesselt wird, macht der Fokus auf die totale Zerstörung des Planeten durch die globale Erwärmung große Teile der bereits existierenden realen Verwüstung unsichtbar. Michelle Murphy spricht im Kontext dieser Spannung zwischen dem, was sichtbar und wahrnehmbar ist, und dem, was unbemerkt bleibt,

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Plastizität: Unfall, Wunde, Explosion

von einem ›Regime der Wahrnehmbarkeit‹27. Sobald wir die nukleare Bedrohung und die globale Erwärmung als ein Problem der Wahrnehmung begreifen, zeigen sich die Künste als ein hilfreiches Mittel, um die Krise der Wahrnehmbarkeit, die wir gegenwärtig erleben, zu bearbeiten. Dies gilt insbesondere für das ›Theater der Leere‹, das durch radikale Wahrnehmungsexperimente geprägt ist. Plastizität: Unfall, Wunde, Explosion

Das ›Theater der Leere‹ reflektiert nicht nur über die Grenzen und Einschlüsse unserer Gegenwart, sondern deutet auch auf eine mögliche Öffnung hin. Während Dauer und schmerzhafte Kontinuität Müllers Rede »Die Wunde Woyzeck« eröffnen, lenkt deren dritter Absatz die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit einer Transformation: Er imaginiert die Verwandlung von Woyzeck in einen Hund, der schließlich als Wolf zurückkehrt.28 Mit dieser Metamorphose, so heißt es am Ende der Rede, kann die Geschichte neu beginnen: oyzeck lebt, wo der Hund begraben liegt, der Hund heißt W Woyzeck. Auf seine Auferstehung warten wir mit Furcht und/ oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt. Der Wolf kommt aus dem Süden. Wenn die Sonne im Zenit steht, ist er eins mit unserem Schatten, beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte.29 Diese Zeilen evozieren Fragen der Subjektivität, indem sie an die Figuration des Mittags erinnern – jenen Zeitpunkt also, den Nietzsche als den Moment des kürzesten Schattens und der Spaltung beschreibt.30 Gleichzeitig stellt sich Müller hier die Veränderung als etwas vor, das ein enormes Maß an Energie erfordert und freisetzt; ein explosives Moment, das in seiner extremsten Form an die Atomexplosion erinnert. Dabei schwingt Malabous Begriff der Plastizität mit: eine Form der Veränderung, die sich zwischen Leben und Tod entfaltet und in der die Möglichkeit von Zukunft aufblitzt.31 Dieser letzte Absatz in Müllers Rede markiert also ihre andere, radikale Dimension, da Müller uns mit dem unvorhergesehenen Unfall konfrontiert, der alles in einem Augenblick verändert und die Plastizität als Grundstruktur seines ›Theaters der Leere‹ offenbart. Wir müssen die Explosion, die die Rede beendet, in Zusammenhang mit der klaffenden Wunde denken, die im Zentrum von »Die Wunde Woyzeck« steht. »WOYZECK ist die offene Wunde«, oder, wie es an anderer Stelle in Anlehnung an Kafkas Der Landarzt heißt,

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»[der] Patient[…] mit der Wunde offen wie ein Bergwerk, aus der die Würmer züngeln«32. Der Titel der Rede spielt eindeutig auf den Vortrag »Die Wunde Heine« an, den Theodor Adorno 1956 anlässlich des einhundertsten Todestages von Heinrich Heine hielt. Adorno versuchte mit dieser Rede, Heines Status im deutschen Literaturkanon zu retten, nachdem dessen Literatur durch die Aneignung seiner Werke für die nationalsozialistische Ideologie überschattet worden war. Doch obwohl Müller bereits durch den Titel deutliche Bezüge zu Adorno herstellt und auch er sich über den Status eines oft abgelehnten und missverstandenen deutschen Autors, Georg Büchner, Gedanken macht, hat die Wunde dennoch eine andere Funktion als in Adornos Vortrag: In Müllers Rede steht sie im Zentrum der Forderung nach einer neuen Dramaturgie, die sich aus einem unvorhergesehenen, gewaltvollen Ereignis herausbildet. Für meine Analyse ist daher eine andere Lesart wichtig, die nicht so sehr die Anklänge an Adorno in den Blick nimmt, sondern vielmehr den genuin theatralen Diskurs um die Figuration der Wunde und das Theater. Diese Spur führt direkt zu Richard Wagner, der mit seinem Bühnenweihfestspiel Parsifal der nicht heilen wollenden Wunde ein Denkmal setzt. Seine Perspektivierung der Wunde eröffnet schließlich eine gesamte Reihe an Bezugspunkten, in denen Theater und Wunde auf eigentümliche Weise miteinander verschränkt sind und die bis zu Sophokles’ Tragödie Philoktet zurückreichen – ein Stück, mit dem sich Müller intensiv auseinandergesetzt hat, wie in seinen Bearbeitungen dieser Tragödie sichtbar wird.33 Die Wunde ist hier engstens mit der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Innovation verbunden. So fungiert sie in Wagners Oper beispielsweise als Mittel, um die Frage nach der Zukunft des Einzelnen ebenso wie der Gesellschaft und schließlich des Theaters selbst zu stellen. Auch bei Müller ist die Wunde jene Figuration, über die diese Fragen verhandelt werden, jedoch erweitert um eine planetarische Dimension. Darüber hinaus kommt Müller zu einer deutlich anderen Schlussfolgerung als Wagner: Während ­Parsifal mit der Erlösung Amfortas’ endet,34 fehlt bei Müller jegliche Verheißung auf Erlösung des verwundeten Subjekts. Genau dieses Fehlen interessiert mich im Kontext des ›Theaters der Leere‹. Denn es ist unmittelbar mit dem Moment des Bruches verbunden, der eine Öffnung erzeugt und damit einen alternativen Modus der Veränderung und in der Folge so etwas wie Freiheit entstehen lässt. Welche Art von Veränderung und Freiheit zeigt sich bei Müller, wenn diese Konzepte nicht mehr an das Versprechen einer Erlösung

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gebunden sind? »Die Wunde Woyzeck« ist durchzogen von Begriffen rund um den Unfall, das Unvorhergesehene und des Potenzials. So ist das Adverb »vielleicht« der Rhythmusgeber dieser Rede: »Irgendwo schwingt vielleicht auf den Händen sein Körper sich weiter, von Lachen geschüttelt vielleicht, in eine unbekannte Zukunft, die vielleicht seine Kreuzung mit der Maschine ist, gegen die Schwerkraft im Rausch der Raketen.«35 Oder, wie es etwas später formuliert wird: »[...] eine Struktur, wie sie beim Bleigießen entstehen mag, wenn die Hand mit dem Löffel vor dem Blick in die Zukunft zittert«36. Die Rede schwankt hier zwischen Wissen und Unwissenheit, dem gespannten Erwarten und angstvollen Fürchten einer Zukunft, sowie zwischen Ungewissheit und Möglichkeit. Was Müller dadurch etabliert, ist eine Form des plastischen Denkens, das nicht nur zentral für diese Rede ist, sondern für sein Theater im Allgemeinen. Bislang habe ich die Plastizität nur im Kontext von Malabous Interpretation von Darwin besprochen, nun möchte ich allgemeiner darauf eingehen und im Detail beleuchten, welche Aspekte von Malabous Philosophie der Plastizität im Kontext des ›Theaters der Leere‹ von Relevanz sind. Malabou entwickelt ihren Begriff der Plastizität in Dialog mit Hegels Dialektik und neuesten Erkenntnissen aus dem Bereich der Neurowissenschaft.37 Als Schülerin Derridas argumentiert sie, dass unsere Gegenwart nicht mehr in Begriffen des Textes gefasst werden kann, sondern dass Plastizität sowohl zum dominanten Motiv der Interpretation als auch zum produktivsten exegetischen und heuristischen Werkzeug der heutigen Zeit geworden ist und daher dem Verständnis des Lebens besser gerecht wird als Derridas ›Motorschema‹38 der Schrift. Plastizität bedeutet, wie Malabou in Bezug auf die Etymologie des Begriffs hervorhebt (gr. plassein = formen), zugleich »die Fähigkeit, eine Form annehmen zu können (Ton und Lehm werden z. B. als ›plastische‹ Stoffe bezeichnet) und eine Form geben zu können (wie in der Kunst oder in der plastischen Chirurgie).«39 Der Begriff ist eng verwandt mit anderen Wörtern wie Flexibilität und Elastizität, unterscheidet sich jedoch deutlich von ihnen, da Flexibilität ausschließlich den Prozess, Form anzunehmen, beschreibt, während Elastizität impliziert, dass etwas in die frühere Form zurückkehren kann. Plastizität hingegen bezeichnet ein komplexes Gefüge zwischen flüssig und fest (einmal geformt, kann ein plastischer Gegenstand nicht in seine vorherige Form zurückkehren; er widersteht endlosem Polymorphismus) und sie verweist auf etwas Formbares, das gleichzeitig formend ist; insofern unterscheidet sich Plastizität also deutlich von ­Flexibilität.

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Ich übernehme Malabous Begriff der Plastizität, da er mir erlaubt, die Möglichkeit der Veränderung ohne Transzendenz zu beschreiben, die im Theater von Heiner Müller und, allgemeiner gesprochen, im ›Theater der Leere‹ am Werk ist. Malabous Konzept der Plastizität ist auf interessante Weise an der Grenzlinie zwischen Determination und Möglichkeit angesiedelt, die in ihrer radikalsten Version den drastischen Bruch mit der Determination bedeuten kann. Wie ­Malabou festhält: »Mit der Plastizität haben wir es also nicht mit einem widersprüchlichen, sondern mit einem graduellen Begriff zu tun, da Plastizität im eigentlichen Sinne zwischen den ­Extrempunkten einer formellen Notwendigkeit (der irreversible Charakter der Formwerdung – Determination) und der Remobilisierung der Form (Fähigkeit, sich anders zu formen, sich zu verlagern, sprich die Determination zu vernichten – Freiheit) angesiedelt ist.«40 Die Plastizität arbeitet gegen die Vorstellung eines ›reinen Ereignisses‹ und stellt ihr eine dialektische Beziehung zwischen Antizipation und Zufall entgegen, die nicht von Differenz geprägt ist, sondern in der sich Antizipation und Zufall vielmehr gegenseitig durchziehen und in diesem Durcheinander-Durchgehen eine neue Form schaffen. Malabous Plastizität erinnert hier durchaus an das, was Foucault den Prozess der Transsubjektivierung, also die Veränderung und Formung innerhalb des Subjekts selbst, nennt.41 Um es auf den Punkt zu bringen: Plastizität als solche bietet ein Konzept, in dem Determinismus und Kontingenz keine Widersprüche, sondern gleichzeitig am Werk sind. Um die gewalttätigen Explosionen und deren Funktion in ­Müllers ›Theater der Leere‹ besser zu verstehen, muss die Aufmerksamkeit auf jene Form der Plastizität gelenkt werden, die Malabou »zerstörerische Plastizität« nennt und die sie v. a. in ihren späteren Werken genauer theoretisiert. Beginnend mit Was tun mit unserem Gehirn? untersucht Malabou im Detail, was es bedeuten könnte, wenn es neben der positiven Plastizität, die Form gibt und erhält, auch eine negative Seite der Plastizität gäbe.42 In diesem Kontext erinnert sie an ein weiteres Wortfeld, das mit dem Begriff der Plastizität eng verwandt ist: das französische plastique, plastiquage und plastiquer, also Begriffe, die sich auf eine explosive Substanz aus Nitroglycerin und Nitrozellulose beziehen, die in der Lage ist, heftige Explosionen auszulösen.43 Von diesem Interesse an der desaströsen Dimension der Plastizität ausgehend, widmet Malabou der zerstörerischen Plastizität mit Les Nouveaux blessés eine gesamte Studie, die bislang allerdings nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Darin stellt sie – und ich zitiere in der Folge immer aus der englischsprachigen Übersetzung – die Fragen:

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Plastizität: Unfall, Wunde, Explosion

ight there be a wound of plasticity that, under the effects of M a wound, creates a certain form of being by effacing a previously existing identity? Might there be, in the brain, a destructive plasticity – the dark double of the positive and constructive plasticity that moulds neuronal connections? Might such plasticity make form through the annihilation of form?44 Ausgehend von diesen Fragen entwickelt Malabou eine Kritik an Freud und schlägt vor, sein Konzept der Sexualität durch das der ›Zerebralität‹ zu ersetzen.45 Für sie ist eine solche Verschiebung notwendig, da das heutige neurowissenschaftliche Verständnis des Gehirns eine radikal neue Art und Weise erfordert, ein Ereignis zu denken. Malabou entwickelt ihr Konzept der ›Zerebralität‹ anhand von Traumata, posttraumatischen Störungen, Hirnverletzungen und Krankheiten wie Alzheimer und zeigt dabei, dass in all diesen Fällen die Wunden im Gehirn so tief sind, dass sie das Selbst unwiderruflich verändern. Während nach Freud jedes Ereignis vom Subjekt assimiliert oder angeeignet werden kann, argumentiert Malabou, dass die Plastizität in ihrer zerstörerischen Version als ›reiner Unfall‹ verstanden werden muss, der alles vernichtet, was das Subjekt mit sich selbst und mit anderen verbindet. Die ›Zerebralität‹ führt also ein Ereignis ein, das das Subjekt blind für die hermeneutische Dimension dieses Ereignisses macht. Das Subjekt, das hier sichtbar wird, ist weder in der Lage, dem Ereignis Bedeutung zu geben, noch kann es das Ereignis in irgendein affektives Regime einordnen.46 Malabou geht hier deutlich über Freuds Lustprinzip und Todestrieb hinaus. Das ›zerebrale Ereignis‹ entzieht sich jeder Trieblogik; es hat nichts mit Hass oder Liebe zu tun, sondern geschieht einfach. Zusammenfassend hält Malabou über zerebrale Unfälle fest: »[Cerebral accidents are] wounds that cut the thread of history, place history outside itself, suspend its course, and remain hermeneutically ›irrecoverable‹ even though the psyche remains alive. The cerebral accident thus reveals the ability of the subject to survive the senselessness of its own accidents.«47 Das zweite Kapitel meines Buches, das sich Müllers Stück Der Auftrag zuwendet, zeigt im Detail, dass sein Theater von solchen zerebralen Ereignissen geprägt ist. Müller inszeniert Ereignisse, die sich der Interpretation durch das Subjekt entziehen und den Faden der Geschichte durchschneiden. Indem er das tut, reflektiert er über die Gefahren, die mit dem Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber einem solchen Ereignis verbunden sind; er zeigt aber auch, dass ein solcher Unfall Potenzial in sich birgt, denn er führt die Möglichkeit vor, aus der Determination auszubrechen.

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I Unfall, Explosion, Atomblitz

Hier wird der Begriff der Metamorphose wichtig, den Malabou einbringt, um die Chance, die sich aus dem Unfall ergibt, besser zu verstehen. Während die gängige westliche Vorstellung von Metamorphose eine Veränderung der Form meint, bei der die Substanz erhalten bleibt, argumentiert Malabou, dass eine Metamorphose sowohl die Form als auch das Sein betrifft. Sie greift den Begriff auf, um eine Formwerdung zu beschreiben, die aus dem Fehlen an möglichen anderen Arten der Veränderung hervorgeht. Anders formuliert beschreibt die Metamorphose eine Formwerdung der Flucht selbst, wenn Flucht unmöglich ist, sie aber die einzige Möglichkeit des Entkommens darstellt. In einer solchen Verwandlung wird das Subjekt unerkennbar und produziert eine Identität, die »sich nicht selbst reflektiert, die ihre eigene Umwandlung nicht erlebt, sie nicht subjektiviert«48. Und doch entsteht gerade hier die Leere und damit das Potenzial, dass etwas Unerwartetes, Singuläres und Unvorhergesehenes geschehen kann. Malabou spricht in diesem Kontext auch vom ›negativ Möglichen‹, um zu betonen, dass der Plastizität das Potenzial innewohnt, sich jederzeit zu verwandeln und radikal anders zu werden, ohne jedoch gänzlich zerstört zu werden. Sie theoretisiert damit eine Form der Möglichkeit, die sich nicht auf messianische Strukturen stützt,49 ebenso wenig wie diese Art der Negation einfach in Affirmation umgewandelt werden kann. Auch hier bezieht sie sich auf Freud, dieses Mal jedoch auf seinen Begriff der Verneinung, der ihrer Meinung nach den Ausgangspunkt für eine Theoretisierung einer solchen Möglichkeit bietet. Und doch geht sie deutlich über Freud hinaus, wenn sie Verneinung nicht mehr mit Verdrängung verbindet: To reject what is bad is to put it outside. But this demands that inside and outside be stable, real. Yet it is precisely this that the instances of accident discussed here no longer have. The subject must be able to reclaim the good thing when he wishes and to reject the bad thing when he wishes. […] Negation enables the subject to stand at the crossroads of two contradictory attitudes: to hide openly, or to dissimulate unknowingly. In contrast to this double attitude, the negative possibility is that which the subject will not or cannot do, with inclusion and exclusion losing all meaning here.50 Wie hier deutlich wird, ändert sich die Art und Weise, wie wir uns auf die Vergangenheit beziehen und die Geschichte verstehen, wenn wir

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in Begriffen des negativ Möglichen denken. Während Freuds Verneinung die Frage aufwirft, was hätte sein können (wenn es nicht abgelehnt und ausgeschlossen worden wäre) und was somit eine weitere Chance zu passieren haben könnte (da es immer noch darauf wartet und die Gegenwart heimsucht), verbietet das negativ Mögliche »die andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen, und sei sie auch eine Möglichkeit a posteriori«51. Das negativ Mögliche hat nichts mit dem hartnäckigen, unheilbaren Wunsch zu tun, das, was geschehen ist, umzuwandeln und in der Geschichte das Hirngespinst einer anderen Geschichte weiter zu verfolgen; es entspricht keiner unbewussten taktischen Strategie der Öffnung, der Ablehnung von dem, was gewesen sein könnte oder hätte sein können.52 Im Gegenteil, die »zerstörerische Plastizität entfaltet ihr Werk ausgehend von der Erschöpfung der Möglichkeiten, wenn jede Virtualität schon lange verschwunden ist«.53 Das ist im Kontext des ›Theaters der Leere‹ wichtig, denn auch hier geht es – obwohl es von Geistern und Untoten belebt ist – nicht darum, die Dinge richtigzustellen. Vielmehr ist die Arbeit, die hier geleistet wird, komplexer, da sie sich mit unserer Gegenwart auseinandersetzt, und zwar im Sinne der Möglichkeit einer radikalen Trennung und eines Bruches, der jederzeit eintreten kann und uns von der Vergangenheit separiert. Und doch ist die Vergangenheit nicht einfach verschwunden; im Gegenteil, die Auslöschung entzieht der materiellen Realität unserer Welt nicht ihre Geschichte und Geschichtlichkeit. Somit ist das, was vergangen und abgeschlossen zu sein scheint, eben nicht vergangen, sondern kann jederzeit in die Gegenwart einbrechen und sie aufbrechen. Für Malabou ist die Möglichkeit dieses Bruches und der Trennung von der Geschichte, die die zerstörerische Plastizität einführt, der Schlüssel, um jede Form von Essentialismus zu untergraben, der eine Identität suggeriert, die darauf wartet, sich zu entfalten:54 Das negativ Mögliche, das bis zur Erschöpfung seiner selbst negativ bleibt, wird niemals real, aber auch niemals irreal, sondern bleibt in der Schwebe in der post-traumatischen Form eines Subjektes, dem es an nichts fehlt – dem es nicht einmal am Mangel mangelt, wie Lacan geschrieben haben könnte – und das bis zum Ende diese subjektive Form bleibt, die sich ausgehend von ihrer eigenen Abwesenheit konstruiert.55

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Mit anderen Worten: Jede Explosion und jeder Unfall, die das Subjekt formen, de-essentialisieren es zugleich und offenbaren damit, dass es so etwas wie Essenz nicht gibt. Die Möglichkeit, dass eine Form entsteht, die nichts mit Identität zu tun hat, führt zurück zum Begriff der Freiheit, die erst dadurch möglich wird, dass das Unerwartete jederzeit eintreten und einen scheinbar determinierten Lauf verändern kann. Wenn die Auslöschung das Potenzial zur Bildung einer neuen Form in sich trägt, dann sind Explosionen nicht unbedingt negativ, sondern können auch kreativ und konstruktiv sein: Die Explosionen, um die es hier geht, sind eindeutig als Energieentladungen zu verstehen, als schöpferische Funkengarben, die die Natur nach und nach in Freiheit verwandeln. Den Schwerpunkt auf diese explosiven Erscheinungen zu legen, bedeutet, daß wir in dem Maße nicht flexibel sind, in dem jede Identitätsveränderung eine kritische Überprüfung ist, die Spuren hinterläßt, dabei andere Spuren auslöscht, gegen die eigene Überprüfung Widerstand leistet und keine Plolymorphie duldet. Es ist zwar paradox, aber wenn wir flexibel wären, anders gesagt, wenn wir nicht bei jedem Übergang explodieren würden, wenn wir uns nicht ein wenig zerstören würden, könnten wir nicht leben.56 Das ›Theater der Leere‹ entsteht aus solchen energetischen Entladungen und zeugt damit vom kreativen Potenzial der Zerstörung. So können wir die Explosion, die ungeheure Energie freisetzt und Müllers Rede »Die Wunde Woyzeck« abschließt, als eine Form des negativ Möglichen lesen. Müller betont wiederholt, dass im Verlust des Selbst und im Entstehen des ›radikal Anderen‹ großes Potenzial liegt. Dies kommt deutlich in seinem Kommentar zu seinem Stück Mauser (1970) zum Ausdruck, in dem er feststellt: »DAMIT ETWAS KOMMT MUSS ETWAS GEHEN DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG IST DIE FURCHT DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN.«57 Sich selbst zu verlieren, ist für Müller der einzige Weg, um sich Erlösungsfantasien und falschen Ideen der Wiedergeburt nicht hinzugeben.58 Müllers Theater arbeitet am negativ Möglichen, das formt, indem es zerstört. Die Verwandlung von Woyzeck in einen Hund und jene des Hundes in einen Wolf kann also durchaus als eine Metamorphose verstanden werden, bei der nicht nur die Form, sondern auch das Sein radikal verändert wird – was folglich auf ein Verständnis des Seins ohne Essenz hinweist. Müller konfrontiert seine Rezipient:innen mit einer Subjektivität, die sich aus (möglichen) Zufällen formt und plural ist, da sie sich zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu formt.59 60


Metamorphose des Theaters

Metamorphose des Theaters

Um die Metamorphose der theatralen Form bei Müller besser zu verstehen, müssen wir den zweiten Absatz von »Die Wunde Woyzeck« genauer betrachten. Dieser Teil bricht so überraschend in die Rede ein, als wäre er der Rede und ihrem Autor selbst zugestoßen. In diesem Absatz verlagert Müller seine Aufmerksamkeit vom gesellschaftlichen Wandel auf Fragen der theatralen Form und Transformation, eingeleitet durch eine kurze Bemerkung zur Rezeption von Büchners Woyzeck: Ein vielmal vom Theater geschundener Text, der einem Dreiundzwanzigjährigen passiert ist, dem die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten haben, vom Fieber zersprengt bis in die Orthografie, eine Struktur wie sie beim Bleigießen entstehen mag, wenn die Hand mit dem Löffel vor dem Blick in die Zukunft zittert.60 Was geht in diesem Satz vor, der so reich ist an Bildern der Gewalt, an Momenten der plötzlichen Entladung und Explosion, und der doch auch positive Erregtheit in Erwartung einer unvorhersehbaren Zukunft kommuniziert? Müllers Theater wird in der Regel zusammen mit Benjamins historischem Materialismus gelesen – was durchaus Sinn macht, da Müller Benjamin intensiv rezipiert hat, wie etwa an seiner wiederholten Auseinandersetzung v. a. mit Benjamins Begriff von Geschichte deutlich wird.61 Ich behaupte jedoch, dass wir Müllers Theater nicht vollständig verstehen, wenn wir es weiterhin ausschließlich mit Benjamin lesen, da diese Lesart – wenn auch zu Unrecht62 – oft an einer Form von Messianismus festhält. Müller hingegen bricht radikal mit der Vorstellung einer Zukunft als einem Versprechen, das im Sinne eines reinen Ereignisses kommen wird. Vielmehr muss das künftige Ereignis bei Müller erst geformt werden. Sein Theater ist geprägt von der Spannung, die der erschreckenden, explosiven Seite der Plastizität innewohnt, indem sie zugleich vernichtet und Form gibt. Wenn er Theater als plastisch begreift, ist Müller überzeugt, dass es explodieren und sich selbst zerstören muss, um zu existieren und sich neu zu formen. So arbeitet er an der feinen Linie zwischen Determination und Kontingenz, die die Explosion als notwendigen Bruch und als Durchbrechung jeder Begrenzung durch eine gegebene Form einführt. Auf diese Weise verknüpft er im zweiten Absatz Büchners Woyzeck mit den Parzen, den römischen Schicksalsfrauen, die den ›Lebensfaden‹

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­ ontrollieren, bringt sie aber auch mit dem Abschneiden der Augenk lider in Verbindung (»dem die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten haben«63) und verschränkt damit Determination und gewaltsamen Bruch. Darüber hinaus schreibt er in dieses Bild ein weiteres Moment des radikalen Bruches mit herkömmlichen Wahrnehmungsformen und Ästhetiken ein: Die Entfernung der Augenlider erinnert an ­Heinrich von Kleists »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« – einen Text, in dem Kleist über Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer (1810) reflektiert. Kleists Text ist zweifellos eine der bedeutendsten Reflexionen über das Nichts bzw. die Leere im Kontext der Künste. Darin stellt er fest, dass Friedrichs Gemälde dem Betrachter nichts bietet; vielmehr konfrontiert es ihn mit der Grenzenlosigkeit der Leere, in der alles, was sichtbar wird, nur zwischen dem Betrachtenden und dem Bild passiert. Dieses Verhältnis zwischen Bild und Betrachtendem ist, Kleist folgend, auch nicht durch Distanz gekennzeichnet, sondern durch eine eigentümliche Immersion in das Bild. Das wird etwa an der Formulierung, dass das Gemälde wirke, als wäre es des Rahmens beraubt, verdeutlicht. Dieser Verlust entzieht eine klare Rahmung des Bildes und so steht der Betrachtende nicht mehr vor dem Bild, sondern ist selbst Teil davon. Es ist dieses Fehlen des Rahmens, das eine andere Wahrnehmung provoziert. Kleist drückt dies in einem radikalen Bild aus, wenn er formuliert, dass das Betrachten des Bildes so ist, »als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«64. Kleists Lesart folgend steht Friedrichs Gemälde am Anfang einer radikalen Überarbeitung von künstlerischer Repräsentation und Wahrnehmung, die das Auge aus dem Zentrum verdrängt. Wenn Müller in seiner Rede Büchner und Kleist ebenso wie Explosion und Wunde miteinander verschränkt, dann macht er hier also vergangene explosive Momente sichtbar, die das Theater oder die Kunst im Allgemeinen radikal verändert haben und in Richtung der Plastizität weisen. Müllers eigener Versuch, eine neue theatrale Form zu schaffen, beruht schließlich auf jener zerstörerischen Plastizität, die er bei Büchner beobachtet. Zufall, Explosion und Zerstörung prägen Müllers Arbeit. So nennt er Bildbeschreibung die »Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur«65; sein Stück Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten entfaltet sich in einer verwüsteten Landschaft voller Dreck und Müll; und Grundlings Leben Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1977) endet mit einer Projektion, die den Tod von Mensch, Maschine und Tier gleichermaßen in einer Mischung aus Atomexplosion und

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Erdbeben imaginiert. Der fragmentarische Stil der Stücke ahmt den Eindruck eines in Stücke gesprengten Textes nach, in dem die Wörter und Sätze wie nach einer Explosion aufgesammelte Teile wirken. Doch obwohl Müllers Stücke in der Regel durch Fragmentierung und die Zerstörung eines Ganzen gekennzeichnet sind, sind sie nicht formlos. So verleihen etwa die immer wieder eingesetzten Majuskeln dem Text eine figurale Struktur und schaffen damit Bezüge zwischen Müllers Schreiben und der Bildhauerei. Das Konzept der Plastizität ermöglicht es hier, zu verstehen, dass Fragment und Form nicht notwendigerweise Gegensätze sind. Wie Malabou erklärt, bezieht sich Plastizität auf die spontane Organisation von Fragmenten.66 Sie referiert hier auf Claude Lévi-Strauss und seine Formulierung von der »dithyrambische[n] Begabung zur Synthese«, also einer quasi monströsen Fähigkeit, dort Ähnlichkeit zwischen Dingen wahrzunehmen, wo andere keine erkennen.67 Er legt diese Begabung am Beispiel eines in Britisch Columbien gefundenen hölzernen Schaukastens dar: Von einem Schaukasten zum anderen, einem Gegenstand zum benachbarten, ja zuweilen von einem Teil desselben Gegenstands zum anderen hat man den Eindruck, als würde man vom alten Ägypten in unser 12. Jahrhundert überwechseln, von den Sassaniden zu den Karussells der Jahrmärkte unserer Vorstädte, vom Versailler Schloß [...] zum kongolesischen Urwald.68 Müllers Theater, aber auch das Theater von Jelinek, Schlingensief und Pollesch, ist ein Theater, das mit dieser Spannung zwischen Differenz und der monströsen Möglichkeit der Wahrnehmung von Ähnlichkeit zwischen scheinbar Ungleichem arbeitet. Als solches bietet das ›­Theater der Leere‹ einen dritten Weg zwischen der Konstitution eines Ganzen im Sinne des Dramas und einem Theater der Desorganisation und Fragmentierung. Das ›Theater der Leere‹ ist ein plastisches Theater, das die spontane Organisation von heterogenen Elementen zulässt und sie teilweise sogar für einen kurzen Moment in eine monströse Einheit bringt. Einheit wird hier jedoch nicht im Sinne einer Einschließung in so etwas wie ein ›Ganzes‹ verstanden, sondern versteht sich als immer offen für Übergänge.69 Heilung im ›Theater der Leere‹

Es lohnt sich, noch einmal zu Müllers Kritik an jeglicher Form der Erlösung zurückzukehren, da sich daran Fragen der Heilung anschließen lassen, mit denen das Theater aufs Engste verbunden ist.70 Kann

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es so etwas wie Heilung im ›Theater der Leere‹ geben, das sich ja gerade durch den Moment der Explosion und den gewaltsamen Bruch konstituiert, und wenn ja, welche Art der Heilung finden wir in solch einem Theater? »Die Wunde Woyzeck« verweist auf zwei Modelle der Heilung – die offene Wunde und die Narbe. Während Woyzeck als die offene Wunde beschrieben wird, wird Heine im Text als jene Wunde eingeführt, die bereits zu vernarben beginnt: »DIE WUNDE HEINE beginnt zu vernarben, schief; WOYZECK ist die offene Wunde.«71 Müllers Theater ist jedoch weder dem einen noch dem anderen Modell zuzuordnen. Vielmehr entwickelt es einen dritten Weg aus der Spannung zwischen der Figuration der Wunde und jener der Narbe. Dieses dritte Modell ist weder in einem Denken der Erlösung und Aufhebung gefangen, wie wir es in einem Theater finden, das in der Tradition einer Hegel’schen Dialektik steht, noch in dem der Narbe, das jene Lesarten dominiert, die einem dekonstruktivem Ansatz folgen. Um diese Alternative besser zu verstehen, können wir uns einem Gespräch zuwenden, das der Dramatiker 1985 mit Wolfgang Heise führte. In diesem Gespräch setzt sich Müller mit der Frage nach einer möglichen Zukunft und Formen des Widerstands gegen ein geschlossenes System von Gewalt und Ausbeutung auseinander. Der Autor erwähnt in diesem Kontext eine frühe, unveröffentlichte Fassung der 14. Szene aus Brechts Leben des Galilei. Was Müller an dieser Szene fasziniert, ist das Schweigen, mit dem Galilei auf die Frage seiner Tochter nach dem Urteil über menschliches Versagen reagiert, und den widersprüchlichen Gefühlen von Todesangst und Todessehnsucht, die in dieser Version der Szene zum Ausdruck kommen. »VIRGINIA: Wie einen Schatten hat Gott den Menschen erschaffen. Wer kann ihn richten, wenn die Sonne untergegangen ist? / Galilei schweigt.«72 Müller verweist auch auf die nachfolgende Zeile, »Bewundernswert ist das Gute«, die Virginia liest und die Galilei nicht kommentiert. Stattdessen bittet er sie, diese Zeile etwas lauter zu wiederholen.73 Müller behauptet, in diesen Zeilen einen anderen Brecht zu finden, der nicht über Galilei urteilt, wie er es in seiner überarbeiteten, publizierten Fassung des Galilei nach den Erfahrungen von Hiroshima und ­Nagasaki getan hat. Müller argumentiert, dass im Schweigen und in der Geste des Nicht-Kommentierens eine Möglichkeit zur Veränderung bzw. ein Zukunftskonzept zum Ausdruck kommt, indem Brecht hier mit seiner üblichen Dialektik bricht. Es ist diese Szene, in der Müller eine Form von Verantwortung ausgedrückt findet, die über das Individuum hinausgeht und eine ernst zu nehmende Gegenposition zu einer in

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Bequemlichkeit eingerichteten und auf die kommende Apokalypse wartenden Gesellschaft formuliert (»die Gegenposition zu dem bürgerlichen ›Nach-mir-die-Sintflut‹«74). Müller bringt in diesem Kontext noch einen weiteren Text von Brecht ein, in dem er eine ähnliche Position zu finden meint, nämlich das Gedicht Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité: Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité Aufwachte gegen Morgen zu Und eine Amsel hörte, wußte ich Es besser. Schon seit geraumer Zeit Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts Mir je fehlen kann, vorausgesetzt Ich selbst fehle. Jetzt Gelang es mir, mich zu freuen Alles Amselgesanges nach mir auch.75 Dass Müller gerade auf diese Texte verweist, ist für den Kontext des ›Theaters der Leere‹ überaus relevant, denn beiden Text(stell)en liegt eine Plastizität zugrunde, die mit der Dialektik des Aleatorischen in Verbindung steht, wie sie das ›Theater der Leere‹ grundsätzlich auszeichnet. Das lyrische Ich in Brechts Gedicht ist ein zerebrales Subjekt, das aus der Zerstörung, der Explosion oder dem Trauma entsteht, jeden Bezug zu seiner Vergangenheit verloren hat und dennoch nichts vermisst (»da ja nichts / Mir je fehlen kann, vorausgesetzt / Ich selbst fehle«). Die letzten beiden Zeilen drücken darüber hinaus eine Art Leichtigkeit und Freude aus, die das Subjekt empfindet – ein Subjekt, das nicht mehr vom Selbst abhängig ist, sondern von der Möglichkeit, sich selbst zu ersetzen. Was hier angesprochen wird, ist eine Form der Heilung, die weder im Denken der Narbe noch im Denken von Erlösung und Aufhebung gefasst werden kann, sondern eher mit Malabous Begriff der Regeneration beschrieben werden muss. Regeneration bezeichnet eine Form der Heilung, bei der man sich selbst repariert, indem man sich ersetzt. Malabou orientiert sich hier an der Stammzellenforschung und der Fähigkeit einiger Tiere zur Selbstregeneration, die bei Menschen und Säugetieren fast ausgestorben ist.76 Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von einem ›Paradigma des Salamanders‹, da ihr der Salamander als Beispiel für eine Wundheilung ohne Narbenbildung dient. Malabous Modell ist zwischen Hegels Dialektik und ­Derridas Dekonstruktion angesiedelt.77 Konkret kehrt sie zu Hegels Phäno-

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menologie des Geistes zurück, in der er formuliert, dass »die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben«78, um anschließend die Unterschiede im Denken der Heilung zwischen Hegel und Derrida zu diskutieren. Ihrer Interpretation folgend impliziert die Wunde ohne Narbe in Hegels dialektischer Plastizität Aufhebung, die Transformation in ein höheres Leben sowie die Regeneration der Gegenwart. Dies wird deutlich, wenn Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den Geist mit dem Phönix vergleicht; jenem Vogel, der aus seiner eigenen Asche verjüngt und erhaben ­wiedergeboren wird.79 Über Derridas Dekonstruktion hingegen hält sie fest: [T]he process of recovery […] is understood through the text as tissue. To read, to understand, is to make wounds everywhere, first cuts, gashes, in the textile or web and the flesh. The text always reconstitutes itself, but it keeps imprints or traits of all readings and all acts of the spirit. […] the regeneration of living tissue coincides with the process of scarring and the inscription of the memory of the wound.80 Kurz gesagt besteht alle Präsenz in ihrer eigenen Auslöschung, da die Bewegung der différance immer schon metaphysische Auffassungen von Totalität, Stabilität und dem Subjekt verdrängt. Regeneration im Sinne Malabous hingegen erfasst einen Modus der Heilung, der weder die Wiederkehr des Gleichen impliziert noch aus dem Anderen hervorgeht. Sie führt weder zu einem höheren Leben, zur Ewigkeit oder zur Wiederherstellung der Gegenwart, noch hinterlässt sie eine Narbe. Vielmehr schafft sie eine dritte Möglichkeit, eine Heilung ohne Narbe, die dennoch ein endliches Überleben meint: The therapeutic and ontological work of plasticity disturbs the dialectical work of auto-reparation of the absolute, as well as the motifs of writing and of textuality in general. Reparation here comes neither from the same nor from the other. Because of this complexity, it appears not only as the supplement of the supplement, a simple replacement for writing. It no longer belongs to the era of metaphysics, but it likewise announces a change of system of the supplement itself.81 Malabou schlägt vor, die Regeneration als eine Art der Heilung durch Auslöschung der Schrift zu verstehen; es ist eine Art ›Deprogrammierung‹. Dies ist wichtig, da sich darin zeigt, dass es möglich ist, ein

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gegebenes Skript zu ändern und von ihm auszubrechen. An diesem Potenzial ist Müller interessiert, wie in einem Gespräch mit Frank Raddatz aus dem Jahr 1988 deutlich zum Ausdruck kommt, wenn er Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité als Brechts extremste und utopischste Position bezeichnet. Für Müller ist es die ultimative Formel für ein Gefühl von Leichtigkeit und Freude, die nicht von Religion oder dem Glauben an ein Leben nach dem Tod abhängt, sondern von der Leichtigkeit und der Möglichkeit, sich selbst zu ersetzen. In Müllers Worten: »Diese Position des Genießens zu erreichen, ohne Religion oder Jenseitsglauben, ist das eigentliche Ziel.«82 Ich halte Müllers Faszination für diese von Brecht formulierte Position für den Schlüssel zum besseren Verständnis des ›Theaters der Leere‹. Von Brecht inspiriert, entwirft Müllers Theater eine Position zwischen Wiederkehr des Gleichen und Vertrauen auf das Andere. Was ich an dieser Position so wichtig finde, ist, dass sie weiterhin am Begriff der Verantwortung festhält und darauf insistiert, dass wir etwas tun können, um unsere Bestimmung zu verändern, ohne in eine Romantik ursprünglicher Substanz zu verfallen, die nur darauf wartet, sich zu entfalten. Stattdessen sieht sie das große Potenzial und die Chance, die in der Wunde selbst liegen und erlauben, sich selbst zu ersetzen. Und sie verbindet dies mit dem Gefühl der Leichtigkeit und der Freude. Theater der Stimmen und der Sinne

Wie aber verändert sich nun die theatrale Form? Welche Form nimmt sie an, nachdem das Drama explodiert ist? Die Metamorphose des Dramas in ein ›Theater der Leere‹ findet in Müllers Bildbeschreibung ihren drastischsten Ausdruck. Diese Veränderung hängt unmittelbar mit dem zusammen, was Müller bezüglich der Bildbeschreibung festhält; nämlich dass es ein Text für das Theater ist, der das Bild sprengt, sodass es am Ende gar kein Bild mehr gibt.83 Was aber bedeutet es, wenn das Theater und somit der Ort des Sehens des Bildes beraubt wird? Wie wird Theater umgestaltet, wenn seine visuelle Dimension schwindet? Ich behaupte, dass im ›Theater der Leere‹ das Bild explodieren muss, damit letztlich alle möglichen Geräusche, Klänge und Sinneseindrücke erscheinen können, die normalerweise zugunsten der Dominanz des Auges unbemerkt bleiben. Anders ausgedrückt können wir sagen, dass im ›Theater der Leere‹ die Darstellung nicht mehr vorwiegend durch das Auge bestimmt wird, sondern das Ohr und andere Sinne in den Vordergrund treten. Ja, mehr noch, die Reprä-

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sentation weicht der gemeinsamen Erfahrung des Wahrnehmens und ist damit nicht mehr unbedingt von menschlicher Kognition abhängig. Um diesen Bruch besser zu verstehen, bietet sich ein Blick auf Roland Barthes’ Essay »Diderot, Brecht, Eisenstein« an, in dem dieser die Repräsentation durch das Auge im Vergleich zur Repräsentation durch das Ohr diskutiert. Barthes argumentiert, dass bereits im antiken Griechenland eine Affinität zwischen Mathematik und Akustik bestand, diese aber durch eine andere Affinität, nämlich die zwischen Geometrie und Theater, verdrängt wurde. Es war diese zweite Affinität, so Barthes, die fortan die Künste geprägt hat – mit Ausnahme der Musik. Das Theater, so Barthes, ist die Praxis, »die einkalkuliert, wo die Dinge gesehen werden«84. Und er schlussfolgert daraus: »Die Bühne ist jene Linie, die sich quer durch das optische Bündel zieht und es in seiner Entfaltung gleichsam begrenzt: Somit wäre als Widerpart zur Musik (zum Text) die Abbildung begründet.«85 Repräsentation, so Barthes, definiert sich also nicht durch Nachahmung, sondern durch die Existenz der Position des Betrachtenden. Ihre Grundlage ist die »Souveränität des Ausschnitts« und »die Einheit des Subjekts, das den Ausschnitt vornimmt«86. Barthes wirft anschließend an diese Beobachtung die Frage auf, was getan werden könnte, damit die Kunst endlich aufhört, bedeutend, lesbar, gegenständlich und metaphysisch zu sein. Kurzgefasst, er fragt sich, wann die Musik den Blick ersetzen wird. Während Barthes argumentiert, dass das neue Theater, das im 20. Jahrhundert durch Brecht erfunden wurde, in seiner Betonung der Tableaus und der Geste dem Blick verpflichtet bleibt, behaupte ich, dass das ›Theater der Leere‹, das mit Müller entsteht, mit der Geometrie bricht und stattdessen die Musik und den Klang in den Mittelpunkt stellt. Dies mag zunächst verwundern, hat doch Müller wiederholt die Metapher der Landschaft aufgegriffen,87 um sein Theater zu beschreiben; ein Konzept, das enger als andere mit dem Blick und der Rahmung durch ein Subjekt verbunden ist.88 Außerdem war er auch Maler, bevor er 1949 beschloss, die bildende Kunst aufzugeben, um sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Diese Verwandtschaft wird auch in seinem Theater sichtbar, das wiederholt Bezüge zur bildenden Kunst herstellt.89 Jedoch kann diese Verbindung nicht von der Zerstörung und Explosion des Bildes losgelöst werden, wie spätestens seine Bildbeschreibung beweist. Müller geht vom Bild aus, um mit der Geometrie zu brechen und die Repräsentation durch eine andere mögliche Tradition, nämlich die der Musik und des Ohrs, neu zu erfinden.

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Mit dem Philosophen und Neurowissenschaftler Antonio Damasio können wir sogar noch einen Schritt weiter gehen und das ›Theater der Leere‹ als ein Theater des Aufspürens beschreiben, wobei ›aufspüren‹ hier auf eine Form des Erkennens hindeutet, die über die menschliche Wahrnehmung hinausgeht, da sie kein Muster generiert, das auf etwas anderem basiert, um eine Repräsentation dieses anderen zu schaffen und ein Bild im Kopf der Betrachter:innen zu erzeugen.90 Das ›Theater der Leere‹ kreiert also eine völlig neue Art der Repräsentation und Wahrnehmung, die schließlich auch die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen neu zieht. Das Aufspüren ist nicht mehr auf die menschliche Kognition beschränkt, sie ist aber auch nicht das Gegenteil davon. Stattdessen können wir sie mit Damasio als elementarste Form des Erkennens begreifen.91 In einem solchen Theater muss sich notwendigerweise auch der Begriff der Geschichte ändern, da Geschichte nicht mehr an den Menschen gebunden ist. Müllers Theater nimmt den Wandel von Geschichte zu ›deep history‹ vorweg, dem in den Geschichtswissenschaften aktuell eine zentrale Rolle zukommt: ›Deep history‹ bewertet die Beziehung zwischen Geschichte, Biologie und menschlicher Erkenntnis neu und verlässt das etablierte Denken in der Abfolge von Evolution, Urgeschichte und aufgezeichneter Geschichte. Stattdessen – und hier beziehe ich mich auf Edward O. Wilson – impliziert ›deep history‹, dass menschliches Verhalten nicht nur als Produkt der aufgezeichneten Geschichte gesehen wird, sondern als Produkt der Tiefengeschichte des Planeten und somit genetische und kulturelle Veränderungen miteinbezieht, die das Leben auf dem Planeten seit Jahrtausenden prägen.92 Da Müller den Blick auf diese Tiefenschichten lenkt, wird sein Theater gewöhnlich mit der Methode der Archäologie in Verbindung gebracht. Er selbst spricht z. B. in seinem Kommentar am Ende seines Stückes Anatomie Titus Fall of Rome (1985) vom »Theater als Hebamme der Archäologie«93. Nikolaus Müller-­Schöll weist darauf hin, dass diese Formulierung irritiert, verbindet sie doch die Idee der Entstehung und Erschaffung von etwas Neuem mit der Suche nach dem Ursprung und der Freilegung historischer Schichten.94 In Anlehnung an Benjamin interpretiert er den Satz als etwas, das auf eine radikal abwesende Zukunft verweist. Daran anschließend schreibt Müller-Schöll, dass Müllers Archäologie ein ›Ab-Bau‹ im Sinne einer Dekonstruktion sei, und charakterisiert sein Schreiben als die Arbeit des Vermessens. Wenn wir uns Müller jedoch über das Konzept der Leere nähern, müssen wir Müller-Schölls Lesart infrage stellen: Die Zukunft ist nicht das radikal abwesende,

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kommende Ereignis, das nie vollständig realisiert wird. Vielmehr hat Müller eine Vorstellung von der Zukunft als dem, was im Prozess der Formwerdung geformt wird. Als solches sind auch die Begriffe des Vermessens und der Archäologie irreführend und müssen durch den des Seismografen ersetzt werden. Der Seismograf steht im Zentrum von Alexander Kluges Nachruf auf Müller. Kluge verweist hier auf ein Gespräch mit Müller selbst, in dem dieser darüber reflektierte, ob er sich eher als Landvermesser oder als Prophet sieht und Müller entschied sich zunächst für Ersteres. Und doch fand er auch diesen Begriff nicht ganz passend und korrigierte: Am ehesten sehe er sich als Seismograf. Kluge hält daher fest: »He is a seismograph who measures meticulously. And he measures as precisely as does a quantum physicist.«95 Während der Seismograf oft eine bloße Metapher für künstlerische Intuition und Genialität ist, schlage ich vor, den Begriff hier ernst zu nehmen, deutet er doch auf eine alternative Form der Wahrnehmung hin, die besser erfasst, was ich bereits im Kontext des Aufspürens im ›Theater der Leere‹ festgehalten habe. Wie Karin Harrasser argumentiert, handelt es sich beim Seismografen um ein Werkzeug, das auf Vibrationen reagiert. Sie hält weiter fest, dass der Seismograf eine Haltung zur Geschichte evoziert, wie wir sie in Siegfried Kracauers History. The Last Things Before the Last reflektiert finden, und arbeitet darauf aufbauend drei wichtige Charakteristika dieses Geschichtsbegriffs heraus: Erstens geht es für Kracauer bei der Auseinandersetzung mit Geschichte nicht so sehr um eine Methode, sondern eine Haltung, die immer in Dialog mit der Gegenwart steht und eine ständige Bewegung zwischen dem, was jetzt ist, und dem, was gewesen ist, inspiriert. Zweitens nähert sich Kracauer der Geschichte mit einem ›antiquarischen Interesse‹, das den ständigen Dialog mit den Toten verlangt und von uns erfordert, offen für die Stimmen der Toten zu sein. Dies zeugt von der Kontingenz dessen, was in den Archiven aufbewahrt wird. Drittens ist Geschichte für Kracauer die ›Leidenschaft für das Nicht-Fixierte‹; er trennt damit Geschichte von der Vorstellung eines linearen Prozesses der Ideengeschichte und stellt vielmehr Brüche und Missverständnisse ins Zentrum seiner Auseinandersetzung.96 Die seismografische Annäherung an Geschichte kann mit Kracauer als ›aktive Passivität‹ verstanden werden, bei der man mit allen Sinnen jene Botschaften aufnimmt, die einen zufällig erreichen.97 Oder wie Harrasser es ausdrückt:

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Theater der Stimmen und der Sinne

To conceive doing history as a seismographic operation has many advantages, as it establishes a relation to the past that shakes and concusses the present, that raises awareness for the non-individual and the more-than-human. It defamiliarizes the matter-of-factness of the contemporary world and, not least, it forces us to conceive of the past as something we have not come to terms with.98 Auch wenn es im ›Theater der Leere‹ nicht darum geht, die Vergangenheit richtigzustellen, so ist Harrassers Verknüpfung von Seismograf und Kracauers Haltung gegenüber der Geschichte durchaus interessant. Das ›Theater der Leere‹ macht Geräusche hörbar, die uns zufällig erreichen und Brüche in der Gegenwart erzeugen, die große Energien freisetzen und mögliche andere Zukünfte einleiten. Müllers Theater ist beispielhaft für ein solches Theater, das eine Haltung gegenüber der Gegenwart etabliert, in der wir sensibel werden müssen für Geräusche und Stimmen, die unsere Gegenwart erreichen, in sie eingreifen und sie sprengen können, um so Veränderungen zu ermöglichen. Daher ist sein Theater auch auf ein Medium angewiesen, das Geräusche aufnimmt und weitergibt. So ist das Sprechen, das wir in diesem Theater erleben, nie an die Körper gebunden, die auf der Bühne auftreten, sondern es ist nicht lokalisierbar oder authentifizierbar. Die in seinen Theatertexten erwähnten Sprecher und die auf der Bühne erscheinenden Körper unterscheiden sich daher deutlich von herkömmlichen Theaterfiguren. Nicht ihre Subjektivität, Psychologie oder Biografie ist von Interesse, sondern ihre Funktion. Sie sind Werkzeuge – ein Medium, das Geräusche und Stimmen aus verschiedenen Zeiten und Räumen empfängt, aufzeichnet und hörbar macht. Wie aber entkoppelt ein Theater Stimme und Körper, um den Körper als Medium zu kennzeichnen und nicht als authentische Quelle des Sprechens? Hier fällt die wiederholte Verwendung deiktischer Zeitformen in Müllers Theater auf. Diese erzeugen oder verweisen auf die spezifische Position und Perspektive des Sprechers und sind auf ein Publikum bezogen. Pronomen wie ›dies‹ und ›das‹ oder Adverbien wie ›dort‹, ›dann‹, ›hier‹, ›jetzt‹ und ›woher‹ sind deiktische Wörter, die den Standpunkt des Sprechers oder Zuschauers in ihre Bedeutung einbeziehen. Darüber hinaus sind alle Äußerungen, die Informationen über die Perspektive des Sprechenden enthalten, deiktisch. Deixis bezieht sich also auf den Körper des Sprechers, sie ist, in den Worten Norman Brysons, »utterance in carnal form«99.

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Die wiederholte Verwendung deiktischer Formen in Müllers ­Theater zeigt, dass die Stücke – auch wenn es in diesem Theater keine Dramenfiguren im eigentlichen Sinne mehr gibt – doch auf einen Körper angewiesen bleiben, der ihnen seine Stimme borgt. Irritierend daran ist, dass sie zwar deiktische Begriffe verwenden, gleichzeitig aber jeglicher Marker der eigentlichen Kommunikation oder Rahmung entzogen ist. Deixis ist jedoch auf eine solche Markierung angewiesen, wie anhand eines einfachen Beispiels sichtbar wird: Die Aussage ›Ich liebe dich‹ ist nur verständlich, wenn ein Sprecher und eine angesprochene Person anwesend sind. Fehlen Sprecher und Angesprochener, etwa wenn wir diese Botschaft als Flaschenpost vorfinden, bleibt der zeitliche und räumliche Bezug unklar, und wir können den Satz nicht mehr adäquat rahmen. In Müllers Stücken verweisen die Stimmen auf einen Sprecher, der unbestimmt bleibt, da alle konkreten Marker fehlen, die die Äußerungen kontextualisieren könnten. Ohne die Möglichkeit, Äußerung und Körper in Beziehung zu setzen, wird derjenige, der die Rede auf der Bühne äußert, immer als unauthentisch wahrgenommen. Die Performer leihen sich die Rede nur aus, so wie die Rede sie ausleiht. Müllers Theatertexte sind eine Art Flaschenpost.100 Versteht man die Darsteller:innen in Müllers Theater auf diese Art und Weise, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass der Grund von Müllers Theater in der Stille zu finden ist. Müller betont dies in einem seiner wichtigsten poetologischen Texte – dem Brief an den Regisseur Dimiter Gotscheff, den er mit den Worten beendet: »Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.«101 Müller kritisiert, dass die Stille im Theater meist missverstanden bzw. kaum wahrgenommen wird. Er betont jedoch, dass das Schweigen keine bloße Lücke, kein Nichts sei. Vielmehr ist es eine Leere und damit der grundlose Grund, aus dem alles Sprechen hervorgeht: »Vor dem Wort ist immer das Schweigen, und das Schweigen ist die Voraussetzung für Sprechen.«102 Während dem Schweigen in dekonstruktivistischen Lesarten nach wie vor eine Form des Messianismus innewohnt und es als das ›kommende Ereignis‹ interpretiert wird,103 argumentiere ich, dass das Schweigen bei Müller kein formloses Ereignis ist, sondern dass es im Sinne einer Leere verstanden werden muss, die von Spuk und Plastizität geprägt ist: Es ist erfüllt von allen möglichen Klängen, die gewesen sind, die sind und die noch sein könnten.

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Endnoten

1 Müller, Heiner: »Die Wunde Woyzeck«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 8: Schriften, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 283. 2 Für eine Diskussion von Müllers Preisrede und seiner Selbstinszenierung aus Perspektive der Institutionskritik siehe Pohlmann, Jens: »Heiner Müller’s Cooperation with the ›Institution of Art‹. An Analysis of His Performance at the Büchnerpreis Award Ceremony«, in: Monatshefte 113 (2021), H. 2, S. 208 – 229; und Pohlmann, Jens: The Creation of an Avant-Garde Brand. Heiner Müller’s Self-­ Presentation in the German Public Sphere, Oxford 2023. 3 Diese Passage wiederholt nahezu identisch einige Zeilen aus Müllers Prosa-Text »Der Mann im Fahrstuhl«, der Teil seines Revolutionsstücks Der Auftrag ist und sich mit ähnlichen Fragen wie »Die Wunde Woyzeck« auseinandersetzt. Siehe dazu Kapitel 2. 4 In diesem Buch verwende ich den Begriff »Regeneration« im Sinne Malabous. Sie bezieht sich damit auf eine Art des Klonens, die die Wiederherstellung der eigenen Person erlaubt, indem man sich selbst ersetzt (vgl. Malabou, Catherine: »Again: ›The Wounds of the Spirit Heal, and Leave No Scars Behind‹«, in: Mosaic. An Interdisciplinary Critical Journal 40 (2007), H. 2, S. 27 – 37). Ich gehe darauf später im Kapitel ausführlicher ein. 5 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 281, Herv. T. K. 6 Ebd. S. 281. 7 Vgl. Fisher, Mark: Capitalist Realism. Is There No Alternative?, Alresford 2009, S. 4. 8 Ebd., S. 17. 9 Vgl. Schwab, Gabriele: Radioactive Ghosts, Minneapolis 2020, S. 17. 10 Brecht, Bertolt: »Fatzer«, in: ders.: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 10.1: Stücke 10, Berlin 1997, S. 382. 11 Eine wegweisende Studie, die die komplexen zeitlichen Beziehungen diskutiert, die der Spuk entstehen lässt, ist Avery Gordons Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination (Minneapolis 2008). Gordon analysiert hier die weitreichenden sozialen Auswirkungen vergangener Handlungen in unserer Gegenwart. 12 Müller, Heiner: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 84. 13 Müller zitiert diese Zeilen in zahlreichen Texten und Interviews. Ich verweise auf sein Gespräch mit Alexander Kluge (vgl. »Anti-Oper«, in: Kluge Library, https:// kluge.library.cornell.edu/de/conversations/mueller/film/100/segment/1826 (15. Jänner 2023)). 14 Kohso, Sabu: Radiation and Revolution, Durham 2020, S. 89. 15 Ebd., S. 93. 16 Vgl. ebd., S. 88. 17 Vgl. ebd., S. 89. In diesem Zusammenhang ist Jean-Luc Nancys Analyse der Äquivalenz von Katastrophen ebenfalls aufschlussreich. Nancy argumentiert, aufbauend auf Marx’ Diktum von Geld als Gleichmacher, dass die Katastrophe der Gegenwart die Äquivalenz der Katastrophen ist (vgl. Nancy, Jean-Luc: After Fukushima. The Equivalence of Catastrophes, New York 2015). 18 Außerhalb des deutschsprachigen Kontexts ist, wie bereits in der Einleitung erwähnt, die japanische Tanzform Butoh zu nennen, die als Reaktion auf ­Hiroshima und Nagasaki entstanden ist. Darüber hinaus wurde Becketts Theater des Absurden als Reaktion auf die Erfahrung der totalen Zerstörung durch die Atombombe erforscht. Siehe z. B. Curtin, Adrian: Death in Modern Theatre. Stages of Mortality, Manchester 2019; Fraleigh, Sondra: Butoh. Metamorphic Dance and Global Alchemy, Champaign 2010; Schwab: Radioactive Ghosts; Viala, Jean: Butoh. Shades of Darkness, Tokyo 1988. 19 Siehe z. B. Dorsey, John T.: »The Responsibility of the Scientist in Atomic Bomb Literature«, in: Comparative Literature Studies 24 (1987), H. 3, S. 227 – 290; Masumoto, Hiroko: »Die Atombombe als literarischer Topos in der deutschsprachigen und japanischen Literatur«, in: Tilman Borsche, Teruaki Takahashi und Yoshito Takahashi (Hrsg.): Japanisch-deutsche Diskurse zu deutschen Wissenschafts- und Kulturphänomenen, Paderborn 2016, S. 191 – 205; Morley, Michael: »Dürrenmatt’s Dialogue with Brecht. A Thematic Analysis of ›Die Physiker‹«, in: Modern Drama 14 (1971), H. 2, S. 232 – 242; Müller, Klaus-Detlef: »Brechts ›Leben des Galilei‹ und die Folgen. Der Physiker als Gegenstand literarischer Phantasie«, in: Norbert ­Elsner

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und Werner Frick (Hrsg.): »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft, ­Göttingen 2004, S. 379 – 402. 20 Vgl. Müller, Heiner: »Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1: 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 364 – 374. 21 Hier gibt es interessante Anknüpfungspunkte zu Timothy Mortons Konzept der ›Hyperobjekte‹. Morton bringt das Atomzeitalter dezidiert mit der Erfahrung einer ›neuen Welt‹ in Verbindung, in der wir uns heute wiederfinden (vgl. Morton, Timothy: Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013). 22 Vgl. Hecht, Gabrielle: »The Power of Nuclear Things«, in: Technology and ­Culture 51 (2010), H. 1, S. 3. 23 Vgl. Hurley, Jessica: Infrastructures of Apocalypse. American Literature and the Nuclear Complex, Minneapolis 2020, S. 7. Auch der Philosoph Brian Massumi argumentiert, dass unsere Gegenwart von der Vorstellung einer kommenden Katastrophe geprägt ist. Er rahmt dies aber anders und macht den 11. September 2001 zur zentralen Zäsur, die zu einer radikalen Veränderung der Kriegsführung geführt hat. Ihm zufolge war es George W. Bush, der von einer Strategie der ›Abschreckung‹ – wie sie während des Kalten Krieges üblich war – zur Strategie der ›Vorwegnahme‹ überging. Die Logik der Vorwegnahme beruht, wie Massumi feststellt, auf der Inszenierung einer Bedrohung, die sich nicht nur noch nicht vollständig herausgebildet hat, sondern noch nicht einmal entstanden ist (vgl. Massumi, Brian: ­Ontopower. War, Powers, and the State of Perception, Durham 2015, S. 9). 24 Siehe in diesem Zusammenhang Barad, Karen: »Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness. Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable«, in: New Formations. A Journal of Culture/Theory/Politics 92 (2017), S. 57 – 59; Hurley: ­Infrastructures of Apocalypse, S. 6 – 14; Lee, Tanya H.: »H-Bomb Guinea Pigs! Natives Suffering Decades after New Mexico Tests«, in: Indian Country Media Network (2014), https://indiancountrymedianetwork.com/news/environment/h-bomb-guinea-pigs-natives-suffering-decades-after-new-mexico-tests/ (26. Februar 2023); Solnit, Rebecca: Savage Dreams. A Journey into the Hidden Wars of the American West, Berkeley 1994, S. 5. 25 Vgl. Hurley: Infrastructures of Apocalypse, S. 10. 26 Damit biete ich eine Alternative zu den bisher etablierten Rahmungen des ­Theaters durch die Wende von 1989, den Aufstieg der Massenmedien und 9/11. Siehe in diesem Zusammenhang Cornish, Matthew: Performing Unification. History and Nation in German Theatre after 1989, Ann Arbor 2017; Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Berlin 1999; Pełka, Artur: Das Spektakel der Gewalt. Die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama, Bielefeld 2016. 27 Vgl. Murphy, Michelle: Sick Building Syndrome and the Problem of Uncertainty. Environmental Politics, Technoscience, and Women Workers, Durham 2006, S. 10. 28 Wenn Müller hier von Rückkehr spricht, dann meint er damit nicht, dass wir zu genau demselben Punkt zurückkehren. Vielmehr bezeichnet er mit Rückkehr etwas, das etwas völlig Neues ins Leben ruft. 29 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 282 – 283. 30 Für eine detaillierte Analyse dieses Aspekts bei Nietzsche siehe Zupančič, Alenka: The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two, Cambridge, MA 2003, S. 130. 31 Malabou, Catherine: The Future of Hegel. Plasticity, Temporality and Dialectic, aus dem Franz. von Lisabeth During, New York 2004, S. 193. 32 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 281 – 282. 33 Am bedeutendsten ist sein Stück Philoktet aus dem Jahr 1958/1964 (uraufgeführt 1968), aber es existiert auch eine kurze Skizze für eine andere Version aus dem Jahr 1979, in der Philoktet nicht auf einer einsamen Insel ausgesetzt ist und sich nach Gesellschaft sehnt, sondern, ganz im Gegenteil, von Frauen umringt ist. Diese Skizze ist im Zusammenhang mit dem ›Theater der Leere‹ interessant, weil sie mit dem Abwurf der »Neutronenbombe« endet, die als »Traumwaffe der Archäologie, das Finalprodukt des Humanismus« vorgestellt wird. (Müller, Heiner: »Philoktet 1979. Drama mit Ballett (Entwurf)«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Die Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 9 – 10)

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Endnoten

34 Der Heilungsprozess in Wagners Oper ist äußerst komplex, da Amfortas’ Wunde nur durch den Speer geheilt werden kann, der sie zugefügt hat. Das Ende der Oper wurde daher auf unterschiedliche Weise gelesen und manchmal wurde durchaus infrage gestellt, ob die Oper überhaupt mit einer Erlösung schließt. Am radikalsten ist Alain Badious Lesart in Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, in dem er argumentiert, dass Wagner seine Oper eines Endes beraubt und stattdessen die Möglichkeiten eines Endes erforscht (vgl. Badiou, Alain: Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, aus dem Franz. von Thomas Laugstien, Zürich 2012, S. 102). Badious Lektüre wird in Kapitel 4 wichtig werden, da Schlingensiefs Zugang zu Parsifal genau auf diese Form der Möglichkeit achtet, die der Philosoph bei Wagner zu finden glaubt. 35 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 281, Herv. T. K. 36 Ebd., S. 282, Herv. T. K. 37 Malabou hat in The Future of Hegel (1996) erstmals den Begriff der ›Plastizität‹ eingeführt, den sie in Hegels Phänomenologie des Geistes und ­Wissenschaft der Logik findet. In dieser Arbeit argumentiert sie gegen den Anti-­Hegelianismus und Anti-Biologismus, wie sie die kontinentale Philosophie nach Heidegger geprägt haben. 38 Malabou führt in ihrer Studie Plasticity at the the Dusk of Writing den Begriff des ›Motorschemas‹ ein, um ein Bild oder einen Denkansatz zu bezeichnen, das bzw. der eine historische und intellektuelle Epoche am besten einfängt, aber auch in sie einzugreifen vermag (vgl. Malabou, Catherine: Plasticity at the Dusk of Writing, aus dem Franz. von Carolyn Schread, New York 2010, S. 57). 39 Vgl. Malabou, Catherine: Was tun mit unserem Gehirn?, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Zürich 2006, S. 13. 40 Vgl. ebd., S. 30. Malabou stützt sich dabei auf die Studie von Marc Jeannerod: Le cerveau intime, Paris 2002. 41 Transsubjektivierung bedeutet nicht, dass man sich von dem unterscheidet, was man früher war, und auch nicht, dass man in der Lage ist, die Differenz des anderen zu absorbieren, sondern dass man in sich selbst einen Raum zwischen zwei Formen seiner selbst öffnet (vgl. Foucault, Michel: Die Hermeneutik des Subjekts, Berlin 2004, S. 270). Malabou nimmt in ihrem Gespräch mit Noëlle Vahanian darauf Bezug (vgl. Vahanian, Noëlle: »A Conversation with Catherine Malabou«, in: JCRT 9 (2008), H. 1, S. 4). 42 Schon in The Future of Hegel verweist Malabou auf die Plastizität in ihrer möglichen Bedeutung des Sprengstoffs, wenn sie über die Bombe spricht (Malabou: The Future of Hegel, S. 185, S. 189) und im letzten Absatz des Buches speziell die Atombombe nennt (vgl. ebd., S. 193). 43 Vgl. Malabou: Was tun mit unserem Gehirn?, S. 14. 44 Malabou, Catherine: The New Wounded: From Neurosis to Brain Damage, aus dem Franz. von Steven Miller, New York 2012, S. xv, Herv. i. O. 45 Malabou argumentiert, dass Freud zwar versucht, Traumata und die damit verbundenen Wunden zu erfassen, es ihm aber letztlich nicht gelingt, über das Lustprinzip hinauszugehen, da er auch diese Ereignisse weiterhin mit inneren sexuellen Ursachen in Verbindung bringt, anstatt die Radikalität des durch einen Unfall verursachten Bruches in Betracht zu ziehen. 46 Vgl. ebd., S. 9. 47 Vgl. ebd., S. 5, Herv. i. O. 48 Malabou, Catherine: Ontologie des Akzidentiellen. Über die zerstörerische Plastizität unseres Gehirns, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Berlin 2011, S. 18. 49 Malabou betont, dass sie sich hier von Derridas ›Messianität ohne Messianismus‹ unterscheidet, wie er sie in Marx’ Gespenster eingehend diskutiert. Sie zeigt, dass Derrida in einer Metaphysik der Gegenwart gefangen bleibt, die er zu untergraben sucht, wenn er von Gerechtigkeit, Demokratie usw. spricht, da er behauptet, dass sie in der Gegenwart nicht erkannt und erst entdeckt werden können, wenn sie angekommenen sind. Dieses Ankommen denkt Derrida als messianisches Ereignis; eine Ankunft, die immer schon entweicht und eine Spur hinterlässt. Als solches ist es formlos und unsichtbar. Bei Malabou hingegen ist die Zeit plastisch und funktioniert daher anders: Das zukünftige Ereignis hat keine Form, solange es sich nicht gebildet hat. Somit legt Malabou den Schwerpunkt auf die Schaffung von Veränderungen. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Artikel ­Malabou, Catherine und Clayton Crockett: »Plasticity and the Future of Philosophy

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and ­Theology«, in: Political Theology 11 (2010), H. 1, S. 15 – 34; sowie Malabou, ­Catherine: The Heidegger Change. On the Fantastic in Philosophy, aus dem Franz. von Peter Skafish, New York 2011. 50 Ich zitiere hier aus der englischen Übersetzung The Ontology of the Accident, weil die deutsche Übersetzung an dieser Stelle zu wörtlich übersetzt und daher den Gedankengang eher verdeckt als klar macht: Malabou, Catherine: Ontology of the Accident. An Essay on Destructive Plasticity, aus dem Franz. von Carolyn Shread, Cambridge 2012, 82 – 83. 51 Malabou: Ontologie des Akzidentiellen, S. 94, Herv. i. O. 52 Ebd., S. 94 – 95. 53 Ebd., S. 95. Barads ›agentieller Realismus‹ und Malabous ›negativ Mögliches‹ lassen hier interessante Resonanzen entstehen. Auch Barad lehnt jeden Gedanken an ein Wiedergutmachen des Geschehenen oder an das Richtigstellen der Vergangenheit ab. Und doch denkt Barad in Begriffen einer Öffnung der Vergangenheit, wenn sie darauf besteht, dass die fortwährenden Rekonfigurationen von Raum-Zeit-Materie kontinuierlich öffnen und aufrütteln, was da sein könnte, was war und was wird (vgl. Barad, Karen: »Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance. Dis/continuities, SpaceTime Enfoldings, and Justice-toCome«, in: Derrida Today 3 (2010), H. 2, S. 264). Im Gegensatz zu Malabou bezieht sich Barad dezidiert auf Benjamin und Derrida, ohne die messianische Zeit infrage zu stellen oder mit ihr zu brechen. Und doch fügt sie diesen Ansätzen einen interessanten Dreh hinzu, wenn sie die materielle Realität hervorhebt. Bei Barad ist die Möglichkeit also eindeutig kein formloses Ereignis, sondern sie wird ähnlich wie bei Malabou im/materiell geformt und geschaffen. 54 Hier sehen wir einen großen Unterschied zu Barad, die auf Grundlage der Ergebnisse des ›Which-Slit‹-Experiments behauptet, dass nichts vollständig gelöscht werden kann und dass im Gegenteil jeder Löschversuch auch materielle Spuren hinterlässt. Für eine detaillierte Beschreibung des Experiments siehe Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 314. 55 Malabou: Ontologie des Akzidentiellen, S. 95. 56 Malabou: Was tun mit unserem Gehirn?, S. 110, Herv. i. O. 57 Müller, Heiner: »Mauser«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 4: Die Stücke 2, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 243 – 260, S. 259. 58 Vgl. Wittstock, Uwe: »Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1. 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 366. 59 Insofern ist, wie Müller wiederholt deutlich macht, der einzelne Sprecher in seinem Theater immer schon als Chor zu verstehen. Siehe z. B. sein Stück Hamletmaschine, in dem einer der Sprecher als »Ophelia (Chor/Hamlet)« (Müller, Heiner: »Hamletmaschine«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 4: Stücke 2, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, S. 547) gekennzeichnet ist, oder seinen Kommentar zu Verkommenes Ufer, in dem er festhält, dass die Texte kollektiv sind (vgl. Müller: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, S. 84). 60 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 282, Herv. T. K. 61 Insbesondere Benjamins »Engel der Geschichte« taucht in Müllers Texten in verschiedenen Formen auf, z. B. als »Engel der Verzweiflung« in seinem Stück Der ­Auftrag. Darin verkündet »Frauen/Stimme«: »Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei« (­Müller, Heiner: »Der Auftrag«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Die Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 16). Auch hier kommt das Schweigen zum Ausdruck, das bei Müller der Grund aller Sprache ist. Die Müller-Forschung hat sich eingehend mit diesem Zusammenhang befasst. Die umfassendste Studie hierzu ist Müller-Schölls Monografie Das Theater des »konstruktiven Defaitismus« (Frankfurt a. M. 2002). 62 Vgl. in diesem Zusammenhang Fritz Breithaupts Diskussion von Benjamins historischem Materialismus, die eine starke Betonung auf Latenz und Leere legt, anstatt Benjamin Messianismus zu unterstellen. Nichtsdestotrotz bleibt Benjamins historischer Materialismus, wie Breithaupts Artikel deutlich macht, mit der Idee eines inneren Kerns verbunden, der Teil des Phänomens ist und darauf

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wartet, offenbart zu werden. Darin unterscheidet sich Benjamins Ansatz auch von dem von mir – ausgehend von Malabou – entwickelten Denken, demzufolge es keine ursprüngliche Essenz mehr gibt, die auf Entfaltung wartet (vgl. Breithaupt, Fritz: »History as the Delayed Integration of Phenomena«, in: Gerhard Richter (Hrsg.): Benjamin’s Ghosts, Stanford 2002, S. 191 – 204). 63 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 282. 64 Kleist, Heinrich von: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Helmut Sembdner, München 1965, S. 327. 65 Müller, Heiner: »Bildbeschreibung, in: ders.: Heiner Müller. Werke 2: Die Prosa, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1999, S. 119. 66 Malabou, Catherine: Plasticity at the Dusk of Writing, aus dem Franz. von Carolyn Schread, New York 2010, S. 7. 67 Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Der Weg der Masken, Frankfurt a. M. 2004, S. 12. 68 Ebd., S. 12 – 13. 69 Wie Carl Weber in seinem Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von Müllers Hamletmaschine wiederholt betont, spricht Müller selbst in Hinblick auf seine Texte von einem ›synthetischen Fragment‹ (vgl. Weber, Carl: »The Pressure of ­Experience«, in: ders. (Hrsg.): Hamletmachine and Other Texts for the Stage, New York 1984, S. 17, S. 28 – 29). 70 Hier denke ich an die katharsis mit ihrem Gebot der Heilung von/durch Gefühle. Siehe im Kontext des Zusammenhangs von Theater und Heilung: Warstatt, Matthias: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011. 71 Müller: »Die Wunde Woyzeck«, S. 282. 72 Heise, Wolfgang: »Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller«, in: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1. 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 497 – 498. 73 Ebd., S. 498. 74 Ebd. 75 Brecht, Bertolt: »Als ich in weißem Krankenzimmer in der Charité«, in: ders.: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 15: Gedichte 5, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin 1993, S. 300. 76 Mit Ausnahme von Regenerationsformen der Leber, der Epidermis und der Blutgefäße. Diese Form der Selbstregeneration beruht auf der Fähigkeit der Zellen zur Transdifferenzierung. Das bedeutet, dass Zellen nicht nur jenes Gewebe erzeugen können, aus dem sie stammen, sondern sich auch in andere Zelltypen verwandeln und ein anderes Gewebe erzeugen können (vgl. Malabou: »Again«, S. 30 – 34). 77 Ein Schritt, den Derrida selbst in seinen späteren Werken mit zunehmendem Interesse am nicht Dekonstruierbaren vorbereitet hat, wenn er sich verstärkt mit Gerechtigkeit und Demokratie auseinandersetzt. Malabou zeigt, dass Derridas Vernachlässigung der Naturwissenschaften es ihm jedoch nicht erlaubte, diesen Schritt selbst zu gehen. 78 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. Werke 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 492. 79 Vgl. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1975. 80 Malabou: »Again«, S. 30. 81 Ebd., S. 36. 82 Raddatz, Frank M.: »Ich wünsche mir Brecht in der Peep-Show«, in: Heiner Müller. Werke 11: Gespräche 2. 1987 – 1991, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 327. 83 Vgl. Müller, Heiner: »Description of a Picture Is«, aus dem Deutschen von Carl Weber, in: Performing Arts Journal 10 (1986), H. 1, S. 96. 84 Barthes, Roland: »Diderot, Brecht, Eisenstein«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: Kritische Essays III, aus dem Franz. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990, S. 94, Herv. i. O. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Siehe in diesem Zusammenhang den umfangreichen Sammelband Nitschmann, Till und Florian Vaßen (Hrsg.): KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung, Bielefeld 2021. 88 ›Landschaft‹ als Begriff stammt aus dem Bereich der bildenden Kunst und wurde

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I Unfall, Explosion, Atomblitz

erst später übernommen, um über die reale, physische Umgebung zu sprechen. In Müllers Kontext ist die Landschaft eng mit Gertrude Steins ›landscape plays‹ ­verbunden. Stein kreierte diese Stücke als eine Alternative zum konventionellen Theater, in dem, wie sie kritisierte, die lineare Narration des Textes einen Gegensatz zu den sich atmosphärisch ausbreitenden theatralen Elementen der Aufführung bilden würde. Ihre ›landscape plays‹ sollten die anderen Elemente des Theaters nicht unterbrechen, sondern sich gleichberechtigt in sie einfügen. Dies gelinge nur, so Stein, wenn die Texte nicht mehr auf Bedeutung, Identifikation, Dialog und Psychologie ausgerichtet seien. Landschaft ist Stein zufolge ein komplexer, fortlaufender Prozess. Es geht nicht um die Bewegung oder die lineare Abfolge der Zeit, sondern um die Beziehung von Objekten und Subjekten (vgl. Stein, Gertrude: Lectures in America, Boston 1985, S. 114 – 115). Dementsprechend bricht die Landschaft im Kontext des Theaters mit der Geometrie und etabliert die Musik als ihr zugrunde liegendes Prinzip; auch wenn der Begriff ursprünglich deutlich mit der Geometrie verwoben ist. 89 Vgl. Storch, Wolfgang: »Die Bildenden Künste«, in: Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi (Hrsg.): Heiner Müller Handbuch, Stuttgart 2003, S. 113. 90 Vgl. Damasio, Antonio: Feeling and Knowing. Making Minds Conscious, New York 2021, S. 13. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. Wilson, Edward O: In Search of Nature, Washington, DC 1996, S. ix – x. 93 Müller, Heiner: »Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar«, in: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 225. 94 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Arbeit am Gelände (des Theaters). Heiner Müller als politischer Dramaturg«, in: Till Nitschmann und Florian Vaßen (Hrsg.): Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung, Bielefeld 2021, S. 57. 95 Kluge, Alexander: »It Is an Error, That the Dead Are Dead«, in: New German Critique 73 (1998), S. 7. 96 Vgl. Harrasser, Karin: »Violence and the Care for Images: Doing History with Strangers«, in: Artistic Practices as Cultural Inquiries (2024), https://insert.art/ausgaben/dis-sense/violence-and-the-care-for-images/ (8. Mai 2024). 97 Vgl. Kracauer, Siegfried: History. The Last Things before the Last, New York 1969, S. 84. 98 Vgl. Harrasser: »Violence and the Care for Images«. 99 Bryson, Norman: Vision and Painting. The Logic of Gaze, London 1983, S. 88. 100 Müller selbst vergleicht sein Schreiben mit der Flaschenpost: »Ich kann nur noch Texte für Flaschenpost herstellen, die ich in eine Flasche stecke, und dann werfe ich die Flasche ins Wasser mit der Hoffnung, dass sie irgendwann aufgefischt wird, ob von einem Marsmenschen oder von einem Puertoricaner oder was immer. Und der versucht dann, aus diesem Text in dieser Flasche Informationen zu beziehen, die er vielleicht verwenden kann für sein Leben« (Müller, Heiner: »Ich bin ein Neger«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1: 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 399 – 400). 101 Heiner, Müller: »Brief an den Regisseur der Bulgarischen Erstaufführung von ›­Philoktet‹ am dramatischen Theater in Sofia«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 8: Schriften, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 269. 102 Müller, Heiner: »Am Anfang war … Ein Gespräch unter der Sprache«, in: ders.: ­Heiner Müller. Werke 8: Schriften, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 296. 103 Dies zeigt sich z. B. in Müller-Schölls Lesart des Briefes (vgl. Müller-Schöll, ­Nikolaus: »,… die Wolken still / Sprachlos die Winde.‹ Heiner Müllers Schweigen«, in: Theatercombinat (2004), http://www.theatercombinat.com/projekte/mauser/ mauserNms.html (6. März 2023)).

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II Raum-Zeit-Verlust Quantenwelt und zerebrales Subjekt bei ­Heiner Müller

Mir wird klar, dass schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit.1 ——Heiner Müller, Der Auftrag

Heiner Müllers Revolutionsstück Der Auftrag (1979) fokussiert auf die gescheiterte Mission dreier Abgesandter der Französischen Revolution – dem Schwarzen ehemaligen Sklaven Sasportas, dem Bauern Galloudec und dem bürgerlichen Debuisson, einem Sohn von Sklavenhalter:­innen –, die nach Jamaika geschickt wurden, um einen Sklavenaufstand gegen die britischen Kolonisatoren anzufachen.2 Das Stück beginnt, als der Aufstand bereits gescheitert ist. Und so entfaltet es auch keine lineare und chronologische Handlung, sondern konfrontiert uns mit einer komplexen Konstellation von homogenen Zeiten und Räumen, die sich gegenseitig durchdringen. Es ist diese Ebene der Zeitlichkeit, auf der das Stück die Un-/Möglichkeit einer erfolgreichen Revolution kommentiert und reflektiert: Der ­Auftrag entlarvt die falsche Vorstellung von Revolution als teleologischem Ereignis und stellt ihr ein anderes Modell des Wandels und der Zukunft gegenüber. Dieses alternative Modell lotet das negativ Mögliche aus, erkundet Momente der Explosion und lässt dabei eine weite revolutionäre Topologie entstehen, in der sich verschiedene Zeiten und Räume überlagern und immer wieder neu anordnen. Der Auftrag setzt mit einem Brief ein, der von Galloudec auf seinem Sterbebett in Kuba geschrieben wurde und nun von einem Matrosen, der Galloudec versprochen hat, die Nachricht sogar im Falle des Verlusts des Briefes sicher ihrem Empfänger zu übermitteln, dem ehemaligen Revolutionär Antoine vorgetragen wird. Der Brief berichtet davon, was Galloudec und den beiden anderen Abgesandten widerfahren ist, nachdem bekannt wurde, dass Napoleon in Frankreich an die Macht gekommen ist und die Revolution endgültig beendet hat: Debuisson verriet die Revolution, Sasportas wurde von den Briten hingerichtet und Galloudec auf Kuba gefangen genommen. Als der

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Brief schließlich in Paris eintrifft, hat Antoine der Revolution längst den Rücken gekehrt und verleugnet zunächst, die drei Abgesandten zu kennen. Während der Brief ein konventionelles dramaturgisches Mittel ist, um Zeitverläufe zu verkomplizieren, nutzt Müller diesen durchaus etablierten Einstieg, um sofort damit zu brechen und jede Möglichkeit, die Zeit chronologisch zu ordnen, unmöglich zu machen. So kulminiert die Begegnung zwischen Antoine und dem Matrosen in einer orgiastischen Szene, in der die drei Abgesandten als Gespenster zurückkehren. Während selbst Gespenster auf der Bühne nichts Ungewöhnliches sind – man denke nur an Shakespeares ­Hamlet –, passiert bei Müller weitaus mehr. Denn die Gespenster stehen hier nicht einfach für eine Vergangenheit, die nicht zur Ruhe kommen will, sondern verweisen auf ein Zeitalter, das von einem Spuk, der sowohl aus der Vergangenheit als auch der Zukunft kommt, geprägt ist. Antoine ist mitten im Geschlechtsverkehr, als ein »Engel der Verzweiflung«3 erscheint – eine Figur, die an Benjamins ›Engel der Geschichte‹ erinnert – und in seiner Rede Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unlösbar aufeinander bezieht. Während Benjamins Engel vom Wind in die Zukunft getragen wird, aber zugleich den Kopf der Vergangenheit zuwendet und schweigend die Trümmer betrachtet, die sich als eine einzige Katastrophe auftürmen,4 spricht Müllers Engel in prophetischem Ton von der Hoffnung, die aus dem Kampf, dem Tod und der Zerstörung stammt: »Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht.«5 Es sind diese Zeilen, in denen eine aus zerstörerischer Plastizität resultierende Veränderung angedeutet wird. Während Explosion und Zerstörung hier nur anklingen, entfaltet sich diese Form der Plastizität in der kurzen, rätselhaften Erzählung »Der Mann im Fahrstuhl« weiter, die völlig unvermittelt in das Stück einbricht.6 Der Auftrag ist ein unglaublich heterogenes Stück. Es umfasst u. a. Elemente wie ein Stück-im-Stück und erzählerische Passagen; und doch kann es in drei wesentliche Stränge unterteilt werden: die Ankunft des Briefes bei Antoine, der Beginn der revolutionären Arbeit der drei Abgesandten in Jamaika und das Auseinandergehen der drei Revolutionäre, nachdem bekannt wird, dass Napoleon in Frankreich die Macht übernommen hat.7 Die kurze Erzählung »Der Mann im Fahrstuhl« lässt sich auf den ersten Blick jedoch keinem dieser Stränge zuordnen, wechselt sie doch in einen völlig anderen zeitlichen und räumlichen Kontext. Wir treffen darin auf einen Ich-Erzähler, der sich auf dem Weg zu seinem Chef befindet, um einen wichtigen Auftrag zu erhalten. Dabei verliert er jedoch jedes Gefühl für Zeit und

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Raum ebenso wie auch übliche Koordinaten und Messgeräte keinerlei Bedeutung mehr haben. So bringt ihn der Fahrstuhl schließlich nicht zum Chef, sondern die Türen öffnen sich auf eine verlassene Landstraße in Peru, auf der sich der Erzähler nun ausgesetzt findet. Aufgrund dieser rätselhaften Struktur hat Carl Weber in der Einleitung zu seiner englischen Übersetzung des Stückes argumentiert, dass es sich bei »Der Mann im Fahrstuhl« um Müllers kafkaeskesten Text handelt.8 Andere Analysen haben hervorgehoben, dass der Text als eine Metapher fungiert, die die dramatische Zeit aufhebt, um die komplexe zeitlich-räumliche Konstellation, die der Frage der Revolution innewohnt, ans Licht zu bringen.9 Der Text erinnert zweifelsohne an Kafka,10 und ja, er arbeitet in radikaler Weise die dramatische Zeit um und wird damit zu einem Schlüssel für das Verständnis des gesamten Stückes, das sich nicht so sehr für ein bestimmtes historisches Ereignis von Revolution und Konterrevolution interessiert, sondern vielmehr die umfassendere, systemische Frage von Beständigkeit und Veränderung in den Blick nimmt.11 Und doch schlage ich eine etwas andere Perspektive auf diesen kurzen Prosatext vor; eine Perspektive, aus der er nicht als Metapher, sondern als Metamorphose zu lesen ist. In Anlehnung an Müllers Bildbeschreibung können wir »Der Mann im Fahrstuhl« als »die Lücke im Ablauf« und den »vielleicht erlösende[n] FEHLER«12 begreifen, der das Stück unterbricht. »Der Mann im Fahrstuhl« ist der unvorhergesehene Unfall, der große Energie freisetzt. Die Erzählung konfrontiert uns mit einer ausweglosen Situation, in der Flucht unmöglich ist, obwohl sie der einzig mögliche Ausweg wäre. Ohne die Möglichkeit zu fliehen, verwandelt sich die dramatische Form selbst und bietet so eine Formation der Flucht bzw. der Metamorphose. Es ist diese Erzählung, in der die Zukunft in Müllers Theater aufblitzt. Eine Zukunft, die jedoch mit Teleologie nichts mehr zu tun hat.13 Anders formuliert: Die kurze Erzählung lässt das Unvorhergesehene geschehen und zeigt dadurch, dass es möglich ist, aus der Determination auszubrechen. So finden wir in dem Stück über eine gescheiterte Revolution doch auch eine Gelungene, nämlich jene Revolution, die sich in der Herausbildung einer neuen theatralen Form verwirklicht. Fasst man die Erzählung auf diese Weise auf, lässt sich auch der Rest des Stückes, das ohne Zweifel einer von Müllers meist analysierten und interpretierten Theatertexte ist, neu lesen. Obwohl die bisherigen Lesarten auf Aspekte wie Geschichtlichkeit und die Möglichkeit der Veränderung oder Revolution,14 Müllers Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und die Frage der Solidarität mit dem Globalen

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Süden15 sowie seine Neuerfindung des Brecht’schen Lehrstücks, insbesondere seines Revolutionsstücks Die Maßnahme fokussieren16 und damit all jene Aspekte diskutieren, die auch in der vorliegenden Analyse zur Sprache kommen – wenn auch teilweise nur peripher –, so unterscheiden sie sich insofern deutlich von meiner Lesart, als ihr theoretischer Rahmen mehrheitlich auf Benjamins kurzem Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte« sowie auf psychoanalytischen Ansätzen basiert. Während für die bisherigen Analysen eine Form des Messianismus17 weiterhin relevant bleibt bzw. von der Möglichkeit der nachträglichen Aneignung des Ereignisses durch das Subjekt ausgegangen wird, zeige ich, dass das Stück radikal mit jeder messianischen Struktur bricht und stattdessen eine Subjektivität offenbart, in der die hermeneutische Interpretation für das Subjekt nicht mehr möglich ist. Sobald wir das verstehen, wird klar, dass Der Auftrag nicht nur eine Überschreibung von Brechts Die Maßnahme ist, sondern dass das Stück ebenso wesentlich von Momenten der Leichtigkeit und Heiterkeit geprägt ist, die Müller an der unpublizierten Szene von Brechts Leben des Galilei und seinem Gedicht Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité interessiert – Texte und Textpassagen, in denen er eine echte Möglichkeit auf Veränderung formuliert sieht.18 Ich führe im folgenden Abschnitt genauer in »Der Mann im Fahrstuhl« ein, um in einem zweiten Schritt zu diskutieren, wie die Erzählung das Newton’sche Verständnis von Raum und Zeit sprengt und den Ich-Erzähler stattdessen in einer Quantenwelt positioniert, in der der metrische Maßstab durch Topologie und das fortwährende Werden von Raum-Zeit-Materie ersetzt wird. Daran anschließend fokussiere ich auf die neue Subjektivität, die in diesem Stück antizipiert wird, und zeige, dass Müller von der Figur der Differenz oder der Freud’schen Verdrängung zu jener der Metamorphose und Transdifferenzierung übergeht. Ich tue dies mit Blick auf die allerletzten Absätze von »Der Mann im Fahrstuhl«, in denen Müller die Begegnung zwischen dem Erzähler und dessen Doppelgänger imaginiert, die nur einer der beiden überleben wird. Dies, so behaupte ich, deutet auf ein Subjekt hin, das aus der Auslöschung der Form entsteht. Der Mann im Fahrstuhl

Der wenige Seiten umfassende Prosatext »Der Mann im Fahrstuhl« folgt einem Stück-im-Stück, in dem die beiden Abgesandten Sasportas und Galloudec in die Rollen der französischen Revolutionäre Danton und Robespierre schlüpfen, während der dritte Abgesandte, Debuisson, von einem Thron aus dem Geschehen folgt. Das Stück-im-Stück

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endet mit einem Kampf zwischen den beiden Revolutionären, bei dem sie sich gegenseitig die Theatermasken herunterreißen. Schließlich entthronen sie Debuisson, dessen Platz der ehemalige Sklave Sasportas einnimmt.19 In dieser neuen Position verkündet Sasportas, dass das »Theater der weißen Revolution«20 vorbei sei, und verurteilt Debuisson, den Sohn von Sklavenhalter:innen, zum Tode: ir verurteilen dich zum Tode, Victor Debuisson. Weil deine W Haut weiß ist. Weil deine Gedanken weiß sind unter deiner weißen Haut. Weil deine Augen die Schönheit unserer Schwestern gesehen haben. Weil deine Hände die Nacktheit unserer Schwestern berührt haben. Weil deine Gedanken ihre Brüste gegessen haben, ihren Leib, ihre Scham. Weil du ein Besitzer bist, ein Herr. Deshalb verurteilen wir dich zum Tode, Victor Debuisson. Die Schlangen sollen deine Scheiße fressen, deinen Arsch die Krokodile, die Piranhas deine Hoden. ­Debuisson schreit. [...] Jetzt bist du nichts. Jetzt kannst du sterben. Grabt ihn ein.21 Diesem Urteil, das deutlich Bezüge zu Fanons Black Skin, White Masks herstellt22 und mit einem revolutionären Denken abrechnet, das auf Frankreich fixiert bleibt und meint, von dort die Revolution in andere Erdteile tragen zu können, folgt ganz unvermittelt und nur durch eine Leerzeile getrennt »Der Mann im Fahrstuhl«. Ohne nähere Hinweise oder jegliche Angaben zu Sprecher, Ort, Zeit etc. werden wir in eine bereits laufende Handlung hineingeworfen. Dieser Teil des Stückes bricht drastisch mit der affektgeladenen Sprache der vorangegangenen Szene und weist einen völlig neuen Ton auf, der von Distanz und Kälte geprägt ist: »Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge.«23 Gleichgültigkeit und Kühle dominieren sogar jene Stellen, in denen der Ich-Erzähler von starken Emotionen wie Angst und Panik spricht, da er sich mit dem Ende der Welt konfrontiert sieht. Das Ich, das ganz am Anfang des Textes steht, ist vage und nur schwer zu fassen. Mehr noch, es ist von starken Widersprüchen geprägt, die unvereinbar scheinen. Das Einzige, das wir beim Lesen festmachen können, ist, dass es sich um ein Subjekt handelt, das von nie vollständig fixierten Möglichkeiten geprägt ist, während es gleichzeitig vollkommen von seiner Position innerhalb eines geschlossenen, hierarchischen Systems bestimmt zu sein scheint. So ist der Ich-Erzähler völlig eingenommen von seiner Funktion als Angestellter

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bzw. Untergebener seines Chefs: »Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. [...] Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste; [...].«24 Der Erzähler fühlt sich in doppeltem Sinne gefangen: Einerseits ist er unfähig, der Situation, in der er sich befindet, Sinn zu verleihen; andererseits scheint seine Existenz vollkommen determiniert zu sein. Dies drückt sich im Text durch die zahlreichen Spekulationen und die wiederholte Verwendung der Konjunktion »oder« aus; wir haben es hier also eher mit Möglichkeiten als mit Gewissheiten zu tun. Dieses Gefühl der Ungewissheit geht paradoxerweise mit Hinweisen auf ein geschlossenes System einher, in dem alles vollständig determiniert ist und aus dem sich das Ich nicht lösen kann. Der Erzähler ist seinem scheinbar allmächtigen Chef vollkommen ausgeliefert. Der Weg zu ihm und die Aussicht auf ein Zusammentreffen werden als Tortur erlebt, wie eine Schlinge um den Hals (»Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein«25). Die sich entfaltende Handlung der Erzählung bleibt ebenso vage wie das Ich, aus dessen Perspektive wir Einblick in das Geschehen bekommen. Wir wissen weder, wen oder was wir uns unter dem ominösen Chef vorstellen können, noch gibt es räumliche oder zeitliche Marker, die das Geschehen klar verorten. So werden wir mitgerissen in den Versuch des Erzählers, dem Geschehen zumindest punktuell Sinn abzugewinnen. Und doch wird auch dies im Laufe der Erzählung immer schwieriger, wenn nach und nach alle stabilen Kategorien ineinander zusammenzubrechen scheinen. Dieser radikale Verlust jeglicher Sicherheit deutet sich relativ früh in der Erzählung an, wenn der Erzähler besorgt um sein Aussehen einen Spiegel sucht, der jedoch nirgends zu finden ist (»Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann«26). Hier wird suggeriert, was später zu trauriger Gewissheit wird, nämlich dass die Augen ihre Fähigkeit verloren haben, sich selbst und die Außenwelt wahrzunehmen. Das Ohr hingegen wird als ein Organ eingeführt, das nicht geschlossen werden kann, sondern dazu zwingt, mit der Welt verbunden zu bleiben und alle möglichen Geräusche und Stimmen aufzunehmen (»Sie [die anderen Männer im Fahrstuhl] reden leise über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben«27).28 »Der Mann im Fahrstuhl« konfrontiert uns mit einer Welt, die aus den Fugen geraten ist und in der keine Grundlage für gesicherte Wis-

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sensproduktion mehr existiert. Nichts in der Erzählung ist gewiss; bei allem handelt es sich um reine Spekulationen des Erzählers über das, was geschehen (sein) könnte. Das betrifft sogar den Auftrag selbst, der im Zentrum der Erzählung steht und die Handlung antreibt. Wir wissen nicht, ob es diesen Auftrag überhaupt gibt, da der Erzähler ausschließlich vermutet, dass das der Grund für das Treffen mit dem Chef ist (»Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, der mir erteilt werden soll«29). Auch hier ist die Erzählung wieder von großen Widersprüchen geprägt. Während die Existenz des Auftrags fraglich bleibt, ist der Erzähler zugleich von seiner absoluten Dringlichkeit überzeugt. Mehr noch, er stellt sich sogar den Selbstmord seines Chefs im Falle des Scheiterns vor. Ja, er ist sich sicher, dass der Auftrag »die letzte mögliche Maßnahme gegen den Untergang betraf, dessen Beginn ich jetzt erlebe«30. Die einzige Gewissheit, die wir nach einer Weile erlangen, ist, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die nicht nur aus den Fugen geraten ist, sondern sich inmitten des Untergangs befindet. So kreist die gesamte Erzählung um Bilder von Tod, Zerstörung, Entfremdung sowie Zukunfts- und Orientierungslosigkeit. Dieses Gefühl weicht erst am Ende einem Empfinden von Leichtigkeit, eingeleitet durch einen radikalen Bruch bzw. einer Zäsur, die die kurze Erzählung in zwei Teile teilt. Dieser Bruch passiert, als der Aufzug plötzlich zum Stehen kommt und dem Erzähler erlaubt, auszusteigen. Die Türen öffnen sich jedoch nicht auf den Gang eines Bürogebäudes, sondern auf eine entlegene Dorfstraße in Peru. In der Erfahrung größter Fremdheit gewinnt der Erzähler paradoxerweise zum ersten Mal ein Gefühl für seinen Standort. Während anfangs auch hier Angst und Panik dominieren, weichen diese Empfindungen schließlich einem Gefühl der Leichtigkeit. Ja, sogar Hoffnung wird zum Ausdruck gebracht. Leichtigkeit, Freude und Hoffnung bleiben jedoch an Tod und Zerstörung gebunden, denn die Geschichte endet mit der Vorwegnahme der Begegnung mit dem Anderen, dem Doppelgänger des Erzählers, die nur einer der beiden überleben wird. Ich konzentriere mich in der Folge auf zwei entscheidende Elemente bzw. Kulminationspunkte der Erzählung. Das ist zum einen die Zeit, inspiriert von dem kurzen Satz »Entscheidend ist der Zeitfaktor«31; und zum anderen die gewaltsame Zerstörung, die untrennbar mit der vom Erzähler erlebten Ungewissheit verbunden ist, wie sie in dem folgenden – interessanterweise in Klammern gesetzten – Satz zum Ausdruck gebracht wird: »[D]as Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn«32. Ersteres erlaubt es mir, die Zeit als

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eine strukturelle Kategorie zu beleuchten, die im Atomzeitalter aufgebrochen und neu konfiguriert wird. Hier zeige ich, dass Müllers Erzählung mit den Newton’schen Kategorien von Zeit und Raum bricht und uns stattdessen in die unruhige Topologie des Atomzeitalters zwingt. Der Schnitt durchs Gehirn wiederum nimmt den Bruch vorweg, der nur wenige Zeilen später in der Erzählung eintritt und zur Folge hat, dass sich der Erzähler auf einer abgelegenen Landstraße in Peru wiederfindet. Indem Müller das »oder« als Schnitt beschreibt, evoziert er eine ›Ästhetik der Verletzung‹, die die moderne und postmoderne Kunst im Allgemeinen33 und das deutschsprachige Theater im Besonderen prägt.34 Wie aber lässt sich der hier suggerierte Schnitt verstehen? Ich habe bereits im vorherigen Kapitel die Bedeutung von Kleists Reflexion über die Wirkung von Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer für Müllers Theater hervorgehoben. Zudem öffnet der Schnitt das Theater in Richtung des Filmes, da er an den filmischen Schnitt erinnert.35 Zentral an der kurzen Passage ist, dass Müller nicht mehr den Schnitt durch das Auge imaginiert, wie bisher in künstlerischen Arbeiten üblich, die konventionelle Darstellungsformen infrage stellen, sondern von einem Schnitt durch das Gehirn spricht.36 Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, ist die Verschiebung vom Auge zum Gehirn wichtig, da sie auf eine andere Qualität des Schnittes verweist: Es handelt sich nicht um eine Figur der Differenz und des Aufschubs, wie der Schnitt durch das Auge suggeriert, sondern bei Müller geschieht etwas anderes, das die fortwährende Neuformierung des Subjekts durch die Explosion evoziert. Die Verschiebung hin zum Organ des Gehirns, mit dem sich Konzepte der Plastizität und des zerebralen Subjekts assoziieren lassen, weist auf eine alternative Form des Werdens hin, die schließlich den Schnitt hinter sich lässt und stattdessen in Begriffen der Metamorphose und Transformation zu denken ist. Uneinholbarer Zeitverlust

Die Kategorie der Zeit spielt in »Der Mann im Fahrstuhl« eine herausragende Rolle. Während sie zunächst lediglich unter dem Aspekt der Pünktlichkeit diskutiert wird und als solche im Kontext von Höflichkeit und Anstand am Arbeitsplatz im Fokus steht, wird schnell klar, dass sie für den Text als eine viel wesentlichere Kategorie von Bedeutung ist – etwa wenn die Messbarkeit der Zeit selbst zum Thema wird:

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ÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHF KEIT. Als ich das letzte Mal auf meine Armbanduhr geblickt habe, zeigte sie zehn. Ich erinnere mich an mein Gefühl der Erleichterung: noch fünfzehn Minuten bis zu meinem Termin beim Chef. Beim nächsten Blick war es nur fünf Minuten später. Als ich jetzt, zwischen der achten und neunten Etage, wieder auf meine Uhr sehe, zeigt sie genau vierzehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden nach der zehnten Stunde an: mit der wahren Pünktlichkeit ist es vorbei, die Zeit arbeitet nicht mehr für mich. Schnell überdenke ich meine Lage: Ich kann beim nächsten möglichen Halt aussteigen und die Treppe hinunterlaufen, drei Stufen auf einmal, bis zur vierten Etage. Wenn es die falsche Etage ist, bedeutet das natürlich einen vielleicht uneinholbaren Zeitverlust. Ich kann bis zur zwanzigsten Etage weiterfahren und, wenn sich das Büro des Chefs dort nicht befindet, zurück in die vierte Etage, vorausgesetzt der Fahrstuhl fällt nicht aus, oder die Treppe hinunterlaufen (drei Stufen auf einmal), wobei ich mir die Beine brechen kann oder den Hals, gerade weil ich es eilig habe. [...] Ein schneller Blick auf die Uhr klärt mich unwiderlegbar über die Tatsache auf, daß es auch für die einfache Pünktlichkeit seit langem zu spät ist, obwohl unser Fahrstuhl, wie beim zweiten Blick zu sehn, die zwölfte Etage noch nicht erreicht hat: der Stundenzeiger steht auf zehn, der Minutenzeiger auf fünfzig, auf die Sekunden kommt es schon länger nicht mehr an. Mit meiner Uhr scheint etwas nicht zu stimmen, aber auch für einen Zeitvergleich ist keine Zeit mehr: ich bin, ohne daß ich bemerkt habe, wo die andern Herren ausgestiegen sind, allein im Fahrstuhl. Mit einem Grauen, das in meine Haarwurzeln greift, sehe ich auf meiner Uhr, von der ich den Blick jetzt nicht mehr losreißen kann, die Zeiger mit zunehmender Geschwindigkeit das Zifferblatt umkreisen, so daß zwischen Lidschlag und Lidschlag immer mehr Stunden vergehen. Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit.37 Ich zitiere hier diesen relativ langen Abschnitt, um zu zeigen, wie sich die kurze Erzählung entfaltet und wie die Kategorie der Zeit langsam als ihr entscheidendes Element enthüllt wird. Der Erzähler ist von Anfang an darauf bedacht, pünktlich zum Termin mit seinem Chef zu erscheinen. Auf dem Weg dorthin beschäftigt ihn seine Armbanduhr und ihr merkwürdiges Ablaufen fast obsessiv, während er sich eine

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Reihe von Möglichkeiten ausmalt, was mit ihm und der Zeit passieren könnte; Möglichkeiten, die von Zeitrückstand über Zeitverlust bis hin zu Zeitmangel reichen. Zunächst hat die Fixierung auf Pünktlichkeit durchaus eine ironische, komische Färbung, evoziert sie doch das Klischee der Pünktlichkeit als ›deutsche‹ Tugend und erinnert an das populäre Sprichwort: »Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen Pünktlichkeit.« Im Text geht es jedoch nicht nur darum, dass der Angestellte eventuell zu spät kommt, sondern die Möglichkeit des Zu-spät-Kommens, des Ablaufens und Aus-den-Fugen-Geratens betrifft die Zeit selbst und berührt somit etwas weitaus Wesentlicheres als simple Pünktlichkeit. Um die Funktion der Zeit in dieser Erzählung besser zu verstehen, müssen wir weiterlesen und bedenken, dass der Erzähler die Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, als ein mögliches Modell einführt, um zu verstehen, was mit Zeit und Raum im Laufe der Erzählung geschieht. Der Angestellte, der sich im Fahrstuhl gefangen sieht, bedauert, dass er Poesie statt Physik gelesen hat und nun ratlos ist, weil ihm das nötige Werkzeug fehlt, um zu verstehen, was mit der Zeit passiert: I ch verfalle auf wilde Spekulationen: die Schwerkraft läßt nach, eine Störung, eine Art Stottern der Erdrotation, wie ein Wadenkrampf beim Fußball. Ich bedaure, daß ich von Physik zu wenig weiß, um den schreienden Widerspruch zwischen der Geschwindigkeit des Fahrstuhls und dem Zeitablauf, den meine Uhr anzeigt, in Wissenschaft auflösen zu können. Warum habe ich in der Schule nicht aufgepaßt. Oder die falschen Bücher gelesen: Poesie statt Physik. Die Zeit ist aus den Fugen und irgendwo in der vierten oder in der zwanzigsten Etage (das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn), wartet in einem wahrscheinlich weitläufigen und mit einem schweren Teppich ausgelegten Raum hinter seinem Schreibtisch, der wahrscheinlich an der hinteren Schmalseite des Raumes dem Eingang gegenüber aufgestellt ist, mit einem Auftrag der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) auf mich Versager.38 Was können wir mit diesem Verweis auf die Physik anfangen? Zwar könnte man ihn lediglich als humorvollen Kommentar zur vermeintlichen Unvereinbarkeit der Positionen von Kunst und Wissenschaft auffassen, doch ich möchte ihn hier durchaus ernst nehmen – ja, vielleicht sogar ernster als Müller selbst – und fragen, welche neuen Pers-

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pektiven eröffnet werden, wenn wir den Text mit und durch die Physik, bzw. konkreter die Quantenphysik, lesen. Nimmt man quantenphysikalische Erkenntnisse ernst, so ist »Der Mann im Fahrstuhl« nicht mehr bloß ein surrealistischer Traumtext, sondern kann zugleich als ein Text verstanden werden, der jene Zeitlichkeiten erfahrbar macht, die das Atomzeitalter entfesselt hat. Wie Karen Barad argumentiert, sind Uhren in vielerlei Hinsicht mit dem Atomzeitalter verknüpft. Das betrifft die stillgestellten Uhren von Hiroshima, Nagasaki, Fukushima und dem Trinity-Testgelände ebenso wie die Atomuhr und die symbolische Weltuntergangsuhr. Sie alle sind Belege dafür, dass unser Leben und unsere Körper auf den Rhythmus des Atoms eingestellt sind.39 Die Fixierung auf jede einzelne verstreichende Minute erinnert an die absolute Präzision der Zeitmessung, die erst die Atomuhr möglich gemacht hat. Wie Barad zeigt, ist diese Zeitmessung tief mit Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus verstrickt, da die Entwicklung von Atomuhren und die Einführung einer so präzisen Zeitmessung es erst ermöglicht haben, die Welt in einer noch nie da gewesenen Weise zu synchronisieren.40 Sie geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass Militarismus und Kapitalismus die treibenden Kräfte dieser Entwicklung waren, da ihre ›mechanischen Gedärme‹ wie GPS, Telekommunikation und Hochgeschwindigkeits-Internetübertragung auf eine solch präzise und global synchronisierte Zeitmessung angewiesen sind.41 In Barads Worten: »Globalism is tied not only to the militarization of space but also of time. The latest atomic clock [is] so precise that it won’t lose or gain a single second in 15 billion years – roughly the age of our universe.«42 Barad zeigt, dass das von der Atomuhr diktierte Zeitregime engstens mit kolonialen Praktiken verschränkt ist, und formuliert davon ausgehend eine postkoloniale Kritik an diesem neuen Zeitregime. Mit Verweis auf Daniel Wildcat und Vine Deloria problematisiert sie das Konzept der Zeit als determiniert und singulär; es gibt eine Norm vor, die in weiterer Folge auch impliziert, dass einige Menschen ›in der Zeit‹ sind, während andere ›der Zeit voraus sind‹ oder ›zu spät kommen‹.43 Dennoch behauptet Barad damit nicht, dass erst die Atomuhr eine Konzeption der Zeit als gerichtet erfunden hat, sondern sie ist sich durchaus bewusst, dass das Atomzeitalter dieses Verständnis, das in Theorie und Philosophie im gesamten 20. Jahrhundert kritisch befragt wurde, lediglich intensiviert hat.44 Sie zeigt jedoch, dass die Atomzeit paradoxerweise eine Zeitkonzeption befördert, die von der Quantentheorie eigentlich aufgebrochen und umgearbeitet wird. Hier verweist sie auf Benjamins Geschichtsbegriff, geht aber deut-

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lich über diesen hinaus, wenn sie argumentiert, dass im Atomzeitalter sowohl Zeit als auch Raum gebeugt (diffracted) sind. Es ist diese Beugung von Zeit und Raum, die die Quantenphysik konzeptualisiert und damit die gerichtete, synchronisierte Zeit aufbricht. Barad erfasst diese Beugung schließlich nicht einfach als eine Kategorie der Differenz, sondern vielmehr als ›innere Differenz‹, die weder exklusiv (hier oder dort) noch additiv (hier und dort) ist, sondern ein unbestimmtes, auf Zeit, Raum und Materie bezogenes ›Hier-Dort-Sein‹ bedeutet.45 Zeitliche Beugung bedeutet Barad zufolge: »temporalities are specifically entangled and threaded through one another such that there is no determinate answer to the question: What time is it?«46 Um die Bedeutung der Uhr als Symbol für die Synchronisation der Zeit im techno-militärisch-politisch-kapitalistischimperialistisch-­ rassistisch-kolonialen Regime besser zu verstehen und nachzuvollziehen, wie sie sich auf Müllers Theater auswirkt, ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, dass »Der Mann im Fahrstuhl« nicht sein einziger Text ist, in dem die Uhr eine so zentrale Rolle spielt. Tatsächlich finden wir eine überraschend ähnliche Szene in Müllers ­Hamletmaschine (1977). Der zweite Teil dieses Stückes, der mit »DAS EUROPA DER FRAU« übertitelt ist, beginnt – scheinbar den Konventionen des Dramas folgend – mit der Nennung von Ort, Figuren und Zeit. Während die Angaben zu den ersten beiden Kategorien tatsächlich diesen Konventionen folgen – »Enormous Room. Ophelia.«47 –, ist die Zeitangabe eher irritierend: »Ihr Herz ist eine Uhr.«48 Anstatt also einen bestimmten Zeitpunkt der Handlung zu nennen, zwingt uns Müller hier, die Zeit in ihrer Beziehung zum Körper selbst zu denken: Ophelias Körper ist mit dem Takt der Uhr synchronisiert. Die kurze Szene, die darauf folgt, beschreibt schließlich den Widerstand gegen diesen als Gefängnis empfundenen Rhythmus: I ch zertrümmre die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. […] Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe die Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust die mein Herz war. Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.49 Sowohl in »Der Mann im Fahrstuhl« als auch in Hamletmaschine finden wir das Motiv des Gefängnisses und ein Moment des Widerstands gegen die Synchronisierung mit dem Rhythmus der Uhr. Und ähnlich wie in »Der Mann im Fahrstuhl«, in dem der Erzähler den Fahrstuhl, sein Gefängnis, zurücklässt und in die Weiten Perus verschwindet, wo

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er schließlich seine Kleider, die ihn in seiner früheren Funktion als Angestellter kennzeichnen, ablegt, entledigt sich auch Ophelia ihrer Kleidung, gräbt die Uhr aus, die einst ihr Herz war, und geht nur mit ihrem Blut bekleidet auf die Straße. Wenn in beiden Texten Formen des Widerstands beschrieben werden, die von gewaltsamen Momenten der Zerstörung und der Explosion des Selbst geprägt sind, dann werden wir einmal mehr daran erinnert, dass Veränderung für Müller untrennbar mit Kampf und mitunter extremen Formen wie der totalen Vernichtung der Form verbunden ist.50 Neben dem Druck, völlig auf den Rhythmus der Uhr eingestimmt zu sein, erlebt der Erzähler auch das Debakel, in einer Endzeit zu leben, die alles auf die bevorstehende Apokalypse einstimmt. Und auch wenn der Atomkrieg nie explizit erwähnt wird, scheint das beschworene Endzeitgefühl untrennbar mit dem Atomzeitalter und insbesondere der Möglichkeit eines Atomkriegs verwoben zu sein. So macht der Erzähler sich nicht nur von einem Keller aus auf den Weg zu seinem Chef, wo er an leeren Betonräumen mit Luftschutzschildern vorbeikommt, sondern er ist auch davon überzeugt, dass der ihm von seinem Chef übertragene Auftrag von größter Wichtigkeit und Dringlichkeit ist. So dringend, dass es sich um den letzten möglichen Akt gegen die totale Zerstörung handelt: ielleicht geht die Welt aus dem Leim und mein Auftrag, der so V wichtig war, daß ihn der Chef mir in Person erteilen wollte, ist schon sinnlos geworden durch meine Fahrlässigkeit. GEGENSTANDSLOS in der Sprache der Ämter, die ich so gut gelernt habe (überflüssige Wissenschaft!), BEI DEN AKTEN, die niemand mehr einsehen wird, weil er gerade die letzte mögliche Maßnahme gegen den Untergang betraf, dessen Beginn ich jetzt erlebe, eingesperrt in diesen verrückt gewordenen Fahrstuhl mit meiner verrückt gewordenen Armbanduhr.51 Die Überzeugung des Erzählers, dass das Scheitern des Auftrags zu einer gewaltigen Katastrophe führen würde, die alles Bisherige bedeutungslos machen könnte, weist durchaus Anklänge an den Beginn des Stückes auf, als Antoine den Bericht über das Schicksal der drei Revolutionäre erhält; doch ist sie dieses Mal deutlich an die Möglichkeit der totalen Zerstörung durch einen Atomkrieg gebunden und spricht somit die Zeitgenossen und Nachgeborenen Müllers auf unheimliche Weise an. So wird auch die weiter oben zitierte Zeile »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« neu lesbar: In

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ihr schwingt auch die Warnung mit, dass es ›fünf Minuten vor zwölf‹ ist,52 also höchste Zeit zu handeln, soll die bevorstehende Katastrophe noch verhindert werden. Die Zeitsprünge, die dem Erzähler auf dem Weg zu seinem Chef zusetzen, können daher nicht nur als Verweis auf die Umgestaltung von Zeit (und Raum) durch die Quantentheorie gelesen werden, sondern auch mit dem Ende der Welt, das durch die Möglichkeit eines Atomkriegs droht und durch die Weltuntergangsuhr symbolisiert wird, in Verbindung gebracht werden. Diese Weltuntergangsuhr wurde 1947 vom Bulletin of the Atomic Scientists eingeführt, um anzuzeigen, wie nah sich die Menschheit an einer totalen Katastrophe befindet. Während bis 2007 ausschließlich die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs für die Zeitstellung der Uhr bedacht wurde, berücksichtigt sie seither auch den Klimawandel. Sie wurde zunächst auf sieben Minuten vor zwölf gestellt; die Zeigerstellung seither aber 24 Mal geändert. Am weitesten von der Zwölf entfernt war sie 1991 – in Reaktion auf die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges. Bis vor Kurzem war die größte Annäherung an die Zwölf im Jahr 1953, als die Uhr auf zwei Minuten vor zwölf gestellt wurde, nachdem die Vereinigten Staaten, gefolgt von der Sowjetunion, die ersten thermonuklearen Sprengkörper testeten. Im Jahr 2018 wurde die Marke von zwei Minuten vor zwölf zum ersten Mal wieder erreicht. Derzeit sind die Zeiger der Uhr näher an Mitternacht als je zuvor: 90 Sekunden.53 Müller verfasste Der Auftrag, als die Bedrohung eines möglichen Atomkriegs – nachdem sich der Atomkonflikt in den 1960er und frühen 1970er Jahren zu entspannen schien – wieder zunahm. So wurde die Weltuntergangsuhr 1974, als Indien seine erste Atombombe testete, von zwölf Minuten auf neun Minuten vor zwölf geändert. Die verbleibende Zeit wurde 1981, nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979, und der Wahl von Ronald Reagan 1980, die die Ängste vor einem möglichen Atomkrieg erneut verstärkte, noch einmal geändert und verkürzt. Der Auftrag zeigt deutliche Spuren dieser wiederkehrenden Angst vor einem Atomkrieg, ebenso wie der Text versucht, ein Modell für einen Wandel zu finden, das das scheinbar unaufhaltsame Weltende unterbricht. Barad kritisiert die Idee der Weltuntergangsuhr, da sie den falschen Sinn des Globalismus reproduziert und von einer Homogenität der Zeiten und Räume ausgeht, die die ungleiche Verteilung der Ressourcen und der Prekarität der Nuklear- und Klimakrisen verdeckt.54 Es ist eine auf eine Zukunft ohne Zukunft synchronisierte Zeit, die auf ihre eigene Auslöschung fixiert ist, so Barad.55 Als solche hat die Weltuntergangsuhr eher eine betäubende Wirkung, anstatt tatsäch-

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lich einen Bruch zu erzeugen, der zu Veränderungen führen könnte. Hier hören wir deutlich das anklingen, was auch Müller hinsichtlich des neuen Hypes um die kommende Apokalypse, den er in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren beobachtet, kritisiert.56 So zeigt Müller den Angestellten in »Der Mann im Fahrstuhl« als Gefangenen einer Zeit, die ihn auf die Apokalypse einstimmt; zugleich bricht er sie aber auf und schreibt damit eine andere Möglichkeit in das Stück ein, die nicht auf den Untergang ausgerichtet ist und dem technowissenschaftlichen Zeitalter ebenfalls innewohnt. Zeit ist in »Der Mann im Fahrstuhl« nicht linear, sondern gebeugt. Müller steigert hier sogar noch die radikale Entgrenzung von Zeit und Raum, die auch das gesamte restliche Stück prägt, wenn es etwa seine Rezipient:innen mit einer überwältigenden Anzahl an gegenwärtigen und historischen Zeiten und Orten konfrontiert und eine Topologie aufspannt, die Jamaika, die Russische Revolution und die Französische Revolution in immer neuen Konstellationen anordnet. Während Der Auftrag eine solche Topologie über mehrere Seiten hinweg entfaltet, hebelt die kurze Erzählung innerhalb weniger Sätze jegliches Verständnis von Zeit und Raum im Newton’schen Sinn aus. Der Erzähler wird völlig unvermittelt auf eine Straße in Peru katapultiert; Raum und Zeit lassen sich hier also nicht mehr in den Größen von metrischem Maßstab, Entfernung und Geometrie beschreiben. Dies gilt es zu bedenken, wenn wir uns mit dem Erzähler und seiner Unfähigkeit, die Zeit zu lesen, beschäftigen. Freilich können wir dies als Brüchig-Werden einer gerichteten, linearen Zeit und ihrer Ersetzung durch eine Traumstruktur verstehen; zugleich aber können wir »Der Mann im Fahrstuhl« als einen Versuch lesen, die radikale Umarbeitung der Zeit im Atomzeitalter erfahrbar zu machen. Als ein Text, der sich der veränderten Zeitlichkeiten seiner Gegenwart bewusst ist, findet er einen neuen Begriff von Wandel und Revolution. Diese ist bei Müller nicht mehr an eine Auffassung von Zeit als Abfolge von einem Moment zum anderen gebunden. Vielmehr zeigt er, dass die Vorstellung von Geschichte als Zeit und von Zeit als ein Fortschreiten von einem Moment zum anderen eine gefängnisartige Situation schafft, die beim Erzähler Panik und Verzweiflung auslöst. Wenn Müller dieses Zeitkonzept in seinem Stück zitiert und mit dem Atomzeitalter in Verbindung bringt, so offenbart er die komplexe Verflechtung von linearer Zeit, Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus. Der Auftrag zeigt, dass jede Revolution scheitern muss, solange die Revolutionäre diese spezifische Zeitauffassung übernehmen, statt sie infrage zu stellen. Wichtig ist, dass das Stück dieses Zeitverständnis

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nicht auf die Kolonisatoren beschränkt, sondern zeigt, dass die linear gedachte Zeit auch von den Revolutionären des Globalen Südens und den Kolonisierten im Allgemeinen längst verinnerlicht ist. So treibt das Verständnis von Revolution als teleologisches Ereignis alle drei Revolutionäre des Stückes an. Müller verfällt hier also nicht in eine vereinfachende und romantisierende Hinwendung zum Globalen Süden als Ort der Hoffnung, sondern hinterfragt dessen Einbettung in Gewaltzusammenhänge kritisch. Zugleich schreibt Der Auftrag eine diffraktive, gebeugte Zeit in die theatrale Struktur ein. Der Text ist von einer Zeitlichkeit geprägt, die die Vergangenheit nicht als passé und die Zukunft nicht als diesen einen, vor uns liegenden Moment denkt, sondern es erlaubt, die komplexe ›Raum-Zeit-Materie-Streuung‹ zu erfassen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder (neu) konfiguriert. Auch hier übernehme ich einen Begriff von Barad, die von ›Raum-Zeit-Materie‹ spricht, um zu betonen, dass – so ihre Interpretation der Quantenphysik – Raum, Zeit und Materie nicht voneinander getrennt werden können. Stattdessen entsteht die Raum-Zeit-Materie-Streuung als ein iterativer Prozess der Neu-/Konfiguration der komplexen Ko-Konstitution von Raum, Zeit und Materie. In Barads Worten: »[S]pacetimemattering is a dynamic ongoing reconfiguring of a field of relationalities among ›moments,‹ ›places,‹ and ›things‹ (in their inseperability), where scale is iteratively (re)made in intra-action.«57 Müllers Der Auftrag bricht, ebenso wie die Quantenphysik, mit der Newton’schen Physik, wenn die Universalität und Homogenität von Raum, Zeit und Materie infrage gestellt werden, und geht stattdessen von deren ständiger gegenseitigen Neu-/Konfiguration aus: »[E]very bit of matter, every moment in time, every location […], is diffractively/differentially constituted; or more precisely, every ›morsel‹ of spacetimemattering is diffractively/differentially constituted.«58 Diese Dynamik, die Barad différancing nennt und die in die Nähe von Konzepten der Plastizität und der Transdifferenzierung gebracht werden kann, findet ihren Höhepunkt, wenn sich in »Der Mann im Fahrstuhl« die Aufzugstüre öffnet. Statt in eine der Etagen des Bürogebäudes hinauszutreten, findet sich der Angestellte »ohne Auftrag […] auf einer Dorfstraße in Peru«59 wieder. Während der Fahrstuhl normalerweise auf eine vertikale Bewegung beschränkt ist, wird hier die Möglichkeit einer horizontalen Bewegung evoziert. Wir können dies als eine Überblendung mit der Eisenbahn lesen, die eng mit dem Thema der Revolution verknüpft ist,60 müssen aber dennoch bedenken, dass die Erzählung mit Peru zwar eine konkrete geografische Markierung

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erhält, doch nach wie vor jegliche Hinweise in Bezug auf die zeitliche Verortung fehlen. Die Welt, die der Erzähler in Peru erlebt, kann in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft liegen. Er nimmt die Landschaft als zerstört und von Entitäten belebt wahr, die beides sein könnten – Untote oder Cyborgs. Der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee: Kälte und Metamorphose

Je länger und je verzweifelter der Erzähler versucht, seinen Chef zu erreichen, desto mehr wirkt der Fahrstuhl auf ihn wie ein Gefängnis. Ohne einen Ausweg zu haben, beginnt er, sich mögliche Fluchtszenarien vorzustellen, die so weit gehen, dass er seine Verwandlung in ein Geschoß imaginiert, das durch die Decke des Aufzugs brechen kann.61 Inmitten dieser Fluchtfantasien kommt der Aufzug plötzlich zum Stillstand und erlaubt dem Angestellten schließlich ­auszusteigen: Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. Auf beiden Seiten der Straße greift eine kahle Ebene mit seltenen Grasnarben und Flecken von grauem Gebüsch undeutlich bis zum Horizont, über dem ein Gebirge im Dunst schwimmt. Links von der Straße ein Barackenbau, er sieht verlassen aus, die Fenster schwarze Löcher mit Glasresten. Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer fremden Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner. Von ihrem Rücken geht eine Drohung aus.62 Dieser Sprung in Raum und Zeit ist nicht nur vor dem Hintergrund der seltsamen Topologie des Atomzeitalters lesbar, sondern er deutet zugleich auf die Neuformierung eines Subjekts hin, das nicht auf Differenz, sondern auf dem Prozess der Transsubjektivierung oder der Metamorphose beruht. Diese Metamorphose ist das Ergebnis der negativen, destruktiven Seite der Plastizität. Anders ausgedrückt: Müller inszeniert hier die Herausbildung eines Subjekts, das durch seine eigene Explosion entsteht, wenn es keinen Ausweg mehr gibt und wenn Flucht unmöglich ist, obwohl Flucht die einzige mögliche Lösung wäre. Mit Malabou kann diese Unmöglichkeit so verstanden werden, dass sie in Situationen drängend wird, »in denen eine extreme Anspannung, ein Schmerz, ein Unbehagen zu einem Außen treibt, das es nicht gibt.«63 So betrachtet lässt sich der Ausgang in die Dorfstraße

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in Peru neu lesen: Der Erzähler flieht weder in ein anderes Land, noch fungiert der Globale Süden hier als Hoffnung und Heilsversprechen für den Europäer. Die veränderte Landschaft kann, ganz im Gegenteil, als Formation der Flucht selbst verstanden werden; als Fremdwerden des Erzählers sich selbst gegenüber, gerade weil er nicht fliehen konnte. Dass Peru nicht das Außen ist, das dem Europäer einen einfachen Ausweg bietet, wird deutlich, wenn wir uns genauer ansehen, wie es beschrieben wird. Der Ort scheint trostlos, verlassen und nur von wenigen Kreaturen bewohnt, deren Menschlichkeit fragwürdig ist. Doch so fremd und seltsam diese Landschaft auch sein mag, sie trägt Zeichen des Kapitalismus und der kapitalistischen Produktion. Dies wird nicht nur durch die Reklametafeln, die dem Erzähler sofort ins Auge stechen, deutlich, sondern auch ihre Beschreibung als zugemüllt verweist auf den Kapitalismus, auf ein System, das unverantwortliche Mengen von Müll produziert.64 Der Text verdeutlicht hier, dass es kein Ende und keine Alternative zum Kapitalismus gibt, da dieser die einzige funktionierende und lebendige Struktur in einer ansonsten verwüsteten Umgebung zu sein scheint.65 Obwohl sich der Erzähler also in einer scheinbar völlig fremden Umgebung befindet, hat auch dort der Kapitalismus schon längst seine Spuren hinterlassen und bildet die zugrunde liegende Struktur, aus der es kein Entrinnen gibt. Es ist ein geschlossenes System; ohne ein Außen bleibt nur noch die zerstörerische Plastizität, um neue Formen zu schaffen. So wird die Metamorphose für Müller wichtig, da sie die Herausbildung einer Alterität ermöglicht, in der der Andere absolut fehlt. Dies führt schließlich zu einer veränderten Perspektive, da die Verzweiflung dem Zufall und damit der Möglichkeit der Freiheit weicht, was sich in Gefühlen der Leichtigkeit und der Freude ausdrückt, die der Angestellte zu empfinden beginnt. Diese Gefühle rücken zum ersten Mal in den Vordergrund, nachdem er realisiert, dass es kein Zurück gibt. Der Angestellte begegnet dieser Erfahrung zunächst mit Angst und Skepsis: »Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden. Nie hätte ich gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war.«66 Im Sinne der Plastizität kann der Erzähler, einmal verwandelt, jedoch nicht mehr zu seiner vorherigen Form zurückkehren. Während er, solange er sich noch im Fahrstuhl befunden hat, bloß über den möglichen Selbstmord seines Chefs spekulierte, ist er jetzt von dessen Tod überzeugt:

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Nicht einmal im Dienst zu sterben ist mir vom Schicksal vergönnt, meine Sache ist eine verlorene Sache, Angestellter eines gestorbenen Chefs der ich bin, mein Auftrag beschlossen in seinem Gehirn, das nichts mehr herausgibt, bis die Tresore der Ewigkeit geöffnet werden, um deren Kombination die Weisen der Welt sich abmühn, auf dieser Seite des Todes.67 In der Einsicht, dass jeder Weg zurück verschlossen und der Auftrag für immer verloren ist, weichen die zunächst empfundene Angst und Panik einem Gefühl von Leichtigkeit. Der Angestellte lockert seine Krawatte, die ihm auf dem Weg zum Chef »so viel Schweiß gekostet hat«68, und nimmt sie schließlich ganz ab. Alles – Krawatte, Kleidung, Zeit, Auftrag – ist nun vollkommen bedeutungslos, und so kann sich sein angsterfüllter Gang in einen Spaziergang verwandeln: Keine Wissenschaft der Welt wird meinen verlorenen Auftrag aus den Hirnfasern des Verewigten [seines Chefs] zerren. Mit ihm wird er begraben, das Staatsbegräbnis, das vielleicht jetzt schon seinen Gang nimmt, garantiert die Auferstehung nicht. Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein ­Spaziergang.69 Der Gang, der zum Spaziergang wird, unterstreicht das Gefühl von Leichtigkeit und Heiterkeit, das auch die darauf folgenden, für die Leser:innen durchaus irritierenden fünf Begegnungen prägt: das Aufeinandertreffen des Erzählers mit einem Hund mit einem verkohlten Arm im Maul, dessen Finger auf den Erzähler gerichtet sind; das Vorbeispazieren einiger junger Männer mit einer Drohung, die jedoch nicht für den Erzähler bestimmt ist; eine Frau, die ihre Brüste entblößt; zwei Kinder, die versuchen, eine Kreuzung zwischen einer Dampfmaschine und einem Zug zu reparieren; und schließlich die Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger »mit meinem Gesicht aus Schnee«70. Hund,71 Mann, Frau, Kind und Ich entfalten eine Szene nicht-/ menschlicher Begegnungen, aus der Müller sein Denken über Zufall und Wandel entwickelt, das auch die Reflexion über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft einschließt. Obwohl dieses Verhältnis für Müller notwendigerweise ein gespanntes sein muss, kann es auch produktiv werden, wie der Text nahelegt.72 Meine Lesart weicht hier deutlich von allen bisherigen Interpretationen des Endes dieser

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kurzen Erzählung ab. Der Verlust des Auftrags und die Begegnung mit dem Doppelgänger, die nur einer von beiden überleben kann, wird gemeinhin als Resignation gelesen.73 Ich argumentiere jedoch, dass das Ende eine Form der Freude, der Heiterkeit und Leichtigkeit einführt, wie sie Müller in Brechts unveröffentlichter Szene aus Galilei und seinem Gedicht Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité zum Ausdruck gebracht findet. Um besser zu verstehen, warum ich vorschlage, die Erzählung auf diese Weise zu lesen, müssen wir uns ihr Ende genauer ansehen: Wo die Straße in die Ebene ausläuft, steht in einer Haltung, als ob sie auf mich gewartet hat, eine Frau. Ich strecke die Arme nach ihr aus, wie lange haben sie keine Frau berührt, und höre eine Männerstimme sagen: DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES. Der Ton ist endgültig und ich gehe weiter. Als ich mich umdrehe, streckt die Frau die Arme nach mir aus und entblößt ihre Brüste. Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus einer Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.74 Die Begegnung mit der Frau spiegelt auf interessante Weise eine Szene vom ersten Teil des Stückes, in der der Revolutionär Debuisson auf »Erste Liebe« trifft, die ihm vorhält, sie für seine Liebe zur Revolution verraten zu haben. »Du brauchst keine Angst zu haben, kleiner Victor. Nicht vor mir. Nicht vor deiner ersten Liebe. Die du betrogen hast mit der Revolution, deiner blutbeschmierten zweiten.«75 »Erste Liebe« kehrt am Ende von Der Auftrag als allegorische Figur des »Verrats« zurück und versucht, Debuisson mit einer ähnlichen Geste zu verführen wie die Frau den Ich-Erzähler auf der Straße in Peru. Es lohnt sich, bei dieser anderen Verführungsszene, mit der Der Auftrag endet, zu verweilen. Debuisson will sich dem Verrat zunächst nicht hingeben und fleht Sasportas an, ihn zu töten, bevor

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er ihm und der Revolution in den Rücken fällt. »Tötet mich bevor ich euch verrate. Ich fürchte mich, Sasportas, vor der Schande, in dieser Welt glücklich zu sein.«76 Wichtig ist, dass Müller auch hier mit der Erwähnung des Glücks einen Begriff einführt, der eng verwandt ist mit dem Gefühl der Leichtigkeit und Heiterkeit, die am Ende von »Der Mann im Fahrstuhl« stehen. Dies zeigt, wie zentral diese für Müllers Konzepte von Veränderung und Zukunft sind, auch wenn ihnen in der Forschung bislang kaum Beachtung geschenkt wurde. Debuissons Bitten bleiben ungehört. Er wird von den beiden anderen Revolutionären zurückgelassen, die beschließen, ihn nicht zu töten.77 Vom Verrat verführt, kämpft Debuisson weiter gegen sein Verlangen an – und das durchaus in Freud’schem Sinne, indem er seine »Augen mit den Fäusten in die Höhlen drückte aus Angst vor seinem Hunger nach der Schande des Glücks«78. Schließlich gibt ­Debuisson seinem Verlangen jedoch nach und sich dem Verrat hin: Der Verrat zeigte lächelnd seine Brüste, spreizte schweigend die Schenkel, seine Schönheit traf Debuisson wie ein Beil. Er vergaß den Sturm auf die Bastille, den Hungermarsch der Achtzigtausend, das Ende der Gironde, ihr Abendmahl, ein Toter an der Tafel, Saint Just, den schwarzen Engel, Danton, die Stimme der Revolution, Marat, über den Dolch gekrümmt, das zerbrochene Kinn Robespierres, seinen Schrei, als der Henker die Binde abriß, seinen letzten mitleidigen Blick auf den Jubel der ­Menge.79 Vom Verrat verführt, schneidet Debuisson den Faden zu seiner Vergangenheit durch und verliert damit all seine Erinnerungen bis auf eine, nämlich die an einen »Sandsturm vor Las Palmas«, bei dem »Grillen mit dem Sand aufs Schiff [kamen] und die Fahrt über den Atlantik [begleiteten].« In dieser letzten noch übrig gebliebenen Erinnerung »duckte sich [Debuisson] gegen den Sandsturm, rieb sich den Sand aus den Augen, hielt sich die Ohren gegen den Gesang der Grillen zu«80. Diese letzte Erinnerung konterkariert Debuissons früheren Versuch, sich die Augen zu verletzen, um so für die Verführung unempfänglich zu sein. Der Sand beschädigt seine Augen nicht, sondern kann ganz einfach abgeschüttelt werden – ebenso wie Debuisson seine Ohren vor dem Gesang der Grillen verschließen kann, was wiederum an die Versuchung Odysseus’ durch den Gesang der Sirenen erinnert. Debuisson ist am Ende des Stückes zum zerebralen Subjekt geworden, das nicht mehr durch die Logik des Triebs erklärbar ist.81

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Wenn in diesem Kontext so etwas wie Glück, Freude, Heiterkeit und Leichtigkeit bei Müller zum Ausdruck kommt, dann hat dies mit der Erkenntnis zu tun, ein plastisches Subjekt zu sein. So endet Der Auftrag mit der Verschränkung von Beginn, Wandel, Zukunft, Verrat und Glück: »Dann warf der Verrat sich auf ihn wie ein Himmel, das Glück der Schamlippen ein Morgenrot.«82 Hier zeigt sich das große Potenzial für Veränderung und Freiheit, das im Prozess des Vergessens83 und in der Explosion des Selbst liegt; eine Explosion, die es ermöglicht, radikal anders zu werden, wenn es keine Möglichkeit gibt zu fliehen, Flucht aber die einzige Möglichkeit ist. Liest man die letzten Zeilen des Stückes auf diese Weise, wird besser verständlich, wieso Müller den Verrat nicht per se verurteilt.84 Im Gegenteil, und darauf deutet das Ende von Der Auftrag hin, sieht er ihn durchaus als etwas Produktives an, denn er kann bedeuten, sich neu zu formieren und eine alte Form explodieren zu lassen – wie z. B. das falsche Verständnis von Revolution als sich teleologisch entfaltender Prozess.85 Dieser Lesart folgend darf das endgültige ­Scheitern der Revolution, das den Textteil nach »Der Mann im Fahrstuhl« dominiert und von Debuisson mit den Worten »Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven«86 kommentiert wird, nicht als endgültiges Verdikt, dass eine Revolution unmöglich ist, missverstanden werden. Vielmehr lehnt Müller damit einen spezifischen Revolutionsbegriff ab, der in der Französischen Revolution wurzelt. So bedeutet der Verlust des Auftrags nach der erfolgreichen Gegenrevolution in Frankreich nicht zwangsläufig das Ende der revolutionären Tätigkeit, sondern die Zerstörung einer möglichen Form der Revolution, die schließlich auch die Möglichkeit ihrer Transformation bedeutet. Wir können dies am Beispiel Sasportas nachvollziehen: Er fordert im zweiten Teil des Stückes den Bruch zwischen der Revolution des Globalen Südens und der Französischen Revolution (»Was geht diese Männer Paris an, ein ferner Steinhaufen, der eine kurze Zeit lang die Metropole ihrer Hoffnung war«87). Davon ausgehend argumentiert André Combes, dass wir in Sasportas eine »Nomadisierung der Revolution«88 erleben können, in der so etwas wie ein Auftrag keine Rolle mehr spielt – da die Idee des Auftrags immer ein Zentrum und seine Peripherie hervorbringen wird. In dieser nomadischen Form, so Combes, kann sich die Revolution frei bewegen und zirkulieren, was durch die Heimatlosigkeit von Revolution und Sklave zum Ausdruck kommt (»Sklaven haben keine Heimat« / »Die Revolution hat keine Heimat mehr«89). Ich stütze mich auf Combes’ aufschluss-

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reiche Analyse von Müllers Neukonzeption der Revolution als einen Kampf von Subjekten, die nicht als historische Subjekte anerkannt werden, sondern als ›Niemand‹ agieren, verstehe dies aber konkreter im Sinne des ›­Theaters der Leere‹ als den nicht zuordenbaren Ort oder die Leere, aus der das Singuläre und Unvorhergesehene hervorgehen kann.90 Liest man den Schluss von Der Auftrag auf diese Art und Weise, so kann man auch das Ende von »Der Mann im Fahrstuhl« anders verstehen. Im Gegensatz zu Debuisson, der zunächst damit kämpft, dem Verrat nicht nachzugeben, akzeptiert der Erzähler in »Der Mann im Fahrstuhl« sofort die Warnung des Mannes, dass die Frau einem anderen gehört (ist es Debuisson?), und geht mit Leichtigkeit an ihr vorbei, ohne ihrer Verführung zu erliegen, ja, sogar ohne weiterhin sexuelles Verlangen zu empfinden, gegen das er kämpfen müsste. Indem sich der Ich-Erzähler nochmals nach ihr umwendet, weckt die Szene zwar Assoziationen zum Orpheus-und-Eurydike-Mythos, verkehrt ihn aber. So kann der Erzähler seinen Kopf zu dieser Frau umdrehen, ohne dass dies ihren schmerzhaften, endgültigen Verlust bedeutet: Bei Müller verharrt die Frau in der Pose der Verführung, während der Erzähler seinen Spaziergang fortsetzt. Die Begegnung mit den Jungen, die versuchen, die Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive zu reparieren, funktioniert auf ähnliche Weise. Der Erzähler gibt seinen Impulsen nicht nach, beschließt, ihre Hoffnungen nicht zu zerstören und für sich zu behalten, dass die Reparatur unmöglich ist. So geht er einfach an ihnen vorbei und lässt sie ihre Arbeit tun; »dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung«91. Der Erzähler akzeptiert, dass die Landschaft keine andere Arbeit und – wenn man die Formulierung »Arbeit ist Hoffnung« auch hier anwenden will – H ­ offnung hat, als darauf zu warten, dass die Menschheit verschwindet. Er findet sich schließlich damit ab, dass sein Leben nicht zur Erlösung oder zum Heil führen wird, und empfindet Freude im Wissen um seine Endlichkeit. Dies erkennend, entledigt sich das Ich schließlich seiner restlichen Kleidung und stellt mit Gewissheit fest, dass sein Doppelgänger irgendwann auf ihn zukommen wird – eine Begegnung, die nur einer von ihnen überleben wird. Uwe Schütte überträgt das Verhältnis von Erzähler und Doppelgänger auf die Anlage des Stückes selbst und argumentiert: »Drama und Prosa inszenieren miteinander ein Spiel der Wiederholung in der Differenz, faßbar in der Figur des Antipoden«92. Auch ich sehe eine Beziehung zwischen der Begegnung mit

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dem Doppelgänger und dem Verhältnis zwischen dem kurzen Prosatext und dem Rest des Stückes, weiche aber von Schüttes Lesart ab, die die Begegnung mit dem Doppelgänger als Begegnung im Sinne der Differenz und als Aufeinandertreffen mit dem verdrängten und damit tödlichen Selbst versteht. Ich behaupte, dass der Doppelgänger nicht das verdrängte Selbst ist – die Freud’sche Terminologie gilt nicht mehr, sobald wir uns der Plastizität als zugrunde liegendes Prinzip bewusst werden –, sondern dass das, was Müller hier inszeniert, ein Prozess der Metamorphose und der Transsubjektivierung ist. Der Erzähler ist das zerebrale Subjekt, das aus dem Tod und der Explosion geboren wird; sein »Gesicht aus Schnee«93 verweist auf jene Kühle und Gleichgültigkeit, die charakteristisch für dieses neue Subjekt ist. Neben dieser negativen Form der Plastizität führt die Erzählung Plastizität aber auch in ihrer positiven Form ein. Dies wird deutlich, wenn die Erkenntnisfindung in einer der allerletzten Zeilen betont wird, bevor der Erzähler sich seiner Kleidung entledigt (»Ich weiß jetzt meine Bestimmung«94). Wie Malabou argumentiert, setzt die Möglichkeit der aktiven Gestaltung der neuronalen und damit auch sozialen und politischen Schicksale ein politisches Bewusstsein für die Folgen voraus, die Plastizität für das soziale Leben und das Selbst haben kann.95 So hält sie fest: »Eine wahrhafte Plastizität des Gehirns zu fordern, läuft daher auf die Frage hinaus, was das Gehirn tun und nicht nur erdulden kann. Unter dem Verb ›tun‹ verstehen wir nicht nur, Mathematik zu betreiben oder Klavier zu spielen, sondern auch, seine Geschichte zu machen, zum Subjekt seiner Geschichte zu werden.«96 Der Erzähler in »Der Mann im Fahrstuhl« gelangt am Ende der Erzählung zu einem solchen Bewusstsein, markiert durch das Reißen des Fadens der Geschichte und die zerstörerische Explosion, die das ­Subjekt formt. Hier beginnt er, sich vollkommen auf die Plastizität einzulassen, da er in ihr die Möglichkeit sieht, zu rebellieren, zu kämpfen, seine Bestimmung zu verändern und seine Geschichte zu machen, wohl wissend, dass dies auch das Risiko birgt, jederzeit zu e­ xplodieren. Coda: Auf der Suche nach einer neuen Dramaturgie

»Der Mann im Fahrstuhl« kann als der Bruch gelesen werden, der die Schaffung einer neuen Form von innen heraus ermöglicht. Was ich hier andeuten will, ist keine einfache Ursache-Wirkungs-Beziehung in dem Sinn, dass alles, was in Der Auftrag nach dem Bruch kommt, radikal anders ist als das, was vorher kam. Vielmehr müssen wir die Erzählung selbst als die Transformation des Dramas in eine radikal andere Texttopologie verstehen, die schließlich jede dramatische

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Struktur vollständig ersetzt, wie anhand von Müllers Bildbeschreibung deutlich wird. Müller selbst bezeichnete Bildbeschreibung als »Endpunkt oder Nullpunkt«97 seiner literarischen Produktion. Der Text wurde zwar für das Theater geschrieben, stellt aber dessen Konventionen in einer Radikalität infrage, dass selbst Literatur- und Theaterwissenschaftler:innen manchmal zögern, ihn einen Theatertext zu nennen.98 ­Bildbeschreibung weist auffallend viele Ähnlichkeiten mit »Der Mann im Fahrstuhl« auf; ja, die Texte sind so ähnlich, dass ich vorschlage, ­Bildbeschreibung als eine Fortsetzung von »Der Mann im Fahrstuhl« zu verstehen, auch wenn Bildbeschreibung entschieden weiter geht, da hier jegliche Subjektposition fehlt, die das Geschehen rahmen könnte. Darüber hinaus besteht der Text, obwohl er sich über mehrere Seiten erstreckt, nur aus einem Satz. Beiden Texten ist jedoch gemein, dass die Explosion und der Unfall den Text selbst antreiben, ebenso wie sich beide für das Schwinden des Auges als zentrales Organ der Erkenntnis interessieren; und in beiden dominieren Konjunktivstrukturen und Möglichkeitsformen (auch in Bildbeschreibung kommen »oder« und »vielleicht« überaus häufig vor). Kurz gesagt: Es sind Texte im Spannungsfeld von Determination und Kontingenz, Kreation und Zerstörung. Heiner Müllers Theatertexte sind in ihrer Radikalität oft als nicht aufführbar betrachtet worden oder, wie der Autor selbst immer wieder behauptete, als Texte, die auf ein Theater warten, das erst kommen muss.99 Das liegt daran, dass Müllers Theater ein eigentlich unmögliches ist und die Konventionen von Theaterinstitutionen herausfordert. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die Umsetzungen seiner Texte, dass sich die meisten Inszenierungen – ja, auch die, bei denen Müller selbst Regie führte – von dem radikalen Theater, das er in seinen Texten entwickelt, unterscheiden und wieder in konventionelle Muster zurückfallen. Nur wenige Regisseur:innen, deren Ästhetik ebenfalls innerhalb des ›Theaters der Leere‹ verortet werden kann, haben bisher überzeugende Wege gefunden, Müllers theatrale Leere auf der Bühne zu ermöglichen – was manchmal bedeutet, die Stücke in reine Hörstücke zu verwandeln. Allen voran sind dies Robert Wilson,100 Dimiter Gotscheff101 und Heiner Goebbels.102 Alle drei haben nicht nur zahlreiche Werke Müllers inszeniert, sondern auch eng mit ihm zusammengearbeitet. Dass diese Zusammenarbeit einen kontinuierlichen Dialog erforderte, der die Inspiration für eine gemeinsame Suche nach einem ›Theater der Leere‹ war, wird am besten in Müllers Brief an Gotscheff deutlich, in dem der

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Autor betont, dass es Gotscheff war, der ihm gezeigt hat, dass Stille und Schweigen im Theater möglich sind.103 Wilson, Gotscheff und Goebbels ist gemein, dass sie die Guckkastenbühne verabschieden und stattdessen mit Bühnen arbeiten, die durch Reduktion visueller Elemente und Arbeit mit Brüchen und Unterbrechungen gekennzeichnet sind. Diese Brüche prägen auch ihren Umgang mit der Sprache, die sie als Material und nicht als Bedeutungsträger behandeln. Die Verwandlung von Sprache in Klang und Rhythmus wird am deutlichsten in den Arbeiten von Heiner Goebbels, der Theater und Musiktheater zusammenbringt und sich gegenseitig durchdringen lässt.104 Seine konzertante Umsetzung von »Der Mann im Fahrstuhl«, die 1987 beim Artrock-Festival in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde und an der auch Müller selbst beteiligt war, überführte Müllers theatrale Form in musikalische Strukturen. Die englische Übersetzung von Müllers Text, die auf den Kopf gestellt vor ihm lag, habe ihn auf die Bedeutung des »Ich« aufmerksam gemacht, das er dann als rhythmisches Prinzip verwendete, so Goebbels. Dasselbe gilt für die wiederholten Konjunktionen »und«, »aber« und »oder«, die Goebbels dadurch hervorhob, dass er sie von einem Schauspieler schreien ließ, wenn sie im Text vorkamen.105 Neben den Bühnenadaptionen von Müllers Werken schuf Goebbels zahlreiche Hörspiele und andere auditive Kunstwerke, die auf Müllers Stücken basieren, z. B. Die Befreiung des Prometheus (1975), Wolokolamsker Chaussee I – V (1989), Schatten/Landschaft mit Argonauten (1990) und ­Herakles 2 (1992). Dass Müllers Texte als Inspirationsquelle für ­Goebbels’ Klangexperimente dienen, ist einmal mehr ein Zeichen für die Zerstörung des Bildes und die Verlagerung auf das Ohr im ›­Theater der Leere‹. Müllers Bildbeschreibung ist, auch wenn sie oft als Prosa kategorisiert wird, als Theatertext zu betrachten. Sie steht am Ende der ­Metamorphose, die mit »Der Mann im Fahrstuhl« in Der Auftrag begann, hat wie kein anderer Text die Plastizität des Theaters erkundet und darin das Potenzial erkannt, dass theatrale Formen explodieren und sich immer wieder neu formen können. In dieser Hinsicht ist Bildbeschreibung ein singuläres Werk, denn es markiert eine der größten Verschiebungen bezüglich der Frage, wie ein Text für das Theater aussieht und welcher Dramaturgie er folgt. Die Werke, die ich in den folgenden Kapiteln bespreche, schließen an diesen Wandel an. Keines von ihnen ist ohne Müllers Bewusstsein über die Folgen der Plastizität denkbar. Am deutlichsten wird dies bei Jelinek, die sich dezidiert auf Müllers Bildbeschreibung bezieht und tatsächlich, inspiriert

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Coda: Auf der Suche nach einer neuen Dramaturgie

von diesem Text, ihre Schreibweise für das Theater verändert.106 Aber auch Schlingensief und Pollesch sind engstens mit Müllers Theater­ experimenten verbunden, wenn auch ohne dezidierte Verweise auf Bild­beschreibung selbst.

1 Müller, Heiner: »Der Auftrag«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Die Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 29. 2 Der Auftrag ist eine Bearbeitung von Anna Seghers’ Novelle Das Licht am Galgen (1961), Müller erfindet sie aber auf Grundlage von seiner Faszination für die komplexe Beziehung zwischen Zeit und Raum, seinem immer stärker werdenden Interesse an race und Kolonialismus sowie seiner Infragestellung etablierter Revolutionstheorien neu. Eine der offensichtlichsten Veränderungen besteht darin, dass er Seghers jüdischen Revolutionär durch einen Schwarzen Revolutionär ersetzt. Das Stück zeigt deutlich, dass Müller hier von Denkern wie Frantz Fanon inspiriert war, insbesondere Fanons Black Skin, White Masks (1952). 3 Müller: »Der Auftrag«, S. 16. 4 Vgl. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, hrsg. v. Gérard Raulet, Frankfurt a. M. 2010. 5 Müller: »Der Auftrag«, S. 16. 6 Müller veröffentlichte »Der Mann im Fahrstuhl« auch als eigenständigen Prosatext. Als solcher wurde er bereits im Rahmen von Der Auftrag inszeniert, aber auch selbstständig dramatisiert. Das prominenteste Beispiel ist hier sicherlich Heiner Goebbels konzertante Version aus dem Jahr 1987. Müller hat wiederholt narrative Texte in seine Stücke eingefügt, die er auch separat veröffentlichte. Neben »Der Mann im Fahrstuhl« z. B. »Erzählung des Arbeiters Franz K.«, »Nachtstück«, »Befreiung des Prometheus«, »Herakles 2 oder die Hydra«. 7 Vgl. Klein, Christian: »Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution«, in: Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi (Hrsg.): Heiner Müller-Handbuch, Stuttgart 2003, S. 190. 8 Vgl. Weber, Carl: »Introduction to ›The Task‹, in: Hamletmachine and Other Texts for the Stage, aus dem Deutschen und hrsg. v. Carl Weber, New York 1984, S. 83. 9 Vgl. Klein: »Der Auftrag«, S. 192. 10 Insbesondere an Kafkas »Eine Kaiserliche Botschaft« aus Ein Landarzt und Der Verschollene. 11 Wie für Müller typisch, ist das gesamte Stück durch das komplexe Arrangement verschiedenster Zeiten und Orte gekennzeichnet, die auf versteckte Beziehungen zwischen ganz unterschiedlichen revolutionären Momenten hinweisen. So sind die Anspielungen auf Napoleon auch als Referenzen auf Stalin lesbar; und der Chef in »Der Mann im Fahrstuhl«, der vom Erzähler als »Die Nummer eins« angesprochen wird, lässt sich als Verweis auf Stalin und Erich Honecker verstehen (vgl. Weber: »Introduction« und Schütte, Uwe: »Brückenschlag, Familienalbum und Traum/a-Material. Zur Rolle der Prosa im Werk von Heiner Müller«, in: Euphorion 100 (2006), S. 478). 12 Müller, Heiner: »Bildbeschreibung«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 2: Die Prosa, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1999, S. 118. 13 Eine ausführlichere Diskussion der Metamorphose und ihrer Bedeutung im Zusammenhang mit zerstörerischer Plastizität findet sich in Kapitel 1. 14 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: »Dramatische Form und Revolution in Georg B ­ üchners ›Dantons Tod‹ und Heiner Müllers ›Der Auftrag‹«, in: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner: Dantons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen, Frankfurt a. M. 1980, S. 106 – 121; Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 159 – 166; Hörnigk, Frank: »Zu Heiner Müllers Stück ›Der Auftrag‹«, in: Weimarer Beiträge 27 (1981), H. 3, S. 114 – 131; Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«, Frankfurt a. M. 2002, S. 561 – 576; Raddatz, Frank M.: Dämonen unterm

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Roten Stern. Zur Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991; Bathrick, David: The Powers of Speech. The Politics of Culture in the GDR, Lincoln 1995, S. 144 – 150. 15 Hier liegt der Fokus v. a. auf Müllers Auseinandersetzung mit dem Denken von Frantz Fanon und die Ontologie der Négritude, die Müller von Aimé Césaire und Leopold Sedhor Senghor übernommen hat. Vgl. Lehmann: »Dramatische Form und Revolution«, S. 106 – 121; Schulz: Heiner Müller, S. 165; Teraoka, Arlene Akiko: »›Der Auftrag‹ und ›Die Maßnahme‹. Models of Revolution in Heiner Müller und Bertolt Brecht«, in: The German Quarterly 59 (1986), H. 1, S. 65 – 84. 16 Vgl. Müller-Schöll: Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«, S. 561 – 576; Teraoka: »Der Auftrag«, S. 65 – 84. 17 Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, muss man Benjamins Schriften nicht unbedingt Messianismus unterstellen, und doch wird er in den Lektüren von Müllers Theater überwiegend durch diese Brille gelesen. 18 Auf beide Referenzen gehe ich in Kapitel 1 näher ein. 19 Sasportas führt Fragen von Materialismus und race in das Stück ein, die eine breitere Diskussion über Blackness im deutschsprachigen Theater eröffnen. Eine solche Diskussion würde den Rahmen dieses Buches jedoch sprengen; ich möchte dennoch auf folgende Lektüren hinweisen, die sich mit dieser Frage befassen: Staging Blackness. Representation of Race in German-Speaking Drama and Theatre (gemeinsam herausgegeben von Priscilla Layne und Lily Tonger-Erk, Ann Arbor 2024) sowie Damani Partridges Blackness as Universal Claim. Holocaust Heritage, Noncitizen Futures, and Black Power in Berlin (Oakland, CA, 2022), in dem auch Theater diskutiert wird. Darüber hinaus ist Priscilla Laynes Artikel »Space is Place. Afrofuturism in Olivia Wenzel’s ›Mais in Deutschland und anderen Galaxien‹ (2015)« (in: German Life and Letters 71 (2018), H. 4, S. 511 – 528) in diesem Zusammenhang von Interesse, der sich auf Experimente mit Afrofuturismus im deutschsprachigen Theater konzentriert und somit eine weitere interessante Möglichkeit aufgreift, über Zukünftigkeit im zeitgenössischen Theater nachzudenken. 20 Müller: »Der Auftrag«, S. 26. 21 Ebd., S. 26 – 27, Herv. i. O. 22 Für eine Analyse von Müller mit Fanon siehe Lehmann: »Dramatische Form und Revolution«, S. 106 – 121; Teraoka: »Der Auftrag«, S. 65 – 84. 23 Müller: »Der Auftrag«, S. 27. 24 Ebd., S. 27, Herv. T. K. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 28. 27 Ebd. 28 Siehe hierzu auch Kapitel 3 zu Elfriede Jelinek, in dem das Ohr eine noch dominantere Rolle spielt. 29 Müller: »Der Auftrag«, S. 28. 30 Ebd., S. 30. 31 Ebd., S. 28. 32 Ebd., S. 30. 33 Siehe in diesem Zusammenhang Ian Fleishmans Studie An Aesthetics of Injury. The Narrative Wound from Baudelaire to Tarantino (Evanston 2018), in der er die ›erzählerische Wunde‹ von Baudelaire bis Jelinek analysiert. Sein Hauptargument ist, dass die Kunst in der Moderne Wunden nicht nur abbildet, sondern auch zufügen will. Auch wenn Fleishmans Studie eine interessante Lesart der Wunde darstellt, ist sie für die vorliegende Studie nur von begrenzter Bedeutung, da Fleishman einen theoretischen Rahmen wählt, der der Dekonstruktion verpflichtet ist und daher alles innerhalb des Textes denkt. Darüber hinaus schließt er das Theater und theatrale Texte aus seiner Diskussion aus und analysiert ausschließlich Prosa und Filme. Die Einbeziehung des Theaters würde die von Fleishman besprochene Beziehung zwischen Text und Körper weiter verkomplizieren. 34 Hier denke ich v. a. an Kleists Essay über Caspar David Friedrichs Der Mönch am Meer, den ich in Kapitel 1 ausführlicher diskutiere. 35 Müller ist hier ganz nah bei Schlingensief, in dessen Werk die Umarbeitung des filmischen Schnittes und dessen Ersetzung durch eine Praxis der Bewegung und Verwandlung im Mittelpunkt steht. Siehe in diesem Zusammenhang Kapitel 4, in dem ich diesen Aspekt ausführlich diskutiere.

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Endnoten

36 Auge und Ästhetik werden nicht nur in Kleists Essay über Friedrich enggeführt, sondern wir finden ähnliche Bilder auch in Luis Buñuels und Salvador Dalís Film Un chien andalou (1929). Wir können auch an George Batailles Geschichte des Auges (1928) und Elfriede Jelineks Lust (1989) denken, in denen die Trope des Auges und des Schnitts speziell mit Erotik und Pornografie verbunden ist. Müllers Verlagerung auf das Gehirn erlaubt es uns, über eine alternative Spur nachzudenken, die u. a. an Mary Shelleys Frankenstein (1818) sowie Gottfried Benns Gehirne (1916) anschließt. 37 Müller: »Der Auftrag«, S. 28 – 29, Herv. T. K. 38 Ebd., S. 29 – 30, Herv. T. K. 39 Vgl. Barad, Karen: »Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness. Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable«, in: New Formations. A Journal of Culture/Theory/Politics 92 (2017), S. 62. 40 Die erste Atomuhr wurde 1949 auf den Markt gebracht. Barad spricht daher von »Nachkriegsgeräten«, die »auf Resonanz und Präzision getrimmt« sind (ebd., S. 59). 41 Vgl. ebd., S. 60. 42 Ebd., S. 59. 43 Vgl. ebd., S. 60. 44 Siehe in diesem Zusammenhang die Diskussion verschiedener Zeitkonzepte von Schade, Julia: »Hold Your Breath Against Time. Zum Denken einer Widerständigkeit der Zeit bei William Kentridge«, in: Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld 2019, S. 201 – 214. 45 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 65. 46 Ebd., S. 68. Hier wird deutlich, dass Barads Konzept der Beugung von Zeit und Raum eng mit Malabous Figur der Plastizität verwandt ist, da auch sie eher die Transdifferenzierung als die Differenz betont, was für meine Lektüre des zweiten Teils der Erzählung wichtig sein wird. 47 Müller verwendet hier tatsächlich, wie für ihn üblich, auch englischsprachige Ausdrücke und Phrasen. 48 Müller, Heiner: »Hamletmaschine«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 4: Stücke 2, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, S. 547. 49 Ebd., S. 547 – 548. 50 Während feministische Lesarten der Hamletmaschine diese Passage als weiblichen Widerstand gegen die totalisierende Zeit des Patriarchats, die die ›­weibliche Zeit‹ leugnet (vgl. Biesenbach, Ellen und Franziska Schößler: »Zur Rezeption des Medea-­Mythos in der zeitgenössischen Literatur. Elfriede Jelinek, Marlene ­Streeruwitz und Christa Wolf«, in: Freiburger FrauenStudien 1 (1998), S. 41), interpretieren, zeigt die Lektüre der Passage zusammen mit »Der Mann im Fahrstuhl«, dass sie komplexer ist und sich nicht auf eine Gegenüberstellung von männlicher vs. weiblicher Zeit reduzieren lässt. Vielmehr geht es auch in Hamletmaschine um die Synchronisation der Zeit im technowissenschaftlichen Zeitalter – eine ­Synchronisation, die alle angeht, wenn sie auch nicht alle in gleicher Weise betrifft. 51 Müller, »Der Auftrag«, S. 30. 52 Wir finden diese Uhrzeit in einem anderen Stück von Müller, in Die Schlacht (1974), erwähnt und zwar in der kleinen Szene »KLEINBÜRGERHOCHZEIT«. ­Müller schrieb dieses Stück als Antwort auf Brechts Furcht und Elend im Dritten Reich. Irritiert von Brecht und seiner dialektischen Analyse des Naziregimes antwortet Müller mit Die Schlacht auf Brecht und zeigt, dass eine lineare Handlung die Realität nicht mehr fassen kann. Wir finden also auch hier jene Brechung von Zeit und Raum, die auch Der Auftrag und das ›Theater der Leere‹ ganz allgemein prägt. In Die Schlacht spricht der Vater in dem Wissen um das nahende Ende des Krieges davon, dass »es […] fünf Minuten vor zwölf« (S. 474) ist und nun alle Hitlers Selbstmord folgen sollten. Der Vater tötet daraufhin Frau und Tochter, revidiert seine Meinung aber, bevor er sich selbst tötet. 53 Diese Zeit wurde im Jahr 2023 festgelegt und blieb auch 2024 gültig. 54 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 58. 55 Vgl. ebd. 56 Eine ausführlichere Erörterung dieses Themas findet sich in Kapitel 1.

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57 Barad, Karen: »No Small Matter. Mushroom Clouds, Ecologies of Nothingness, and Strange Topologies of SpaceTimeMattering«, in: Anna Tsing, Nils Bubandt, Elaine Gan und Heather A. Swanson (Hrsg.): Art of Living on a Damaged Planet, Minneapolis 2017, S. G111. 58 Ebd., S. G109 – G110. 59 Müller: »Der Auftrag«, S. 30. 60 Der Aufzug wurde bei seiner ersten Patentierung durch Otis Tufts im Jahr 1859 als ›vertikale Eisenbahn‹ beworben. Eisenbahnen spielten in der Oktoberrevolution eine so zentrale Rolle, dass der Literaturkritiker China Miéville beispielsweise von einer ›Revolution der Züge‹ spricht (vgl. Miéville, China: October. The Story of the Russian Revolution, London 2017, S. 319). Sie fungierten aber auch als zentrale Metapher für Marx, der Revolutionen als Eisenbahnen der Geschichte bezeichnete. Dies wurde jedoch von Benjamin infrage gestellt, indem er argumentierte, dass die Revolution vielmehr als Versuch der Menschen verstanden werden muss, eine Bremse zu finden und den Zug zum Stillstand zu bringen (vgl. Schütte: »­Brückenschlag, Familienalbum und Traum/a-Material«, S. 479). 61 Vgl. Müller: »Der Auftrag«, S. 30. 62 Vgl. ebd., S. 30 – 31. Diese Passage erinnert an die Beschreibung der Landschaft am Anfang von Müllers Bildbeschreibung. 63 Malabou, Catherine: Ontologie des Akzidentiellen. Über die zerstörerische Plastizität unseres Gehirns, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Berlin 2011, S. 18. 64 Hier erinnert der Text an Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, besonders an den Beginn des Stückes, in dem eine von Müll geprägte Landschaft beschrieben wird. 65 In diesem Kontext lohnt es, Kohsos Analyse des »Zombie-Kapitalismus« aus ­Kapitel 1 in Erinnerung zu rufen. 66 Müller: »Der Auftrag«, S. 31. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 32. 70 Ebd., S. 33. 71 Der Hund taucht wiederholt in Müllers Essays und Theaterstücken auf. Er kann für Faschismus stehen, insbesondere für blinden Gehorsam, wie z. B. in Die Schlacht und Germania Tod in Berlin, aber er erscheint auch in Verbindung mit Revolte und Aufstand, wie z. B. in »Die Wunde Woyzeck«. 72 Siehe in diesem Zusammenhang Müllers Gespräch mit Jacques Poulet aus dem Jahr 1978 (vgl. Poulet, Jacques: »Es lebe der Widerspruch! – Den Widerspruch leben!«, in: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1. 1965 – 1987, hrsg. v.. Frank ­Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 755). 73 Vgl. Schütte: »Brückenschlag, Familienalbum und Traum/a-Material«, S. 479. 74 Müller: »Der Auftrag«, S. 33. 75 Ebd., S. 21. 76 Ebd., S. 41. 77 Hier widerspricht Müller eindeutig Brechts Die Maßnahme, in der die Ermordung des jungen Revolutionärs wegen seines Verrats an der Revolution gebilligt wird. 78 Ebd., S. 41. 79 Ebd., Herv. T. K. 80 Ebd., 42. 81 Eine ausführlichere Diskussion des zerebralen Subjekts ist in Kapitel 1 zu finden. 82 Müller: »Der Auftrag«, S. 42. 83 Die Chance, die im Vergessen liegt, kommt natürlich schon bei Nietzsche zum Ausdruck. Siehe z. B. seinen frühen Text »Der Wanderer und sein Schatten« (in: ders.: Menschliches, Allzumenschliches I und II, München 1999). Siehe aber auch das Kapitel »Wounded Attachments« in Wendy Browns States of Injury. Brown baut darin auf Nietzsche auf, um zu fragen, wie das Vergessen einer Opfer-­Geschichte ein emanzipatorisches, demokratisches Projekt ermöglichen könnte (vgl. Brown, Wendy: States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton 1995). 84 Verrat hat Müller während seines gesamten literarischen Schaffens beschäftigt, wurde aber nach 1989 und Müllers Auseinandersetzung mit seiner eigenen privilegierten Stellung in der DDR wichtiger. Siehe z. B. in einem Gespräch von 1995:

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»Verrat ist nicht nur etwas Negatives, er hat ja auch einen Befreiungsaspekt: Man befreit sich oder man versucht sich zu befreien von dieser Alp toter Geschlechter« (Werner, Hendrik: »Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen«, in: Heiner Müller. Werke 12: Gespräche 3: 1991 – 1995, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 727). 85 Wie kritisch Müller einer Revolution gegenübersteht, die die tieferen Strukturen und die Beziehungen zwischen den Menschen nicht radikal verändert, wird in dem Gespräch im Anschluss an seine Büchner-Preis-Rede »Die Wunde Woyzeck« deutlich. In diesem äußert er sich skeptisch über die Hoffnung auf wirkliche Veränderungen im Globalen Süden oder in Osteuropa, solange die grundlegenden Machtstrukturen unangetastet bleiben (vgl. Müller, Heiner: »Ich bin ein Neger«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1: 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 391 – 392). 86 Müller: »Der Auftrag«, S. 33. 87 Ebd., S. 35. 88 Combes, André: »Gegen ›die Aushöhlung von Geschichtsbewußtsein durch einen platten Begriff von Aktualität‹. Aspekte der Inszenierung des Zeitgemäßen bei ­Heiner Müller«, in Germanica 14 (1994), S. 11. 89 Müller: »Der Auftrag«, S. 35 – 36. 90 Die Figur des Sasportas verbindet den Materialismus der Leichtigkeit im ›Theater der Leere‹ mit aktuellen Ansätzen zu black joy als Theorie, Methode und politisches Mittel, um der Geschichte von systemischem Rassismus, weißer Vorherrschaft und anti-blackness entgegenzuwirken. Dies im Detail zu erörtern, würde den Rahmen dieses Buches sprengen, aber ich möchte in diesem Zusammenhang Fred Motens In the Break (2003) erwähnen, das besonders interessant erscheint, um über Müllers Sasportas-Figur und die Verbindung zwischen Leere, Zufall, ­Freiheit und race nachzudenken. 91 Müller: »Der Auftrag«, S. 33. 92 Schütte: »Brückenschlag, Familienalbum und Traum/a-Material«, S. 479. 93 Müller: »Der Auftrag«, S. 33. 94 Ebd., Herv. T. K. 95 Siehe hierzu auch Victoria Pitts-Taylors »The plastic brain«, das einen Überblick über verschiedene mögliche Konzeptualisierungen des plastischen Gehirns gibt und zeigt, dass nur das Konzept von Malabou auch eine Darstellung der Machtverhältnisse bietet, die mit dem Denken des neuronalen Subjekts verbunden sind. 96 Malabou, Catherine: Was tun mit unserem Gehirn?, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Zürich 2006, S. 25. 97 Edelmann, Gregor: »Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten«, in: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1. 1965–1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 457. 98 So ist Müllers Bildbeschreibung in der Werksausgabe im Band »Prosa« veröffentlicht. 99 Siehe in diesem Zusammenhang Heiner Müllers kurzen Essay »Ich glaube nicht an eine Harmonie zwischen Theater und Literatur« und seinen Text »Bonner Krankheit«. 100 Das Theater von Wilson hat in der Wissenschaft viel Aufmerksamkeit erhalten. Für einen allgemeinen Überblick über sein Werk siehe z. B. Arthur Holmberg, für eine Diskussion über die Zusammenarbeit zwischen Müller und Wilson siehe z. B. David Bathrick, für eine Diskussion über das Nichts in Wilsons Theater siehe das Kapitel von Anonio García und Francisco Guillén, »The Silent Utopia«. 101 Für eine Analyse von Gotscheffs Theaterästhetik siehe das Kapitel, das dem Regisseur in Matthias Dreyers Theater der Zäsur gewidmet ist. 102 Goebbels selbst hat wiederholt theoretisch über das Theater nachgedacht, v. a. in seiner Essay-Sammlung Ästhetik der Abwesenheit. Goebbels’ »Ästhetik der Abwesenheit« (Berlin 2012, S. 1 – 7) ist eng mit dem ›Theater der Leere‹ verbunden. Und doch denkt er zu stark in der Dichotomie von ›Abwesenheit‹ und ›Anwesenheit‹, während meine Theorie der Leere Abwesenheit und Präsenz eng miteinander verknüpft, da – innerhalb der Leere – Existenz und Nichtexistenz, Präsenz und Abwesenheit in ständiger Fluktuation sind. 103 Ich bespreche diesen Brief am Ende von Kapitel 1 im Detail.

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104 Goebbels bekanntestes Werk Stifters Dinge (2007) ist ein Stück ohne menschliche Akteur:innen, das eine sich langsam verändernde Umgebung aus verdunstendem Wasser, aufgestapelten Klavieren und anderen Objekten zeigt. Auch wenn dieses Stück auf keinen Text von Müller zurückgreift, ist es engstens mit den Theatertexten Müllers verwandt, da es Leere, Metamorphose und Transformation betont. 105 Vgl. Goebbels, Heiner: »Text als Landschaft. Libretto-Qualität, auch wenn nicht gesungen wird«, in: Neue Zeitschrift für Musik 157 (1996), H. 2, S. 34 – 35. 106 Siehe hierzu das Einleitungskapitel dieses Buches, in dem ich Bildbeschreibung ausführlicher bespreche.

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III Endzeit. Zeitenende Murmelnde Stille bei Elfriede Jelinek Der Körper kann unsere Töne mit etwas anderem verwechseln und dann sogar in die Knochen einbauen, so sagt man. Wir werden dann irgendwann unsere Töne geworden sein! Unsere Körper haben das, was wir als Töne erzeugt haben, vielleicht schon in ihr Skelett eingelagert, und wir haben davon nichts gemerkt. Wir haben es aufgenommen, ohne es zu merken. ——Elfriede Jelinek, Kein Licht

Am 11. März 2011 suchte eine verheerende Serie von Katastrophen Japan heim, darunter ein Erdbeben der Stärke 9,1 auf der Richter-­Skala und ein 39 Meter hoher Tsunami, und führte zu einer Kernschmelze in drei Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi. Elfriede Jelinek reagierte darauf mit dem Stück Kein Licht1. Das Stück ist ein Versuch, diese schrecklichen Ereignisse, die weite Teile des Nordosten Japans verwüsteten und bei denen nahezu 16.000 ­Menschen starben, 6.000 verletzt und 3.000 vermisst wurden, zu fassen. Dazu kommt die Zerstörung des tierischen und planetarischen Lebens, die weit größer als das auf den ersten Blick erfassbare Ausmaß der Katastrophe ist.2 Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass die hier genannten Zahlen ausschließlich die unmittelbaren, nicht aber die langfristigen Folgen umfassen. Obwohl sich Jelineks Text unmittelbar auf diese Katastrophe bezieht, geht es bei ihr, wie für ihr Theater charakteristisch, nicht darum, die Ereignisse der Katastrophe zu rekonstruieren. Stattdessen oszilliert Kein Licht auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, Materialität und Immaterialität, und entfaltet ein Gewirr aus Stimmen, Schreien, Kreischen und Gemurmel, das für die Rezipient:innen fast unerträglich scheint. Der Text ist überwältigend in seiner Fülle an Themen und Motiven, die die Stimmen einbringen – Stimmen, die aber unmöglich zu verorten oder näher zu bestimmen sind. Gelächter und Tränen sind hier ebenso verschränkt wie schmerzliche Schreie und Stille. Die Sprache als Bedeutungsträger rückt in den Hinter-

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grund oder wird von allen vorstellbaren und unvorstellbaren Geräuschen begleitet, sodass sie nur noch ein Element unter vielen ist. Kein Licht ist ein Theatertext, der darauf drängt, das Auge als zentrales Wahrnehmungsorgan an seine Grenzen zu bringen. Ja, mehr noch, diese Grenze explodieren zu lassen und so eine Öffnung zu schaffen, durch die alle möglichen Klänge und Geräusche ein- und ausdringen können. Auf diese Weise rückt die sinnliche und materielle Ebene des Theatertexts in den Vordergrund, die in linguistischen Ansätzen, die Sprache als Struktur und Differenz betrachten, üblicherweise außer Acht gelassen werden. Es ist diese Verschiebung, die den Zugang zu einer Welt eröffnet, die uns unzugänglich bleibt, solange wir uns ihr ausschließlich über das Auge nähern.3 Für Leser:innen, die mit Jelineks Werk vertraut sind, ist es sicherlich keine Überraschung, dass die Autorin der Katastrophe in Fuku­ shima ein Stück gewidmet hat. Es drängt Jelinek fast obsessiv zu den Katastrophen unserer Gegenwart – sei es der Brand in einer Gletscherbahn in Österreich oder der Einsturz einer Kleiderfabrik in Bangladesch.4 Interessant daran ist, dass Jelinek diese Katastrophen sowohl in ihrer lokalen als auch in ihrer globalen Dimension erfasst, da sie immer darauf bedacht ist, sichtbar zu machen, dass auch die scheinbar kleinste, lokale Katastrophe von globalen Phänomenen durchdrungen ist. Dadurch wird künstlerisch expliziert und reflektiert, dass in der heutigen Welt nicht mehr klar zwischen Mikro- und Makroebene unterschieden werden kann, sondern beide Ebenen stets auf komplexe Art und Weise miteinander verschränkt sind.5 So ist auch Kein Licht Teil einer größeren Gruppe von Texten, die Jelinek unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima veröffentlicht hat. Dazu gehören Epilog? (2012)6 und Kein Licht. Prolog? (2012/15)7 sowie ein kurzes Statement im österreichischen Wochenmagazin profil und ein Text, der die veränderte Ausrichtung der Atom- und Klimapolitik in den USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump reflektiert.8 Auch hier wird deutlich, dass die Katastrophe in Fukushima für Jelinek nicht für sich steht, sondern als Teil größerer Gewalt- und Ausbeutungssysteme in einer von Kapitalismus, Militarismus, Imperialismus und Nationalismus geprägten Welt begriffen wird.9 Jelineks kontinuierliche Arbeit an katastrophalen Ereignissen hat die Wissenschaft dazu inspiriert, von einem ›Theater der Katastrophe‹ zu sprechen10 – ein Theater, das sich der Katastrophe auf eine überaus komplexe Art und Weise annähert, werden wir doch bei Jelinek selten mit dem Ereignis selbst konfrontiert, sondern vielmehr mit heterogenen Räumen und Zeiten, die in einem ambigen Zustand

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zwischen Präsenz und Absenz verbleiben.11 Angesichts der Vielzahl unbestimmter Stimmen, die in Jelineks Stücken zu hören sind, hat sich in der Forschung der Begriff der ›Textfläche‹ als Alternative zu Begriffen wie ›Drama‹ oder ›Theaterstück‹ durchgesetzt.12 In der Theaterpraxis, aber auch der Theaterwissenschaft haben diese Textflächen immer wieder die Frage aufgeworfen, wer ihnen eine Stimme geben soll. Während dies für alle Stücke Jelineks seit den 1980er Jahren gilt, stellt Kein Licht eine noch viel größere Herausforderung dar. So spricht Nicolas Stemann, einer der bedeutendsten und geübtesten Jelinek-Regisseur:innen, in Hinblick auf Kein Licht von Jelineks abstraktestem Text, der die Frage nach dem ›Wer spricht?‹ zu einem neuen Extrem treibt.13 Kein Licht ist zwischen zwei Sprecher:innen aufgeteilt, die als ›A‹ und ›B‹ markiert sind. Obwohl dies zunächst eine konventionelle, dialogische Form vermuten lässt, wird sofort klar, dass das, was in und durch dieses Stück zu hören ist, nichts mit einem Dialog zwischen zwei klar definierten Entitäten zu tun hat,14 da ungewiss bleibt, in welcher Beziehung ›A‹ und ›B‹ zu den ausgesprochenen Worten stehen. Darüber hinaus wird auf der Website des Rowohlt Theaterverlags, der Jelineks Theaterrechte vertritt, angegeben, dass Kein Licht mit mindestens drei Schauspieler:innen besetzt werden muss.15 Bedeutet dies, dass ›A‹ und ›B‹ wie Atome geteilt und in kleinere Einheiten zerlegt werden können? Verweisen sie auf den Alpha-, Beta- und Gamma-Zerfall, wobei gerade jener Zerfall, der die stärkste radioaktive Strahlung entstehen lässt, sprachlich nicht fixiert ist? Das Stück gibt keine Antwort auf diese Frage. Tatsächlich scheinen ›A‹ und ›B‹ bloße Hüllen zu sein, die als solche in vielfältiger Weise ›gefüllt‹ werden können. So bezeichnen sie sich selbst und einander ganz unterschiedlich – etwa als erste und zweite Geige, Quantenteilchen, Licht, Strahlung, Suchtrupp, aber auch als Überlebende einer nicht näher definierten Katastrophe. Nimmt man dies ernst, so muss man ›A‹ und ›B‹ eher als Sensoren, die über Zeit und Raum verstreute Klänge und Stimmen empfangen und hörbar machen, denn als klassische Figureninstanzen verstehen. Die Texte, die ›A‹ und ›B‹ artikulieren, sind Schriftstellern und Philosophen wie Sophokles, Rilke, Goethe, Schiller, Brecht, Benjamin, Heidegger und Girard sowie aktuellen Medienberichten entlehnt. Auf den ersten Blick erscheint das, was hier ausgedrückt wird, zufällig und willkürlich. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die überwältigende Klanglandschaft, die ›A‹ und ›B‹ erzeugen, das eigentliche Gewebe jeder durch den Text entstehenden Bedeutung ist. In anderen

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Worten: Es ist die Leere und damit das unbestimmte Potenzial von allem, was war, was ist und was noch sein könnte. Indem der Text – wie schon der Titel programmatisch vorwegnimmt – seinen Rezipient:innen jeglichen visuellen Reiz entzieht und eine Leere erzeugt, die jedoch stets klanglich er- und gefüllt ist, fordert Kein Licht die Konventionen des Theaters heraus. Das Stück konfrontiert mit all dem, was unsichtbar bzw. zu klein ist, um mit den Augen erfasst zu werden, das aber dennoch enorme Wirkung auf die materielle Realität der Welt ausübt: Kein Licht inszeniert performativ bzw. auditiv jene radioaktive Strahlung, die nach einer Atomkatastrophe freigesetzt wird. Sie steht im Text jedoch nicht für sich, sondern wird stets mit Musik verschränkt. Als ein Text, der jede Möglichkeit einer auf das Auge ausgerichteten Repräsentation verabschiedet, kann er auf dem Theater nur schwer umgesetzt werden, scheint er doch das Theater, einen Ort des Sehens, selbst auszulöschen. In dieser Ungreifbarkeit haben bisherige Inszenierungen des Stückes auf die musikalische Ebene gesetzt.16 Karin Beier z. B. verstand ihre Uraufführung eher als Konzert – konkret als Oratorium oder Requiem – denn als konventionelles Sprechtheater.17 Nicolas Stemann wiederum adaptierte das Stück zusammen mit dem französischen Komponisten Philippe Manoury als Musiktheater.18 Trotz dieser Versuche, den Klang in den Mittelpunkt zu stellen, fällt es diesen Inszenierungen schwer, die Radikalität des vollständigen visuellen Entzugs, die der Text schafft, umzusetzen. Anstatt seine Rezipient:innen mit den Grenzen des B ­ lickes zu konfrontieren und sie z. B. in einen vollkommen abgedunkelten Theaterraum zu versetzen, verwenden sie visuelle Elemente, um das eigentlich Unsichtbare auf der Bühne dennoch visuell erscheinen zu lassen. So wird die Strahlung etwa in Stemanns Inszenierung durch eine grünliche Substanz auf der Bühne dargestellt und erscheint so wiederum für den Menschen erfassbar und ja, sogar handhabbar. In den nachfolgenden Abschnitten arbeite ich mich Schritt für Schritt durch die sich ständig verändernde Topologie der (atomaren) Katastrophen, wie sie sich in Kein Licht entfaltet. Im Zentrum meiner Lektüre steht dabei die Verschränkung von Musik und Quantenphysik.19 Diese auf den ersten Blick durchaus irritierende Engführung berührt Fragen der Zeitlichkeit, die zutiefst mit der Erzeugung von Leere als Potenzial verbunden sind. In einem zweiten Schritt untersuche ich die Bedeutung dessen, was Jelinek selbst als ›Chaos‹ bezeichnet, und zeige, dass es als die Leere ihres Theaters verstanden werden kann. In diesem Kontext komme ich auch noch einmal auf die komplexe Beziehung zwischen Leben und Tod zurück, die mich in der

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Einleitung beschäftigt hat und die für Jelineks Theater so zentral ist. Obwohl sich dieses Kapitel auf Kein Licht konzentriert, bietet es allgemeinere Einblicke in ein mögliches neues Verständnis von Jelineks Theater, indem zentrale Kategorien und Konzepte – wie die Frage ›Wer spricht?‹, Repräsentation und katharsis – durch das Konzept der Leere neu perspektiviert und so neue Antworten auf bereits viel diskutierte Fragen der Jelinek-Forschung gefunden werden. Un/Zeit: Musik und Strahlung

Obwohl Kein Licht als unmittelbare Reaktion auf Fukushima entstanden ist, fehlt im Text jegliche Markierung, die es erlauben würde, das Stück eindeutig auf diese spezifische Katastrophe zu beziehen; so wird Fukushima kein einziges Mal genannt. Stattdessen werden die Rezipient:innen einer Kaskade von Stimmen, Schreien und Gemurmel ausgesetzt, die die Gegenwart als geisterhaften Raum markiert, in dem alle un/möglichen Stimmen von un/möglichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Katastrophen un/hörbar und im/ materiell werden, ohne jemals wirklich anwesend oder abwesend zu sein. Diese gespenstische Sphäre entsteht durch die eigenwillige Überlagerung von Musik und Quantenphysik,20 die Jelinek nutzt, um über Zeit und Zeitlichkeit nachzudenken – was es ihr schließlich erlaubt, Zeit als gebeugt (diffracted) wahrnehmbar werden zu lassen. Der Klang steht von den ersten Zeilen an im Mittelpunkt von Kein Licht, sodass das Ohr von Beginn an zum zentralen Wahrnehmungsorgan dieses Theaters wird: A: He, ich hör deine Stimme kaum, kannst du da nicht was machen? Kannst du sie nicht lauter tönen lassen? Ich möchte mich selbst nicht hören, du mußt mich irgendwie übertönen. Dabei glaube ich schon längere Zeit, daß ich auch mich nicht hören kann, obwohl ich das Ohr direkt am Schaltpult habe, wo ich versuche, sie zu greifen, die Töne.21 Diese ersten Zeilen lassen eine komplexe Konstellation von Hören und Nicht-Hören sowie von Stille und Klang entstehen. ›A‹ wendet sich an jemanden mit der Beschwerde, dass seine:ihre Stimme (sind ›A‹ und ›B‹ Teil eines Orchesters? Stimmen in einem Chor? Reguläre Sprechende?) nicht laut genug sei, um ›As‹ eigene Stimme zu übertönen. Zugleich scheint aber auch die Stimme von ›A‹ lautlos zu sein. Während also die Zeilen den Eindruck erwecken, als sprächen zwei Stimmen gleichzeitig und nicht nacheinander (wie in einem Dialog),

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müssen wir uns fragen, ob überhaupt etwas zu hören ist oder ob wir es eher mit einem stummen Gemurmel zu tun haben, das für unsere Ohren nicht wahrnehmbar ist. Wenn es sich um einen nicht-wahrnehmbaren Klang handelt, woher wissen wir dann, dass er überhaupt da ist bzw. wie können wir wahrnehmen, was sich unseren Sinnen entzieht? Hier fällt der Verweis auf das Schaltpult auf, deutet es doch auf die Notwendigkeit eines technischen Hilfsmittels zur Wahrnehmung von Klängen hin und konfrontiert somit mit den Grenzen der eigenen Sinneswahrnehmung. Darüber hinaus spricht ›A‹ von Versuchen, die Klänge zu ›­greifen‹, und erinnert damit an ihre materielle, körperliche Qualität, die – auch wenn sie nicht hörbar sind – dennoch als Vibrationen auf den Körper einwirken können. Die ersten Zeilen geben den Ton für das gesamte Stück vor; ein Stück, das jedes konventionelle Verständnis von dem, was wahrnehmbar ist und daher als etwas gilt, und dem, was nicht wahrnehmbar ist und daher als nichts gilt, infrage stellt. Indem der Text konventionelle Wahrnehmungsweisen verunsichert, zwingt er dazu, die Sinne auf das komplexe Zusammenspiel von Im/Materialität, Un/Sichtbarkeit und Un/Hörbarkeit einzustellen. Dies geschieht durch die Verbindung von Musik und Quantenphysik, insbesondere von musikalischem Klang und Strahlung. Während in den ersten Zeilen die Möglichkeit dieser Verschränkung nur angedeutet wird, indem physikalische Phänomene wie die Überlagerung von Schallwellen betont werden, intensiviert sich dies im Laufe des Stückes, wenn musikalische Terminologie und Begriffe aus der Quantenphysik mehr und mehr verschränkt werden, bis sie am Ende nicht mehr voneinander zu trennen sind, ineinandergreifen und sich so immer wieder neu konfigurieren. Dieses Durcheinander-Hindurchgehen setzt ein, wenn ›A‹ und ›B‹ vom Geiger­zähler sprechen, also jenem Gerät, das zur Messung ionisierender Strahlung dient, aber auch polysemisch mit dem Musikinstrument der Geige verbunden ist, die hier auch assoziativ aufgerufen wird. Dadurch wird einerseits deutlich gemacht, dass Strahlung, wenn sie gemessen wird, Klang erzeugt, aber noch viel wichtiger ist andererseits, dass der musikalische Halbton und die physikalische Halbwertszeit nun für beide Bereiche zu gelten scheinen: Mein Ton vorhin hatte eine Halbwertszeit von etwa 50 Minuten, also müßte ich ihn ja noch hören, sogar in einer halben Stunde müßte ich ihn immer noch hören. Es müßte immer noch anhalten, daß ich meinen Ton gespielt habe. Aber was ist mit den and-

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ren Tönen? Zerfallen die auch schon nach, nein, vor, nein, nach 50 Minuten? Heißt das 50 Minuten, bevor sie überhaupt gespielt wurden? Läuft der Schall rückwärts? Auch meine Töne kannst du nur finden, solang mein Tonerzeugungs-Reaktor noch läuft, solang meine Turbinen noch auf ihren Schleichwegen laufen, wo sie keiner sieht und mit denen das Unhörbare hörbar wird und endlich kommt, aber die Schöpfer, die Reaktoren, auch die Reagierer, denn Schöpfer gibt’s keine, nur Reagierer auf etwas, das man nicht sieht, Reaktoren, die ja keine Schöpfer sind, sondern eben auf etwas reagieren, das sagt schon der Name, egal, die habe ich schon vor Tagen abgeschaltet.22 Diese Passage lässt in Jelinek-typischer Weise über das Spiel mit Mehrdeutigkeiten ein Assoziationsfeld entstehen, das künstlerische Schöpfung, kreative Produktion und Kernenergie gleichermaßen umfasst. Am auffälligsten ist hier jedoch, wie Jelinek musikalischen Rhythmus und Klang mit Begriffen des radioaktiven Zerfalls zusammenführt. Kein Licht gibt der Musik eine Halbwertszeit und verkompliziert dadurch die Vorstellung von dem, was musikalische Zeit ist. Es ist gerade diese sprachliche Verschränkung, über die Jelinek verschiedene Zeitlichkeiten ein- und engführt; Zeitlichkeiten, die von ständigem Wandel begriffen zu sein scheinen und jede Vorstellung von Zeit als einer linearen, zielgerichteten Vorwärtsbewegung subvertieren. Ähnlich wie in Müllers Der Auftrag lassen sich auch in Kein Licht jene beiden Zeitlichkeiten ausmachen, die dem Atomzeitalter innewohnen: zum einen die zielgerichtete, mit dem Atom synchronisierte Zeit des Kapitalismus, Militarismus, Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus, die suggeriert, dass man der Zeit vorauseilen oder zu spät kommen kann. Während das Stück Stimmen hörbar macht, die an der Gewalt partizipieren, die durch das Denken von Zeit im Sinne von Fortschritt entfesselt wird, entlarvt es jedoch zugleich, dass diese Zeitlichkeit von innen heraus aufgebrochen und umgearbeitet werden kann. Hier zeigt sich – zum anderen – die zweite Form der Zeitlichkeit, die das Stück charakterisiert. Die Arbeit am Aufheben und Umformen der Zeit wird durch den unscheinbaren Satz »Musik ist Zeit«23 in Gang gesetzt; er wird im Stück drei Mal wiederholt und ist Ausgangspunkt von Jelineks Verweis auf das Wesen der Musik als Zeitkunst. Ja, mehr noch, auf Musik als die Zeitkunst schlechthin, der als solche eine gewisse Eigenzeitlichkeit innewohnt, nämlich eine ›musikalische Zeit‹.24 Und doch scheint

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Musik in Kein Licht von ihrer eigenen Zeit abgekoppelt und stattdessen mit dem Rhythmus und der Zeit des Atoms verbunden zu sein. Diese Synchronisation der Musik mit dem Atom kann als Verweis darauf gelesen werden, dass im Atomzeitalter wirklich alles, so auch die Musik, der universellen, homogenen Zeit des Kapitalismus, die alles auf den Rhythmus des Atoms abstimmt, untergeordnet wird.25 Und doch ist es nicht der Rhythmus des Atoms im Allgemeinen, auf den die Musik hier eingestellt ist, sondern vielmehr die Zeit des radioaktiven Zerfalls. So tauchen Musik und Zeit wiederholt im Text als etwas auf, das auf ein Ende zuläuft bzw. bereits zu einem Ende gekommen ist.26 »Musik ist Zeit, und die haben wir nicht mehr«27, ist hier zu lesen. Es mag freilich nicht überraschen, in einem Stück, das als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Fukushima entstanden ist, mit einem solch apokalyptischen Denken konfrontiert zu werden. Was hier mit der drohenden Endzeit angedeutet wird, ist allerdings komplexer als eine bloße Mahnung, dass das Ende der Welt nahe oder sogar schon eingetreten ist. Wenn Musik in Kein Licht also nicht einfach mit Zeit allgemein, sondern ganz konkret mit der ›Endzeit‹ enggeführt wird, dann geht es dennoch nicht um das Ende der Welt, sondern vielmehr um das Ende der Zeit an sich. Oder, präziser gefasst, um das Ende der linearen und teleologisch gerichteten Zeit. Kein Licht bricht die im Sinne des kapitalistischen Fortschritts gedachte Zeit auf, die sich in immer schnellerem Tempo auf die Zerstörung des gesamten Planeten zubewegt, und legt eine andere Zeit frei, die dieser Endzeit ebenfalls innewohnt. Wie aber verabschiedet das Stück lineare Zeitlichkeit und konventionelle Erzählungen vom Leben in der Endzeit, um anschließend die lineare Zeit zu einem Ende zu bringen? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zu bedenken, dass die Musik in Kein Licht nicht nur vergänglich, sondern auch endlich – im Sinne von sterblich – ist. Dies suggeriert eine radikale Überarbeitung der Vorstellung davon, wer und was leben und sterben kann. Wie Barad argumentiert, ist das Atomzeitalter gerade durch die Umarbeitung von Leben und Sterben charakterisiert. Sie zeigt dies mit Blick auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, für die sie behauptet: »[I]n the twentieth century, time is given a finite lifetime, a decay time. Moments live and die. Time, like space, is subject to diffraction, splitting, dispersal, entanglement.«28 Die Beugung der Zeit bringt es mit sich, dass in jedem Augenblick eine Vielzahl von Zeiten zu finden ist, die sich als unauslöschliches Merkmal der bestehenden materiellen Bedingungen verstehen lassen.

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Wenn, wie es in Kein Licht heißt, Musik Zeit ist, dann ist auch die Musik im 20. Jahrhundert sterblich geworden und unterliegt als solche der Beugung, Spaltung, Streuung und Verschränkung. Um das in theatraler Form ›durchzuspielen‹, zitiert Jelinek wiederholt Walter Benjamins bahnbrechenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und kreiert darauf aufbauend ihre eigenen Variationen der komplexen Verflechtung von Zeit und Raum im Atomzeitalter: [D]iese Mischung aus Chaos und Sinnlosigkeit wäre mit allen Möglichkeiten der grenzenlosen technischen Reproduzierbarkeit verknüpft, jedes Nichts kann ja beliebig wiederholt und wiederholt hervorgeholt werden, es bliebe ein Nichts, aber es könnte mit technischen Geräten immer wieder wiederholt werden, das wiederholbare Chaos, und man wüßte nicht mehr, ob es noch andauert oder schon ein anderes Chaos wäre [...].29 Indem Zeilen aus Benjamins Essay im Stück hörbar werden, dringt eine weitere Stimme, die Kunst und Quantenphysik verschränkt, in den Text ein. Wie Peter Fenves zeigt, ist Benjamins Konzeptualisierung der Aura in Das Kunstwerk im ­Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zutiefst von der Quantenphysik und insbesondere dem Begriff der Verschränkung inspiriert, was bereits in Benjamins Definition der Aura deutlich wird: »Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem.«30 Während die veröffentlichte Version des Kunstwerk-­Aufsatzes ­Benjamins Beschäftigung mit der Quantenphysik nur andeutet, zeugt das unveröffentlichte Fragment, das dem Aufsatz zugrunde liegt, von der immensen Bedeutung dieses Feldes für Benjamins Konzeption der Aura, da er hier dezidiert auf Arthur Stanley Eddingtons The Nature of the Physical World (1929) Bezug nimmt.31 Jelineks Stück macht sich diese verborgene Bedeutung von Benjamins Aura-Begriff als etwas, das scheinbar disparate zeitliche und räumliche Sphären miteinander verschränkt, zunutze, wenn es Benjamins Studie assoziativ durch die semantischen Felder von Originalität, Vergänglichkeit, Reproduktion, Bewahrung und Ausdauer evoziert, die sich in- und auseinander bewegen und eine Verschränkung scheinbar widersprüchlicher Zeitlichkeiten ermöglichen. So stehen in Kein Licht ›Vorbeigehen‹ und ›Wiederkehren‹ ebenso nebeneinander wie ›­Vergehen‹ bzw. ›­Verschwinden‹ und ›Bleiben‹. Auch hier ist das Verhältnis dieser sich scheinbar gegenseitig ausschließenden Größen jedoch weder

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additiv noch exklusiv, sondern der Text suggeriert, dass sich beide im gegenseitigen Durcheinander-Hindurchgehen überhaupt erst konstituieren und immer wieder neu ­konfigurieren. Während sich Benjamin für den Betrachter eines Kunstwerks interessiert, rückt in Kein Licht die Beziehung zwischen Musik und Musiker:in in den Vordergrund: »Musik ist kontrollierte Autonomie ihrer Erzeuger, doch schon ist sie dabei, uns zu entgleiten, sich unserer zu entkleiden, sie wird unkontrollierbar, obwohl wir doch gelernt und geübt haben, sie zu kontrollieren.«32 Der Text fokussiert hier auf die Beziehung zwischen der Zeit der Musik und der Zeit des:der ­Musiker:in, die synchronisiert sein, aber auch potenziell auseinanderfallen können, wodurch sich die Musik vom Körper des:der Musiker:in loslöst. In diesem Spannungsfeld zwischen Kontrolle und ihrem Entgleiten werden zeitliche Verstrickungen neu konfiguriert. Dies lässt sich besser verstehen, wenn man jenen kurzen Aufsatz berücksichtigt, den Jelinek über ihren Orgellehrer Leopold M ­ arksteiner veröffentlicht hat: Er hat damals jedenfalls seiner Schülerin einen Ort angeboten, an dem die Welt zwar auch nicht langsamer war, an dem man ihr aber etwas entgegensetzen konnte: eine Hörbarkeit des Zeitablaufs. Das, was Musik ist. Ich meine nicht das gurgelnde Verschwinden von Zeit im Abfluß des Radios, des Plattenspielers, später des CD-Players, sondern Zeit, die man, in ihrem Verlauf, hören konnte und gleichzeitig selber steuerte, Zeit, die man, in ihrem Ablauf, sorgfältig gliedern mußte, damit man sie nicht verlor.33 Wie hier deutlich wird, begreift Jelinek Musik als etwas, das den gängigen Konventionen und Kategorien der Welt widersprechen und sich ihnen widersetzen kann. Musizieren bedeutet für sie nicht nur, das Vergehen der Zeit wahrnehmbar zu machen, sondern auch, den Fluss der Zeit kontrollieren zu können; ebenso wie umgekehrt die Musik dieser Kontrolle entfliehen kann. Jelinek unterscheidet hier deutlich zwischen dem Spielen von Musik und dem Hören von Musik in ihrer reproduzierten Version. Während Letzteres die Zeit vergehen und verschwinden lässt, birgt Ersteres das Potenzial, die Zeit umzuarbeiten – und zwar, weil in der Verschränkung des Körpers der Musiker:in mit dem unsichtbaren Klang die Möglichkeit besteht, dass sich die Zeit selbstständig macht und sich dabei mit anderen Zeiten kreuzt und überschneidet. Kurzum: In diesem Moment erscheint Zeit als zerstreut und gebrochen (diffracted).

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In Kein Licht ist diese Beziehung sogar noch komplizierter, denn die Musik dringt hier nicht nur in einen abstrakten Körper im Sinne eines ›Körpers ohne Organe‹ (Deleuze) ein, sondern das Stück begreift den Körper als materielle Realität. Es ist der Körper mit seinen Organen, in den sich die Musik einschreibt und dessen Materialität sie neu zu konfigurieren beginnt: Der Körper kann unsere Töne mit etwas anderem verwechseln und dann sogar in die Knochen einbauen, so sagt man. Wir werden dann irgendwann unsere Töne geworden sein! Unsere Körper haben das, was wir als Töne erzeugt haben, vielleicht schon in ihrem Skelett eingelagert, und wir haben davon nichts gemerkt. Wir haben es aufgenommen, ohne es zu merken.34 Wenn Kein Licht suggeriert, dass Musik materielle Auswirkungen auf den Körper hat, dann treten hier Vergänglichkeit und Dauer der Zeitkunst Musik in eine komplexe Beziehung. Musik ist nun kein ausschließlich transitorisches Ereignis mehr, sondern gewinnt eine gewisse Beständigkeit, indem sie Teil der materiellen Realität wird. Jelinek verbindet hier auf überraschende Weise radioaktive Strahlung und Musik. Dies ist insofern interessant, als Barad gerade in der Vergänglichkeit und Materialität der Strahlung etwas zu entdecken glaubt, das auf mögliche andere Zeitlichkeiten hinweist; etwas, das deutlich macht, dass in jedem Moment unterschiedliche Zeiten aufeinandertreffen und ineinander wirken: The temporality of radiation exposure is not immediacy; or rather, it reworks this notion, which must then rework calculations of how to understand what comes before and after, while thinking generationally. Radioactivity inhabits time-beings and resynchronizes and reconfigures temporalities/spacetimematterings. Radioactive decay elongates, disperses, and exponentially frays time’s coherence. Time is unstable, continually leaking away from itself.35 Was Barad hier erläutert, deckt sich mit dem, was ich in Kapitel 1 als jenen Spuk beschrieben habe, der im ›Theater der Leere‹ nicht nur aus der Vergangenheit, sondern eben auch aus der Zukunft kommt. Eine Nuklearkatastrophe lässt sich nicht einfach dadurch erfassen, dass man sich mit den Verlusten und Verwüstungen befasst, die im spezifischen Moment der Explosion oder der Kernschmelze verursacht

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werden. Wie Barad betont, verändert die Strahlung vielmehr die Zeit selbst und bringt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in immer neue Konstellationen. So könnte die nukleare Strahlung von heute in Zukunft Körpermutationen verursachen, die sich in Krebszellen verwandeln usw.36 Jelinek bringt auf provokante Weise die Musik mit solchen Formen des Spuks in Verbindung. In Kein Licht tauchen Klänge nicht einfach auf und verschwinden wieder, sondern sie materialisieren sich – auch wenn sie stumm sind – und schreiben sich in das Fleisch und die Knochen der Körper ihrer Rezipient:innen ein. Das bedeutet, dass sie nicht völlig verloren sind, nachdem sie verklingen. Im Gegenteil, sie können eine Zukunft haben und werden. Die Stille sprechen: Chaos und Leere

›A‹ und ›B‹ äußern das gesamte Stück über Sätze, die auf eine chaotische Situation hindeuten. So sprechen sie darüber, einer Fährte zu folgen und Spuren zu lesen. Es bleibt jedoch unklar, was genau sie zu finden erhoffen oder, anders formuliert, was sie suchen, scheint von ihnen nicht erfasst werden zu können. Zudem beklagen ›A‹ und ›B‹, dass sie die jeweils andere Stimme nicht hören können bzw. auch sie selbst lautlos seien. Sie sind außer Atem, als würden sie einer wilden Beute hinterherhetzen, und doch scheint sich ihr Ziel immer wieder aufs Neue zu entziehen: B: Kein Wunder, wenn du so tatenlos bist, daß schon dein Schnaufen den Ton übertönt, den du erjagen willst. Dieses Tier treibst du in die Flucht! Da rennst du hinter deinen Tönen her, aber es sind meine. Du rennst den falschen Weg! Wie sollte ein Ausstieg je möglich sein? Das ist ein Hohlweg, aus dem nichts herausführt, die Wände sind meterhoch, steil und glatt, und unten leuchten die Lachen in ihrem eigenen schönen Licht, das aber wir, wir allein, auf sie geworfen haben. Wir hoffen wohl, daß das ein gutes Licht auch auf uns wirft. Aber Licht, Strahlen, Wärme kann man nicht hören. Was ist das für ein Fauchen? Energie wird uns geraubt! Die Toten strahlen, sie sind nicht ansprechend und nicht ansprechbar. Ich verleihe dir meine Töne, damit du deine nicht hören mußt. Das ist es doch, was du willst. Daß jemand im letzten Moment eingreift und deine Töne von dir wegzerrt. Deine Töne verlaufen nicht so, wie du möchtest? Glaubst du, daß meine es schaffen durchzudringen? Ich spiele doch nur die zweite Geige, ich begleite dich, sehe aber noch nicht, wohin, dafür gehe ich umso fleißiger und schneller. Dahin. Aber ich

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bin nicht dein Treiber, also ich meine nicht die Hardware, den Bustreiber, ich meine so einen eher weichherzigen Treiber, wie nicht jagbare Tiere ihn haben. Den sie für ihren Hirten halten. Ist er aber nicht. Der geht in die Häuser und macht ihnen Feuer unterm Hintern. Das nenne ich Energie! Und die anderen nennen es auch so.37 Die Suche, auf der sich ›A‹ und ›B‹ befinden, erweist sich als chaotisch und erfolglos. So erwähnen beide, dass sie sich auf den falschen Wegen befinden oder gar rückwärtslaufen. Die Orientierungslosigkeit, die hier zum Ausdruck gebracht wird, affiziert durchaus auch uns als Rezipient:innen, wissen doch auch wir nicht so recht, wem und was wir hier folgen. Da das Stück keine klaren Anhaltspunkte gibt und nur vage Assoziationsketten eröffnet, bleibt uns in der Rezeption nichts anderes übrig, als uns – bildhaft formuliert – der chaotischen Jagd anzuschließen, in der Hoffnung, mit ›A‹ und ›B‹ Schritt zu halten und sie nicht zu verlieren. Da kaum valide Information weitergegeben, sondern lediglich Andeutungen gemacht werden, die völlig heterogene Zeiten und Orte aufrufen und zusammenführen, wirkt auch unsere Jagd vergebens. Ohne weitere Anhaltspunkte bleibt nichts anderes übrig, als uns ›A‹ und ›B‹ anzuschließen, ihnen zu folgen – und das, ohne zu wissen, wohin sie gehen und was sie zu finden versuchen. Bei dieser Verfolgungsjagd lassen uns Wortspiele zwischen scheinbar disparaten, ja sogar konträren Welten oszillieren. So inspiriert der Begriff ›Treiber‹ eine Assoziationskette, die von der Jagd zum Hirten und zum hardware drive führt. Darüber hinaus wäre etwa der im Text vorkommende Begriff des ›Werts‹ zu nennen, der einen assoziativen Wechsel zwischen Strahlenwert, Notenwert, moralischen und ökonomischen Werten erlaubt. Durch zahlreiche Wortspiele wie diese kreiert der Text ein Geflecht aus sich ständig neu konfigurierenden Beziehungen. Auch wenn es vereinzelt möglich ist, diese semantisch zu erfassen, bleibt doch der Eindruck dominant, in einem Chaos aus Stimmen gefangen zu sein, die zu viele, aber zugleich auch zu wenige Deutungsangebote machen. In dieser Ambivalenz entsteht eine Leere, aus der jedoch wiederum unvorhersehbarer Sinn hervorgehen kann. Der Text erfordert also eine andere Art der Annäherung und Wahrnehmung, die eher einem Aufspüren gleichkommt – jedoch nicht im detektivischen Sinne des Findens und Entschlüsselns der einen, richtigen Spur.38 Stattdessen werden wir selbst, wie ›A‹ und ›B‹, zu Sensoren, die im Sinne des Seismografen Geräusche und Klänge

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aufnehmen, die uns zufällig erreichen; Klänge, die jene gewaltsamen Geschichten von Kolonialismus, Kapitalismus, Imperialismus, Nationalismus und Militarismus in die Welt transportieren, die auch in Fukushima weiterspuken. Das Chaos, mit dem das Stück seine Rezipient:innen konfrontiert, kann jedoch nicht auf die Vielstimmigkeit und die Überfülle an möglichen Deutungsangeboten reduziert werden. Vielmehr entsteht dieses Gefühl, in ein Chaos geworfen und ohne jegliche Orientierung zu sein, auch dadurch, dass das Stück eine Klanglandschaft eröffnet, die weit über die Sprache hinausgeht und Schreie, Stöhnen, schweren Atem und andere Schmerzens-/Laute miteinschließt. Wie ›A‹ und ›B‹ behaupten, werden ihre Stimmen von Anfang an von diesen anderen Klängen begleitet und überlagert. Mehr noch: All diese Geräusche sind schon da, bevor die ersten Worte gesprochen werden. So beklagt sich ›A‹ ganz zu Beginn über den Lärm, der von Beginn an mit seinen Worten konkurriert und somit konstitutiver Bestandteil alles Gesagten ist: Da ist nur dieses Gebrüll, ich weiß nicht, von einer Tierfabrik? Ausfall einer Anlage? Wenn die Anlage ausgefallen ist, wieso schreien die dann so? Bei voller Kraft abgewürgt? Automatisch abgeschaltet? Aber das heißt ja nicht, daß alles still ist. Die Kräfte, die nicht verschwinden können, weil nie etwas verschwindet, schreien noch im Magen des Ungeheuers wie Zikaden, noch lang nachdem sie schon gefressen sind, in den Mägen von Katzen.39 In dieser Geräuschkulisse kommt der Musik eine besondere Funktion zu. Daher gilt es, diese konstitutive Dimension des Stückes noch einmal genauer in den Blick zu nehmen – dieses Mal jedoch mit der Frage, wie Musik und Chaos zusammenhängen und wie dieses Chaos schließlich als Leere und damit als jene Dimension, aus der Bedeutung hervorgeht, verstanden werden kann. Hier lohnt es, die Arbeiten Michel Serres’ miteinzubeziehen, hat er doch intensiv über Musik, Chaos und das scheinbar sinnentleerte Rauschen nachgedacht.40 Wie Serres argumentiert, bestehen Musik und Chaos aus unbestimmten Möglichkeiten, in denen die Opposition von Sinn und Unsinn, Leben und Sterben etc. infrage gestellt wird. Musik und Chaos sind – mit S ­ erres – also durchaus mit meinem, an der Quantenphysik und der Biologie orientiertem Verständnis von Leere vergleichbar.

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Musik wird in Kein Licht als ein endliches Phänomen bestimmt und damit nicht nur mit Zeit, sondern auch mit der Verunsicherung der Grenze zwischen Leben und Tod assoziiert. Dies geschieht durch das wiederholte ›Aufblitzen‹ von Sophokles’ Satyrspiel Ichneutai, das durch die Markierung von ›A‹ und ›B‹ als Spurensucher aufgerufen wird: Sophokles’ Stück beschäftigt sich mit dem neugeborenen Hermes, den der Chor der Satyrn beschuldigt, die Rinder des Apollo gestohlen zu haben. Auf der Suche nach Hermes und den Rindern entdecken die Satyrn etwas Unerwartetes, nämlich den Klang der von Hermes erfundenen Lyra. Die Satyrn sind gleichzeitig verängstigt und fasziniert von der Schönheit des Klangs, da er die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt; die Lyra ist aus toten Tieren gefertigt und erzeugt dennoch lebendige Klänge.41 Diese Szene, die in Kein Licht mehrmals anklingt, steht interessanterweise auch im Zentrum von Serres’ Überlegungen zur Musik als Voraussetzung für alle Bedeutung und als solche für ein zukünftiges Werden, das weder stabil noch vorhersehbar ist.42 So erklärt er in einem Gespräch mit Bruno Latour: »Hermes is the one who invented the nine-stringed lyre. What is a musical instrument, if not a table on which one can compose thousand languages, and as many melodies and chants? Its invention opens the way for an infinite number of inventions.«43 Basierend auf Serres kann Musik in Jelineks Kein Licht als alternativer Zugang zu Wissen und Sprache verstanden werden, der Sprache als nur ein mögliches bedeutungsvolles Medium unter vielen versteht und Wissen und Sprache nicht mehr auf den Menschen beschränkt, sondern als verschränkt mit anderen, nicht-menschlichen Domänen begreift. Aus dieser Perspektive weist Musik auf zukünftige Entwicklungen hin, ohne sie auf eine bestimmte Zukunft zu beschränken. Kurz gesagt: Sie eröffnet Möglichkeiten, die verwirklicht werden könnten. Dieses Chaos aus Tönen und Klängen, dem großes Potenzial innewohnt, wird quasi zum grundlosen Grund des gesamten Theatertexts. Dass das Chaos jener Bereich ist, aus dem alles Sprechen hervorgeht, wird einmal mehr deutlich, wenn man eine Passage gegen Ende des Stückes in den Blick nimmt, die durch eine kursive Anweisung eingeleitet wird. Darin ist vermerkt, dass ›A‹ und ›B‹ ab hier durchaus gleichzeitig sprechen können und sollen bzw. dass sie den Text auch schreien können, sodass das Gesprochene teilweise nicht mehr verständlich ist: »Ab hier, die lange Passage, bis die Stimmen wieder aufgeteilt sind, sollten beide gemeinsam schreien – oder sich ihren Text selbst aufteilen. Sie können sich auch überschneiden, so daß man passagenweise nichts mehr versteht.«44 Was hier einmal mehr deutlich wird, ist,

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dass Jelineks Theatertext sich radikal von der Limitation von Sprache als Bedeutungsträger befreit und stattdessen Sprache in ein chaotisches Rauschen verwandelt, aus dem die unterschiedlichsten Bedeutungen hervorgehen können. Ihr Text experimentiert auf singuläre Weise mit verschiedenen Möglichkeiten, wie Sprache und Klang zum Einsatz kommen können – von einer Stille, die nicht stumm ist, bis zu ohrenbetäubendem Lärm.45 Obwohl die dieser Anweisung folgenden Absätze bei einer möglichen Aufführung des Stückes – sollte Jelineks Idee umgesetzt werden – also nicht bzw. kaum verständlich sind, lohnt es dennoch, das darin Artikulierte näher zu betrachten. Was hier zur Sprache gebracht wird, fasst nämlich in Worte, was die Überlagerung verschiedener Stimmen und Klänge im Kontext der Aufführung vollführt: den K ­ ollaps von Sprache, verstanden im Sinne eines Mediums zum Informationsaustausch. Damit entsteht eine Leere als Raum der Möglichkeit, aus dem das Singuläre und Überraschende hervorgehen kann: Und das alles wird sein, als ob es nichts wäre. Kann man alles nur noch wegschmeißen. Wir werden doch nicht unsere eigenen Töne weggeschmissen haben? Das wäre auch noch eine Möglichkeit, aber davor hätten wir sie doch vernehmen, verwerfen und entsorgen müssen! So ist nur die Sorge da, ob sie sich uns angeglichen haben und wir uns ihnen. Alles nichts, oder? Ja, nur keine Sorge: alles nichts. Und ob wir beide und alle unsere Töne verschwinden müssen, ob wir dorthin müssen, wo unsere Töne schon sind, ob wir weg müssen, wohin, wo man dann endlich etwas hört. Oder ob wir selbst unsere Töne geworden sind und daher unhörbar, denn uns hört keiner, vielleicht gibt es uns gar nicht, wenn wir selbst unsere eigenen Töne sind? Töne, die immer noch in den Kinderschuhen stecken, aber noch nicht gehen können. [...] Und damit Wirklichkeit beherrschbar wird, muß da jemand sein, sonst gibt es nichts, denn ohne ein System, und wäre es noch so unlogisch (und nichts könnte unlogischer sein, als daß jemand ausgerechnet von uns ein Autogramm will!), kompliziert oder merkwürdig uneins in sich und uneinsichtig mit uns, müßten wir improvisieren, etwas schaffen, in dem nur wir uns noch auskennen, niemand sonst, ein Chaos aus Tönen [...].46 Wir sind auch hier mit einer überwältigenden Topologie konfrontiert, die sich kontinuierlich zwischen Existenz und Nichtexistenz,

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Leben und Tod, Sinn und Unsinn bewegt und das Verhältnis zwischen Stimme und Klang, Anwesenheit und Abwesenheit, Hörbarkeit und Lautlosigkeit verkompliziert und immer wieder neu konfiguriert. Der Absatz wirft die Frage auf, wie wir der Welt begegnen können und sollen. Hier werden zunächst traditionelle erkenntnistheoretische Modelle in Erinnerung gerufen, die sowohl an das Individuum gebunden sind, als auch über dieses hinausgehen, und von einer höheren Instanz abhängig scheinen, um die Wirklichkeit zu erfassen. Schließlich löst sich der Text von all diesen Modellen und ersetzt sie durch einen alternativen Zugang zur Welt, der Chaos, Unsinn und Irritation umfasst. Serres hilft hier, zu verstehen, dass das Chaos weder als Gegenteil der Ordnung zu verstehen ist, noch dass sich das eine aus dem anderen ableitet. Vielmehr eröffnen Chaos und Ordnung eine reiche Sphäre, die eine Auseinandersetzung mit der Un/Möglichkeit von Kommunikation erlaubt. Serres spricht hier von der Bewegung hin zur Bedeutung, die sich auf vielschichtige Art und Weise vollziehen kann, da sie Sprache ebenso umfasst wie Musik und Rhythmus (»Töne, die immer noch in den Kinderschuhen stecken«47). Wie Serres argumentiert, befinden sich all diese möglichen Ausdrucksformen zwischen zwei Extremen, die jedoch beide nicht völlig ihrer Bedeutung entleert sind. Im Gegenteil: Sie enthalten entweder das Potenzial für jegliche Form der Informationen und Botschaft im Allgemeinen, aber keine im Besonderen (›weißes Rauschen‹), oder sie sind unveränderlich monoton. Ausgehend von Serres kann man verstehen, dass das, was gemeinhin als Lärm oder Geräusch wahrgenommen wird, nichts mit einem Mangel an Information und Bedeutung zu tun hat. Er zeigt vielmehr, dass Geräusch und Lärm als ein Überschuss an möglicher Bedeutung betrachtet werden müssen, aus denen jegliche Bedeutung hervorgehen kann. So bestimmt er den Lärm als den grundlosen Grund der Welt. Er ist ständig als das Geräusch des Körpers ebenso wie der Welt präsent, wie Serres in seiner Diskussion von Sprache und Wissen in wenigen Worten auf den Punkt bringt: »[N]o logos ­without noise.«48 Jelineks Kein Licht ist erfüllt von einem solchen Lärm; Geräusche, Schreie, Atem und Keuchen sind Teil des Textes. Als solches gibt es nichts in diesem Stück, das nicht erst aus dem Lärm heraus entsteht. Kurz zusammengefasst: Der Lärm, das Chaos und das Rauschen sind konstitutive Momente aller ­Bedeutung.49 Kein Licht stimmt darauf ein, Lärm und Rauschen nicht einfach als etwas wahrzunehmen, das ausgeschlossen werden muss, um Bedeutung zu gewinnen, sondern verlangt im Gegenteil, hellhörig und aufmerksam für jenes Rauschen zu sein, aus dem alle möglichen

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Stimmen und Bedeutungen hervorgehen können. Musik nimmt hier eine besondere Stellung ein, ersetzt sie doch lineare Kommunikationsmodelle (im Sinne der Nachrichtenvermittlung zwischen einem stabilen und klar definierten Sender und Empfänger) durch ein fließendes Modell, bei dem Rauschen nicht unbedingt als das Gegenteil von sinnvoller Information wahrgenommen werden muss. Hier überschneiden sich Musik und Quantenphysik, da beide alternative Vorstellungen davon, wie Bedeutung generiert wird, anbieten – nämlich als Bewegung hin zur Bedeutung. Um dieses ›hin zu‹ besser zu verstehen, erscheint erneut ­Barads Interpretation der Leere hilfreich. Sie argumentiert, dass der Nullzustand der Leere aufgrund der Quantenunbestimmtheit nicht bestimmbar null sein kann. Wenn dies zutrifft, so ist die Leere nicht leer, sondern schließt alle möglichen virtuellen Teilchen ein (›Quantenfluktuationen‹). Das bringt mich zurück zur stillen Membran des Schlagzeugs, auf die sich Barad bezieht: Wie sie betont, ›erzeugt‹ eine stille Membran nicht einfach Stille, sondern vielmehr das unbestimmte Gemurmel aller möglichen Klänge; eine sprechende Stille.50 Es ist dieses Beispiel, in dem Barad Leere als spukhaften Bereich enthüllt, der zugleich die Bedingung der Un/Möglichkeit der Nicht/­ Existenz ist. Als solches überarbeitet die Leere die Beziehung zwischen Leben und Tod. Sie ist erfüllt von zahllosen Möglichkeiten dessen, was war, sein könnte und noch hätte sein können.51 Jelineks Kein Licht konstituiert einen ebenso spukhaften Bereich. Dies wird durch die außergewöhnlichen grammatikalischen Konstruktionen verdeutlicht, die teilweise Futur II, Perfekt, Plusquamperfekt und den Konjunktiv wild vermischen und somit auf die schier endlosen Möglichkeiten der In/Existenz verweisen. Diese Integration verschiedener Zeitebenen ist charakteristisch für alle Theatertexte Jelineks und findet auch Eingang in Kein Licht: Vielleicht ist die Zeit über uns hinweggeeilt? Ich kann dieses Wort nicht finden, das uns hätte rühren sollen und das jetzt die Erde berührt, doch die Berührung reicht ihr nicht, sie will küssen, sie will eindringen, ich könnte das Wort nicht richtig schreiben, was sie will, nicht einmal, wenn es mir einfällt. Ich kann es nicht sagen. Und wenn ich es ausspreche, hört mich keiner, weil die Zeit mich selbst aus dem Mund genommen hat. Sie hat mir das Wort aus dem Mund genommen, weil sie sagen wollte, was ich noch gar nicht gewußt haben konnte.52

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Die Stille sprechen: Chaos und Leere

Die Unsicherheit, die hier formuliert wird, wenn es darum geht, was zur Aussprache kommt, woher das Ausgesprochene kommt und ob das Ausgesprochene je Wirklichkeit wird oder nicht doch wie virtuelle Partikel sofort wieder in die Inexistenz zurückfällt, entspricht dem gespenstischen Bereich, den Jelineks Theater eröffnet.53 Ihre Theatertexte sind die Leere und enthalten als solche endloses Potenzial für das Auftauchen des Unerwarteten und Singulären. Das permanente Wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Existenz und Inexistenz betrifft nicht nur das Ausgesprochene, sondern es umfasst ebenso die Körper der Schauspieler:innen, der Regisseur:innen, der Autorin, des Publikums etc., die – wie ich in der Einleitung dieses Buches ausführlicher erläutert habe – ebenso zwischen Leben und Tod oszillieren wie die virtuellen Teilchen der Leere. Konkret auf Kein Licht bezogen, eröffnet sich so auch eine klarere Perspektive auf die Stimmen aus Sophokles’ Ichneutei, die den Text durchziehen. Das Satyrspiel diskutiert Musik als jenen Bereich, in dem die Grenzen zwischen Leben und Tod aufgelöst werden. So fürchten sich die Satyrn vor der Lyra nicht wegen ihres Klanges per se, sondern wegen der Verschränkung aus Totem und Lebendem. Jelineks Kein Licht schreibt diese Qualität in ihren Theatertext ein und nutzt die Ambiguität der Musik als Phänomen, dem eine beständige Umarbeitung von Leben und Tod inhärent ist. Indem ihr Theater den theatralen Text in Richtung Musik verschiebt, erschreibt sie die Leere und schafft eine lebhafte Spannung, die den Gegensatz von Leben und Tod infrage stellt, ohne die relevanten materiellen Unterschiede aufzuheben.54 So entsteht ein Theater, das von einer ›seltsamen Lebendigkeit‹ geprägt ist, in dem »alle sprechen«55 – die Lebenden und die Toten, das Belebte und das Unbelebte. Das ist deshalb möglich, weil Bedeutung nicht mehr ausschließlich durch Sprache erzeugt wird, sondern im chaotischen Rauschen und in der sprechenden Stille der Leere aufblitzen kann. Jelinek selbst weist in ihrem Essay »Es ist Sprechen und aus« auf die Bedeutung jenes chaotischen Rauschens hin, das niemals Menschen im Sinne der dramatischen Konvention auf der Bühne erscheinen lassen wird, sondern alle möglichen Wesen, belebt und unbelebt: »Chaos bricht aus, nein, es bricht nicht aus, es ist das, was da ist. [...] Es ist ein heißes Chaos, aus dem alles kommt, und das sollte bewahrt werden oder immer neu hervorgebracht werden, je nachdem. Es klafft auf, das Chaos, und spuckt etwas aus, aber Menschen sind es nie. Es ist Sprechen und aus.«56 Wie Jelinek weiter argumentiert, ist das, was zur Sprache gebracht wird, nie ein Ganzes, sondern es sind stets nur ›Fetzen‹, die immer anders und neu erscheinen: 129


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Mein Sprechen auf der Bühne ist kein Ordnen, nicht einmal ein Her-Stellen, ein gutes Chaos ist eben beides, es führt das, was war, was mir eingefallen ist, meinetwegen, zu dem, was ist, was jeden Abend, an dem das aufgeführt wird, sich eben aufführt, auf der Bühne, dort wird das eine dem andren zugeführt. Da wird das, was war (der Text zu diesem Stück ist bis dahin, aber welches Stück meine ich dann, immer ein anderes, obwohl es jeden Abend dasselbe ist?, ja längst geschrieben), das, was war, wird auch zu dem, was ist. [...] Es stürzt die Vergangenheit jeden Abend auf der Theaterbühne in das, was ist, hinein und schmeißt es mit sich selbst um. Eine Wucht!57 Jelineks Theater der Leere konfiguriert sich beständig neu, da nichts endgültig ist, sondern alles nur für einen kurzen Moment im gegenseitigen Durcheinander-Hindurchgehen von Worten, Körpern, Räumen und Zeiten fixiert wird. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass Theater für Jelinek ein geisterhafter Ort ist, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränkt sind und an dem die Körper, die wir auf der Bühne sehen, auf unheimliche Weise zwischen Leben und Tod oszillieren. Hier erscheint interessant, dass in Kein Licht wiederholt Motive und Zeilen aus Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien aufblitzen. Früh im Stück wirft ›A‹ etwa die Frage auf, wer seine:ihre Stimme vernehmen sollte: »Also wenn ich nur dich hörte und du nur mich, wer, wenn ich schrie, hörte mich sonst?«58 In dieser Passage klingt deutlich die erste Zeile von Rilkes Gedichtzyklus nach: »Denn wer, wenn ich schrie, hörte mich je unter den Engeln und Erzengeln?«59 Rilkes Gedichtzyklus befragt die scheinbar unauflösbare Spannung zwischen Chaos und Ordnung und das Ringen des Einzelnen, hier dennoch etwas Sinnvolles und Bedeutungsvolles zu schaffen. Rilke zeigt den Menschen in einer fragmentierten Welt, zerrissen nicht nur zwischen Chaos und Ordnung, sondern auch zwischen anderen, scheinbar unvereinbaren Gegensätzen wie Schönheit und Schrecken, Leben und Tod, Menschlichem und Tierischem. Jelineks Stück bewegt sich ebenso auf dem schmalen Grat zwischen diesen Extremen, nähert sich diesen aber nicht mehr im Sinne einer unversöhnlichen Spannung und Zerrissenheit, sondern begreift sie als verschränkt und in einer Art und Weise verwoben, dass sich all diese Extreme nicht ausschließen, sondern ineinandergreifen und einander unaufhörlich neu konfigurieren. Als solches geht ihr Stück über die Wahrnehmung der Welt als fragmentiert, wie etwa in der Literatur der Moderne, hinaus. Stattdessen verweist Kein Licht auf eine Art der Formung und spontanen Organisation von einzelnen Teil(ch)en im Sinne der Plastizität. 130


Reinigung im ›Theater der Leere‹?

Reinigung im ›Theater der Leere‹? Katharsis und das posttraumatische Subjekt

Im permanenten Oszillieren zwischen Leben und Tod, wie es Kein Licht erfahrbar macht, entsteht der Eindruck von Kälte und Entfremdung, der deutliche Spuren im Stück hinterlässt. Paradoxerweise ist dieser Eindruck aufs Engste mit dem wiederholten Verweis auf Lachen und Tränen verknüpft und damit stets mit einer emotionalen Widersprüchlichkeit – von Traurigkeit, Depression und Wut bis hin zu Glück und Aufregung – assoziiert. Während hier also einerseits eine Überfülle an starken, teilweise sehr konträren Gefühlen aufgerufen wird, negieren ›A‹ und ›B‹ zugleich jegliche Verbindung von Lachen und Weinen zu menschlichen Gefühlsausdrücken. Sie behaupten, beides seien rein körperliche Funktionen zur Reinigung des Körpers: »Rührung? Von wegen. Eine Reizung ist es wie die vom Staubkorn im Auge. Da heult man mehr, als wenn einem die Mutter gestorben ist. Und wie ist das dann mit dem Lachen, dem umgekehrten Vorgang?«60 Das Stück führt hier ein komplexes Arrangement von Gefühl und Kälte bzw. Entfremdung ein, das zugleich das Verhältnis von Geist und Körper verkompliziert. Dieses eigenartige Spannungsgefüge zwischen starker Emotion und dem Fehlen jeglicher Gefühlsregung durchzieht das gesamte Stück. Wie ich argumentiere, schreibt Jelinek dem ­Theater der Leere hier eine Theorie der katharsis ein und arbeitet damit zugleich eine der zentralsten Kategorien des Theaters um, wie sie seit Aristoteles’ Poetik im Zentrum des Tragödienbegriffs steht und als solche die Rezeption und theoretische Reflexion des Theaters bzw. Dramas bis heute entscheidend prägt. Aristoteles stellt in seiner Poetik die Behauptung auf, dass die Tragödie Gefühle von eleos (Mitleid) und phobos (Schrecken) hervorruft. Er geht jedoch nicht näher darauf ein, wie diese Gefühle entstehen können; und auch, ob die Tragödie durch diese Gefühle oder von diesen Gefühlen reinigt, bleibt unklar. Der Begriff der katharsis wurde daher im Laufe der Jahrhunderte auf vielfältige Art und Weise übersetzt und interpretiert, wobei diese Interpretationen eher Aufschluss über das spezifische Theaterverständnis der jeweiligen Übersetzer:innen geben als über jenes von Aristoteles Text selbst. Im deutschen Kontext hat Lessings Übersetzung der Begriffe als ›Furcht‹ und ›Mitleid‹, wie er sie in seiner Hamburgischen Dramaturgie entfaltet, die Idee des Theaters als pädagogische und moralische Institution wesentlich befördert. Anstatt älteren Interpretationen zu folgen, die phobos im Sinne von ›Schrecken‹ oder ›Entsetzen‹ verstanden, hält ­Lessing ein weniger intensives Gefühl für wesentlich, da, so seine

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Überzeugung, das Publikum sich nur dadurch in die Figuren auf der Bühne einfühlen könne. Eine solche Identifikation sei, so ­Lessing weiter, die Voraussetzung für das Aufkommen von Empathie bei den Zuseher:innen und in weiterer Folge auch für die Umwandlung von Leidenschaften in die Ausbildung einer moralischen Haltung. Kein Licht evoziert Lessings bürgerlich-humanistisches Theaterkonzept, wenn ›A‹ von ›Rührung‹ spricht. Dieses wird jedoch sofort wieder infrage gestellt, da ›Rührung‹ gleich in der nächsten Zeile durch ›Reizung‹ ersetzt wird. Tränen und Lachen sind in Kein Licht demnach weder emotionale Reaktionen der Figuren, noch stehen sie für ein Wechselbad der Gefühle aufseiten des Publikums. Sie sind, wie ›A‹ und ›B‹ deutlich machen, lediglich eine körperliche Reaktion auf eine physische Irritation. Jelinek übernimmt hier Zeilen aus René Girards kurzem Essay »Ein gefährliches Gleichgewicht«, in dem er eine von Moral und Emotion losgelöste Interpretation der katharsis präsentiert und stattdessen die Beziehung zum Körper und der Körperlichkeit in den Blick nimmt, wenn er katharsis nicht mehr auf den Bereich der Ästhetik reduziert, sondern auch ihre medizinischen und religiösen Bedeutungen miteinbezieht. Girard behauptet, dass Weinen und Lachen sich dahingehend gleichen, als sie mit demselben Reinigungs- und Ausscheidungsmechanismus des Körpers verbunden sind. Wie einige neuere Forschungsarbeiten zu diesem Konzept weist auch Girard die Lessing’sche moralische Implikation der katharsis zurück und betont stattdessen, dass Aristoteles eleos und phobos als starke körperliche Reaktionen versteht, da er sich der katharsis ausgehend von der Medizin und deren Reinigungsritualen nähert.61 Wenn Girards Text als Stimme in Kein Licht hörbar wird, so scheint es, als würde damit markiert, dass auch Jelineks ›Theater der Leere‹ seinem Verständnis von katharsis, das auf den Körper und dessen Regungen fokussiert, folgt. Und in der Tat weicht es deutlich von Lessings Vision des Theaters als einem Ort für gemäßigte Gefühle ab; bei Jelinek regen weder Identifikation noch Empathie zu einem moralischen Empfinden an. Ihr Stück präsentiert keine psychologisch motivierten Charaktere oder eine Handlung, die es dem Publikum erlauben würde, sich mit den Figuren auf der Bühne zu identifizieren und mit ihnen zu fühlen. Und doch stellt das Stück auch Girards auf das Ritual und die Medizin gründende Definition der katharsis infrage: Es problematisiert die Idee der Reinigung ganz grundsätzlich und entlarvt es vielmehr als eine auslöschende, gewaltsame Praxis:

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Das Resetten eines Gefühls kann nicht in Gang gesetzt worden sein, nein, das hätte man uns mitgeteilt. Neu booten? Auge, Träne, raus damit, wirds bald, Fremdkörper oder Gefühl, ganz egal, die Tränen fließen! Wir haben dieses Bedürfnis nach den Reinigungsvorgängen, die ja eigentlich auch Eliminationsvorgänge sind, nicht wahr. Wir wollen, daß etwas weg ist, was da ist.62 Jelinek misstraut jeglicher Form von Theater, die Läuterung verspricht; und so entfernt sich ihr Theater nicht nur von Lessings, sondern auch von Girards katharsis-Begriff. In einem Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele wird dies explizit; hier spricht Jelinek über katharsis und unterstreicht, dass diese das System der Gewalt nicht unterbreche, sondern gerade perpetuiere: Ich will [...] diese Abreaktion nicht, auch nicht eine Katharsis, damit die Menschen von Furcht und Schrecken befreit werden können. Das wäre ja nur das ewig perpetuierte Drama der ­Familie, in der die Kinder immer machtlos bleiben, aus dem sich das Ich herausarbeiten möchte, aber ich zeige die Mächte, die dieses Ich unmündig halten, und meine eigene Wut, mit der ich schreibe, ist die Wut einer Unmündigen, die aber ununterbrochen spricht, auch ohne Mund.63 Wenn Jelinek hier von der Fortsetzung des ›Dramas der Familie‹ spricht, dann rekurriert sie einmal mehr auf Girard, dieses Mal jedoch auf seine Arbeiten zu Kultur und Ausschluss. Girard fokussiert in seiner Analyse der Beziehung zwischen Kultur und Ausschluss auf das, was er ›mimetisches Begehren‹ nennt.64 Dieses beschreibt er mit Blick auf Familienkonflikte in Romanen von Cervantes, Dostojewski, Flaubert, Proust und Stendhal, denen gemein ist, dass sie einen Protagonisten in Szene setzen (›Subjekt‹), der ersehnt, was ein beispielhaft Anderer (›Modell‹) ebenfalls begehrt. Wie Girard argumentiert, entsteht hier eine Dreieckskonstellation zwischen Subjekt, Modell und Objekt, die zu Rivalität und dem Wunsch führt, den beispielhaft ­Anderen zu zerstören oder gar auszulöschen.65 In Das Heilige und die Gewalt erweitert Girard diese Theorie und überträgt sie von der innerfamiliären Konstellation auf eine gesamtgesellschaftliche. Was er hier entwirft, ist also die Theorie einer Gesellschaft, die in der Logik der Gewalt gefangen ist. Für Girard besteht der einzige Ausweg in der mimetischen Wiederholung von Gewalthandlungen, die sie kanalisieren und an einem stellvertretenden Opfer entladen. Jelinek ist deut-

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lich geprägt von dieser Vorstellung, sucht aber nach anderen Wegen, aus diesem gesellschaftlichen Zwang mimetischer Wiederholung von Gewalt auszubrechen.66 Welche Art der katharsis findet sich also in Jelineks Theater? Und kann hier überhaupt von katharsis gesprochen werden, wo das Stück doch weder Empathie und Identifikation noch Reinigung durch körperliche Regungen erlaubt? Eine mögliche Antwort darauf findet sich bei Christa Gürtler, die das Verhältnis von Wut, Rede und katharsis bei Jelinek thematisiert. Sie argumentiert, dass die Texte nicht durch eine mögliche Identifikation mit Figuren auf der Bühne auf das Publikum wirken, sondern durch deren Vielstimmigkeit und den Entzug einer eindeutigen Bedeutung. Dies eröffne einen Raum, der es dem Publikum erlaube, den Worten aktiv Bedeutung abzugewinnen. Gürtler zufolge geht es bei Jelineks Theater also darum, das Publikum zum Nachdenken und Weiterdenken anzuregen.67 Zwar würde ich Gürtler insofern zustimmen, als auch für mein Verständnis von Jelineks ›Theater der Leere‹ die Vielstimmigkeit eine zentrale Rolle spielt, doch ist der argumentative Schluss, den ich davon ausgehend ziehe, ein anderer. Denn Gürtlers Überlegungen verbleiben im konventionellen Denken menschlicher Kognition und werden daher gerade dem nicht gerecht, was ich als Leere beschreibe: ein Raum, aus dem jede Bedeutung hervorgehen kann, die nicht mehr an menschliche Kognition gebunden ist, sondern im Raum zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Lebendigem und Totem entsteht. Somit muss auch die katharsis abseits der körperlichen bzw. emotionalen Aktivierung des Menschen und seiner Kognition gedacht werden. Um die katharsis in Jelineks Theater näher zu analysieren, muss die eigenartige Kühle und Entfremdung, die Kein Licht prägt, ernst genommen werden. Denn hier ereignet sich die radikale Umarbeitung der katharsis: In Jelineks ›Theater der Leere‹ ist sie eng damit verbunden, dass wir – ganz im Sinne der zerstörerischen Plastizität – jederzeit kalt und indifferent werden können. Es ist also eine katharsis, in deren Zentrum die Möglichkeit steht, jede Form der Regung jederzeit verlieren zu können. Dies mag eine überraschende Behauptung im Kontext von Jelineks Theater sein, wird es doch gemeinhin als ein Theater rezipiert, das das Publikum mit starken, negativen Gefühlen wie Wut, Ekel und Verzweiflung konfrontiert. So wichtig diese Gefühle für Jelineks Theater sind, so entscheidend ist auch die bisher übersehene Möglichkeit des Verlusts jeglicher Gefühlsregung.68 Entfremdung und Kälte erlauben es, auf neue Modalitäten der Macht und ein neues Verständnis des Subjekts der Macht in der Gegenwart aufmerk-

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sam zu werden. Wie Malabou zeigt, eröffnen Entfremdung und Kälte nicht nur einen Raum der Möglichkeiten und Chancen, sondern sind auch ein politisches Problem, da sie Subjekte hervorbringen, die ihre Kraft und damit auch ihre Widerstandskraft verlieren. Gerade dieses Spannungsgefüge lotet Jelineks ›Theater der Leere‹ aus. Tränen und Gelächter, die ›A‹ und ›B‹ wiederholt thematisieren, können mit Trauer und Freude assoziiert werden, also jenen beiden Leidenschaften, die Spinoza in seinem dritten Buch der Ethik beschreibt. Ihm zufolge stehen Affekt und Macht in einer Wechselbeziehung. So beschreibt er Freude als jede Leidenschaft, die die eigene Handlungsfähigkeit steigert, während Traurigkeit sie minimiert bzw. nahezu gänzlich verschwinden lässt. Malabou referiert auf Spinoza, wenn sie über jene neue Subjektivität nachdenkt, die unsere Gegenwart hervorgebracht hat. Dabei schlägt sie jedoch eine leichte Verschiebung vor und bezieht die Möglichkeit der radikalen Abwesenheit von Leidenschaft mit ein.69 Das gefühllose, entfremdete Subjekt, das die Neurowissenschaft hervorgebracht hat, ist dadurch gekennzeichnet, dass es jeder Möglichkeit beraubt ist, zu staunen und Leidenschaften zu entwickeln. Es ist ein zerstörtes Subjekt, das völlig gleichgültig ist und dennoch weiter existiert. Malabou behauptet angesichts dieser neuen Subjektivität, dass es nicht mehr die Traurigkeit ist, die von der Macht instrumentalisiert wird, wie es Spinoza nahelegt; vielmehr ist es die Gleichgültigkeit selbst. Denn die Handlungsmacht des indifferenten Subjekts ist nicht nur vermindert, wie es Spinoza im Fall der Traurigkeit beschreibt, sondern radikal abwesend. Das neue, gleichgültige Subjekt ist bar jeder Leidenschaft, es sorgt sich um nichts und ist folglich unfähig zu jeder Form von Widerstand und politischer Aktion. Jelineks Kein Licht konfrontiert uns mit dieser neuen Subjektivität, wenn ›A‹ und ›B‹ mit kalter Stimme über Tod und Verwüstung sprechen. Ihre Stimmen bleiben, selbst wenn sie sich auf die Schreie sterbender, durch die Katastrophe ausgelöschten Tiere beziehen, ruhig und unbeteiligt. Das Stück lässt uns hier also eine posttraumatische Subjektivität erleben, die durch den Verlust der Fähigkeit zum Staunen geprägt ist.70 Jelineks Theater beobachtet diesen Zustand jedoch nicht nur, sondern fragt zugleich auch, welche Möglichkeiten zum Widerstand bestehen, um nicht zu passiven, indifferenten Akteur:innen zu werden. Ihr Theater ist also eine Art Suche danach, wie das Subjekt aus seiner Determination und Gefangenschaft in einem von Kälte und Entfremdung geprägten Körper und Geist entkommen kann. Es zeigt die negative Seite der destruktiven Plastizität, die das Subjekt

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passiv und indifferent macht, während es gleichzeitig versteht, dass die destruktive Plastizität auch eine Möglichkeit sein kann, um aus der Determination auszubrechen. Während Kein Licht seine Rezipient:innen also mit einem kühlen, gleichgültigen Ton konfrontiert, ist ihm gleichzeitig ein negativer Affekt eingeschrieben, der sich gegen die Gleichgültigkeit wehrt, die das Subjekt prägt und es daran hindert, den sich häufenden Katastrophen der Gegenwart einen Sinn zu verleihen. Dies geschieht v. a. durch das Einschreiben der Stimme der Autorin-Persona,71 die den ständigen Kampf, das unablässige Ringen und die kontinuierliche Arbeit zum Ausdruck bringt, die es benötigt, wenn den Katastrophen der Gegenwart Sinn abgewonnen werden soll. Bei Jelinek bedeutet der Widerstand gegen die vollkommene Auslöschung jeder Handlungsmacht also, an negativen Gefühlen festzuhalten, die der Antrieb sein können, um kritisch zu bleiben und in Momenten scheinbarer Sinnlosigkeit die Arbeit der Sinnproduktion auf sich zu nehmen. So werden auch die Zuschauer:innen daran erinnert, sich wütend zu fühlen, sich zu empören – selbst wenn dies bedeutet, sich über den überfordernden Theatertext selbst zu empören – und dies zur Grundlage einer Praxis zu machen, die Widerstand ermöglicht. Wie in den letzten Jahren deutlich wurde, versprechen negative Gefühle nicht unbedingt eine Kraft zum Handeln. Vielmehr haben sie sich als gefährliche und leere Gesten einer politischen Haltung entpuppt, die aus der Gleichgültigkeit entsteht und ›blinde‹ Anhänger:innen hervorbringt, die die negativen Gefühle ihrer Anführer:innen eher verstärken, als dass sie zu politischen Akteur:innen werden. Wie bei Jelinek deutlich wird, müssen negative Gefühle von der Praxis der Sinnstiftung begleitet werden, sollen sie nicht destruktiv und zerstörerisch wirken. Indem Jelinek uns mit Theatertexten konfrontiert, die auf den ersten Blick nur schwer zu fassen sind, lädt sie dazu ein, neue Wege der Bedeutungsgewinnung und der Sinngebung in einer Zeit zu erproben, in der wir scheinbar nicht mehr in der Lage sind, den sich in immer kürzerer Abfolge ereignenden gewaltvollen Ereignissen unserer Gegenwart Sinn abzugewinnen. Daher scheint der Wechsel von Rührung zu Reizung, der in Kein Licht zum Ausdruck gebracht wird, unerlässlich. Jelineks Theater ist sich der Gefahren der Indifferenz und Gleichgültigkeit bewusst und irritiert uns deshalb immer wieder aufs Neue. Dadurch zwingt sie auch uns, die notwendige Arbeit zu leisten, um in unserer Gegenwart betroffen zu bleiben. Anders formuliert: Ihr ›Theater der Leere‹ lädt dazu ein, uns in der Sinnstiftung

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zu üben, auch wenn alles um uns herum völlig sinnlos erscheint. Es ist eine Sinngebung, die radikal von menschlicher Kognition entkoppelt ist und auch das Nicht-Menschliche einschließt, stimmt uns ihr ­Theater doch auf Vibrationen und Töne ein, die nur seismografisch erfasst werden ­können.

1 Das Stück wurde am 29. September 2011 am Schauspiel Köln (Regie: Karin Beier) uraufgeführt und im November 2011 in der Theaterzeitschrift Theater heute veröffentlicht. Einen Monat später erschien der Text auch auf Jelineks Webseite. Ich zitiere aus der auf der Website veröffentlichten Fassung: Jelinek, Elfriede: »Kein Licht«, in: Elfriede Jelinek (2011), https://original.elfriedejelinek. com/fklicht.html (29. März 2024). 2 Für eine detaillierte Analyse der Katastrophe in Fukushima, die das Verhältnis zwischen Atomkraft, Kapitalismus und Nationalstaat nachzeichnet, siehe Sabu Kohsos Radiation and Revolution (Durham 2020, S. 21). Siehe aber auch Barad, Karen: »Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness. Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable«, in: New Formations. A Journal of Culture/ Theory/Politics 92 (2017), S. 56 – 86. Barad beleuchtet hier die Verflechtung von Atomphysik, Militarismus, Kolonialismus und Imperialismus. Sie verweist auch auf den Zusammenhang zwischen den Bombenangriffen auf Nagasaki und Hiroshima im Jahr 1945 und dem US-amerikanischen ›Atoms for Peace Program‹, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung der Kernenergie in Japan förderte und den USA letztlich die Möglichkeit bot, ihr Atomwaffenarsenal während des Kalten Krieges zu erweitern (vgl. ebd., S. 73 – 74). Für eine umfangreichere Analyse der Förderung der Entwicklung der Kernenergie in Japan durch die USA nach den Bombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki siehe Brown, Kate: »Marie Curie’s Fingerprint. Nuclear Spelunking in the Chernobyl Zone«, in: Anna Tsing, Nils Bubandt, Elaine Gan und Heather A. Swanson (Hrsg.): Art of Living on a Damaged Planet, Minneapolis 2017, S. G33 – 50. Brown argumentiert hier, dass die Entwicklung von zivilen Kernkraftwerken ohne den Kalten Krieg nie stattgefunden hätte, und zeigt, dass Erdöl eine viel billigere Energiequelle war, weshalb die Investitionen in die so risikoreiche Kernkraftenergie als nichts anderes betrachtet werden können als einen Versuch, die Vorherrschaft im Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu gewinnen. Brown schlussfolgert, dass die Hersteller der Atombombe die Bedrohung durch einen Atomkrieg hinter dem Image des Atoms als Friedensbringer und -garant verbergen wollten. 3 Bärbel Lücke stellt in ihrer Analyse von Kein Licht fest, dass Jelinek sich auf die kleinsten Teilchen konzentriert, aus denen sich die Welt zusammensetzt, um jene komplexen Muster zu erforschen, mit denen wir konfrontiert werden, wenn wir Ereignisse wie jene in Fukushima begreifen wollen: »Sie mischt sich unter den nuklearen Fallout, unter die Elemente wie unter die Elementarteilchen, unter den Beta-Zerfall und die Gammastrahlung, auch die Mikrowelt der Quanten, und macht so die Tiefenschichten unserer ›objektiven‹ Wirklichkeit, die den bloßen Sinnen verborgenen Schichten der ›Wirklichkeit‹ und ihre Wirkkräfte sichtbar« (Lücke, Bärbel: »Fukushima oder die Musik der Zeit. Zu Elfriede Jelineks Bühnenstück ›Kein Licht‹«, in: Weimarer Beiträge 3 (2012), S. 326, Herv. i. O.). Obwohl ich Lücke dahingehend zustimme, dass uns Jelineks Text mit Phänomenen konfrontiert, die zu klein sind, um sie visuell wahrzunehmen, ist ihr sich ausschließlich auf die Dekonstruktion stützender theoretischer Rahmen zu limitiert und nicht in der Lage, das Oszillieren zwischen Leben und Tod, Materie und Immaterialität, das den Text auszeichnet, zu erfassen.

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4 Ich denke hier an ihre Theaterstücke Das Werk (2003) und Nach Nora (2013). Das sind nur zwei Beispiele für eine ganze Gruppe von Werken, die Natur-/Technikkatastrophen zum Ausgangspunkt haben. Auf diesen Komplex werde ich im letzten Kapitel zurückkommen. 5 Ich stütze mich hier auf Barad, die zeigt, dass der Maßstab im Atomzeitalter fragwürdig wird und daher eher von Topologie spricht (vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 63). In der Einleitung dieses Buches gehe ich darauf genauer ein. 6 Jelinek, Elfriede: »Epilog? «, in: Elfriede Jelinek (2012), https://original.elfriedejelinek.com/ffukushima.html (8. Mai 2024). 7 Vgl. Jelinek, Elfriede: »Kein Licht: Prolog? Da kann man ja jede Menge anbauen! Also ich meine nicht: in der Erde«, in: Elfriede Jelinek (2012/2015), https://original. elfriedejelinek.com/fkeinlicht-prolog.html (8. Mai 2024). 8 Jelineks kurzes Statement »Zu Japan« wurde im Rahmen eines umfassenderen Artikels zur Frage, wie Künstler:innen mit Natur- und Technikkatastrophen umgehen, am 21. März 2011 in der österreichischen Zeitschrift profil veröffentlicht. Der Text »Der Einzige, sein Eigentum« (2017), in dem sich Jelinek v. a. auf die Atompolitik der USA konzentriert, wurde für die Inszenierung des Stückes durch den Regisseur Nicolas Stemann bei der Ruhrtriennale in Bochum 2017 geschrieben. 9 Jelineks Zugriff auf Katastrophen erinnert an die kritische Analyse der ›Äquivalenz der Katastrophen‹, wie sie Jean-Luc Nancy in unserer Gegenwart beobachtet. Indem Jelinek verschiedene Katastrophen verschränkt, konfrontiert sie uns mit dem, was Nancy die eigentliche Katastrophe unserer Gegenwart nennt, nämlich dass alle Katastrophen vollkommen im System des Kapitalismus aufgehen (vgl. Nancy, Jean-Luc: After Fukushima. The Equivalence of Catastrophes, New York 2015). 10 Vgl. Schößler, Franziska: »Die Sehnsucht nach Wirklichkeit und ihre ästhetische Form. (Dokumentar-)Dramen und Anlassstücke nach 1989«, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 131 (2012), S. 86. 11 Jelinek analysiert die Äquivalenz der Katastrophen, nutzt sie aber auch, ähnlich wie Müller, als explosives Moment, aus denen sich ihre theatralen Texte bilden. Katastrophen tragen eine große Energie in sich, die Jelineks Textgewebe antreibt und es immer wieder explodieren lässt und damit neu formt. Diese fortwährende Metamorphose wird z. B. daran erkennbar, dass Jelinek ihre Texte immer wieder bearbeitet und umformt. Im Kontext von Kein Licht wird dies anhand der zahlreichen Versionen, die Jelinek in Reaktion auf das katastrophale Ereignis geschrieben hat, deutlich. Hier ist die Veränderung in Form der Metamorphose besonders deutlich (Form und Substanz ändern sich). Mit jedem neuen Bericht über die Kernschmelze in Fukushima wendet sich Jelinek einem anderen Modus zu, der Form und Inhalt des jeweilig entstehenden Theatertexts erheblich verändert: Komödie in Kein Licht, Tragödie in Epilog? und Metasprache in Prolog?. 12 Der Begriff stammt von Jelinek selbst und dominiert heute die Forschung zu Jelineks Theater. Eine wichtige Studie, die den Begriff theoretisiert, ist der Sammelband von Juliane Vogel und Thomas Eder, Lob der Oberfläche (München 2010). Der Begriff der Textfläche ist heute zu einer fast allgegenwärtigen Kategorie für Stücke ohne Dialog geworden (siehe dazu Felber, Silke: »Neue Theatertexte. Institutionen und Instanzen. Gespräch mit Andreas Beck, Julia Danielczyk, Amely Joanna Haag, Ute Nyssen«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 413 – 426, und Millner, Alexandra: »Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 167 – 184). Für einen Überblick über die wichtigsten wissenschaftlichen Positionen siehe Hochholdinger-Reiterer, Beate: »Spricht wer? Zwischenbilanz textanalytischer Annäherungen«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Postdramatik. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 98 – 111. 13 Vgl. Schmidt, Hannah: »Gedankenstromlogorrhoe?«, in: Terzwerk (2017), https:// www.terzwerk.de/text/ (10. August 2022). 14 Bärbel Lücke spricht von einem ›Dia(Poly)Log‹ (vgl. Lücke: »Fukushima«, S. 3). Auch dieser Begriff geht jedoch noch nicht weit genug, da er immer noch eine kommunikative Situation mit klar unterscheidbaren Sprechern suggeriert, während Jelineks Stück an die Grenzen der Sprache stößt und uns radikal jeglichen Ursprungs beraubt.

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Endnoten

15 »Kein Licht«, in: Rowohlt Theaterverlag. https://www.rowohlt-theaterverlag.de/ foreign-rights/play/kein-licht-1687 (23. März 2023). 16 Kein Licht wurde mehrfach inszeniert, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Japan. Und doch ist es, gemessen an den Aufführungen, eines von Jelineks weniger erfolgreichen Stücken, was damit zu tun haben könnte, dass es eines ihrer komplexesten, rätselhaftesten Stücke ist. 17 Vgl. Beier, Karin: »Dionysos und Apollon zugleich. Über die Uraufführungsinszenierung von ›Kein Licht‹. Karin Beier im Gespräch mit Christian Schenkermayr«, in: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum (2012), S. 76. Beier integrierte Kein Licht in ihre Produktion Demokratie in Abendstunden, in der die Musik und insbesondere die Identifizierung der Sprecher:innen auf der Bühne als Musiker:innen in einem Orchester im Vordergrund standen – eine Idee, die Jelinek für ihr Stück aufgriff (vgl. ebd., S. 78). 18 Diese Version basiert auf Kein Licht sowie auf Epilog? und einem neuen Essay, den Jelinek für diese spezielle Adaption geschrieben hat, »Der Einzige, sein Eigentum«. Die Oper wurde am 18. Oktober 2017 an der Opéra Comique in Paris uraufgeführt. Für eine ausführliche Analyse dieser Produktion siehe Daele, Eva van: »The Absence of Traditional Characters in Philippe Manoury’s Thinkspiel ›Kein Licht‹ (2011/2012/2017)«, in: Jelinetz (2018), https://jelinetz2.files.wordpress. com/2018/07/eva-van-daele.pdf (10. August 2022). 19 Musik und Quantenphysik werden in der Tat selten gemeinsam diskutiert. Stephon Alexanders Buch The Jazz of Physics (New York 2011) ist eine interessante Ausnahme, die Musik als Analogie zur Erklärung komplexer Fragen der Quantenmechanik nutzt und zeigt, dass einige der wichtigsten Physiker wie z. B. Einstein zutiefst von Musiker:innen von Mozart bis Coltrane inspiriert wurden. Zugleich komponieren Musiker:innen oft im Dialog mit neuen Erkenntnissen der Physik. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Komposition des Physikers und Gitarristen Alberto Rojo und des Schlagzeugers Michael Gould, Into the Labyrinth. A History of Physics from Galileo to Dark Matter, die 2023 im Keene Theater in Ann Arbor, MI, uraufgeführt wurde und auch Teile aus Jelineks Kein Licht enthält. 20 Musik und Quantenphysik sind in den bisherigen Inszenierungen von Kein Licht nicht miteinander verschränkt worden. Wie bereits zuvor erwähnt, wird die musikalische Ebene betont, während eine tiefgreifendere Auseinandersetzung mit der Quantenphysik ausbleibt. 21 Jelinek: »Kein Licht«. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Siehe in diesem Zusammenhang Philip Alpersons ausführliche Diskussion über Musik als Zeitkunst und über musikalische Zeit, die auch einen großartigen historischen Überblick über verschiedene Konzeptualisierungen von Zeit gibt (vgl. Alperson, Philip: »›Musical Time‹ and Music as an ›Art of Time‹«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 38 (1980), H. 4, S. 407 – 417). 25 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 60. 26 Jelinek spielt hier auch klar auf Heidegger an und auf sein Denken von Dasein im Sinne von Sein als Zeit, wie er es in Sein und Zeit (1927) ausführt. 27 Jelinek: »Kein Licht«. 28 Barad, Karen: »No Small Matter. Mushroom Clouds, Ecologies of Nothingness, and Strange Topologies of SpaceTimeMattering«, in: Anna Tsing, Nils Bubandt, Elaine Gan und Heather A. Swanson (Hrsg.): Art of Living on a Damaged Planet, Minneapolis 2017, S. G106. Siehe hierzu die Diskussion über die Vergänglichkeit des Unbelebten in ebd., S. G112 – 113. Barad folgt dem Verständnis der Quantenfeldtheorie, die besagt, dass Teilchen leben und sterben können: »[They are] born out of the void, go through transformations, die, return to the void, and are reborn« (ebd., S. G112). 29 Jelinek: »Kein Licht«, Herv. T. K. 30 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 15. 31 Siehe in diesem Zusammenhang die aufschlussreichen Artikel von Peter Fenves »The Problem of Popularization in Benjamin, Schrödinger, and Heidegger circa 1935« (in: The Germanic Review 91 (2016), H. 2, S. 112 – 125) und »Aura und Irrtum. Das Problem der Popularisierung von Benjamin bis Heidegger« (in: Cultural

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III Endzeit. Zeitenende

Inquiry 13 (2017): S. 61 – 77). In beiden Artikeln bespricht Fenves das unveröffentlichte Fragment, das für Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vorgesehen war. 32 Jelinek: »Kein Licht«. 33 Jelinek, Elfriede: »Die Zeit flieht«, in: Elfriede Jelinek (1999), https://original.elfriedejelinek.com/flmarkst.html (8. Mai 2024). 34 Jelinek: »Kein Licht«. 35 Barad: »Troubling Time/s«, S. 63. 36 Vgl. Schwab, Gabriele: Radioactive Ghosts, Minneapolis 2020, S. ix. 37 Jelinek: »Kein Licht«. 38 Auch wenn hier sofort die Semiotik in den Sinn kommt, geht es doch um eine ganz andere Form der Spurensuche. Siehe hierzu auch Wolf-Dieter Ernst und seine Diskussion einer Semiotik der Dinge und einer Phänomenologie aus posthumaner Perspektive in der Theateranalyse (vgl. Ernst, Wolf-Dieter: »Akteur-­ Netzwerk T ­ heorie und Aufführungsanalyse«, in: Christopher Balme und Berenika Szymanski-­Düll (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020, S. 157). 39 Jelinek: »Kein Licht«. 40 Dabei stütze ich mich v. a. auf Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a. M. 1998. 41 Siehe in diesem Zusammenhang auch die aufschlussreiche Analyse von Silke ­Felber: Travelling Gestures. Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durch­ querung, Wien 2023. 42 Serres unterscheidet sich hier deutlich von anderen französischen strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien, die in der Differenz die Bedingung für die Möglichkeit von Sinn sehen. 43 Serres, Michel und Bruno Latour: Conversations on Science, Culture, and Time, aus dem Franz. von Roxanne Lapidus, Ann Arbor 1995, S. 117. 44 Jelinek: »Kein Licht«. 45 Jelinek hat wiederholt damit experimentiert, Sprache eher als Rauschen oder Geräusch denn als Träger von Information und als Werkzeug zur Kommunikation zu betrachten. So hat sie im Kontext ihrer Theatertexte verschiedene Vorschläge gemacht, wie ihre Texte im Rahmen der Inszenierung präsent werden könnten; diese Vorschläge umfassen die Projektion auf einem LED-Band, die Lektüre auf individuellen Smartphones, aber auch die Idee, dass die Texte aufgenommen und als lautloses Hintergrundgeräusch in Endlosschleife abgespielt werden (vgl. »Abraumhalde«, in: Elfriede Jelinek (2009), https://original.elfriedejelinek.com/ farhalde.html (8. Mai 2024)). 46 Jelinek: »Kein Licht«, Herv. T. K. 47 Ebd. 48 Serres, Michel: Genesis, aus dem Franz. von Geneviève James und James Nielson, Ann Arbor 1995, S. 7, Herv. i. O. 49 Für eine Analyse von Störung und Lärm im Kontext von Jelineks spezifischem Konzept des ›Sekundärdramas‹ siehe Kovacs, Teresa: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas, Bielefeld 2016. 50 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 77. 51 Vgl. ebd., S. 78. 52 Jelinek: »Kein Licht«, Herv. T. K. 53 Siehe in diesem Zusammenhang Jelinek, Elfriede: »Fremd bin ich«, in: Elfriede Jelinek (2011), https://original.elfriedejelinek.com/fmuelh11.html (8. Mai 2024). Für die wissenschaftliche Diskussion von Jelineks Theater als gespenstischem Raum siehe Annuß, Evelyn: Theater des Nachlebens, München 2005. 54 Vgl. Barad: »Troubling Time/s«, S. 78. 55 Jelinek, Elfriede: »Textflächen«, in: Elfriede Jelinek (2013), https://original.elfriedejelinek.com/ftextf.html (8. Mai 2024). 56 Jelinek, Elfriede: »Es ist Sprechen und aus«, in: Elfriede Jelinek (2013), https://­ original.elfriedejelinek.com/fachtung.html (8. Mai 2024). 57 Jelinek: »Kein Licht«. 58 Ebd. 59 Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, Leipzig 1923, S. 5. 60 Jelinek: »Kein Licht«.

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Endnoten

61 Diese Lesart wurde erstmals von Jacob Bernay in seinen Grundzügen der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie (1857) vertreten. Theo Girshausen zeigt in seinem knappen Überblick über die historischen Interpretationen der katharsis überzeugend, dass dieses Verständnis heute von den meisten Wissenschaftler:innen geteilt wird. Diese Neuinterpretation der katharsis war zudem wesentlich für die Versuche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Theater jenseits des Dramas neu zu denken, und hat als solches Ansätze von Theatermacher:innen beeinflusst, die das Theater in enger Verbindung mit seinen rituellen Ursprüngen verstehen (wie z. B. das Theater von Richard S ­ chechner, Living Theatre und Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater). Vgl. ­Girshausen, Theo: »Katharsis«, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und M ­ atthias W ­ arstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 168 – 169. 62 Jelinek: »Kein Licht«, Herv. T. K. 63 Thiele, Rita: »Glücklich ist, wer vergisst? Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele«, in: Das Werk/Im Bus/Ein Sturz, Köln 2010, unpag. 64 Vgl. Girard, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der ­fiktionalen Realität, aus dem Franz. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster 2012. 65 Siehe in diesem Zusammenhang die ausführliche Analyse von Girard in dem ­Beitrag von Lawtoo, Nidesh: Violence and the Mimetic Unconscious. Vol. 2: The Affective Hypothesis, East Lansing 2023. 66 Das ist interessant, da damit eine Möglichkeit formuliert wird, wie ein Theater gefunden werden kann, das nicht mehr der von Girard skizzierten Logik der Gewalt verpflichtet ist. Eine Notwendigkeit, die Frank M. Raddatz für ein postanthropozentrisches Theater formuliert (vgl. Raddatz, Frank M.: Das Drama des Anthropozäns, Berlin 2021, S. 93). 67 Vgl. Gürtler, Christa: »Elfriede Jelineks ›Wut‹. Zwischen Sprech-Wut und Katharsis«, in: Uta Degner und Christa Gürtler (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Provokationen der Kunst, Berlin 2021, S. 86. 68 Sobald man auf die Kälte in Jelineks Theater fokussiert, zeigt sich, dass sie auch hier an die radikalen Theaterexperimente des 20. Jahrhunderts anschließt – wie Brecht, der Kälte propagiert und sich damit in Opposition zu einem von katharsis geprägten Theater positioniert. 69 Malabou, Catherine: »From Sorrow to Indifference. Lecture held at Stony Brook University on October 22, 2013«, in: World Lecture Project, https://world-­lectureproject.org/videos/B0B2C5D6-81DE-11EB-BBE1-00D861A8BA28/ (22. April 2023). Malabou bezieht sich hier auf den Neurobiologen Antonio Damasio (Feeling and Knowing. Making Minds Conscious, New York 2021), der den Verlust der Leidenschaft als emotionale und libidinöse Krankheit der Gegenwart beschreibt. Damasio beleuchtet die radikalen Veränderungen, die durch schwere Hirnverletzungen, einschließlich Traumata, hervorgerufen werden und dazu führen können, dass das Subjekt emotionslos wird oder ›kaltblütig‹ handelt. Malabou argumentiert, dass diese neue Möglichkeit des völligen Verlusts jeglicher Leidenschaft eine neue Subjektivität ins Leben ruft, die sich radikal von jenem vom Wunder berührten Subjekt unterscheidet, das die kontinentale Philosophie dominiert (vgl. Malabou, Catherine und Adrian Johnston: Self and Emotional Life, New York 2013, S. 11). 70 Malabou: »From Sorrow«. 71 Für eine detaillierte Analyse der Stimme der Autor:innenpersona siehe Clar, Peter: »Ich bleibe, aber weg«. Dekonstrutionen der AutorInnenfigur(en) bei Elfriede Jelinek, Bielefeld 2017.

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose Kontinuierliche Bewegung und radikale ­Möglichkeit bei Christoph Schlingensief1

Die Ausweitung der Dunkelphase, das ist eigentlich das, woran ich gerade interessiert bin. ——Christoph Schlingensief, Mea Culpa

Von allen Theatermacher:innen, die ich in diesem Buch diskutiere, ist Christoph Schlingensief wohl derjenige, der sich am schwersten in die Kategorie ›Theater‹ einordnen lässt. Das hat damit zu tun, dass er in fast allen Medien gearbeitet hat: Sein Werk umfasst nicht nur Film, Theater, Oper, Aktionskunst, Installation und Medienkunst, sondern führt sie alle zusammen, befragt das eine Medium durch das andere und lässt so deren Diskrepanzen und Diskontinuitäten hervortreten.2 Es ist diese Medienvielfalt, die mitgedacht werden muss, will man verstehen, was Schlingensiefs ›Theater der Leere‹ auszeichnet. So konzentriert sich dieses Kapitel v. a. auf die filmischen Prinzipien, die in seinem ›Theater der Leere‹ eingeschrieben sind und dieses überhaupt erst möglich machen. Es sind Prinzipien, die er von Beginn seines künstlerischen Schaffens an erforscht hat, die er aber erst durch das Medium der Oper und besonders Richard Wagners P ­ arsifal, den er in den Jahren 2004 bis 2007 in Bayreuth inszenierte, besser zu verstehen begann.3 Schlingensiefs Zugang und bewusste Auseinandersetzung mit bzw. Arbeit an der Leere ist wohl am prägnantesten in jenem kurzen Film eingefangen, der einen Hasenkadaver im Verfallsprozess zeigt und seine Inszenierung von Parsifal beendet.4 Der Film zeigt im Zeitraffer, wie sich das organische Material zersetzt, und fängt damit in wenigen Minuten einen normalerweise Wochen dauernden Prozess ein. Wie für Schlingensief charakteristisch, ist der Schwarz-WeißFilm körnig und voller größerer und kleinerer Störungen wie z. B. Überbelichtungen, die es den Zuschauer:innen schwer machen, zwischen defektem Filmmaterial und den sich allmählich ausbreitenden Maden zu unterscheiden, die langsam beginnen, das verwesende

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Gewebe des Tieres zu transformieren. Die gesamte Sequenz ist höchst irritierend, da sie die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischt. So steht jener Moment im Zentrum des Filmes, in dem die Verwesung zum ersten Mal sichtbar wird und der Körper des Hasen zuckt, was paradoxerweise den Eindruck erweckt, der Hase sei lebendig und im Begriff aufzuspringen. Es war dieser Film, der eine neue Lesart für die letzten Zeilen von Wagners Oper (»Erlösung dem Erlöser«) erschloss, denn sie steht diametral zu etablierten Interpretationen des Parsifal, die dessen Ende als eine Geschichte der Erlösung und eine Transformation in ein höheres Leben verstehen.5 Dieses kurze Video wurde zu einem wiederkehrenden Element in Schlingensiefs Theater; zwischen 2004 und 2010 integrierte er es in nahezu all seine Arbeiten.6 Auf die Frage, was diese kleine Sequenz so bedeutsam macht, gibt es keine einfache Antwort. Und doch ragt sie aus der schier überwältigenden Fülle an visuellem und filmischem Material heraus, das Schlingensief in seine Theaterarbeiten einfließen ließ – denn es integriert eine Vielzahl von Eigenheiten und Praktiken, die für Schlingensiefs Theater grundlegend sind: die Arbeit mit Brüchen, Unterbrechungen und Überlagerungen, das Spiel mit Licht und Dunkelheit, die Fokussierung auf den Hasen als jahrhundertealtes ambivalentes Symbol für Fruchtbarkeit und Tod, das spannungsreiche Verhältnis von Tradition und Neuem, Prozesse von Metamorphose und Transformation sowie die Wunde als produktive Kraft.7 Der Hase ist der Ausgangspunkt für meine Analyse der Leere bei Schlingensief. Denn mit ihm wird deutlich, dass Schlingensief eine Form der Plastizität bei Wagner am Werk sah, die ihn dazu inspirierte, einige der kinematografischen Prinzipien, mit denen er seit seinen frühen Filmen arbeitete, genauer zu untersuchen. Dies führte schließlich zu jener theatralen Anlage, die Schlingensief später ›­Animatograph‹ nennen sollte; eine sich beständig drehende und wachsende Bühnenkonstruktion, die durch den Rhythmus und die Objekte der Umgebung bestimmt ist, in denen sie aufgebaut wird. Während er bei seiner Parsifal-Inszenierung eher intuitiv eine Drehbühne integrierte, wurde diese spätestens mit dem Animatographen zu einem zentralen Element seines Werkes. Als eine sich ständig in Bewegung befindliche Struktur erlaubte sie ihm, den konventionellen Film neu zu erfinden, und zwar als Film ohne vorgegebenen Schnitt. Die Drehbühne verbindet Phänomene des Scheiterns und des Zufalls in Schlingensiefs Arbeiten und verwickelt damit alle an den Arbeiten Beteiligten in einen Prozess der beständigen Transformation und Metamorphose.

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Um die Wichtigkeit der Drehbühne für Schlingensiefs ›Theater der Leere‹ herauszuarbeiten, fokussiere ich zunächst auf die allgemeine Tendenz in Schlingensiefs Arbeiten, Theater als erweiterten Film zu verstehen sowie Film mit dem Scheitern und damit auch dem Zufall in Verbindung zu bringen. Dies ist notwendig, da nur so deutlich wird, wie bedeutend filmische Prinzipien für sein Theater sind. Schlingensief, der zunächst als Regisseur von Low-Budget-Filmen mit hohem experimentellen Anspruch arbeitete, betonte immer wieder, dass er nie aufgehört habe, Filme zu machen. Vielmehr betrachtete er seine theatralen Arbeiten als Erweiterung seines filmischen Schaffens. Und auch wenn man solche Selbstinterpretationen immer mit Vorsicht zu betrachten hat – gibt es doch oft eine Diskrepanz zwischen der Charakterisierung einer Arbeit durch ihren Regisseur und der tatsächlichen Realisierung des jeweiligen Stückes –, erscheint Schlingensiefs Behauptung hier überaus akkurat. Denn sein Theater basiert, wie ich zeigen werde, tatsächlich auf filmischen Prinzipien. Aufbauend auf eine allgemeinere Diskussion von Theater und Film bei Schlingensief fokussiere ich in weiterer Folge auf jene Grundelemente, die sich wie ein roter Faden durch all seine Arbeiten ziehen: die Erforschung der Beziehung zwischen den Einzelbildern des Filmes, die sich horizontal (Dunkelphase)8 oder vertikal (Überlagerung von Bildern) ausdrücken kann, sowie die Erkundung der Materialität des Filmes, insbesondere dessen, was Schlingensief als das ›Eigenleben‹ des Materials bezeichnet. Sowohl die Untersuchung der Differenz zwischen den Einzelbildern als auch die Experimente mit dem Material sind Versuche, das Theater der Kontrolle des Regisseurs zu entziehen und unerwartete kreative Prozesse anzustoßen und zuzulassen. Folglich oszillieren Schlingensiefs Arbeiten zwischen Intention/Determination und Kontingenz, zwischen Kreation und Destruktion. Es ist gerade diese Oszillation, in der sich die Leere als unbestimmte Quelle all dessen, was ist und noch sein könnte, konstituiert und als radikales Potenzial für ein singuläres und unerwartetes Werden wirksam wird. Nachdem ich diese beiden entscheidenden Aspekte aufgezeigt habe, kehre ich schließlich zum Motiv des Hasen zurück und zeige, dass Schlingensiefs Theater verbreitete Konzepte eines Erlösungsdenkens durch eine andere Form der Heilung ersetzt; nämlich eine, die in der Plastizität zu finden ist. Damit erfindet er Wagners Gesamtkunstwerk im Sinne eines beständigen Werdens und Vergehens neu.

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Unfälle passieren: Theater und Film

Unfälle passieren: Theater und Film

Schlingensiefs künstlerisches Credo lautete ›Scheitern als Chance‹; und so hat er beständig versucht, Momente der Unsicherheit und des Unfalls herbeizuführen, die es schließlich erlauben würden, das Unvorhergesehene und Unerwartete möglich zu machen. Das zeigt sich z. B. an seinem Versuch, mit The African Twintowers (2005) nach acht Jahren Pause wieder einen Film zu produzieren, nachdem er diesem Medium mit Die 120 Tage von Bottrop (1997) offiziell den Rücken gekehrt hatte.9 Schon die Ankündigung, The African Twintowers sei eine Rückkehr zum Film, erweist sich jedoch als weitaus komplizierter, als man zunächst vermuten würde. Einerseits hat Schlingensief, wie eingangs erwähnt, nie aufgehört, Filme zu machen; vielmehr brachte er den Film ins Theater – sei es durch den Einsatz von filmischem Material, das meist auf mehrere Leinwände gleichzeitig projiziert wurde, oder durch Experimente, das Theater als Live-Film zu behandeln. Andererseits ist The African Twintowers nur bedingt der Kategorie Spielfilm zuzuordnen, da er nie vollendet wurde – zumindest nicht im konventionellen Sinn –, sondern vielmehr sein eigenes Scheitern dokumentiert.10 The African Twintowers ist das Ergebnis eines Unfalls, den der Regisseur selbst verursacht bzw. in Szene gesetzt hat. So verkündete Schlingensief zu Beginn der Dreharbeiten, dass das Drehbuch zum Film gestohlen wurde und damit für immer verloren sei.11 Zusätzlich dazu wurde er selbst immer unzuverlässiger und verschwand, so die Erzählungen, oft stundenlang, sodass die Crew nicht nur ohne Drehbuch, sondern auch ohne Regisseur zurückblieb. Ohne einen Plan und klare Anweisungen war das Team gelangweilt, verwirrt und durchaus frustriert. So wurden willkürlich Drehtage und -stunden anberaumt, in denen es gezwungen war, zu improvisieren und spontan zu reagieren. Doch genau diese Situation wollte Schlingensief auch herbeiführen, war er doch überzeugt, dass nur so etwas Unerwartetes passieren könne. Auf diese Weise entstand ein Film, für den schlussendlich niemand die Urheberschaft beanspruchen konnte: The ­African ­Twintowers schöpfte aus der Filmgeschichte ebenso wie aus den spontanen Einfällen und Handlungen jedes einzelnen Mitglieds. Die Crew reenactete Filme wie Luchino Viscontis Die ­Verdammten, Russ Meyers Faster, Pussycat! Kill! Kill!, Wim Wenders’ Der Stand der Dinge und Fritz Langs Die Nibelungen. In dieser chaotischen, desorganisierten Arbeitsweise sammelte Schlingensief über 180 Stunden Filmmaterial, das nie weiterbearbeitet wurde. Damit übersteigt The African Twintowers jede Möglichkeit, in konventionellen Kontexten präsentiert zu werden –

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der Film war dementsprechend auch nie in einem Kino zu sehen. Die überwältigende Menge an gesammeltem Material wurde jedoch in verschiedenen Konstellationen in Theatern12 und Museen präsentiert, wo es auf mehreren Bildschirmen simultan zu sehen war.13 The African Twintowers ist Teil von Schlingensiefs sogenannten ›Animatographischen Editionen‹ – einem Langzeitprojekt, das aus der Arbeit des Regisseurs in Bayreuth und der Einführung der Drehbühne hervorging.14 Der Animatograph bezeichnet ein Konglomerat aus Film, Performance, Aktionskunst, Live-Konzert und Installation und fügt sich zugleich in keine dieser Kategorien nahtlos ein. Sein Kernstück ist eine Drehbühne, die teilweise durch zusätzliche bühnenartige Strukturen ergänzt wird und von Schauspieler:innen und Publikum zugleich betreten, durchwandert und bespielt wird. Die konkrete räumliche Anordnung des Animatographen variierte dabei je nach Aufstellungsort. So kamen einige Versionen mit nur einer Drehbühnenkonstruktion aus, während andere diese Minimalversion deutlich erweiterten und eine Vielzahl an Bühnen und Installationen integrierten.15 Dabei wurde der Animatograph hauptsächlich aus vor Ort gefundenen Materialien zusammengesetzt; darüber hinaus fungierte er zugleich als Projektionsfläche und Projektor. Schlingensief bezeichnete diese Konstellation auch als das »Kino der Zukunft«16, die für ihn zwangsläufig eine Rückkehr zu historischen Prinzipien und Techniken der Vorgeschichte des Filmes bedeutete.17 So war er überzeugt, in dieser Ideen und Praktiken zu finden, denen das Scheitern bereits eingeschrieben ist und die es ihm erlauben würden, eine Leere zu schaffen, die in der nach strengen Konventionen strukturierten Theaterwelt nicht existiert. Das Medium Film erweist sich tatsächlich als besonders prädestiniert für eine solche Mediatisierung des Fehlerhaften und Scheiternden, basiert es doch auf dem fehlerhaften Blick, wie die Filmwissenschaftlerin Mary Ann Doane zeigt.18 Was damit gemeint ist, wird deutlicher, wenn man sich frühen Objekten zur Bewegtbildprojektion, wie sie am Anfang der Filmgeschichte stehen, zuwendet. Denn diese machen sich fehlerhaftes Sehen zunutze, um die Illusion von Bewegung überhaupt erst zu ermöglichen, und konfrontieren die Zuschauer:innen somit gerade mit dem Scheitern ihrer Sinneswahrnehmungen. Wie Doane schlussfolgert, sind diese Objekte stets mit Defekten verbunden, die schließlich auch den Körper nicht länger als transparente und selbstverständliche Einheit wahrnehmen, sondern ihn als eine der Zeitlichkeit und dem Irrtum unterworfene Entität erscheinen ­lassen.19

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Wie wichtig die Frühgeschichte des Filmes und damit der F ­ ehler und das Scheitern für Schlingensief sind, zeigt sich bereits an der Wortwahl ›Animatograph‹, mit der der Regisseur auf ebendiese Frühphase verweist.20 Macht man sich die Wichtigkeit dieser historischen Objekte für Schlingensiefs Theater bewusst, so wird die gesamte Anlage der »Animatographischen Editionen« neu lesbar; sie tritt nun als überarbeitete und revidierte Version dieser Objekte, Maschinen und Techniken in Erscheinung.21 So können verschiedene Objekte wie die Wundertrommel, der Guckkasten,22 das Panorama oder auch Thomas Edisons ›Black Maria‹ (1893)23 – das erste in den Vereinigten Staaten entwickelte Aufnahme- und Projektionsstudio – im Animatographen identifiziert werden. Diese Objekte finden jedoch nie in ihrer ursprünglichen Gestalt Eingang in diesen, sondern tauchen meist in stark vergrößerter Form auf. Wundertrommel und Co sind nun nicht mehr kleine, handhabbare Objekte, die vor den Zuseher:innen positioniert werden, sodass diese sich ihnen unbekümmert nähern können; vielmehr sind sie hier so vergrößert, dass man sich leicht in ihnen verlieren kann und das menschliche Auge nicht mehr als Medium der Wahrnehmung ausreicht. Neben diesen historischen Objekten interessierte sich Schlingensief auch für die frühen Bewegungsstudien an der Schnittstelle von Fotografie und Bewegtbild. Er bezog sich hier u. a. auf ÉtienneJules Marey und seine Erfindung des fotografischen Gewehrs (1881/82) sowie auf Eadweard Muybridges berühmte Serien (1872ff.). Muybridge widmete er sogar den Kurzfilm Diana II: Muybridge-Film,24 der Teil von Kaprow City wurde. Dass Schlingensief sich so dezidiert auf ihn bezieht, ist wenig überraschend: Muybridge, der als ›Vater‹ des bewegten Bildes gilt,25 interessierte sich insbesondere für die Beziehung zwischen Stillstand und Bewegung sowie für den Raum zwischen den Einzelbildern.26 Beides, Bewegung und Stillstand sowie das Dunkel zwischen den Bildern, sind auch für Schlingensief zentral, verortet er doch in ihnen jenes Potenzial des Werdens, das ich in ­diesem Buch die Leere nenne. Dunkelphase und Überlagerung

Schlingensief begann mit dem Filmemachen aus einer tiefen Faszination für die Beziehung zwischen den Einzelbildern und zwischen Bild und Ton. Diese Beziehung war bei ihm allerdings nie harmonisch; vielmehr wollte er die Möglichkeiten ausloten, die sich aus ihrer Diskrepanz und ihren Brüchen ergeben. Dabei sind zwei filmische Prinzipien zentral: Dunkelphase und Überlagerung. Beide erlaub-

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ten es ihm, jenen Moment zu betonen, der uns mit einem Bild konfrontiert, das nicht einfach auf Interpretation wartet, sondern harte Arbeit erfordert, um aus ihm Bedeutung zu gewinnen. Dieses Bild inspiriert damit auch eine Form der Bedeutungsproduktion, die sich aus der Intra-Aktion zwischen Betrachter:in und filmischem Material entwickelt.27 Schlingensief betrachtet das Dunkel zwischen den Bildern nicht einfach als pures Nichts, sondern als den Bereich der Möglichkeit, aus dem das Unerwartete auftauchen und in dem ein kreativer Prozess stattfinden kann, der nicht streng kontrolliert ist. Er experimentierte mit beiden Prinzipien, die bereits in seinen frühen Filmen eine wichtige Rolle spielten, auch im Rahmen seiner Theaterarbeit – sei es durch den intensiven Einsatz von Film, der meist auf mehrere Leinwände gleichzeitig und auf die Körper der Schauspieler:innen projiziert wurde, oder durch die Übertragung dieser Prinzipien in die räumliche Anlage seines Theaters. Beide Prinzipien, die Dunkelphase und die Überlagerung von Bildern, hängen mit der Differenz zwischen den Einzelbildern des Filmes zusammen, die Schlingensiefs Mentor, der Experimental­ ­ filmemacher Werner Nekes, als das kleinste Element der filmischen Sprache definierte und ›kine‹ nannte. Schlingensief teilte die Überzeugung seines Mentors, dass die Erforschung dieser kleinsten ­filmischen Einheit wichtige Einblicke in die Erzeugung von Bewegung ermögliche und dass die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden können, wiederum die Möglichkeiten des Filmes, der Filmproduktion und -projektion, erweitern können. In Schlingensiefs Fall betraf dies auch den Bereich des Theaters. In der Untersuchung der kleinsten Einheit des Filmes und in der Differenz der Einzelbilder sah Schlingensief eine Möglichkeit, das Verhältnis von Stillstand und Bewegung bzw. Stabilisierung und Fluktuation zu erforschen, das, so seine Überzeugung, das Potenzial unendlicher Möglichkeiten der Nicht-/Existenz enthält. Schlingensief ist hier deutlich von den Neurowissenschaften und deren Verständnis des Gehirns als grundlegend plastische Entität inspiriert. Diese Faszination dürfte, so die von ihm tradierte Anekdote, auf einen Vortrag zurückgehen, den er als Kind gemeinsam mit seinem Vater besuchte; ein Satz daraus sollte für ihn besonders prägend werden: ›Erinnern heißt vergessen.‹ So war Schlingensief fasziniert von der beständigen Neubildung des Gehirns, besonders von der Annahme, dass nur einige wenige Synapsen stabile Verknüpfungen eingehen, während der Großteil dieser Relationen wieder verschwindet. Es ist gerade dieses Spannungsfeld aus Stabilisation und Zerstörung, in

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Dunkelphase und Überlagerung

dem eine Art flimmerndes Dazwischen entsteht, das Bilder evoziert, die völlig losgelöst von eigentlicher Realität und Erfahrung sind.28 Das Medium Film war für Schlingensief insofern ein Mittel, um dieses ›Dazwischen‹ zu erkunden und die daraus resultierende Beugung (diffraction) von Zeit und Raum zu erforschen. Insbesondere interessierte er sich für die hier entstehende Subjektivität, in der Zerstörung und Verwandlung untrennbar miteinander verbunden werden. Oder anders formuliert: Er ist fasziniert von der Idee einer Subjektivität, in der Irrtum und Scheitern nicht unbedingt zerstörerisches Potenzial entfalten, sondern zugleich die Möglichkeit einer Neuformierung und Transformation des Subjekts in sich tragen. In der Dunkelphase zwischen den Filmbildern macht Schlingensief ein ähnliches plastisches Prinzip ausfindig, da hier Zerstörung und Verwandlung, Leben und Tod auf einem schmalen Grat liegen, der stets in Unruhe bleibt. Die Auseinandersetzung mit der Dunkelphase prägt Schlingensiefs Gesamtwerk. Während sie manchmal nur im Hintergrund eine Rolle spielt, rückt das Dazwischen der Bilder in einer Vielzahl seiner Arbeiten dezidiert in den Fokus und wird als zentrales energetisches Feld seines Theaters erkennbar. Die intensive Beschäftigung mit der Dunkelphase führte dabei zu Versuchen, die Dunkelheit zwischen den Bildern so weit auszudehnen, dass die filmische Bewegung nicht mehr als fließend wahrgenommen wird, sondern Bewegung und Stillstand zugleich kenntlich werden. Dies hat damit zu tun, dass Schlingensief eine Ontologie erkunden will, in der Bewegung und Stillstand, Licht und Dunkelheit, Zerstörung und Verwandlung, Leben und Tod keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig konstituieren und untrennbar miteinander verwoben sind. So kritisiert er das konventionelle Verständnis von Film, bei dem die Dunkelheit ausgeblendet wird, um das beleuchtete Filmbild ungestört wirken zu lassen. Dagegen konstatiert er: »Film ist der leere Raum, der dunkle Raum. Ich unterscheide immer zwischen dem Bild, das ich sehe, und der Dunkelheit, in der es sich bewegt. Ohne Dunkelheit gibt es keine Bewegung.«29 Die Forderung nach der ›Ausweitung der Dunkelphase‹, wie Schlingensief sie so oft stellte, ist in den Arbeiten meist an den Verweis auf Jean-Luc Godard gebunden, der 24 Bilder pro Sekunde als filmische Wahrheit definierte.30 Schlingensief überschreibt dieses Credo auf provokante Weise mit seiner eigenen Wahrheit der radikalen Reduktion der Bilder:

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Laut Godard besteht ein Film aus 24 Bildern pro Sekunde. Er sagt: »24 Wahrheiten in der Sekunde«. Aber da irrt sich Godard, das sind mindestens sechs Bilder zu viel, weil der Mensch ab achtzehn Bildern, ja fast schon ab zwölf Bildern pro Sekunde anfängt, eine flüssige Bewegung zu sehen. Also bitte merken: Ab zwölf Bilder fast flüssig, ab sechzehn Bilder ziemlich flüssig, ab achtzehn Bilder flüssig. Aber bei 25 [sic] ist es schon so überflüssig, dass es gar nicht mehr zur Dunkelphase kommt, und die ist entscheidend. Achtzehn Bilder pro Sekunde sind richtig.31 Der Anspruch, die Bilder pro Sekunde mehr und mehr zu reduzieren, wird zum Charakteristikum von Schlingensiefs späteren Arbeiten; v. a. jenen Werken, in denen er sich mit seiner Krebserkrankung und dem eigenen Sterben auseinandersetzt. Sein kurzer Auftritt in einer seiner letzten Theaterarbeiten, Mea Culpa (2009), fängt die immense Bedeutung der Dunkelphase für sein Werk wohl am besten ein. Hier projiziert und kommentiert er Szenen aus vergangenen Projekten, die von seinem Film Menu total (1985) bis zu seiner Inszenierung von Wagners Der Fliegende Holländer (2007) in Manaus (Brasilien) reichen. Er blickt in dieser Reflexion nicht nur auf sein Werk zurück, sondern denkt auch über seine eigene Position als Regisseur und seine Haltung als Künstler nach. Betont wird dabei die Schnelligkeit und Unruhe, mit denen er von einem Bild und von einem Projekt zum nächsten ›gejagt‹ ist. Schlingensief benutzt hier Schnitte, die die Sprunghaftigkeit und Hastigkeit, die ihn vor seiner Krankheit auszeichneten, auch filmisch umsetzen. Von Krankheit gezeichnet, lenkt er seinen Blick jedoch auch auf eine andere Ebene seiner Arbeiten, nämlich jene der Dunkelphase, die der eigentliche ›Kern‹ seines Theaters ist. Dies wiederum wird durch eine Tonüberlagerung kenntlich gemacht: Während Schlingensief im Video zu hören ist, wo er, seiner früheren Arbeitsweise entsprechend, immer neue Regieanweisungen brüllt, überschreibt er diese Anweisungen mit seinem Auftritt auf der Bühne mit der Forderung nach der Reduktion der Bilder: Die Ausweitung der Dunkelphase, das ist eigentlich das, woran ich gerade interessiert bin. Das Dunkle wird immer länger. Es wird immer dunkler. Es bleibt auch länger dunkel als früher. Und Godard sagt 25 [sic] Bilder pro Sekunde wären die Wahrheit, ja? Völliger Quatsch. Es gibt Leute, die können ab 13 Bilder pro Sekunde schon hervorragend alles im Fluss sehen. Ich übrigens auch. Ich brauch’ nur sechs Bilder.32

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Dunkelphase und Überlagerung

Die Dunkelheit zwischen den Einzelbildern ist nicht nur für das Experimentieren mit dem Verhältnis von Bewegung und Stillstand wesentlich; vielmehr verändert sie nach Schlingensief auch die Wahrnehmung der Einzelbilder selbst. So ist sie nie bloßes Nichts, enthält sie doch endlose Fluktuationen und Flimmern, und konstituiert damit jenen Bereich, in dem die verschiedensten Bilder entstehen und vergehen können. Durch die Betonung des Dunkels, des Flimmerns und der daraus resultierenden verlangsamten Bewegung bzw. einer Bewegung, die von Stillstand geprägt ist, wirken die Bilder, die in Schlingensiefs Theater präsentiert werden, unheimlich, monströs und geisterhaft. Es sind Bilder, die eine simultane Wahrnehmung von Bewegung und Stillstand, Fortsetzung und Bruch erlauben und ihre Rezipient:innen mit der Möglichkeit konfrontieren, dass jedes im Laufe der Inszenierung entstehende Bild jederzeit wieder in der Dunkelheit verschwinden könnte. Während die Dunkelphase das Verhältnis der Einzelbilder horizontal denkt, beschäftigt sich Schlingensief auch mit seiner vertikalen Dimension, d. h. der Überlagerung von Einzelbildern. Auch diese Beziehung interessiert ihn, so betont er, seit frühester Kindheit und wird in seinen Erzählungen an ein ganz konkretes Kindheitserlebnis gekoppelt, auf das er wiederholt rekurriert: Schlingensiefs Vater, ein leidenschaftlicher Amateurfilmemacher, vergaß während eines Sommerurlaubs der Familie, die Filmspule zu wechseln, und legte dieselbe Spule erneut ein, wodurch eine Doppelbelichtung entstand. Als der Vater den Film später zu Hause vorführte, waren der junge Christoph Schlingensief und seine Mutter am Strand zu sehen, aber auch Panoramaaufnahmen vom Strand und von willkürlichen anderen Badegästen. Durch die Doppelbelichtung wurden beide Bilder überlagert und so schien es, als würden die Leute durch die Körper des Jungen und seiner Mutter dringen. Schlingensief hat diesen kurzen Film in zahlreichen seiner Arbeiten eingesetzt, v. a. in den späteren, in denen er sich mit der Möglichkeit seines frühen Todes auseinandersetzt und verstärkt über Dis/Kontinuitäten seines Lebens nachdenkt. Die Arbeit mit Doppel- und Mehrfachbelichtungen, mit der er bereits in seinen frühen Filmen experimentierte, durchzieht Schlingensiefs Œuvre wie ein roter Faden, ermöglichte sie es ihm doch, fragmentierte und hybride Bilder zu erzeugen, die Verbindungen zu heterogenen Zeiten und Räumen herstellen. Während sich dies zunächst auf die Filme beschränkte, die er für das Theater drehte und dort projizierte, übersetzte er die Technik der Überlagerung später auch für die Bühne und fand räumliche Anordnungen, die Bildüberlage-

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

rungen möglich machten. So arbeitete er nicht nur mit Leinwänden, auf denen mehrfach überblendete Bilder zu sehen waren, sondern die Körper der Schauspieler:innen selbst wurden zu Projektionsflächen, auf denen komplexe zeitliche und räumliche Arrangements geschaffen wurden, die es nicht mehr erlaubten, klar zwischen anwesendem und abwesendem Körper bzw. zwischen Existenz und Nichtexistenz zu unterscheiden. Die ›Animatographischen Editionen‹ können wohl als Höhepunkt angesehen werden, wenn es darum geht, Formen der Überlagerung und Mehrfachbelichtung auch abseits der Filmleinwand zu erproben. Schlingensief verließ im Kontext dieser Editionen den konventionellen Theaterraum, der Bühne und Zuschauerraum klar voneinander trennt, und schuf stattdessen eine ganz eigene räumliche Anordnung aus verschiedenen rotierenden Plattformen und Projektionen, die das Publikum frei und in seinem eigenen Tempo erkunden konnte, sodass sich verschiedene Zeiten und scheinbar weit entfernte Orte in einem Prozess ständiger Transformation trafen und kombinierten. The African Twintowers, der dritte Teil der Edition, enthielt z. B. Videoprojektionen aus früheren Versionen in Island und Deutschland, während gleichzeitig neue Bilder erzeugt wurden, die in Namibia entstanden, das Vorhandene überlagerten und so gänzlich neu arrangierten und wahrnehmbar machten. Wer in Namibia die sich ständig drehende Plattform betrat, wurde Teil einer größeren Topografie, die isländische Sagen, deutsche Geschichte und afrikanische Mythen miteinander verknüpfte. Alles, was Schlingensief in den ersten drei Editionen des Animatographen erprobte, gipfelte in Area 7: Matthäusexpedition, der größten und letzten Version, die 2006 am Burgtheater in Wien realisiert wurde. Area 7 nahm den gesamten Raum des Theaters ein und löste damit die Grenzen zwischen Bühne, Zuschauerraum, Foyer und Gängen auf. Es handelte sich um eine installationsartige Anlage, die aus zahlreichen (drehbaren) Bühnen bestand, auf denen nicht nur Live-Performances zu sehen, sondern die teilweise auch von Textilien verhängt waren, die als Projektionsflächen dienten und u. a. Aufnahmen früherer Editionen enthielten. Da Area 7 in einem konventionellen Theaterhaus aufgebaut wurde, das Zuschauer:innen mit einer bestimmten Erwartungshaltung betreten und das normalerweise aufgrund seiner Architektur einen bestimmten Modus der Wahrnehmung erfordert – im Fall des Burgtheaters ist dies die Guckkastenbühne mit ihrer Zentralperspektive –, stellte es stärker als die vorherigen Editionen konventionelle Wahrnehmungsweisen und kognitive

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Dunkelphase und Überlagerung

Area 7. Christoph Schlingensief. Burgtheater Wien, 2006. © Georg Soulek

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

Area 7. Christoph Schlingensief. Burgtheater Wien, 2006. © Georg Soulek

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Eigenleben des Materials, Unfall und Transformation

Muster infrage – radikal formuliert: Diese Architektur wurde zur Explosion gebracht. So hält Sabine Vogel in ihrer Rezension von Area 7 fest, dass sich in der Arbeit »zu viele Bilder und Worte […] in einem höchst freimütigen Umgang mit Sinn und Logik [vermischen]«33. Dieser Eindruck entstand nicht nur durch die Überfülle an gezeigtem Material, sondern er war auch die Folge der ständigen Bewegung, in der sich die Installation befand. Indem Schlingensief einen sich beständig verändernden Raum erzeugte, zwang er Publikum und Performer:innen zugleich in den weiten Bereich der Möglichkeiten, der scheinbar unverwandte und entfernte Felder wie Aktionskunst, Physik, Musik, Politik, Religion und Natur nicht nur nebeneinander stellte, sondern ineinandergreifen und sich dadurch ständig neu konfigurieren ließ. In Area 7 traf dabei deutsche Geschichte auf isländische und afrikanische Mythologie, Tiere auf Götter und historische Figuren, kanonische Texte auf die Avantgarde, Michael Jackson auf Joseph Beuys und lebende Organismen auf defekte technische Geräte. Namibia und die Musik von Bach waren plötzlich ganz nah beieinander; isländische Mythen und die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs schienen nicht mehr weit entfernt. So brachen in der Installation Konventionen des Denkens in Maßstäben und innerhalb der Newton’schen Kategorien von Zeit und Raum zusammen – oder besser gesagt: Es explodierte und schuf neue Konstellationen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ständig neu geordnet wurden und das Lokale und das Globale plötzlich untrennbar erschienen. Gleichzeitig verschwamm die Unterscheidung zwischen Leben und Tod, Subjekt und Objekt, Mensch und Nicht-Mensch, Hier und Dort, Natur und Kultur. Mehr noch, in dieser Aufführung fluktuierte paradoxerweise alles zwischen Leben und Tod, Subjekt und Objekt, Mensch und Nicht-Mensch, hier und dort, Kultur und Natur. Das liegt daran, dass die Fragmentierung, die uns bei Schlingensief begegnet, im Sinne der Plastizität nicht als Gegenteil der Synthese zu verstehen ist. Der Animatograph schneidet, ganz im Gegenteil, mit seiner kontinuierlichen Bewegung diese Fragmente nicht nur, sondern synthetisiert sie auch augenblicklich und lässt so das Publikum die fortwährende Praxis des Formens und Transformierens erleben.34 Eigenleben des Materials, Unfall und Transformation

Neben der Arbeit mit der Beziehung zwischen den Einzelbildern ist die Materialität des filmischen Bildes für Schlingensiefs ›Theater der Leere‹ zentral. Dies resultiert aus seiner Überzeugung, darin ein Eigenleben des Materials zu finden, das einen Prozess der Kreativität

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

in Gang setzen könnte, der das Kunstwerk jeder Intention und Kontrolle des Regisseurs oder anderer Einzelpersonen entzieht. Auch in diesem Kontext teilte Schlingensief immer wieder eine Anekdote, um zu verdeutlichen, was er mit ›Eigenleben‹ und ›kreativem Potenzial‹ des filmischen Materials meint: In seinem ersten Spielfilm, Tunguska. Die Kisten sind da (1984), simulierte er die Verbrennung des Filmes. Bei dessen Uraufführung im Rahmen der Internationalen Hofer Filmtage begann die Filmrolle dann jedoch tatsächlich zu brennen und antizipierte damit Schlingensiefs kinematografischen Trick durch eine überraschende Kreation jenseits der Intention des Regisseurs.35 Die Erfahrung, im Publikum zu sitzen und hilflos zu beobachten, wie der Film zu schmelzen beginnt, hat Schlingensief zu der Einsicht gebracht, dass Zerstörung und der unvorhergesehene Unfall nicht zwangsläufig Vernichtung bedeuten müssen. Vielmehr können sie radikale Möglichkeiten für das Entstehen des Neuen, Singulären und Unvorhergesehenen sein. Von diesem Moment an arbeitete Schlingensief vehement daran, Anordnungen zu schaffen, die eine Dynamik entwickeln, die sich der Kontrolle des Regisseurs bzw. der anderen Akteur:innen entziehen und stattdessen eigene kreative Prozesse generieren. So verwundert es nicht, dass Unfall und Scheitern zu seinem Credo wurden.36 Der Film ist sicherlich ein exemplarisches Medium für den Irrtum und das Scheitern, ist doch die Geschichte des Mediums selbst, wie zuvor angemerkt, nicht von Fehler und Täuschung zu trennen. Wie aber gelangen Irrtum und Eigenleben in Schlingensiefs theatrale Arbeiten und wie überträgt er diese besondere Qualität des Filmes in den Bereich des Theaters? Hier wird seine Auseinandersetzung mit Wagner wichtig, insbesondere die Verwendung einer Drehbühne in seiner Inszenierung des Parsifal. Wie Alain Badiou in seinen Fünf Lektionen über Wagner argumentiert, bietet Parsifal eine komplexe Lesart der Beziehung zwischen Zerstörung und Schöpfung, Leben und Tod, Beständigkeit und Wandel, die grundlegend von musikalischer Plastizität und Metamorphose geprägt ist. Badiou stellt hier etablierte Lesarten Wagners infrage, die dessen Werk als Geschichte einer Teleologie hin zu Erlösung und Auferstehung verstehen. Er weist darauf hin, dass die musikalische Plastizität bei Wagner dem Inhalt der Oper widerspricht und dadurch unvorhersehbare Verwandlungen zulässt, die in die teleologische Erzählstruktur und ihre Figuren eingreifen.37 Wenn Schlingensief auf eine Drehbühne und damit die Möglichkeit der beständigen Transformation besteht, dann deutet das darauf hin, dass er eine ähnliche Qualität im Parsifal sieht wie Badiou. Dies

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Eigenleben des Materials, Unfall und Transformation

erscheint nicht zuletzt wichtig, weil er in Wagners Oper etwas findet, das engstens mit seinem eigenen ›Theater der Leere‹ verwandt ist.38 So ist es gerade die Auseinandersetzung mit Wagners verborgenem Potenzial, die Schlingensief dazu inspirierte, sich erneut dem Film zuzuwenden: Wie die theatralen Arbeiten, die er danach realisierte, zeigen, war es seine Wagner-Rezeption, die ihn verstehen ließ, dass den filmischen Prinzipien, die er von Beginn an erforschte, die Möglichkeit der Transformation und Metamorphose innewohnt; Prinzipien, die er daher ins Theater übersetzen muss, um sie auch dort wirksam werden zu lassen. Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal mündete also in eine bewusstere Arbeit mit filmischen Prinzipien in seinem Theater, wie in seiner Hinwendung zum Animatographen deutlich wird, den Schlingensief nicht nur als ›Kino der Zukunft‹, sondern auch als ›lebende Filmrolle‹ beschrieb – womit er zugleich die Wichtigkeit der ständigen Bewegung und Metamorphose betonte.39 Die Drehbühne in Parsifal, die Schlingensief später als ›Ur-­ Animatograph‹ bezeichnete, führte eine räumliche Struktur in seine Arbeiten ein, die das Unvorhergesehene zuließ, das radikal von der Kontrolle des Regisseurs und von seinem eigenen Einwirken auf der Bühne losgelöst war.40 Die Form des Unfalls und Zufalls, die der Animatograph in seine Arbeiten einschreibt, steht in extremem Gegensatz zu den unvorhergesehenen Vorfällen und dem Scheitern in seinen Arbeiten der 1990er bis frühen 2000er Jahre, die unmittelbar von Schlingensiefs eigener Präsenz abhängig waren, um das geprobte Protokoll zu unterbrechen und die Schauspieler:innen zur Improvisation zu zwingen; also Formen der Störung, die immer noch an die Person des Regisseurs gebunden und damit nicht völlig losgelöst von seinen Absichten und Intentionen sind. Der Animatograph hingegen ermöglicht in seiner ständigen Bewegung Momente des Unfalls und der Störung, die gänzlich von der Person des Künstlers entkoppelt sind. Erst durch ihn gelingt es, das Potenzial der kinematografischen Prinzipien auch im Kontext des Theaters voll auszuschöpfen. Ja, mehr noch, der Animatograph führt eine Form der Bewegung in die Arbeiten ein, die Schlingensief in seinen früheren filmischen Arbeiten zwar gesucht hat, die er aber mit konventionellen Mitteln des Filmes nicht realisieren konnte.41 Die Drehbühne übersetzt kinematografische Sehweisen in den Theaterraum, um darin mit ihnen zu experimentieren. Die Bewegung des Animatographen ist einerseits kreisförmig, da die Drehbühne sich nicht fortbewegt, sondern an Ort und Stelle ihre Runden dreht; ande-

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

rerseits verändert sich die Anlage aber dennoch mit jeder Umdrehung, da sie etwas von ihrer Umgebung aufnimmt und somit immer weiter wächst. Darüber hinaus bringt sie die Betrachter:innen in Bewegung und eröffnet ihnen so in jedem Moment neue Perspektiven. In dieser anhaltenden Dynamik müssen festgefahrene Wahrnehmungsmuster verlassen werden, die wir sonst ins Theater mitbringen; wir werden dazu angehalten, völlig neue Wege zu finden, uns mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, das uns in ein schier unüberschaubares Gewirr an sich ständig verändernden Eindrücken wirft. Als eine Struktur in ständiger Bewegung, die zu groß ist, als dass wir sie rahmen und aus der Distanz beobachten könnten, entzieht uns der Animatograph die Macht des Blickes und aktiviert stattdessen alle anderen Sinne. Dennoch können wir den Erfolg des Animatographen nicht auf die Tatsache beschränken, dass Schauspieler:innen und Publikum die Drehbühne(n) betreten und sich frei auf und um sie herum bewegen. Was Schlingensief mit seiner Kunst erreicht, ist mehr als die simple Aktivierung des Publikums. Hier wird es wichtig, ernst zu nehmen, dass Schlingensief den Animatographen wiederholt als ›lebenden Organismus‹ beschrieben hat. Begriffe wie ›organisch‹ und ›lebendig‹ gewannen bereits im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zu seiner Parsifal-Inszenierung an Bedeutung. Doch erst mit dem Animatographen begannen sie, seine Arbeiten deutlich zu dominieren und blieben von da an bis zu seinem letzten Projekt, dem Operndorf in Burkina Faso, enorm wichtig. So kommentiert er seine Idee zum Operndorf mit den folgenden Worten: »Die Kunst ist im besten Fall ein Organismus, der sich mit dem Leben verbindet.«42 Organische Metaphern sind im Kontext der Kunst nichts Ungewöhnliches. Ja, sie dominieren die Diskurse um die Avantgarde- und Neoavantgarde, in deren Kontexten Schlingensief oftmals verortet wird.43 Der Rückgriff auf Begriffe des Organischen hat die Schlingensief-Forschung dennoch immer wieder in Verlegenheit gebracht, da er sich eben nicht so einfach in diese Diskurse einordnen lässt, sondern sie vielmehr durchkreuzt. Denn das Organische ist bei ihm mehr als eine bloße Metapher, die der Mystifizierung der Kunst dient, um sie lebendig werden zu lassen.44 Daher braucht es einen anderen theoretischen Rahmen, um zu beschreiben, dass sich Schlingensiefs Theater die Lebendigkeit der Materie, also ihr ›Eigenleben‹, zunutze macht und in den künstlerischen Prozess miteinbezieht. Der Animatograph greift jene Strategien auf, die für Schlingensief von Beginn an bedeutend waren, geht aber deutlich darüber hinaus, verfeinert und kombiniert sie auf eine Art und Weise, die –

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Metamorphose und die Wunde als Ende des Bildes

deutlicher als zuvor – in der Plastizität grundiert ist. So führt der Animatograph eine Form der andauernden Bewegung in sein Theater ein, die tatsächlich eine Leere in ständiger Fluktuation schafft und von Lücken und Sprüngen geprägt ist, aus denen das Unerwartete hervorgehen kann – und zwar ohne dass der Regisseur selbst an der Schaffung solcher Brüche beteiligt ist. Die menschlichen Akteur:innen teilen hier mit den nicht-menschlichen Elementen, die in Schlingensiefs Animatograph wüst zusammengewürfelt werden, dass sie aus der Leere hervorgehen und durch den Fehler, die Explosion und, in ihrer radikalsten Form, die Zerstörung geformt werden. So ist Materie bei Schlingensief niemals das leblose oder formlose Objekt, das erst vom Künstler geformt werden muss, sondern sein kreativer Prozess unterstreicht, dass es sich um eine relationale Ko-Kreation zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen handelt, die aufeinandertreffen, ineinandergreifen und sich so immer wieder neu konfigurieren und kreieren. Plastizität ist bei Schlingensief weder auf ihre negative noch auf ihre positive Seite zu reduzieren, sondern die Arbeiten nutzen vielmehr das Potenzial beider Möglichkeiten. So ist sein Theater deutlich geprägt von Gewaltexzessen und Explosionen, die bis zum Terror reichen können; in seinen Werken sind das wiederkehrende Motiv der Explosion (sei es die Atombombe in seinem frühen Film United Trash oder sein wiederholt zum Ausdruck gebrachter Anspruch, die Hochkultur zur Explosion zu bringen), Szenen heftigen Aufruhrs, Blut, Waffen, Todesaufforderungen und die Zerstörung großer Teile der Bühne zu finden. Doch es sind gerade die gewalttätigen Handlungen, die den Prozess der Formung, Neuformung und Verwandlung ermöglichen – und damit sind wir wieder bei dem Hasen aus Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung angelangt. Metamorphose und die Wunde als Ende des Bildes

Der kurze Film des verwesenden Hasen, der Schlingensiefs Parsifal-­ Inszenierung beendete und zu einer zentralen, immer wiederkehrenden Sequenz in all seinen nachfolgenden Arbeiten wurde, ist nur ein Beispiel für die immense Bedeutung des Hasen in Schlingensiefs Theater. Er dient ihm als Symbol, Motiv und lebendiger Organismus und erscheint in vielfältigen Formen – als Kadaver, dem Schlingensief Sequenzen aus Wagners Opern vorspielt, als lebendiges Tier, das in einem Käfig sitzend auf der Bühne positioniert wird, als Stofftier, dem Schlingensief die Aufführung erklärt, und als Präparat in der Funktion einer religiösen Reliquie. Während die Referenzen, die Schlingensief hier heraufbeschwört, einerseits von der Kunstgeschichte (z. B. Dürers

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

Feldhase) bis zu ostasiatischen Märchen reichen, ist der Hase andererseits auch zentral mit Joseph Beuys verbunden, dessen Idee von Kunst als sozialer Praxis Schlingensief fortschreibt und k ­ ritisch befragt; insbesondere Beuys’ Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (1965) findet in vielfältigen Variationen Eingang in Schlingensiefs Theater. Für Beuys war der Hase ein Symbol für Inkarnation und die Fähigkeit des Menschen zur aktiven Transformation, die er mit dem Potenzial eines radikalen Wandels und der Revolution in Verbindung brachte: [The hare] has a strong affinity to women, to birth and to menstruation, and generally to chemical transformation of blood. That’s what the hare demonstrates to us all when he hollows out his form: the movement of incarnation. The hare incarnates himself into the earth, which is what we human beings can only radically achieve with our thinking: he rubs, pushes, and digs himself into Materia (earth); finally penetrates (hare) its laws, and through this work his thinking is sharpened then transformed, and becomes revolutionary.45 Beuys stützt sich hier auf den Reichtum an Assoziationen, die der Hase aufgrund seiner jahrhundertealten Bedeutungen in verschiedenen Kulturen und Religionen zulässt. Er selbst ordnet den Hasen dem spirituellen Bereich zu und macht ihn zur Gegenfigur der Ratio und zum alternativen Modell der Wissensproduktion und Subjektivierung.46 So wird der Hase bei Beuys zum Zentrum der Erforschung einer Möglichkeit radikaler Veränderung von Individuen und Gesellschaft; er steht für ein alternatives Verhältnis zur Natur und zum Nicht-Menschlichen. Hier wird auch die Praxis der Bewegung wichtig, die Beuys als zentral für jegliche Transformationsprozesse ansieht. Er bringt dieses Potenzial dezidiert mit dem Christentum in Verbindung und spricht von ›Auferstehung durch Bewegung‹, da sie die Kanalisierung organischer Energie ermöglicht: »The principle of resurrection, transforming the old structure, which dies or stagnates, into a vibrant, life-enhancing, and soul – and spirit – promoting form. This is the expanded concept of art.«47 Der Hase steht für Beuys also für Spiritualität und Selbsttranszendenz. Demnach zeigen sich hier deutliche Prallelen zwischen Beuys’ Verständnis von Plastizität und Wagner bzw. einem Denken in Begriffen von Transzendenz und Erlösung. Während Schlingensief mit einem solchen Verständnis bricht und nach einem

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Metamorphose und die Wunde als Ende des Bildes

Modus der Transformation ohne Erlösung sucht,48 ist er dennoch zutiefst an der Plastizität als grundlegendem Lebens- und Kunstprinzip interessiert, wie er es bei Beuys vorfindet. So kehrt er fast notorisch zu diesem zurück und adaptiert dessen Verständnis von künstlerischer Arbeit als eine Art der Bildhauerei bzw. von Kunst als ›Sozialer Plastik‹ – um hier jenen Terminus zu verwenden, den Beuys selbst in diesem Kontext einbringt –, arbeitet dieses Prinzip jedoch um und löst es von Beuys’ transzendentalem Impetus. Der Hase ist auch bei Schlingensief mit Verwandlung, Veränderung und einer Auseinandersetzung mit Leben und Tod verbunden, jedoch ohne auf Wiedergeburt und Erlösung zu verweisen. Ebenso wie bei Beuys spielt auch hier die Bewegung eine zentrale Rolle. Diese war zwar von Anfang an ein wichtiger Bestandteil von Schlingensiefs Arbeiten, wird aber spätestens mit dem Animatographen ein nicht mehr wegzudenkender Aspekt seines Schaffens und entwickelt sich zunehmend zu einem Grundprinzip, das seine Arbeiten rhythmisiert, antreibt, und ja, immer wieder neu de/formiert.49 In dieser Schaffensphase wird Schlingensief auch die Bedeutung, die die Verwandlung für sein Werk hat, immer klarer. Dies zeigt sich in einer verstärkten, bewussten Auseinandersetzung mit ihr, die sich auch darin ausdrückt, dass er – beginnend mit den ›Animatographischen Editionen‹ – vermehrt Begriffe wie ›Metamorphose‹ oder ›Metanoia‹ einbringt – Letzterer fungiert sogar als Titel seiner letzten, unvollendet gebliebenen Arbeit –, um Prozesse der radikalen (Selbst-)Transformation und Transsubjektivierung ins Zentrum zu rücken. Obwohl Metanoia Assoziationen zum Christentum und zu Spiritualität im Allgemeinen herstellt, denkt Schlingensief den Tod jedoch nicht als etwas, das zu einer höheren Daseinsform führt, sondern ganz im Sinne negativer ­Plastizität. Um den Modus der Verwandlung, den Schlingensiefs Theater erkundet, besser zu verstehen, müssen wir uns noch einmal der Verletzung, dem Leiden und der Wunde zuwenden, die so zentral für den kurzen Hasenfilm sind. Auch hier ist Schlingensief wieder eng mit Beuys verbunden, der davon überzeugt ist, dass Verwandlung und Veränderung unmittelbar an die Wunde, ja mehr noch, an das Ausstellen der Wunde gebunden sind. Hier verschränken sich in Schlingensiefs Theater auf interessante Weise Beuys’ Ansatz und der theaterhistorische Diskurs der Wunde, v. a. die Bedeutung der Wunde in Wagners Parsifal. Es ist das kranke, leidende und sterbende Subjekt, das im Mittelpunkt von Schlingensiefs Aufmerksamkeit steht. Auch dies trifft

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

bereits auf seine frühesten Arbeiten zu – man denke nur an die kranke Mutter in seinem Spielfilm Mutters Maske (1988) –, wird aber in den Projekten, die er im Zeitraum rund um seine Vorbereitung des ­Parsifal realisierte, noch deutlicher. So positioniert die Arbeit Kunst und Gemüse, A. Hipler (2004), der das Motto ›Theater ALS Krankheit‹ zur Seite gestellt wird, die in einem Krankenhausbett liegende ALS-­ Patientin Angela Jansen mitten im Zuschauerraum, um als Live-Regisseurin des Abends zu fungieren. Die an der neurologischen Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erkrankte Jansen, deren Körper zum Zeitpunkt der Inszenierung bereits vollständig gelähmt ist, kommuniziert mithilfe eines Systems, Eye-Gaze, Anweisungen an die ­Performer:innen, die auch mit dem Publikum geteilt werden. Das S ­ ystem erfasst mittels Lasersignal die Bewegung der Augen und erlaubt es Jansen dadurch, eine virtuelle Tastatur zu bedienen und direkt in das theatrale Geschehen einzugreifen. Es ist ein Versuch, Wagners Parsifal und die nicht heilen wollende Wunde des Amfortas in die Gegenwart zu übersetzen und ohne jeglichen Heroismus neu zu perspektivieren.50 Die Auseinandersetzung mit der Stellung des Kranken im Verhältnis zur Gesellschaft gewinnt nach Schlingensiefs eigener Krebsdiagnose noch einmal an Bedeutung. Nun bearbeitet er die Frage, wer der Kranke in der Gesellschaft ist und wie er eine Zukunft und Autonomie in der Welt haben kann, intensiver als je zuvor. So veröffentlicht er in dieser Phase die Website geschockte-patienten.org, die Erkrankte dazu auffordert, ihre persönlichen Geschichten zu teilen und auf diese Weise Autonomie zurückzugewinnen, die ihnen in ihrer Abhängigkeit von Medizin und der Verfangenheit in kulturellen und gesellschaftlichen Interpretationen von Krankheit durch Religion, Staat etc. so oft abgesprochen wird. Er beschäftigt sich aber auch in Buchform damit und publiziert sein ›Tagebuch einer Krebserkrankung‹ mit dem Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, das auch zur Grundlage seiner performativen Arbeiten wird, die unmittelbar nach der Diagnose und der ersten Operation entstehen. Diese umfassen Der Zwischenstand der Dinge (2008) ebenso wie das ›Fluxus-­ Oratorium‹ Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) und die ›Ready-Made-Oper‹ Mea Culpa (2009). Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir setzt die Wunde zentraler als alle anderen dieser Arbeiten. So wird das Röntgenbild von Schlingensiefs entferntem Lungenflügel zum Hauptsujet des Abends, das – in einer Monstranz ausgestellt – auf den Projektionswänden wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Perfor-

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mer:innen hängt. Schlingensief arbeitet sich in diesem Projekt durch verschiedene Referenzrahmen, die ihm helfen zu verstehen, wie der Wunde zu begegnen ist und wie sie zum Potenzial und Ort endloser Möglichkeiten werden kann. Hier zitiert er Heiner Müller, der über den Kranken behauptet: »Das Wesentliche ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Und das ist auch die Angst des Priesters und die Angst der Gemeinde. Und das Besondere ist eben nicht die Anwesenheit des lebenden Priesters oder des lebenden Gottesdienstbesuchers, sondern die Abwesenheit des potenziell Sterbenden.«51 Daneben greift er ein Credo von Beuys auf, das zum Zentrum der Aufführung wird: »Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt, wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.«52 Schlingensief folgt diesem Credo, da auch er davon überzeugt ist, dass die Wunde sichtbar gemacht werden muss, weil nur dann ein Heilungsprozess stattfinden kann. Er knüpft dieses Gebot allerdings an das Theater selbst und fragt, wie die Wunde im theatralen Kontext dargestellt werden kann. Dadurch sollen auch die Grenzen eines Theaters, das in konventionellen Darstellungsformen gefangen ist und vornehmlich den visuellen Sinn seines Publikums adressiert, aufgezeigt werden. Wenn Schlingensief behauptet, dass die Wunde in einem solchen Theater nicht sichtbar gemacht werden kann, entzieht sie sich doch jeglicher bildlichen Darstellung. So ist das eine Bild, das Schlingensief verwendet, um seine Wunde auszustellen, ein Röntgenbild, das die Wunde als schwarzen Fleck darstellt. Wenn Schlingensief gerade diese Repräsentation der Wunde auch noch in ein christliches Ritual einbettet und in einer Monstranz positioniert, entlarvt er damit einmal mehr, dass das Bild hier an ein Ende gelangt. Während die Monstranz gewöhnlich dazu dient, unserem Auge ein klar sichtbares Objekt zu zeigen (lat. monstrare = zeigen, hinweisen), verweist sie bei Schlingensief auf das Ende jeder visuellen Darstellung der Wunde selbst. Sie ist auf dem Röntgenbild der dunkle Fleck, das schwarze Loch; oder eben: die Leere. Und es ist das Ende des Bildes, das paradoxerweise ein theatralisches Stück entstehen lässt, das von allen möglichen Bildern überquillt, die sich aber nie ganz stabilisieren, sondern beständig zwischen Existenz und Nichtexistenz ­oszillieren. Obwohl Schlingensief in seinen letzten Arbeiten explizit seine persönlichen Erfahrungen mit der Operation und Behandlung von

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IV Dunkelphase, Wunde und M ­ etamorphose

Lungenkrebs verarbeitet, gehen sein Zugang und Nachdenken über Krankheit und Wunde immer deutlich über das Individuelle hinaus und verbinden sich mit umfassenderen Fragen nach sozialem Wandel, Freiheit und Autonomie. Darauf weist Jasmin Degeling hin, indem sie an den spezifischen Kontext des Beuys-Zitats erinnert, auf das sich Schlingensief in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir bezieht: Wenn Beuys von der Wunde spricht, dann meint auch er nie ausschließlich individuelle Wunden, sondern bezieht zugleich die Wunde der Gesellschaft mit ein, wie etwa der Kommentar zu seinem Werk Zeige deine Wunde (1976) verdeutlicht: »Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will. Der Raum [...] spricht von der Krankheit der Gesellschaft. Dann ist natürlich der traumatische Charakter angesprochen. Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.«53 Während die Betonung und das Insistieren auf der Offenlegung der Wunde zunächst eine psychoanalytische Lesart nahelegen, werden bei Schlingensief Zweifel laut, ob das Subjekt tatsächlich in der Lage ist, seine Wunde zu offenbaren. Stattdessen stellt er die Möglichkeit in den Raum, dass es, und im weiteren Sinne auch die Gesellschaft, unter etwas leiden könnte, das von ihm selbst bzw. der Gesellschaft nicht mehr assimiliert oder angeeignet werden kann. So müssen die Akteur:innen schlussendlich kalt und unberührt bleiben, wenn sie von der Wunde sprechen. Indem Schlingensiefs persönliche Erfahrung auf verschiedene Akteur:innen aufgeteilt wird, diese aber jegliche Verbindung zum Leidenden und seiner Vergangenheit zu missen scheinen, wirkt der Faden der Geschichte abgeschnitten. Und doch wird dieser Gleichgültigkeit die harte Arbeit und die beständige Praxis der Sinngebung an die Seite gestellt. Diese werden durch die Auftritte von Schlingensief selbst in Szene gesetzt, wenn er etwa unter Schmerzen versucht, die Beziehung zu seinem Ich aufrechtzuerhalten, indem er immer und immer wieder zu Video- und Tonaufnahmen seiner Kindheit und seiner früheren Arbeiten zurückkehrt. Und doch beendet Schlingensief seinen letzten Blog-Eintrag vor seinem Tod ganz im Sinne der negativen Plastizität. Er drückt hier die Akzeptanz des Vergehens und Vergessens aus, in der fast gespenstisch Brechts Gedicht mitschwingt, das dieser in seinen letzten Lebenstagen in der Charité verfasst hat:54 »DIE BILDER VERSCHWINDEN AUTOMATISCH UND ÜBERMALEN SICH SO ODER SO! ERINNERN HEISST: VERGESSEN! (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)«55 Die Erforschung der Wunde ist in Schlingensiefs späten Arbeiten dem ›zerebralen Subjekt‹ näher als der Psychoanalyse.56 Das Zeigen

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Mögliche Enden: Das Sterben der Kunst und die R ­ egeneration

der Wunde hat hier nichts mehr mit der Enthüllung des Verdrängten zu tun; vielmehr konfrontiert Schlingensiefs ›Theater der Leere‹ mit Wunden, die wir nicht begreifen und denen wir keinerlei Sinn geben können. So werden die Bilder der lebensbedrohlichen Krebszellen und der dunkle Fleck seiner Wunde auf seinen Bühnen von einer überwältigenden Anzahl höchst irritierender, monströser Darstellungen und Stimmen begleitet, die uns im Eiltempo mit einer Kaskade individueller und gesellschaftlicher Wunden konfrontieren. Gefangen in einem geschlossenen, von Gewalt geprägtem System, birgt die Wunde in Schlingensiefs Theater dennoch Potenzial für Veränderung, denn der Regisseur verbindet sie mit der zerstörerischen Form von Plastizität und zeigt, dass in geschlossenen Systemen nur Explosionen Räume für alternatives Werden, für Transformation, Metamorphose, Revolution und so etwas wie Freiheit eröffnen können. Mögliche Enden: Das Sterben der Kunst und die R ­ egeneration

Die Wunde, die Frage nach dem Status des Leidenden, das Interesse an der Möglichkeit individueller Transformation sowie der radikalen Veränderung ganzer Gesellschaften verbinden nicht nur Schlingensief und Beuys, sondern auch Schlingensief und Wagner.57 Letzterer beschäftigte sich von den frühen 1840er Jahren bis zu seinem Tod mit Fragen von Wiedergeburt und Regeneration.58 Ähnlich wie Schlingensief verknüpfte er diese direkt mit den Künsten, wie sich nicht nur in seinen Opern zeigt, sondern auch in seinen theoretischen Schriften, die sich deutlich auf die antike griechische Tragödie beziehen. Während Wagner diese für ihre Kombination verschiedener Künste lobte und dies zum Ausgangspunkt seiner Idee eines Gesamtkunstwerks machte, spielt die griechische Tragödie auch auf einer anderen Ebene eine zentrale Rolle für ihn, nämlich hinsichtlich der Frage nach Regeneration und Wiedergeburt, steht doch die heilende Funktion des Theaters im Zentrum der antiken Tragödie, wie sie im Prinzip der katharsis erfasst wird. Auch Schlingensief kehrte wiederholt zu der Frage zurück, ob im Gegenwartstheater noch etwas von der heilenden Funktion der antiken griechischen Tragödie vorhanden ist bzw. ob diese für die Gegenwart wiederentdeckt werden kann, da er sie in der Entwicklung des Theaters zur bürgerlichen Vergnügungsanstalt verloren gegangen glaubte. Seine Theaterarbeiten können somit durchaus als Versuche betrachtet werden, das heilende Potenzial des Theaters wiederzuentdecken. Dies zeigt sich etwa in seiner Arbeit mit dem Ritual, mit Figurationen aus der antiken griechischen Tragödie, in seinem Festhalten

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an der katharsis und in seiner wiederholten Behauptung, dass sein Theater Gift in kleinen Dosen verabreiche, was für Heilung unerlässlich wäre.59 Was hier sichtbar wird, ist, dass Schlingensief, auch wenn er Wagner kritisch gegenüberstand, dessen Ideen hinsichtlich der heilenden Funktion der Kunst nicht grundsätzlich ablehnte. So rekurrierte Schlingensief wiederholt auf Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks und betonte, dass er an dessen Wert für die Gegenwart glaubt. Dieser Wert erschließt sich allerdings nicht, wenn man Wagners Konzept absolut setzt, vielmehr müsse man dieses zur Explosion bringen, um es in der Gegenwart neu zu erfinden: Denn ich hatte ja auch immer das Gefühl, man muss sie auch sprengen, diese Hochkultur. Nicht zerstören, das meine ich nicht, sondern man muss einfach Leute reinlassen, die damit eigentlich nichts zu tun haben und die da mal wieder Kraft reingeben. Ich kann auch immer noch nicht ganz Abstand nehmen von so einem Begriff wie Gesamtkunstwerk.60 Was genau ist es, das Schlingensief an Wagners Konzept so interessant findet? Er ist davon überzeugt, dass die Idee eines Gesamtkunstwerks im Bereich des Theaters eine Möglichkeit eröffnet, um die prekäre Ontologie, wie er sie in seiner Gegenwart vorfindet, sichtbar zu machen; eine Ontologie, die die Grenze zwischen Leben und Tod radikal infrage stellt. Hier kommt einmal mehr das Symbol des Hasen ins Spiel: Wie Alexander Kluge betont, war der Hase eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen Schlingensief und Wagner, dessen ›­Karfreitagszauber‹ des Parsifal im dritten Akt der Oper ebenfalls vom Hasen inspiriert ist. Wagner – ähnlich wie Schlingensief und Beuys – sah den Hasen als ein Symbol der Fruchtbarkeit und zugleich als Träger der ›Theatralik von Golgatha‹.61 Es ist dieses Oszillieren zwischen Leben und Tod, das beide, Schlingensief und Wagner, als Grundlage jeglicher Veränderung und damit auch einer Möglichkeit von Zukunft erachteten. Warum wurde die Schlussszene mit dem verwesenden Hasen trotz aller Resonanzen zwischen Wagner und Schlingensief dennoch als extremer Widerspruch zwischen den beiden empfunden? Schlingensiefs Schlussszene präsentiert eine deutlich andere Lesart als die, die in gängigen Wagner-Interpretationen zu finden ist, in denen Wagner als Künstler verstanden wird, der alle Elemente einer Aufführung so synchronisiert, dass ein totalisierendes Ganzes entstehen kann; als Künstler, der die Kunst zu einer Religion erhebt, die im

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Ritual der Aufführung eine geschlossene Einheit bildet.62 Die letzte Szene von Schlingensiefs Inszenierung widerspricht diesen vorherrschenden Auffassungen von Parsifal als einer Oper, die die Mystifizierung der Kunst vorantreibt und Kunst mit Erlösung, Ewigkeit und Aufschub der Zeit assoziiert.63 Stattdessen beharrt Schlingensief auf einer anderen Lesart Wagners und argumentiert, dass es im Parsifal nicht um Erlösung, sondern um die Akzeptanz des Vergehens und Verschwindens geht: »›Erlösung dem Erlöser‹ signalisiert das schwer erkämpfte Einverständnis mit dem eigenen Verschwinden. Das heißt Abschied von der Welt und Abschied von der Kunst und Abschied von sich selbst.«64 Oder wie es Schlingensief in einem Gespräch mit Peter Michalzik beschreibt: »Das Ende ist gedacht als auf der Musik tanzende Verwesung, die neues Leben gebiert.«65 Schlingensief überträgt diese Lesart später auf Wagners Gesamtkunstwerk, wenn er die Dauerhaftigkeit und Monumentalität von Bayreuth infrage stellt und stattdessen dessen Vergänglichkeit betont: »Die schönste Idee von Wagner finde ich, für eine Oper ein eigenes Opernhaus zu bauen, eine einzige Aufführung zu machen und danach das Haus samt der Partitur zu verbrennen. Das ist toll, weil es bedeutet, Verwesung zu akzeptieren und das eigene Ende zu feiern. Diese Freiheit will ich haben.«66 Die Akzeptanz der Vergänglichkeit und der eigenen Endlichkeit, die Schlingensief hier wiederholt unterstreicht, erinnert an jene Form der plastischen Regeneration, die wir bei Malabou skizziert finden. In Schlingensiefs Theater haben Heilung und Wiedergeburt nichts mit Transzendenz oder Metaphysik zu tun (auch wenn er sicherlich auf beides immer wieder anspielt), sondern sie bestehen vielmehr darin, sich ein Ende bzw. sein eigenes Ende vorzustellen. Die Verwesung des Hasen am Ende von Schlingensiefs Parsifal führt nicht zu Aufhebung, Auferstehung und Verwandlung in ein höheres Leben. Stattdessen zeigt er den banalen Prozess des Leidens und Sterbens, der radikale Möglichkeiten eröffnet. Der Tod ist bei Schlingensief nicht einfach ›das Ende‹, sondern das Potenzial, das es erlaubt, die Möglichkeiten eines Endes zu erkunden.67 Das wird deutlich, wenn man eine weitere Arbeit Schlingensiefs einbezieht, nämlich Sterben Lernen: Herr ­Andersen stirbt in 60 Minuten (2009). Diese Arbeit ist geleitet von der Idee, dass Unsterblichkeit töten kann. Daher ist sie auch als eine Übung angelegt, nicht nur den eigenen Tod zu akzeptieren und zu erproben, sondern auch das Sterben der Kunst durchzuspielen – wie etwa der Satz »Sterben lernen der Kunst«, der auf verschiedene Wände im Bühnenraum geschrieben wurde, deutlich macht.

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Wie allerdings lässt sich diese eigenartige Forderung nach dem Sterben der Kunst interpretieren? Schlingensief betonte wiederholt, dass Wagners Musik tödlich sei. Er ging sogar so weit, zu prognostizieren, dass das Ergebnis seiner Parsifal-Inszenierung sein eigener Tod sein könnte68 – eine Behauptung, an der er nach seiner Lungenkrebsdiagnose noch vehementer festhielt.69 Wie Lore Knapp argumentiert, zog Schlingensief daraus den Schluss, dass, wenn das dauerhafte Kunstwerk tödlich ist, die Kunst sterblich werden müsse. Nur dann nämlich führe sie nicht mehr zum Tod, sondern könne sich in Potenzial und eine Form der Heilung umwandeln.70 Schlingensief setzte sich in der Tat kritisch mit den im frühen 20. Jahrhundert vorherrschenden Ansätzen auseinander, die die Kunst durch ihre Mystifizierung als Ewig-Seiendes dem Leben annähern wollten. Das zeigt sich in seinen zahlreichen Rückgriffen auf künstlerische Praktiken der frühen Avantgarde, die stets dazu dienten, diese kritisch zu befragen und umzuarbeiten. So ist auch seine Forderung nach der Sterblichkeit der Kunst als eine solche Umarbeitung avantgardistischer Praktiken und Ästhetiken zu sehen. Sterblichkeit ist hier allerdings nicht das Ergebnis einer anderen Form der Mystifizierung einer Vitalität von Kunst, wie Knapp behauptet,71 sondern zeugt vom Bewusstsein der Plastizität als Grundprinzip der Kunst und des Lebens. Denn Schlingensief begreift Kunst und Leben als grundlegend plastisch strukturiert und sieht daher Zerstörung und Kreation, Determination und Kontingenz, Explosion und Möglichkeit untrennbar miteinander verwoben. Sein ›Theater der Leere‹ muss schließlich als eine Probe bzw. kontinuierliche Arbeit an einer Praxis des Sterbens und des Endens gelesen werden.72 Während diese Erforschung in seinem Parsifal noch eng mit dessen titelgebender Figur verbunden ist, ist sie in den späteren Arbeiten deutlich von seinen eigenen Erfahrungen mit Krankheit und Tod geprägt. In diesen Werken verlagert Schlingensief seinen Fokus und macht die Figur des Regisseurs selbst zum Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung. Alle seine späten Arbeiten, mit Ausnahme des Langzeitprojekts des Operndorfs in Burkina-Faso,73 spielen verschiedene, mögliche Todesarten und Enden durch: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir inszeniert die Trauerfeier für den zukünftig toten Regisseur, in der christliches Ritual und Avantgardekunst (insbesondere Fluxus und Happening) einander durchdringen, um Praktiken des Endes zu untersuchen; Mea Culpa referiert auf Wagners Parsifal, um den Tod als Metamorphose zu durchdenken; und Sterben Lernen: Herr Andersen stirbt in 60 Minuten überträgt die Krankheit

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und das Sterben auf die fiktive Figur des Herrn Andersen, um die letzten Minuten des Lebens eines Menschen wiederholt zu erproben. Schlingensiefs Theater macht erfahrbar, dass Tod, Zerstörung und Explosion essenziell für das Subjekt sind. Nur so kann es so etwas wie Freiheit erfahren, aus dem vorgegebenen Skript ausbrechen und sich neu bilden. Auch seine Heilung hängt von der Möglichkeit der Explosion ab – eine Heilung, die bei Schlingensief weder im Sinne einer Verwandlung in ein höheres Leben noch im dekonstruktiven Sinne als ein Produzieren von Schnitten und Spuren gedacht wird. Der Animatograph zeigt dies wohl am prägnantesten, hebt er doch als räumliche Struktur in seiner permanenten Drehbewegung den filmischen Schnitt auf und ersetzt ihn durch den Prozess der Transformation und Metamorphose. Wenn Badiou behauptet, dass die Heilung von Amfortas eigentlich eine Art Tod darstellt, der eine Metamorphose von Souveränität und Macht in Sanftheit ermöglicht,74 dann wird auch hier plötzlich eine unheimliche Nähe zu Schlingensief deutlich: Der Hasen-Film, den Schlingensief an das Ende seines Parsifal stellt, hebt die Bedeutung der Metamorphose und die Möglichkeit einer Transformation hervor. Schlingensief geht jedoch klar über Wagner hinaus, wenn Veränderung und Verwandlung nicht mehr an das Christentum gebunden sind, sondern mit Formen des Vergnügens und der Freude des plastischen Subjekts verknüpft werden; einem Subjekt also, das ein Gefühl der Leichtigkeit empfindet, wissend, dass es jederzeit explodieren kann.

1 Dieses Kapitel basiert auf meinem Artikel »Zwischen Bildern«, der die Beziehung zwischen Schlingensief und seinem Mentor Werner Nekes untersucht und 2022 in dem Sammelband Arbeit am Bild. Christoph Schlingensief und die Tradition (hrsg. von Thomas Wortmann und Peter Scheinpflug, Paderborn 2022, S. 21 – 42) veröffentlicht wurde. Das hier vorliegende Kapitel geht jedoch deutlich darüber hinaus, da es die kinematografischen Prinzipien über das Konzept der Leere liest und mit Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal verbindet. 2 Dies ist in der Wissenschaft ausführlich diskutiert worden. Schlingensief wird hier in der Regel als Multimediakünstler charakterisiert, der Konzepte erforscht, die auf der Zusammenführung verschiedener Medien und Gattungen beruhen, wie etwa das Gesamtkunstwerk. Siehe in diesem Zusammenhang frühe, wegweisende Publikationen wie Forrest, Tara und Anna Teresa Scheer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010; und Janke, Pia und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011.

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3 Schlingensiefs Inszenierung wurde 2004 im Festspielhaus Bayreuth uraufgeführt. Die nationale und internationale Presse skandalisierte die Inszenierung des Enfant terrible Schlingensief und stellte schon Monate vor der Premiere ein antagonistisches Verhältnis zwischen dem Regisseur und der Wagner-Familie her, das Schlingensief durchaus mitproduzierte und anheizte. Noch lange nach der ­Premiere sorgte die Inszenierung für Empörung, was dazu führte, dass sie ein Jahr früher als ursprünglich geplant abgesetzt wurde. 4 Das Video stammt aus dem Filmarchiv von Alexander Kluge; die Aufnahme erfolgte im Keller der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer 35-mm-­ArriflexKamera mit Zeitraffermotor. Der Verfallsprozess wurde über mehrere Wochen festgehalten. Für eine detaillierte Beschreibung des Produktionsprozesses siehe Kluge, Alexander: »The Complete Version of a Baroque Invention by Christoph Schlingensief«, in: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. ­German Pavilion, 2011. 54th International Art Exhibition La Biennale di Venezia, London 2011, S. 243. 5 Das kurze Video wurde zum meist diskutierten und kritisierten Moment der insgesamt umstrittenen Parsifal-Inszenierung des Regisseurs. Siehe in diesem Zusammenhang die Rezensionen von z. B. Spahn, Claus: »Das Bayreuther Hühnermassaker«, in: Die Zeit (29. Juli 2004) und Eichler, Jeremy: »A Hullabaloo for an Opening at Bayreuth«, in: New York Times (27. Juli 2004). 6 Der kurze Film wurde im Rahmen von Schlingensiefs »Animatographischen ­Editionen« (2006 – 2007) gezeigt, einer Werkserie, zu der House of Obsession (Island-Edition), The African Twintowers (Afrika-Edition), Odin’s Parsipark (­deutsche Edition) und Area 7 am Burgtheater in Wien gehören. Darüber hinaus wurde der Film ein zentraler Bestandteil von Schlingensiefs letzten Theaterarbeiten, die sich mit seiner Lungenkrebserkrankung auseinandersetzen, wie Eine ­Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) und Mea Culpa (2009). 7 Siehe in diesem Zusammenhang die aufschlussreiche Analyse von Meister, Monika: »Zirkulationen des Schmerzes. Schlingensiefs Fluxus-Oratorium ›Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‹ und die Katharsis«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, v. a. S. 105 – 108. Die immense Bedeutung der Wunde stellt eine Verbindung zu Müllers Theater her, dessen Interesse für die Wunde ich in Kapitel 1 ausführlich diskutiert habe. 8 Schlingensief war hier nicht nur von seinem Mentor Werner Nekes inspiriert, sondern orientiert sich auch deutlich an Alexander Kluge und dessen Untersuchung der Dunkelphase. Für eine eingehende Analyse der Dunkelphase bei Kluge siehe Langston, Richard: Dark Matter. A Guide to Alexander Kluge and Oskar Negt, New York 2020. 9 Die 120 Tage von Bottrop war als Abschied vom ›Neuen Deutschen Film‹ und vom Filmemachen im Allgemeinen gedacht. Der Untertitel »Der letzte Neue Deutsche Film« unterstreicht dies deutlich, da er sich auf diese spezifische Schule bezieht, die das deutsche Kino zwischen den 1960er und frühen 1980er Jahren dominierte und von Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Alexander Kluge und Hans-Jürgen Syberberg geprägt wurde. Für eine ausführliche Diskussion über Schlingensief und sein Verhältnis zum ›Neuen Deutschen Film‹ siehe Langston, Richard: »Junger und Neuer Deutscher Film«, in: Teresa Kovacs, Peter Scheinpflug und Thomas Wortmann (Hrsg.): Schlingensief-Handbuch, Stuttgart (in Druck). 10 Dies wird in der Dokumentation The African Twin Towers (2009) und im Kurzfilm Say Goodbye to the story (ATT 1/11) (2011) sichtbar, in denen zu sehen ist, mit welcher Frustration die Schauspieler:innen auf die Unzuverlässigkeit und das Fehlen des Regisseurs reagieren. Hier muss jedoch mitgedacht werden, dass Schlingensief bei beiden Filmen selbst Regie führte und damit auch das Einfangen der Frustration als vom Regisseur selbst inszeniert angesehen werden kann und muss. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Unfall und Verlust die zentralen Impulsgeber des Filmes sind. 11 Schlingensief behauptete, dass sein Rucksack, in dem sich das Drehbuch befand, nach der Landung in Namibia gestohlen wurde. Natürlich zeigt schon die Tatsache, dass das Drehbuch nie mit der Crew und den Darsteller:innen geteilt wurde, sowie dass es nicht mehrere Kopien des Drehbuchs gab, dass solch ein Drehbuch eventuell nie existierte bzw. es nie die Absicht gab, einem Drehbuch zu folgen.

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12 Der Film wurde z. B. 2008 am Theater Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin gezeigt; er wurde aber auch Teil von Area 7 am Burgtheater Wien (2006). 13 18 Bilder pro Sekunde, Haus der Kunst, München 2007; Neue Galerie Graz 2008. 14 Für eine ausführliche Diskussion des Animatographen siehe Berka, Roman: Schlingensiefs Animatograph. Zum Raum wird hier die Zeit, Wien 2011; sowie Hegenbart, Sarah: »Animatographische Editionen«, in: Teresa Kovacs, Peter Scheinpflug und Thomas Wortmann (Hrsg.): Schlingensief-Handbuch, Stuttgart (in Druck). 15 Dies war der Fall bei der deutschen Ausgabe, Odins Parsipark (2005), auf dem ehemaligen Militärflughafen Neuhardenberg und bei Area 7 im Burgtheater. 16 »Schlingensief-Installation in der Burg«, in: ORF Wien (2006), https://wiev1.orf. at/stories/83132 (23. März 2023). Die Bedeutung des Mediums Film für die Konzeption des Animatographen wird von Schlingensief in verschiedenen Kontexten hervorgehoben. So spricht er im Rahmen von Kaprow City, einem späteren Werk, das ebenfalls lose an die ›Animatographischen Editionen‹ angebunden war, vom Animatographen als »lebende Filmrolle« (Schlingensief, Christoph: »Kaprow City, program notes«, in: Kaprow City, Program Booklet, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2006). Darüber hinaus konsultierte er in der Zeit der konzeptuellen Entwicklung des Animatographen wieder vermehrt seinen früheren Mentor Werner Nekes, was ebenfalls darauf hinweist, dass das Medium Film hier für ihn wieder an Wichtigkeit gewinnt (vgl. Kovacs: »Zwischen Bildern«, S. 21 – 42). 17 Rückkehr auch hier nicht im Sinne des ›Zurückkehrens‹ zu etwas, sondern als eine radikale Neuerfindung in der Gegenwart. Schlingensief studierte bei dem Experimentalfilmer Werner Nekes (1944 – 2017), der über die weltweit größte Sammlung optischer Objekte aus der Vorgeschichte des Filmes verfügte. Nekes war davon überzeugt, dass die Zukunft des Filmes auf die intensive Auseinandersetzung mit diesen historischen Objekten angewiesen ist. Es war also Nekes, der Schlingensief mit diesen Objekten vertraut machte. Siehe in diesem Zusammenhang Kovacs: »Zwischen Bildern«, S. 21 – 42; sowie Langston, Richard: »Schlingensief’s Peep-Show. Post-Cinematic Spectacles and the Public Space of History«, in: Randall Halle und Reinhild Steingröver (Hrsg.): After the Avant-Garde. C ­ ontemporary German and Austrian Experimental Film, Rochester 2008, S. 204 – 223. L ­ angston argumentiert, dass erst Alexander Kluge Schlingensief die Bedeutung dieser Objekte verstehen ließ. 18 Vgl. Doane, Mary Ann: The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, the Archive, Cambridge, MA 2002, S. 81. 19 Vgl. ebd. 20 Schlingensief entlehnt den Begriff dem gleichnamigen Kamera- und Projektionsapparat von Robert W. Paul, den dieser 1896 patentieren ließ und der zunächst auch als ›Theatrograph‹ beworben wurde. Paul wollte mit seiner Erfindung das Bühnenbild erneuern, da der Animatograph fähig war, die traditionellen, gemalten Bühnenbilder durch Bildprojektionen zu ersetzen. In der Schlingensief-­ Forschung ist die Verbindung zu Paul ausführlich diskutiert worden. Siehe z. B. Hegenbart: »Animatographische Editionen« und Schaub, Mirjam: »Sich in den Weltzusammenhang hineindrehen. Schlingensiefs Animatograph, mit Aristoteles und Hegel gelesen«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 182 – 195. 21 Während sich zahlreiche Artikel und Monografien ausführlich mit Pauls Animatograph befassen, sind Studien rar, die sich mit anderen historischen Objekten beschäftigen oder diese zumindest erwähnen. Ausnahmen sind Hegenbart, Sarah: »Psychic Interiors. Christoph Schlingensief’s Animatograph«, in: Fabian Lehmann, Nadine Siegert und Ulf Vierke (Hrsg.): Art of Wagnis. Christoph Schlingensief’s Crossing of Wagner and Africa, Wien 2017, S. 89 – 100, Kovacs: »Zwischen Bildern« und Langston, »Schlingensief’s Peep-Show«. 22 Schon das Setting seiner umstrittenen Arbeit Bitte liebt Österreich (2000) lässt sich als vergrößerte Version eines Guckkastens interpretieren, denn die eingezäunten Container im öffentlichen Raum, die im Zentrum der Arbeit standen, besaßen Gucklöcher, die den Passant:innen Einblick in das Innere der Container versprachen. Die Arbeit mit Varianten des Guckkastens blieb auch in den ›Animatographischen Editionen‹ zentral, bei denen Schlingensief verschiedene größere und kleinere Holzkästen verwendete, die mit Löchern und Schlitzen ausgestattet

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waren. Diese Konstruktionen sollten die Neugier des Publikums wecken, indem sie suggerierten, dass man durch sie in sonst fremde Welten schauen könne. 23 In Kaprow City stellte Schlingensief dezidiert Bezug zu Edisons ›Black Maria‹ her. 24 Der Film war Teil von Kaprow City. Zu Beginn und am Ende dieses Filmes zeigt Schlingensief unverändert Bewegung zerlegt in Einzelbilder im Sinne der Studien von Muybridge. In der Mitte allerdings beginnt er, Einzelbilder zu überblenden, Bewegung und Einzelbild zu überlagern und die Bewegung zu einer Serie von Einzelbildern verschmelzen zu lassen. In seiner TV-Serie Die Piloten (2007), die ebenfalls Teil der ›Animatographischen Editionen‹ ist, bezieht sich Schlingensief erneut auf Muybridge. Die Piloten wurde von ihm als Talkshow in der Dunkelphase beworben. Vgl. »DIE PILOTEN. 10 Jahre TALK 2000. Gründung der Ersten Animatographischen Gesellschaft«, in: Akademie der Künste (2007), https://www. adk.de/de/aktuell/veranstaltungen/i_2007/DIE-PILOTEN-10-Jahre-TALK-2000. htm (23. März 2023). 25 Vgl. Haas, Robert Bartlett: Muybridge. Man in Motion, Berkeley 1976. 26 Der Filmwissenschaftler Tom Gunning weist darauf hin, dass das Faszinierende an Muybridge ist, dass dieser mit seinen Bildserien die Dinge in ihren Widersprüchen sichtbar macht (vgl. Gunning, Tom: »Never Seen This Picture Before. Muybridge in Multiplicity«, in: Phillip Prodger (Hrsg.): Muybridge and the Instantaneous Photography Movement, New York 2003, S. 272). Hier wird eine Nähe zu Schlingensief deutlich, der ebenfalls an diesen Momenten der Diskrepanz interessiert ist. 27 Schlingensief ist hier ganz nahe an Kluge und seinem Verständnis der Dunkelphase im Film. Siehe z. B. Kluges Gespräch mit Oskar Negt über die Frage »Was bedeutet das Nichts?« (vgl. Kluge, Alexander: »What Does Nothingness Mean? Alexander Kluge in conversation with Oskar Negt«, in: Kluge Library, https://kluge. library.cornell.edu/conversations/negt/film/2126/transcript/ (15. Jänner 2023). 28 Vgl. Kluge, Alexander: »Parsifal verlernen«, in: dctp.tv (2022), https://www.dctp. tv/filme/alexander-kluge-parsifal-verlernen?thema=zu-parsifal (15. Jänner 2023), 54:08 – 55:01. 29 Dax, Max: »Ich glaube an die Peinlichkeit«, in: Die Welt (20. September 2006). 30 Schlingensief ist hier etwas ungenau und spricht teilweise auch von 25 Bildern pro Sekunde. Tatsächlich sind es allerdings 24 Bilder pro Sekunde, die Godard als filmische Wahrheit ansieht. 31 Schlingensief: »Kaprow City, program notes«. 32 Schlingensief, Christoph: Mea Culpa, DVD, Hoanzl, 120 min., Österreich 2009. 33 Vogel, Sabine: »Christoph Schlingensief. Burgtheater Wien«, in: Artforum 44 (2006), H. 9, S. 302. 34 Für eine ausführliche Diskussion der Synthese siehe Kapitel 1. 35 Schlingensief hat diese Anekdote wiederholt erzählt. Siehe z. B. Kluge, Alexander: »In erster Linie bin ich Filmemacher. Begegnung mit Christoph Schlingensief«, in: Sebastian Huber und Claus Philipp (Hrsg.): Alexander Kluge. Magazin des Glücks, Wien 2007, S. 113; Schlingensief: »Kaprow City, program notes«; Schlaich, Frieder: Interviewfilm. Christoph Schlingensief, DVD, Filmgalerie 451, 77 min., Deutschland 2004. 36 Das zeigt sich z. B. in seinem Interview mit Alexander Kluge aus dem Jahr 2006 aus Anlass seiner Parisfal-Produktion. Hier sagt Schlingensief: »Ich komme eigentlich aus dem Filmemachen und das Interessante am Film ist, dass das Werk zerstört werden kann« (Kluge: »In erster Linie bin ich Filmemacher«, S. 109). 37 Vgl. Badiou, Alain: Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, aus dem Franz. von Thomas Laugstien, Zürich 2012, S. 94. Badiou behauptet über Wagners Opern: »Dass sich das Subjekt am Schluss eines solchen Monologs anders fühlt, ist v. a. durch die Verwandlungsfunktion der Themen bestimmt, weniger durch ihre Verweisungsfunktion. [...] Das Wesen des Wagnermotivs liegt in seinem Verwandlungspotential. Und diese Verwandlung hat wiederum die subjektive zur Folge, indem sie den Entschluss immanent auftreten lässt, nicht als ein ›vorher war ich in dem und dem Zustand, jetzt bin ich ein anderer‹, sondern als Übergang von einem Zustand zum anderen im Diskurs selbst« (ebd., S. 93 – 94). 38 Siehe in diesem Zusammenhang auch Franziska Schößlers Analyse von Schlingensiefs Mea Culpa. Sie argumentiert, dass Badious Wagner-Interpretation (ebenso wie Žižeks Der Zweite Tod der Oper) geradezu als Handbuch für das

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­ erständnis von Schlingensiefs Theater und seiner Auseinandersetzung mit V ­Wagner gelten kann (vgl. Schößler, Franziska: »Intermedialität und das ›Fremde in mir‹. Christoph Schlingensiefs ReadyMadeOper ›Mea Culpa‹«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 117 – 134). 39 Schlingensief: »Kaprow City, program notes«. 40 Hier unterscheidet sich meine Lesart deutlich von gängigen Interpretationen, die diese Autonomie der Werke vom Künstler erst mit dem letzten Werk, dem Operndorf Afrika, verwirklicht sehen (vgl. Knapp, Lore: »Radikale Autonomie und Eigenleben im Film ›Tunguska. Die Kisten sind da‹«, in: Lore Knapp, Sven Lindholm und Sarah Pogoda (Hrsg.): Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn 2019, S. 105 – 107). 41 Im Laufe seines Schaffens wurde Schlingensief immer kritischer gegenüber seinen frühen Filmen. Wir sehen diese Tendenz bereits in einem Interview von 1998, in dem er seine Filme als ›Schneckenfilme‹ beschreibt, um zu betonen, dass sie zwar »voller Kraft und Bewegung erscheinen [...], aber in Wirklichkeit kommt man keinen Zentimeter weiter« (Schlingensief, Christoph: »Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da«, in: Julia Lochte and Wilfried Schulz (Hrsg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland, Hamburg 1998, S. 27). 42 Schlingensief, Christoph: »Die Kunst ist«, in: Invitrust Stiftung Operndorf Afrika (2009), https://www.invitrust.org/stiftung-operndorf-afrika/ (23. Oktober 2023). 43 Zur Positionierung von Schlingensief in der Avantgarde siehe Knapp, Lore, Sven Lindholm und Sarah Pogoda (Hrsg.): Christoph Schlingensief und die ­Avantgarde, Paderborn 2019; sowie Deutsch-Schreiner, Evelyn und Katharina Pewny: »Avantgarde! Marmelade! Avant-garde! Marmelade! Schlingensief und seine Verortung in den Avantgarden«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 236 – 248. Wenn es um die Metapher der Kunst als Organismus geht, ist Friedrich Kiesler eine besonders interessante Vergleichsfigur. Auch er wollte das Theater mithilfe innovativer Raumentwürfe, die die freie Bewegung von Schauspieler:innen und Publikum ermöglichen, erneuern. Siehe in diesem Kontext Kovacs, Teresa: »Flowing Space. Theater – Raum – Bewegung bei Christoph Schlingensief und Friedrich Kiesler«, in: Lore Knapp, Sven Lindholm und Sarah Pogoda (Hrsg.): Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn 2019, S. 153 – 172. 44 Ich denke hier an die inspirierenden und durchaus hitzigen Diskussionen im Kontext der Konferenz »Christoph Schlingensief und die Avantgarde«, die 2017 in Bielefeld stattgefunden hat, und die mich inspiriert haben, weiter über diese Frage nachzudenken. 45 Beuys in: Tisdall, Caroline: Joseph Beuys, New York 1979, S. 101. 46 Das Interesse für das Spirituelle spiegelt sich in der starken Verbindung von Künstler und Schamane wider, die Beuys in seinen Arbeiten auslotet. 47 Beuys in: Rosenthal, Mark: »Joseph Beuys. Staging Sculpture«, in: Mark Rosenthal (Hrsg.): Joseph Beuys. Actions, Vitrines, Environments, London 2004, S. 25. 48 Siehe in diesem Zusammenhang seine Aussagen über das Operndorf, die auf der Website des Projekts zitiert werden (vgl. Schlingensief, Christoph: »We Will Not Redeem«, in: Operndorf Afrika (2010), https://www.operndorf-afrika.com/en/ about/about-us/ (23. Oktober 2023)). 49 Bewegung stand bereits im Mittelpunkt einiger seiner Aktionen im öffentlichen Raum, wie z. B. bei Chance 2000. Hier gründete er eine Partei, die bei der Bundestagswahl 1998 offiziell für den Bundestag kandidierte. Das gesamte Projekt war geprägt von vielfältigen Bewegungsformen, darunter Protestspaziergänge durch Berlin, ein Einkaufsbummel im KaDeWe (Kaufhaus des Westens) und ein gemeinsamer Ausflug an den Wolfgangsee in Österreich, um das Haus des damals regierenden Bundeskanzlers Helmut Kohl zu fluten. 50 Kunst und Gemüse ist überraschenderweise ein wenig beachtetes Werk in der Schlingensief-Forschung. Eine der zentralsten Analysen hat Sarah Ralfs in ihrem Beitrag im Schlingensief-Handbuch vorgelegt (vgl. Ralfs, Sarah: »Kunst und Gemüse«, in: Teresa Kovacs, Peter Scheinpflug und Thomas Wortmann (Hrsg.): Schlingensief-Handbuch, Stuttgart (in Druck)). 51 Schlingensief, Christoph: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in Mir. ­Programmheft. Ruhrtriennale 2008, Herv. T. K.

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52 Ebd. 53 Beuys in: Degeling, Jasmin: »Heilung durch Kunst? Schlingensiefs Reenactments der Avantgarden der Performancekunst (Ball, Brus, Beuys, Nitsch)«, in: Lore Knapp, Sven Lindholm und Sarah Pogoda (Hrsg.): Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn 2019, S. 188. 54 Zu Brecht siehe Kapitel 1. 55 Sclingensief, Christoph: »07-08-2010-DIE BILDER VERSCHWINDEN AUTOMATISCH UND ÜBERMALE SICH SO ODER SO! – ›ERINNERN HEISST: VERGESSEN!‹ (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)«, in: Schlingenblog (2010), https://schlingenblog.wordpress.com/ (13. Mai 2024). 56 Für eine ausführliche Diskussion des ›zerebralen Subjekts‹ siehe Kapitel 1. 57 Beuys’ ›soziale Plastik‹ ist in der Forschung wiederholt als Neuerfindung des Wagner’schen Gesamtkunstwerks diskutiert worden. Siehe z. B. Graevenitz, Antje von: »Erlösungskunst oder Befreiungspolitik. Wagner und Beuys«, in: Gabriele Förg (Hrsg.): Unsere Wagner. Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans Jürgen Syberberg. Essays, Frankfurt a. M. 1984, S. 11 – 49. 58 Für eine ausführliche Diskussion von Wagners Regenerationsschriften und der Bedeutung von Begriffen wie ›Wiedergeburt‹ in seinem Werk siehe Molnar, ­Dragana Jeremić: »Inception of Wagner’s Doctrine of Regeneration Prior to the Revolution 1848–1849«, in: New Sound. International Journal of Music 42 (2013), S. 71 – 85. 59 Siehe hier z. B. Schlingensief in Ich weiß, ich war’s, in dem festgehalten wird: »Früher war es so, dass die Oper in den griechischen Theatern mit der Genesung der Menschen verbunden war. Da wurden in Epidaurus richtig Rezepte ausgestellt, da gab’s Ärzte, die ihnen Theaterbesuche oder Opernbesuche verschrieben haben. Damals war Kunst und Kultur eben auch zur Heilung da, was wir vollgefressenen, europäischen Kulturkämpfer natürlich völlig verlernt haben. Wir gehen nicht in die Oper, um geheilt zu werden, sondern a) sitzen wir da blöd rum und denken, wo gehe ich denn nachher essen, und b) sind wir sowieso nicht heilbar« (Schlingensief, Christoph: Ich weiß, Ich war’s, Köln 2012, S. 165). Außerdem müssen wir bedenken, dass er in seinen späteren Werken, in denen er sich mit seiner eigenen Krebserkrankung befasst, interessante Perspektiven entwickelt, die Wagner durch zeitgenössische, neoliberale Diskurse über Wellness und Selbstsorge lesen. Z. B. in Mea Culpa, in dem er Parsifal in das Umfeld einer Ayurveda-Klinik übersetzt. Siehe in diesem Zusammenhang Degeling: »Heilung durch Kunst?«. 60 Schlingensief: Ich weiß, Ich war’s, S. 166. 61 Vgl. Kluge »The Complete Version«, S. 243. Kluge weist darauf hin, dass Wagner einen Artikel von Alfred-Erwin Jahn rezipiert hat, der 1809 in der Zeitschrift für deutsche Vorzeitforschung erschienen ist und den Komponisten das Symbol des Hasen mit der Frage des Mitleids in Verbindung bringen ließ: »The suffering of the cross and the mirth of ›nature’s vernal laughter‹: the contrast seemed to him an opposite expression of the ›taxing burden of compassion‹« (ebd., S. 243). 62 Siehe hierzu die wegweisenden Arbeiten von Theodor W. Adorno (»Die Wunde Heine«, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt a. M. 1958, S. 144 – 152) und Philippe Lacoue-Labarthe (Musica Ficta, Stanford 1994), die auch die Lesart von Wagner in der Schlingensief-Forschung prägen, wie am Beispiel von Evelyn Annuß (»Christoph Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 291 – 304) deutlich wird. Für eine Kritik an dieser Traditionslinie der Wagner-Interpretation siehe Badiou: Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner. 63 Siehe hierzu die Analyse von Lore Knapp, die Wagner in den breiteren Kontext der Avantgarde und deren Versuch stellt, Kunst zu schaffen, die zu Leben wird (vgl. Knapp: »Radikale Autonomie«, S. 102 – 105). 64 Schlingensief in: Kaiser, Joachim: »Es waren 100.000 Robben, die wir mit Wagner beschallt haben«, in: Süddeutsche Zeitung (17. Mai 2010), S. 13. 65 Michalzik, Peter: »Der Todestag. Interview mit Christoph Schlingensief«, in: Frankfurter Rundschau (22. August 2004). 66 Schlingensief in: Laudenbach, Peter: »Weehee, Weehee«, in: Tagesspiegel (26. Juli 2004). 67 Ich beziehe mich hier auf Badiou und seine Lektüre von Wagner in Fünf ­Lektionen zum ›Fall‹ Wagner. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Notizen von Carl

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Endnoten

­ egemann, dem Dramaturgen von Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung (vgl. H Hegemann, Carl: »Werkstatt Bayreuth. Nachnotizen vom 27./28. Juli 2005«, in: Sandra Umathum (Hrsg.): Carl Hegemann. Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005, Berlin 2005, S. 268). 68 »Ich bin überzeugt, dass ich nach dem Parsifal Krebs bekomme, wie Heiner ­Müller«, so Schlingensief im Tagesspiegel vom 26. Juli 2004. Oder wie er es in der Frankfurter Rundschau vom 17. Juli 2004 formuliert: »Ich bin sehr bewegt, wenn ich höre, dass Parsifal Wagners Abschied von der Welt war. Tief im Inneren habe ich mir vorgestellt, dass es mein Abschiedsstück ist [...]« (zit. nach Malzacher, Florian: »Citizen of the Other Place. A Trilogy of Fear and Hope«, in: Tara Forrest und Anna Teresa Scheer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol 2010, S. 198). 69 Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein, Köln 2009, S. 171. 70 Vgl. Knapp: »Radikale Autonomie«, S. 103. 71 Vgl. ebd. 72 Siehe in diesem Zusammenhang auch den Aufsatz von Carl Hegemann »Sterben lernen? Christoph Schlingensiefs Beschäftigung mit dem Tod« (in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 328 – 341), der Schlingensiefs Theater als eine ›Praxis des Sterbens‹ beschreibt. 73 Dieses Langzeitprojekt sollte Schlingensiefs Erbe sichern und unterscheidet sich damit deutlich von allen anderen Werken. Schlingensief selbst reflektierte den Wunsch, etwas Dauerhaftes zu kreieren, bereits selbst in seinen allerletzten Arbeiten und konterkarierte es mit der Suche nach einem möglichen Ende. 74 Vgl. Badiou: Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, S. 115.

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V Darwin-Theater

V Darwin-Theater Unvorhersehbarkeit, Queerness und Mehr-als-Menschliches bei René Pollesch1

Ich kann mir das mit Newton wirklich nicht mehr erklären, das hier zwischen uns. ——René Pollesch, Probleme Probleme Probleme

Zu Beginn von René Polleschs Probleme Probleme Probleme (2019) betritt die Schauspielerin Marie Rosa Tietjen sichtbar erschöpft die Bühne. Sie befindet sich im Gespräch mit zwei weiteren Darstellerinnen, Sophie Rois und Angelika Richter, und beklagt sich über die ›Doppelvorstellungen‹, die sie jeden Abend spielen muss. Womit wir hier konfrontiert werden, steht in absolutem Gegensatz zu dem, was wir normalerweise von einem ersten Satz im Theater erwarten. Denn eigenartigerweise wirkt die gesamte Situation eher so, als wäre gerade ein Stück zu Ende gegangen und die Schauspielerinnen befänden sich bereits auf dem Weg in die Umkleidekabine. So wird gleich in den ersten Minuten des Stückes infrage gestellt, was wir hier eigentlich sehen und erleben werden – bzw. ob es für uns überhaupt etwas zu sehen geben wird. Wenn man als Zuseher:in in Polleschs Probleme Probleme Probleme sitzt, hat man nicht das Gefühl, dass hier jemand für uns auftritt oder für uns spielt. Im Gegenteil: Man fühlt sich wie ein Eindringling in einen Bereich, der eigentlich nicht für einen bestimmt ist. In diesem irritierenden Verhältnis zwischen Bühne und Publikum zeigen sich bereits die wesentlichen Merkmale von Polleschs ›Theater der Leere‹, das deutlich von der Frage geleitet wird, wie Brechts radikale Forderung nach einem ›Theater ohne Publikum‹ in unserer Gegenwart umgesetzt werden kann. So kritisiert Pollesch ein Theater, das ›dem Publikum‹ etwas präsentieren will und von einer kontinuierlichen Beziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum ausgeht. Anstatt ein solches Verhältnis unhinterfragt zu akzeptieren und anzunehmen, dass Regisseur:in und Schauspieler:innen ihre Intention ›dem Publikum‹ ungebrochen vermitteln können und diese garantiert vom Publikum verstanden wird, fragt Pollesch, was wäre, wenn es dieses Publikum gar nicht gäbe.2 Er radikalisiert hier Brechts

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Probleme Probleme Probleme. René Pollesch. Deutsches SchauSpielHaus Hamburg, 2019. Angelika Richter, Marie Rosa Tietjen, Bettina Stucky, Sophie Rois, Sachiko Hara. © Thomas Aurin

Probleme Probleme Probleme. René Pollesch. Deutsches SchauSpielHaus Hamburg, 2019. Angelika Richter, Bettina Stucky, Sopie Rois, Sachiko Hara. © Thomas Aurin

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Kritik am bürgerlichen Illusionstheater, wenn er zeigt, dass nicht nur das Drama auf der Bühne eine falsche Illusion erzeugt, sondern dass auch die Zuschauer:innen selbst und das Verhältnis zwischen ihnen und der Bühne Teil dieses Illusionstheaters sind. In diesem Zusammenhang verweist Pollesch immer wieder auf das von Brecht geforderte Einreißen der imaginären vierten Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum. An dieser Forderung kritisiert er jedoch, dass es sich dabei nur um eine leere Floskel handle und dass dieses Durchbrechen der vierten Wand am Verhältnis zwischen Zuschauer:innen und Bühne nichts verändern würde, solange die Position der Zuschauer:innen unhinterfragt bliebe. So setzt er dieser Forderung ironisch und provokant eine Alternative entgegen, nämlich die Materialisierung der vierten Wand. Denn erst wenn den Zuschauer:innen nichts mehr gezeigt würde und die Schauspieler:innen nicht mehr für einen Zuschauer spielen würden, könne das Theater radikal erneuert ­werden.3 Die Aufkündigung des etablierten Verhältnisses zwischen Publikum und Bühne lässt eine weitere Frage aufkommen, denn wenn die Schauspieler:innen nicht mehr für uns spielen, wer ist dann das Publikum, gibt es doch immer noch eine Bühne und einen davon abgetrennten Zuschauerraum? Wenn wir als Zuschauer:innen zwar alle konventionellen Theaterkonventionen erfüllen – wir haben eine Karte gekauft, setzen uns zur richtigen Zeit auf den richtigen Platz und werden still, wenn der Beginn der Aufführung signalisiert wird –, die Schauspieler:innen uns aber nicht mehr als Publikum wahrnehmen, ansprechen bzw. akzeptieren, sind wir gezwungen, unsere eigene Position im Kontext des Theaters genauer zu überdenken. Hier entsteht nicht nur das Gefühl, dass von uns Arbeit abverlangt wird, um ein sinnvoller Teil der Aufführung zu werden, sondern die Situation lässt auch einen Eindruck von Geisterhaftigkeit entstehen, der das Publikum selbst betrifft und in dieser Form bei den anderen in diesem Buch beschriebenen Theatermacher:innen nicht vorhanden ist. An die Konventionen des Theaters gewöhnt, kann das Publikum nicht umhin, sich als Eindringling aus der Vergangenheit oder Zukunft zu fühlen, wenn es mit einem Stück konfrontiert wird, das sich sichtbar an jemanden richtet, aber offensichtlich nicht an es selbst. Indem wir uns fehl am Platz und aus der Zeit gefallen fühlen, sind wir gezwungen, den Blick auf beide Kategorien zu lenken, das Zuschauen und die Zeit, und zu erkennen, dass diese mit einem herkömmlichen Verständnis eventuell nicht mehr zu bearbeiten sind. In diesem Kapitel diskutiere ich, wie Polleschs Interesse am Nichts und der Leere radikal verändert, wie er über den Menschen,

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das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum und jenes zwischen Theater und Welt nachdenkt. Wie ich zeige, erlaubt ihm die intensive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die Leere als Potenzial in sein Theater einzuführen, ohne notwendigerweise an Momenten katastrophaler Ereignisse festzuhalten, wie sie Müller, Jelinek und Schlingensief antreiben. Ich habe bereits in der Einleitung zu diesem Buch erwähnt, dass die Katastrophe bei Pollesch in den Hintergrund rückt, da sie seines Erachtens nach in der Gegenwart nicht mehr von Begriffen des ›Dramatischen‹ und ›Tragischen‹ losgelöst werden kann, wird sie doch im Kapitalismus (durch dessen Abhängigkeit von ihr) instrumentalisiert und in Hollywood, aber auch in den sozialen Medien kontinuierlich reproduziert. Pollesch kritisiert das affektive Regime, das der Kapitalismus und seine Sensationsgier kontinuierlich erzeugen. So zeigt er auf, dass Emotionen in der Gegenwart zu einem bloßen ›Mehrwert‹ mutieren, endlos wiederholt und damit vollkommen entleert werden.4 Wenn Pollesch schließlich einen Abschied von der Tragödie fordert, gibt er diese dennoch nicht einfach auf, sondern bringt, durch das Wiederholen tragischer Gesten auf der Bühne, das Fehlen des Tragischen zum Vorschein: »Tragödie – dieser Begriff müsste für das Auditorium unbrauchbar gemacht werden. Die Zuschauer müssten merken, anhand eurer tragischen Geschichten, dass genau das fehlt.«5 Polleschs Theater konfrontiert mit jenen ›großen Emotionen‹, mit denen das heutige Publikum täglich in Form von Werbung, Hollywood und Nachrichtenberichten konfrontiert wird – v. a. der falsche Begriff von Liebe und Geliebtwerden, deren Gegenteil die Depression und die schmerzhafte Einsamkeit sind, dominieren sein Theater –, um sie als völlig hohl zu entlarven. Auf diese Weise zeigt er, dass wir den großen Gefühlen, wie sie die klassische Tragödie prägen, nicht mehr trauen dürfen. Daher werden die Gefühle, die bei ihm auf der Bühne artikuliert werden, auch stets von einem Ausdruck der Gleichgültigkeit begleitet und konterkariert. Denn Pollesch ist überzeugt, dass nur die Gleichgültigkeit in hochgradig affektgeladenen kapitalistischen Gesellschaften Freiheit verspricht. Diese Gleichgültigkeit geht zugleich mit der radikalen Infragestellung der vorherrschenden Auffassungen vom Selbst und dem Anderen, aber auch vom Menschen an sich einher. Hier werden einmal mehr die Naturwissenschaften zu einem wichtigen Bezugspunkt, um die Kategorie ›Mensch‹ sowie das Verhältnis zwischen Selbst und Anderem zu be- und hinterfragen. Mit der Hinwendung zu den Naturwissenschaften macht sich Pollesch Brechts Überzeugung zu eigen, dass sich das Theater mit

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den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaften auseinandersetzen müsse, wenn es eine Zukunft haben und einen Beitrag zu einer zukünftigen Gesellschaft leisten will. Dies wird in Polleschs poetologischem Text Der Schnittchenkauf (2011 – 2012) deutlich, der Brechts unvollendet gebliebenes theoretisches Werk Der Messingkauf paraphrasiert.6 Darin nimmt Pollesch ausdrücklich auf Brechts Unterscheidung zwischen dem K-Typus und P-Typus des Theaters Bezug, die er deutlich adaptiert, wenn er von R-Dramatik und D-Dramatik spricht. Während sich Brecht von Konstellationen wie dem Karussell und dem Planetarium inspirieren lässt, unterscheidet Pollesch zwischen dem Repräsentationstyp und dem Darwin-Typ des Theaters. Weitaus deutlicher als Brecht stellt Pollesch hier das bürgerliche Repräsentationstheater einem wissenschaftlichen Theater gegenüber, das er ganz dezidiert mit Darwin in Verbindung bringt. Dies mag im ersten Moment verwundern, wird doch Darwins Lehre oftmals auf die simple Formel des ›Überlebens des Stärkeren‹ reduziert, die sich mit Polleschs Theater nicht in Einklang bringen ließe. Pollesch aber macht auf eine andere Lesart Darwins aufmerksam: Mit der Hinwendung zu Darwin ersetzt Pollesch Brechts Fokus auf die Methode der distanzierten Beobachtung, wie er sie in den Naturwissenschaften vorfindet, durch das Bewusstsein um die Veränderlichkeit als das grundlegende Wesen von allem, was ist und noch sein könnte. Anders formuliert verlagert Pollesch seinen Fokus auf die Leere, die auch der ontologische Ausgangspunkt in Darwins Der Ursprung der Arten ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die wissenschaftliche Beobachtung gar keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil bleibt sie eine zentrale Erkenntnismethode, wird bei Pollesch jedoch grundlegend anders gedacht – nämlich nicht mehr als distanzierte Betrachtung klar definierter, stabiler Objekte, sondern als Teil eines ineinander verwobenen, intra-­aktiven Phänomens, das im Moment der Beobachtung erst seine Objekte erzeugt, indem es sie bestimmbar macht. Dieses Kapitel arbeitet sich durch die wichtigsten Ebenen von Polleschs ›Theater der Leere‹ und der Integration der Naturwissenschaften in dieses Theater. Zunächst widme ich mich seinem frühen Interesse für die Arbeiten von Donna Haraway, die ihm erlauben, den Begriff des Menschen im Theater infrage zu stellen. Die Auseinandersetzung mit Haraway ist für Polleschs Kritik am Drama und Repräsentationstheater entscheidend, da er auf Grundlage ihrer Abwendung von der kritischen Praxis der Reflexion hin zur ›Beugung‹ (diffraction) das Theater von innen heraus umarbeitet. Darauf aufbauend erläutere ich, wie Darwin in die Diskussion eintritt, und erkläre, warum gerade er zu einem wichtigen Bezugspunkt für Polleschs Theater wird. Im 180


Was sehen wir, wenn ein Mensch auf die Bühne tritt?

zweiten Teil konzentriere ich mich dann auf Polleschs Hinwendung zur Quantenphysik und zeige, dass er hier Ansätze findet, um das Theater als Institution, die vordefinierten Regeln folgt und Normen reproduziert, anstatt eine Leere zu eröffnen, aus der das Unbestimmte und Singuläre hervorgehen kann, infrage zu stellen. Hier wird Barad wichtig, die zeigt, dass die Quantenphysik ein q ­ ueering solcher Normen erlaubt, da sie die Natur als queer, monströs und widerspenstig offenbart. Ich beziehe mich v. a. auf ihre Interpretation des Doppelspaltexperiments, das eng mit dem Begriff der ›Beugung‹ bei ­Haraway verbunden ist – den Barad jedoch noch einmal deutlich erweitert und zur Grundlage einer neuen Ontologie und Epistemologie macht ­ ollesch das (›Ontoepistemologie‹7). Schließlich diskutiere ich, wie P politische Theater in der Tradition von Brecht neu erfindet, wie sich sein ›Darwin-Theater‹, das aus dem Nichts kommt, konkret gestaltet und welche Beziehung zur Welt es einnimmt. Was sehen wir, wenn ein Mensch auf die Bühne tritt?

Pollesch hat sich wiederholt gegen die Gleichsetzung des Theaters mit der historischen Form des Dramas und seine an das Auge gebundene Darstellungsweise gewandt, da dies eine bestimmte Vorstellung vom Menschen zementieren und das Theater als anthropozentrischen Raum definieren würde. Er kritisiert das Drama als eine Kunstform, die das universelle Wesen und die Wahrheit der menschlichen Natur zu erforschen sucht. So reduziert es, wie er argumentiert, den Menschen auf die Kategorien von Seele und Geist, ohne die materielle Realität aller Lebewesen zu berücksichtigen. Während das konventionelle Drama und bürgerliche Repräsentationstheater in seinem Festhalten an der Vorstellung einer universellen menschlichen Natur an der (Re-)Produktion von Normen, in deren Mittelpunkt der weiße, heterosexuelle, körperlich gesunde Mann der Mittel- und Oberschicht steht, beteiligt ist, sucht Pollesch nach einer neuen theatralen Praxis, die über eine Metaphysik des Menschlichen hinausgeht. Pollesch tut das auf eine für das Publikum durchaus überraschende und provokante Weise: Er lässt die Darsteller:innen auf der Bühne über ihre Körper wie über lebende Organismen sprechen und verunmöglicht es damit, sie lediglich als verkörperten Geist wahrzunehmen. Diese Verschiebung der Perspektive auf das Menschliche geschieht durch die intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Donna Haraway, allem voran ihre Rekonzeptualisierung des Menschen im Verhältnis zu anderen Arten, wie sie sie in When Species Meet, Modest_Witness und Staying with the Trouble vornimmt.

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Pollesch begann bereits 2005, sich mit Haraways Werken zu beschäftigen;8 ihre Arbeiten wurden von da an oftmals zum Ausgangspunkt seiner Stücke. So bezog er sich auch in einigen seiner späten Arbeiten wie (Life on Earth Can be Sweet) Donna (2019) und Passing (2020) immer noch dezidiert auf Haraway und markierte damit einmal mehr die enge Verwandtschaft zwischen Haraways Denken und seinem Theater. Dieser Zusammenhang lässt sich jedoch keineswegs auf jene Arbeiten reduzieren, die explizit Bezug zu ihr herstellen. Vielmehr muss Polleschs Theater, das Haraways Argumente ebenso in komödiantische Kontexte übersetzt, wie es spielerisch die Möglichkeit eines Dialogs zwischen Mensch und Nicht-Mensch befragt, als durch und durch von Haraways Denken durchzogen verstanden werden. Eine zentrale Rolle kommt dabei ihrer Figur der string ­figures (›sf‹) zu, die eine Vielzahl an Modi und Praktiken umfasst – z. B. Science-­Fiction, spekulative Erzählung (speculative fiction) und die spielerische Praxis der artenübergreifenden Welterzeugung. Während Polleschs Interesse an Science-Fiction erst in seinen letzten Lebensjahren konkret sichtbar wurde, haben andere Praktiken, die Haraway unter ›sf‹ subsumiert, sein Theater seit seinen frühen, erfolgreichen Aufführungen in den 2000er Jahren an der Berliner Volksbühne geprägt, insbesondere ihr Denken von Differenz und Alterität im Sinne der ›­Beugung‹ (­diffraction). Haraway greift die Metapher der Beugung auf, um jenes Denken herauszufordern, das sie in der westlichen Welt als fest etabliert erkennt – ein Denken, das sie über das physikalische Konzept der ›Reflexion‹ fasst, um Kritik an der Bedeutung der Repräsentation im westlichen Denken zu üben: Während bei der Reflexion Licht zurückgeworfen wird (etwa bei einem Spiegel), bezeichnet die ›Beugung‹ eine Lichtstreuung und betont damit eine komplexere Beziehung zwischen Selbst und Anderem. Dass Pollesch diese Metapher für seine Kritik am Repräsentationstheater fruchtbar macht, verwundert nicht, wird das Drama bzw. das bürgerliche Repräsentationstheater doch oft als ›Spiegel der Welt‹ begriffen. Jack Davis hat überzeugend argumentiert, dass Haraways Denken erstmals mit Cappuccetto Rosso (2005) Einzug in Polleschs Theater hält. Das ist insofern interessant, als es sich bei Cappucetto Rosso um das erste Stück von Pollesch handelt, das seine Kritik am Repräsentationstheater dezidiert mit einer Kritik am Begriff des ›Menschen‹ und an der Mensch-Nichtmensch-Dichotomie verbindet. In diesem Stück wird der Fokus auf die Körper der Schauspieler:innen gelenkt – wobei der Begriff des K ­ örpers hier jedoch nicht als Einheit verstanden wird, sondern als Assemblage nicht-­menschlicher

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Kräfte.9 So spricht die Schauspielerin Caroline Peters in diesem Stück darüber, dass ihr Körper von einem Pilz zerfressen wird, woraus sie die Erkenntnis gewinnt, dass das, was die Rezipient:innen sehen, wenn sie vor ihnen auf der Bühne steht, nicht ›der Mensch‹, sondern ein Organismus ist. Wie Haraway zeigt, denkt die Beugung den Anderen weder als Gleichen noch als radikal Anderen, sondern etabliert ein Denken im Sinne des Einfädelns und Durchgehens durch den/das Andere/n.10 Diese Neukonzeptualisierung von Differenz über den Begriff der Beugung erlaubt es Haraway schließlich, das westliche Denken infrage zu stellen und eine Umarbeitung zu fordern: »[R]eflexivity has been much recommended as a critical practice, but my suspicion is that reflexivity, like reflection, only displaces the same elsewhere, setting up worries about copy and original and the search for the authentic and really real.”11 Die Tatsache, dass die Beugung jede Vorstellung eines ›Originals‹ demontiert, ist im Kontext von Polleschs Theater von besonderer Bedeutung, da er Praktiken wie Fragmentierung, Sampling und Collage verwendet, die seine Stücke zu komplexen Arrangements aus Zitaten der Popkultur, Hollywoodfilmen und Theorie machen. Diese Praxis wurde in den letzten Jahren vermehrt mit der Postmoderne in Verbindung gebracht und als Verfahren einer Kunst kritisiert, die ihren Bezug zur Welt verloren habe.12 Mit Haraway gelesen kann Polleschs Sampling jedoch als etwas anderes verstanden werden als bloßes postmodernes Spiel, nämlich als kritische Praxis in einer komplexen, verschränkten Welt. Pollesch stellt das Drama und das Repräsentationstheater als Formen infrage, die eine kritische Praxis der Reflexion fördern und dadurch gewaltsam all jene/s ausschließen, die/das nicht in der westlichen Konzeptualisierung ›des Menschen‹ inkludiert sind/ist. Konkret betrifft diese Kritik die Konzeptualisierung des Theaters als moralische Anstalt in der Tradition Lessings und Schillers: Der Begriff von Mimesis, der darin entwickelt wird, beziehe sich ausschließlich auf die menschliche Welt und bleibe daher auf soziale Konflikte beschränkt. Polleschs Theater bricht mit einem solch bürgerlichen Dramenverständnis und versucht stattdessen, die Verstrickungen von Menschlichem und Nicht-Menschlichem zu bearbeiten. So zitiert Pollesch Schillers berühmte Rede »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« (1784), um sie schließlich radikal umzuschreiben:13 Gewollt wird das Theater als moralische Anstalt oder als konservierende Rückbesinnung oder als Medium der humanen Werte

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in der Gesellschaft. Dabei wird aber total verpasst oder, wenn man so will, gewollt verpasst, das Menschliche in Frage zu stellen und zu problematisieren, ob der Mensch oder die Realität mit den Kategorien der Humanität überhaupt noch zu bearbeiten ist. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit der Moral der Käfer oder der der Affen?14 Pollesch insistiert, dass mit diesem Denken gebrochen werden muss, beruht es doch ausschließlich auf universellen Kategorien der Menschlichkeit und des Menschen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er eine antihumane Perspektive einnimmt; vielmehr geht es ihm darum, die Aufmerksamkeit auf konkrete Beziehungen zu lenken, die sich laufend zwischen Mensch und Nicht-Menschlichem neu konfigurieren, anstatt in Begriffen universeller Essenz und Wahrheit zu denken. Polleschs Theater bricht also mit dem Verständnis des Menschen als einer mit ›Essenz‹ oder ›Substanz‹ ausgestatteten Entität und begreift ihn stattdessen als unbestimmtes, uneinheitliches, ständig in Transformation befindliches Wesen. In ähnlicher Weise wendet sich sein Theater gegen die Vorstellung, dass die Welt aus bereits existierenden, unabhängigen Entitäten besteht, und betont stattdessen, dass sie sich durch Beziehungen und das Zusammentreffen von Materie und Bedeutung konstituiert. So ist es nicht verwunderlich, dass Charles Darwin für Polleschs Theater eine wichtige Rolle spielt. Pollesch verkürzt Darwins Theorie nicht – wie es sich heute etabliert hat – auf das Konzept des ›Überlebens des Stärkeren‹, sondern betrachtet ihn als Vordenker der Wandlungsfähigkeit. Insofern ist Pollesch hier deutlich von der neueren Darwin-Forschung inspiriert, die zum Anlass des 200. Geburtstags des Biologen erschienen ist – insbesondere von der Studie ­Darwin und Foucault (2009) des Historikers Philipp Sarasin, die in seinem Schnittchenkauf immer wieder als Inspirationsquelle kenntlich wird.15 In dieser Studie stellt Sarasin Darwin als einen Schlüsselphilosophen vor, der jede stabile Unterscheidung zwischen Natur und Kultur und ein Denken des Seins in Begriffen von Essenz und Substanz radikal infrage stellt. Stattdessen, so Sarasin, findet Darwin Geschichtlichkeit in der Natur, da er biologische Evolution und Kultur als untrennbar miteinander verbunden begreift, findet sie doch im Spannungsfeld von Determination und Kontingenz, von bewusster Arbeit und Zufall statt.16 Für Polleschs Theater ist diese neue Lesart Darwins von entscheidender Bedeutung, da sie das Denken des Menschen und anderer Arten als determinierte Wesen unterläuft. Daher adaptiert er ­Darwins 184


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Absage an so etwas wie vorbestimmte Merkmale einer Art, um sich damit auch von jeder Form der Vorbestimmung des Theaters zu verabschieden und den Fokus auf das materielle Sein und Werden des Menschen zu richten: Es gibt hier nichts zu bereden und nichts mitzuteilen als Körper, Körper, Körper. Und wenn wir hier Seele sagen, sagen wir nur Seele wegen dem Körper, die ist der Körper, das da vor uns! Es gibt nichts da drinnen, was auf das Kratzen an der Haut als Hoffnung aufspringt. Das Kratzen ist draußen. Ja, ich weiß, du würdest gerne vom Kratzen an deinem Körper auf ein Inneres schließen, und dir ein Drama erzählen, das du für dein Leben hältst, ja, ich weiß. Aber es gibt kein Drama.17 Auch hier zeigt sich, dass Pollesch sich gegen das Drama als eine Kunstform wendet, die von universeller Essenz und Wahrheit der menschlichen Natur ausgeht und den Menschen auf Konzepte von Seele und Geist reduziert. Stattdessen wendet er sich dem Körper und der materiellen Seite des Menschen zu, um in der Folge Darwins Hinwendung zur Veränderlichkeit und Plastizität – anstelle wesenhafter Stabilität – in seinem Theater zu adaptieren. Darwin wird damit also zur Grundlage seines Theaters, das die Leere im Sinne einer quasi-­ unendlichen Möglichkeit struktureller Veränderung erforscht, die gerade durch Abwesenheit jeglicher Vorbestimmung entsteht. In Schnittchenkauf schlussfolgert Pollesch, dass wir, wenn wir Darwins Theorie folgen, radikal überdenken müssen, wie wir miteinander kommunizieren. Denn bisher beruhen alle etablierten Formen des Gesprächs auf der falschen Annahme eines universellen menschlichen Wesens. Darwins Theorie erlaubt es Pollesch somit, ein auf Dialog basierendes Theater infrage zu stellen. Ja, mehr noch: Er bildet die Basis, um entscheidende Grundannahmen des Dramas zu hinterfragen und uns in eine Sphäre der Ungewissheit zu stürzen: Die Ähnlichkeit unserer Körper bildet keine Grundlage für eine gelungene Konversation. Es könnte nämlich sein, dass, wenn jemand eine Geschichte erzählt, ein Körper dem anderen, dass es nur die eine Hand versteht, und die andere kann der Geschichte nicht folgen. […] Die eine Hand kann auch nicht aus der Ähnlichkeit zur anderen Hand irgendein Verständnis ableiten. Und wenn man sie sich genauer ansieht, sind sie sich auch gar nicht ähnlich.18

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V Darwin-Theater

Ohne zu beantworten, wie ein auf Darwin basierendes Theater konkret aussehen könnte, setzt Pollesch hier ex negativo bei der Feststellung an, was ›Darwin-Theater‹ nicht ist bzw. welche Art des Denkens darin aufgegeben werden muss. Es denkt Beziehung und Kommunikation neu, da es nicht mehr davon ausgeht, dass Kommunikation funktioniert, dass eine Nachricht bei dem ihr zugedachten Empfänger ankommt und entschlüsselt werden kann. Darüber hinaus stellt Pollesch infrage, ob Empathie wirklich die Grundlage sein sollte, um eine Beziehung zu einem Anderen aufzubauen, und entlarvt das Verdikt der Einfühlung, wie es Lessing für das deutsche Theater etabliert, als falsch. Ebenso kritisiert er die Notwendigkeit des Theaters, Geschichten zu erzählen, um zu berühren und Gefühle zu erregen, wie es Aristoteles in seiner Poetik formuliert. Stattdessen fordert er ein Theater, in dem die Rezipient:innen durchaus gleichgültig bleiben können, aber gleichzeitig offen für sinnvolle Beziehungen sein müssen.19 Auch hierfür gibt er in Schnittchenkauf ein Beispiel, wenn er fordert, dass das Tragische unbrauchbar gemacht werden muss, weil es in falsche Versprechungen von durch Empathie und Einfühlung herbeigeführte Heilung verstrickt ist. Pollesch bezieht sich, um das zu veranschaulichen, auf eine Szene aus Hitchcocks Lifeboat: In dem Hitchcock-Film […] geht in den ersten fünf Minuten ein Schiff unter, sieht man Großaufnahmen von Wrackteilen, und dann einen Ozeanausschnitt, Treibholz und leblose Körper, und am Ende der Einstellung eben eine Frau im Rettungsboot, die von der tragischen Geschichte um sie herum völlig unberührt bleibt. Sie sieht stattdessen darauf, ob sich ihre Strumpfnaht ­verzogen hat.20 Pollesch adaptiert diese Haltung für sein Theater, für das er fordert: »Der Mensch auf der Bühne sollte ganz im Gegenteil auf den Trümmern einer tragischen Geschichte sitzen können, und er sieht unbeteiligt darauf, ob sich seine Strumpfnaht verzogen hat.«21 So ist er davon überzeugt, dass das Theater all seine zentralen Kategorien überdenken muss, wenn es in der Gegenwart wirksam werden will. Das betrifft freilich auch die Beziehung zwischen Bühne und Publikum. Denn wenn man akzeptiert, dass ›der Mensch‹ als universale Kategorie nicht existiert, muss auch das Konzept von ›dem Publikum‹ als ebenso universales Konzept verabschiedet werden. Stattdessen – und das ist der Ausgangspunkt von Polleschs Theater – müssen wir Körper als vielseitige, sich an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Raum

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Quantenphysik und Queerness

zu einem singulären Ereignis versammelnde Assemblage anerkennen und ihre intra-organismischen Beziehungen ernst nehmen. Das ist Polleschs Ausgangspunkt, von dem aus er erprobt, was es bedeuten könnte, Theater als ›Darwin-Theater‹ neu zu erfinden. Quantenphysik und Queerness

Während Verweise auf die Biologie in Polleschs Theater zahlreich sind, nimmt die Quantenphysik eine weitaus geringere Rolle ein und wurde daher auch von der Forschung bislang außer Acht gelassen. Diesen Bezügen zur Quantenphysik Aufmerksamkeit zu schenken, ist jedoch wichtig, da sie für ein Verständnis von Polleschs Theater nicht weniger zentral sind als seine Auseinandersetzung mit biologischer Forschung. Vielmehr stellt sie für ihn die Grundlage dar, ein Theater zu entwickeln, das die Welt abseits normativer Kategorien in ihrer Seltsamkeit, Monstrosität, und Obszönität bearbeiten kann. Um zu begreifen, was die Quantenphysik für Polleschs Theater bedeutet, wende ich mich noch einmal Probleme Probleme Probleme zu, um an diesem Beispiel en détail aufzuzeigen, wie er inspiriert von quantenphysikalischen Konzepten Theater neu denkt. Die Eröffnungsszene von Probleme Probleme Probleme, die ich bereits zu Beginn dieses Kapitels besprochen habe, etabliert ein Schema, das nur schwer zu verstehen ist: Die Bühnenarchitektur besteht aus einer zentralen, ihre gesamte Breite umspannenden Holzwand, die große Teile der Bühne für das Publikum verbirgt; darin sind zwei Öffnungen bzw. Tore eingelassen, durch die drei Schauspielerinnen wiederholt hindurchgehen.22 Diese Portale sind die einzigen Öffnungen, die den vorderen Teil der Bühne mit dem hinteren, für das Publikum zumindest im ersten Drittel der Aufführung unsichtbar bleibenden Teil verbinden. Doch nicht nur durch diese paradoxe Konstellation wird Irritation hergestellt: Die Schauspielerinnen wenden sich weder an das Publikum, noch schenken sie ihm Aufmerksamkeit; sie wiederholen lediglich immer wieder die gleiche Handlungsabfolge – Auf- und Abtritt durch die Portale – und rezitieren dabei auch stets dasselbe Gespräch. Das Geschehen scheint in einer Endlosschleife gefangen zu sein. Die Dynamik der Szene ändert sich schließlich aber minimal, wenn zwei weitere Darstellerinnen, Sachiko Hara und Bettina Stucky, zu den anderen drei dazustoßen. Nun beginnen alle fünf in immer neuen Variationen, gleichzeitig durch beide Portale zu ­treten, während sie das Gespräch, das wir bereits vom Beginn der Szene kennen, in immer leicht variierender Form wiederholen. Da sie alle

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schwarz-weiße Kleidung tragen, entsteht im Zusammenspiel ihrer Körper jedes Mal, wenn sie sich durch die Portale bewegen, ein neues ­Muster. Für die Zuschauer:innen ist es freilich schwer, sich in dieser Eröffnungsszene zurechtzufinden und der Langeweile zu trotzen, die sich bei den abermaligen Wiederholungen wohl zwangsläufig einstellt. Und doch sticht ein Aspekt hervor, nämlich Marie Rosa Tietjens Beschwerden über die ›Doppelvorstellungen‹, die sie spielen muss. Diese Aussage wirft nicht nur Fragen auf, weil unklar bleibt, was damit gemeint ist, sondern Tietjens Klagen suggerieren zudem, dass wir hier der Background-Szene eines Stückes beiwohnen, das gerade – auf der anderen Seite der Bühne – passiert oder eventuell schon vorbei ist. Die daraus entstehende Ungewissheit löst sich erst auf, wenn Sophie Rois und Sachiko Hara eine alternative Perspektive auf die Szene anbieten, die den Bereich des Theaters verlässt und den Abend stattdessen in die Nähe der Quantenphysik rückt. M: Wisst ihr, ich bin ganz schön fertig. Diese Doppelvorstellungen machen mich ganz schön fertig. Und ich kann mich nicht erinnern, ob ich das nicht heute schon mal gesagt habe. S: Was denn? M: Na, das hier. A: Sagt mal, schiel ich oder sind das zwei Bühnen? M: Du hast es doch gehört. Es war eine Doppelvorstellung. [...] S: Wir haben die Doppelvorstellung gleichzeitig gespielt? Hört mal! Wir sind hier nicht im Theater, wir sind in einem … H: Sie hatte recht! Wir waren nicht in einem Theater, sondern im wichtigsten Experiment der modernen Physik. Dem Doppelspaltexperiment. Natürlich wusste keiner, wie wir da hineingeraten waren. S: Ja. Es war merkwürdig. Wir waren mitten in einem E ­ xperiment. Etwas, womit ich im Theater eigentlich nichts zu tun haben wollte. Aber es war immerhin das Doppelspaltexperiment. Ein einfaches Experiment mit Licht eröffnete uns vor 100 Jahren, dass Logik nicht überall anwendbar ist: und wir waren mittendrin. Wir wussten nicht, wann es angefangen hatte. Vielleicht lief es schon ewig.23 Mit dem Doppelspaltexperiment führt Pollesch in der Tat eines der wichtigsten Experimente der modernen Physik in sein Stück ein. Es basiert auf einer relativ simplen Anordnung, nämlich zwei Wänden,

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die hintereinander positioniert sind. Die erste Wand ist mit parallelen Schlitzen versehen, durch die Licht geschickt wird, das auf die zweite Wand trifft und dort als schwarz-weißes Interferenzmuster (Beugung) sichtbar wird.24 Das Experiment wurde erstmals von Thomas Young im frühen 19. Jahrhundert durchgeführt und zeigte, dass sich Licht wie eine Welle verhält, während es zuvor als Teilchen verstanden wurde. Mit dem Aufkommen der Quantenphysik wurde das Experiment unentbehrlich, um das wesentliche Paradox der Quantenphysik zu beweisen, nämlich dass Dinge in mehr als einem Zustand gleichzeitig existieren können. So wurde belegt, dass sich Licht nicht nur wie ein Teilchen verhält, d. h. von einer Oberfläche abprallt, sondern auch wie eine Welle, d. h. sich bricht, wenn es auf ein Hindernis trifft und ein Interferenzmuster erzeugt. Der Bezug auf das Doppelspaltexperiment in Probleme Probleme Probleme geht über eine naive Adaption eines physikalischen Experiments für die Bühne hinaus und benennt eines der wichtigsten Funktionsprinzipien von Polleschs ›Theater der Leere‹, da es ermöglicht, das Paradox der Quantenphysik ins Theater einzuschreiben. Während die Verwendung der Holzwand mit den beiden Portalen das Doppelspaltexperiment ins Bühnenbild überträgt, übersetzt der Rest der Inszenierung das paradoxe Quantenphänomen, in mehr als einem Zustand gleichzeitig zu existieren, in verschiedene Konstellationen, die uns mit einem ebenso paradoxen Zustand konfrontieren: Der sichtbare vordere Teil der Bühne wird durch die Art und Weise, wie die Schauspielerinnen darüber sprechen und wie sie hier agieren, als Backstage-Bereich einer für die Zuschauer:innen unsichtbar bleibenden Bühne präsentiert, während sie zugleich auch als Bühne jener Aufführung fungiert, die sich ihnen darbietet. Die beiden Portale sind also verbindendes und trennendes Element, das die Bühne in eine linke und rechte Seite, eine vordere und hintere unterteilt. Auf diese Weise verschwimmen die normalerweise klar getrennten Bereiche von Bühne, Backstage und Zuschauerraum. In diesem Stück ist jeder Auftritt zugleich auch ein Abtritt. Was auch immer passiert, vollzieht sich in verschränkter Form und konstituiert mehrere Realitäten zugleich. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die Schauspielerinnen tatsächlich in einer ›Doppelvorstellung‹ gefangen zu sein scheinen, behaupten sie doch, zugleich Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn und William Shakespeares Sommernachtstraum zu spielen. Dies wird zusätzlich verkompliziert, indem z. T. tatsächlich Passagen aus den Stücken gesprochen werden, die gesamte Aufführung zugleich aber auch als Probe markiert wird, wie

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sich etwa daran zeigt, dass Sophie Rois wiederholt die Rolle der Regisseurin einnimmt. In all diesen Ungewissheiten, mit denen das Publikum hier konfrontiert wird, fällt in einem Gespräch, das die Un/Möglichkeit einer romantischen Beziehung thematisiert, ein eigenwilliger Satz: »Ich kann mir das mit Newton wirklich nicht mehr erklären, das hier zwischen uns.«25 Diese Zeile ist mehr als nur eine witzige Übertragung einer physikalischen Metapher auf das Soziale. Was hier angesprochen wird, ist der radikale Bruch mit der konventionellen Newton’schen Physik und der Beginn einer Welt, die nur noch im Sinne der Quantenphysik lesbar ist. Indem der Satz über die konkrete Liebesbeziehung hinausweist und v. a. auch autoreflexiv den Theaterabend selbst kommentiert, wird markiert, dass es sich bei Probleme Probleme Probleme um eine radikale Umwandlung der theatralen Form in der Quantenwelt geht. Dies zeigt sich an Polleschs diffraktiver theatraler Praxis: Sie wird nicht mehr, wie bei Haraway, durch die Metapher des Spiegels gedacht – die immer noch von Reflexion oder Beugung ausgeht –, sondern durch das Doppelspaltexperiment, bei dem das ›Oder‹ dem paradoxen Status weicht, mehr als eines zugleich sein zu können. Was hier also angekündigt wird, ist die Verschiebung von stabilen Kategorien und Festlegungen (Newton’sche Physik) zu Fluktuation, Queerness und Unbestimmtheit (Quantenphysik). Barads Behauptung, die Quantenphysik habe eine neue ›Ontoepistemologie‹ hervorgebracht, die nicht in Wesen und Substanz, sondern in der Unbestimmtheit verankert sei, stützt sich auf das Doppelspaltexperiment, das die Entwicklung der Quantenphysik als Feld ermöglichte. Wie Barad argumentiert, ist das Doppelspaltexperiment interessant, da es zwei radikal konträre Positionen vereint: In der klassischen Newton’schen Physik ist das Doppelspaltexperiment die »ultimative ontologische Sortiermaschine«26, die stabile Grenzen zwischen Wellen und Teilchen zieht. Barad argumentiert jedoch auf Grundlage der Quantenphysik, dass das Doppelspaltexperiment radikal anders funktioniert, da es die Kontingenz und Veränderlichkeit von Identität offenlegt. Ausgehend von dieser Interpretation bezeichnet sie die Beugung als ein ›seltsames‹ Phänomen, das Dinge nicht mehr trennt oder sortiert, sondern stattdessen Fluidität betont, da es die kontinuierliche Bewegung des Durcheinander-Hindurchgehens, ­Entflechtens und Unterscheidens meint, die Barad als ein cutting together-apart beschreibt.27 Hier zeigt sich eine wichtige Verbindung zu Polleschs Theater, der das Drama und bürgerliche Repräsentationstheater ebenso als ›­Sortiermaschine‹ begreift. So sucht er wie Barad nach einer

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Möglichkeit, diese Sortiermaschine von innen heraus in eine fluide, queere Praxis umzuarbeiten, um auf diese Weise endgültig über eine Logik hinauszugehen, die bestehende Normen endlos reproduziert: Ich glaube, Theater darf kein Ort sein, in dem vor allem »Gesunde« zu Wort kommen. Was man so gesellschaftlich »gesund« nennt. Im Theater kommen dann meistens nur Versuche heraus, das zu repräsentieren und weiter zu zementieren, was die Gesellschaft als »gesund« ausgibt. Heterosexualität, Leistungsfähigkeit und so weiter.28 Pollesch zeigt an einem konkreten Beispiel, wie sehr das konventionelle Theater in der Reproduktion von Normen gefangen ist. Hierzu verweist er auf die simple Regieanweisung ›Ein Mann tritt auf‹, die bereits ausreicht, um die normalisierende Funktion des bürgerlichen Repräsentationstheaters zu offenbaren: Der Satz wird, so Pollesch, im konventionellen deutschsprachigen bzw. westlichen Theater automatisch so verstanden, dass ein weißer, heterosexueller, able-bodied etc. Mann auftritt. Sollte ein anderer Körper auf der Bühne sichtbar werden, müsse dies explizit gekennzeichnet werden, indem entsprechende Adjektive zur Explikation von Geschlecht, race etc. hinzugefügt werden.29 Dieser ständigen Reproduktion von Normen im Theater will Pollesch entgegenarbeiten – und dem Doppelspaltexperiment kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Um nun besser zu verstehen, inwiefern es nicht nur eine Art ›Sortiermaschine‹ ist, sondern Queerness und Fluidität offenbart, wende ich mich noch einmal Barad zu, die ihre Interpretation des Experiments mit ­Haraways Kritik am westlichen Denken zusammenbringt: Performative approaches call into question representationalism’s claim that there are representations, on the one hand, and ontologically separate entities awaiting representation, on the other, and focus inquiry on the practices or performances of representing, as well as the productive effects of those practices and the conditions for their efficacy.30 Barads performativer Ansatz hat zwei wichtige Implikationen für das Verständnis von Differenz: Erstens stellt er die Repräsentation – den Spiegel – infrage, der Identität und Differenz als Konzepte mit absoluten Grenzen auffasst. Anstatt den Anderen als ein ›Nicht-Ich‹ zu betrachten, das das ›Selbst‹ im Sinne einer Reflexion oder eines

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Spiegels stabilisiert und aufrechterhält, erlaubt die Beugung das Erscheinen von – und hier bezieht sich Barad auf Haraway und ihre Übernahme einer Formulierung der Filmemacherin und Theoretikerin Trinh Minh-ha – ›unangemessenen Anderen‹, die nicht durch Differenz fixiert werden können.31 Wenn Entitäten keine klaren Grenzen haben, wird der Blick auf die Praktiken der Differenzierung und Bestimmung gelenkt. Um diese näher zu beleuchten, wendet sich Barad dem Physiker Niels Bohr zu, der auf quantenphysikalischer Grundlage bewiesen hat, dass Messung und Beobachtung selbst Teil dessen sind, was sich temporär als Entität herausbildet: [T]here aren’t little things wandering aimlessly in the void that ­possess the complete set of properties that Newtonian physics assumes [...]; rather, there is something fundamental about the nature of measurement interactions such that, given a particular measuring apparatus, certain properties become determinate, while others are specifically excluded. Which properties become determinate is not governed by the desires or will of the experimenter but rather by the specificity of the experimental ­apparatus.32 Unter Referenz auf Bohr gibt Barad jede Annahme bereits existierender, individueller Entitäten auf und spricht stattdessen von einem Werden von Entitäten in ihrer gegenseitigen Relationalität. Barads Interpretation des Doppelspaltexperiments entwickelt daher konsequenterweise ein Verständnis des Seins, das nicht mehr in Essenz und Substanz gefangen, sondern in Unbestimmtheit und Veränderlichkeit verankert ist. Damit konzeptualisiert sie im Bereich der Quantenphysik eine Ontologie der Leere, die Darwins Theorie durchaus ähnlich ist, jedoch noch einen Schritt weiter geht, da sie auch die Position des:der Beobachtenden berücksichtigt. Die Radikalität von Barads Diskussion der Beobachter:innenposition liegt darin, dass sie deutlich über jene Ansätze hinausgeht, die zwar darauf insistieren, dass Beobachter:innen immer in das Beobachtete eingreifen, aber letzten Endes immer noch eine bereits existierende, individuelle Entität voraussetzen, indem sie dem Denken im Sinne einer Intervention verpflichtet bleiben. Barad hingegen argumentiert, dass sich Beobachter:innen und das Beobachtete im Moment der Beobachtung gegenseitig konstituieren. Um diesen Unterschied zu markieren, spricht sie auch nicht mehr von Beobachter:innen und Beobachtetem, sondern zieht den Begriff der Apparatur heran. Dieser bezeichnet nicht das Instrument der Beobachtung; viel-

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mehr sind Barads Apparate »[S]pecific material configurations, or rather, dynamic (re)configurations of the world through which bodies are intra-actively materialized.«33 Wie genau allerdings können wir uns diese gegenseitige Konstituierung vorstellen? Aufbauend auf Bohrs ›Komplementaritätsprinzip‹34 zeigt Barad, dass Apparate auf Grundlage von Ausschlüssen funktionieren: Obwohl Phänomene in mehr als einem Zustand gleichzeitig agieren können, so Bohrs Prinzip, kann zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur einer davon beobachtet werden. Daher ist es auch nicht möglich, alle Größen bei der Beobachtung zu determinieren. Vielmehr sind die a priori bestimmten Größen komplementär zu den unbestimmt bleibenden Größen und vice versa.35 Während diese Unmöglichkeit, alle Größen zu bestimmen, dazu veranlassen kann, metaphysische Annahmen zu machen, argumentiert Barad, dass wir die tatsächlichen experimentellen Bedingungen in den Blick nehmen müssen und hinterfragen sollten, wie wir Bedeutung erzeugen. Ein solcher Zugang denkt Differenz nicht mehr als absolute Grenze zwischen Objekt und Subjekt, hier und dort, jetzt und dann, sondern als einen Effekt von Ausschlüssen, die durch eine spezifische Konstellation der Apparatur erzeugt werden. In diesem Zusammenhang spricht Barad von dem bereits erwähnten cutting together-apart, das keine absoluten Trennungen hervorbringt, sondern Verflechtungen, die ständig neu konfiguriert werden.36 Das Bohr’sche Komplementaritätsprinzips erlaubt es Barad, die politische Dimension ihres performativen Ansatzes hervorzuheben. So weitet sie ihre Analyse auf den Bereich des Sozialen sowie auf die Kategorien von Geschlecht, Klasse, Ethnizität und race aus und argumentiert, dass auch diese weder determiniert noch als Eigenschaften von Einzelpersonen zu verstehen sind, sondern stets in einem diskursiv-­materiellen Werden verstrickt sind. Mit Bezug auf Judith Butlers Analyse unterschiedlicher Praktiken der Hervorbringung des Nicht-/Menschlichen konstatiert Barad: »[A]ny proposal for a new political collective must take account of not merely the practices that produce distinctions between the human and the nonhuman but the practices through which their differential constitution is produced.«37 Bei Barad rückt also das ›Durch‹ – die Begegnung, das Zusammentreffen und das Durchgehen von un/bestimmten Entitäten sowie deren Beziehungen – in den Mittelpunkt. Barads Aufmerksamkeit für die Position der Beobachter:innen und die radikale Umarbeitung eines Denkens im Sinne der ­Intervention hin zu einem Denken beständiger Ko-Konstitution eröff-

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net auch für das Theater neue Perspektiven und erlaubt es, besser zu verstehen, dass Pollesch die Beziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum bzw. Regisseur:in, Schauspieler:innen und Zuschauer:innen nicht mehr im bislang üblichen Sinne des Aktivierens und Intervenierens der Zuschauer:innen in das Bühnengeschehen denkt, sondern eher an deren Beziehungen und gegenseitiger Ko-Konstituierung interessiert ist. Das ist ein radikaler Schritt, denn selbst die experimentellsten Formen des politischen Theaters haben selten versucht, mit der Idee einer dem Publikum zu vermittelnden Intention des:der Regisseur:in zu brechen.38 Gerade in diesem Punkt macht Pollesch das Scheitern des politischen Theaters im Brecht’schen Sinne aus, bleibt dieses doch einem didaktischen Anspruch verpflichtet: »Dahinter steckt dieser Ernst der Linken, des linken heterosexuellen Mannes, der von der Barrikade aus dirigiert. Und das Publikum will den Unterweiser. Der von der Kanzel herab die Lesart von Kabale und Liebe oder Nathan der Weise predigt. Diese Hierarchie ist ja das Schlimmste überhaupt.«39 Polleschs Kritik an einer solch allmächtigen Position, mit ihrem Anspruch, das Publikum aufzuklären und zu aktivieren, beruht auf zwei Prämissen: Erstens entlarvt er, dass die didaktische Aufklärung und Aktivierung der Zuschauer:innen die Regeln und Normen des konventionellen Theaters nicht wirklich verändert, sondern bereits etablierte Normen nur verhärtet; denn beide Strategien basieren immer noch auf der Annahme, dass es ›das Publikum‹ gibt, das vom Regisseur adressiert und erreicht werden kann. Ein solches Theater zementiert die Position des:der Regisseur:in als Zentrum, anstatt sie zu demontieren. So fordert Pollesch in seinem Schnittchenkauf ein anti-illusionistisches Theater, das genau an diesem Punkt ansetzt, wenn es den Begriff von ›dem Zuschauer‹ ebenso aufgibt wie den Begriff ›des Menschen‹: [D]a könnte ein anti-illusionistisches Theater ansetzen. Es müsste sich damit auseinandersetzen, dass wir einen Zuschauer vor Augen haben, der der Inszenierung folgt, und dem, was die Theaterkünlster dort hergestellt haben, es aber sein könnte, dass dieser Zuschauer nicht mehr existiert. Auch nicht in einem vollbesetzten Haus.40 Pollesch legt das ganz ironisch dar, indem er – und hier wird klar, inwiefern Pollesch Brechts Messingkaufszene, die den Materialwert des Messings diskutiert, zum Schnittchenkauf umformt – uns einen Zuschauer vor Augen führt, der ins Theater geht, weil er gehört hat,

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dass dort Gratis-Schnittchen verteilt werden; und nicht um der Aktion auf der Bühne zu folgen. Damit zeigt er, dass der ideelle Zuschauer, der mit Erwartung und Bereitschaft der Geschichte auf der Bühne folgen und lernen will, eine zu eindimensional gedachte Illusion ist; der Zuschauer existiert schlicht und einfach nicht. Sein zweiter Kritikpunkt hat damit zu tun, dass er Aktivierung nicht mehr als einen bloßen Eingriff in das Bühnengeschehen verstehen möchte. Oder um es mit den Begrifflichkeiten von Barad zu sagen: Diese Art von Theater im Sinne des Intervenierens ist immer noch einem Denken von bereits existierenden, individuellen Einheiten verpflichtet. Pollesch ist sich jedoch bewusst, dass ein solcher Eingriff nicht weit genug geht. Daher ist sein Theater von dem Anspruch geprägt, den Fokus auf die Praxis des Werdens zu verschieben und das Theater als eine Apparatur sichtbar zu machen, in dem sich Publikum und Bühne gegenseitig konstituieren. Auf diese Weise versucht er, einen Raum ohne Eigenschaften und ohne Privilegien zu schaffen: In seinem Theater können sich ähnlich unbestimmte Wesen treffen und aus der gemeinsamen Erfahrung der Leere heraus verfolgen, wie Entitäten bestimmt werden, erscheinen und verschwinden und wie in diesem Prozess das Unvorhergesehene und Singuläre möglich gemacht wird. Ein Theater, das aus dem Nichts entsteht

Wie genau wird in Polleschs Theater ein solcher Raum möglich gemacht und wie prägt dies seine theatrale Praxis? Die Leere wird bereits im Probenprozess erzeugt, denn in Anlehnung an Brechts Konzeption seiner Lehrstücke als Theater ohne Publikum versteht Pollesch Theater nicht im Sinne der Erzeugung eines finalen Produkts, sondern als Prozess, der mit einem Publikum geteilt werden kann. So betont er die Ko-Produktion und die Ko-Kreation zwischen allen Elementen einer Aufführung, indem er das Theater als gemeinsame Arbeit und Praxis beschreibt. Das bedeutet schließlich, dass selbst wenn die Stücke vor Publikum aufgeführt werden, der Prozess ihrer Entstehung sichtbar bleibt. So etwa reflektieren die Schauspieler:innen auch während der Aufführung in Anwesenheit des Publikums den Probenprozess; oftmals werden sie dabei auch von einer Souffleuse begleitet, die im Theater sonst unsichtbar bleiben muss, um die Illusion auf der Bühne nicht zu stören. Indem Pollesch diese Verdrängung der Souffleuse in den unsichtbaren Bereich verweigert, wird nicht nur betont, dass die Texte, die von den Schauspieler:innen gesprochen werden, nie authentisch sind, sondern auch, dass es Arbeit und Übung erfordert, sie hörbar zu machen.

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Das Prozesshafte und die Kollaboration bzw. künstlerische Intra-­ Aktion werden über den gesamten Arbeitsprozess hinweg betont. Ähnlich wie Schlingensief, der den Schauspieler:innen jede Form einer vorgegebenen Textvorlage vorenthält, legt auch Pollesch ihnen nie einen bereits vorhandenen, fertigen Text vor, den es nur noch einzustudieren gilt. Vielmehr beginnt er den Probenprozess damit, dass er eine Beobachtung oder ein Problem, das ihn interessiert und dem er sich über einen theoretischen Text nähert, mit dem gesamten Produktionsteam teilt. Sollte die Frage für das Team nicht interessant sein, wird gemeinsam ein anderer Fokus gefunden und der Arbeitsprozess beginnt dann mit einer gemeinsamen Lektüre. Diese wird von der Anwendung der abstrakten Begriffe und Konzepte des theoretischen Textes auf die Alltagserfahrungen der Teammitglieder und deren Übersetzung in massenkulturelle Phänomene begleitet – was oftmals mit einer stundenlangen, kollektiven Rezeption von Hollywoodfilmen einhergeht. Auf Basis gemeinsamer Gespräche nimmt das Bühnenbild schließlich als erstes Element des Stückes Gestalt an: »Der erste Autor unserer Abende ist der Bühnenbildner«41, so Pollesch. Mit dieser Fokussierung auf das Bühnenbild betont er, dass der nicht zugewiesene Ort im Theater niemals bereits existiert, sondern erst geschaffen werden muss. Er unterstreicht damit aber auch, dass Theater mehr ist als nur das gesprochene Wort. So beginnt Pollesch erst im weiteren Verlauf des Probenprozesses, einen Text niederzuschreiben, den er mit den Schauspieler:innen teilt und zumeist auch – in Abhängigkeit von der Reaktion der Schauspieler:innen – immer wieder umschreibt. Der Text existiert also nicht getrennt vom Raum, den Menschen, der Bewegung und den Objekten, die alle Teil des Arbeitsprozesses sind und in diesem überhaupt erst entstehen. Beschäftigt man sich mit diesem Produktionsprozess, wird klar, warum Polleschs Stücke niemals in einen konventionellen Theaterdialog, in dem einzelne Sätze des Stückes a priori bestimmte Personen charakterisieren, münden können: In seinem Theater kann keine:r der Schauspieler:innen den Besitz bestimmter Sätze für sich beanspruchen; stattdessen teilen sie das Gesagte und entwickeln eine Neugier für die unterschiedlichen Ergebnisse, die daraus resultieren, wer und wie jemand einen Satz ausspricht. Schließlich wird so auch verständlich, dass Polleschs Beharren darauf, dass seine Stücke niemals neu inszeniert werden dürfen, nichts mit dem Anspruch auf Eigentum und Originalität zu tun hat, sondern mit dem Bewusstsein, dass das Stück unmittelbar auf seinen konkreten Produktionsprozess bezogen ist und somit immer schon völlig anders sein muss, wenn es in einem anderen Theater mit anderen Darsteller:innen realisiert wird. 196


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Wenn die Stücke schließlich vor einem Publikum aufgeführt werden, wird auch hier betont, dass es um die Schaffung eines Ortes geht, der noch nicht festgelegt ist. So werden alle Marker eliminiert, die das Publikum normalerweise auf eine Aufführung als ein finales Produkt vorbereiten. Das bedeutet z. B., dass der Titel, den Pollesch für die einzelnen Stücke wählt, meist nichts mit dem zu tun hat, was sich auf der Bühne tatsächlich abspielt. Ebenso verzichtet er auf eine zusammenfassende Inhaltsangabe oder konzeptionelle Erklärung des Stückes, wie sie üblicherweise an Theatern (z. B. in Form von Programmheften) zur Verfügung gestellt werden, um dem Publikum ein Verständnis davon zu vermitteln, was sie von dem jeweiligen Stück zu erwarten haben. Pollesch ersetzt diese Texte durch kurze Passagen aus dem Stück, die ohne weitere Erklärung zitiert werden. Wenn wir eines seiner Stücke als Zuseher:innen besuchen, wissen wir also meist nicht, was uns erwartet. In Carol Reed (2017)42 beispielsweise verweist der Titel auf den britischen Regisseur Carol Reed, der die Stadt Wien zum Schauplatz seines berühmten Filmes Der dritte Mann (1949) gemacht hat. Dennoch gibt es in dem gesamten Stück keinen einzigen klaren Bezug zu Reed. Außerdem beginnen viele von Polleschs Stücken damit, dass die Schauspieler:innen überrascht bemerken, dass das Bühnenbild verschwunden ist oder dass sie sich in der falschen Kulisse befinden.43 So etwa auch in Carol Reed, wenn der Schauspieler Martin Wuttke die Bühne betritt, um sofort festzustellen: ›Mon Dieu, wo ist denn das Bühnenbild?‹ Carol Reed wendet sich in der Folge Alfred Hitchcock und seiner Theorie des ›McGuffin‹ zu, um die Frage zu bearbeiten, wie eine Handlung inspiriert werden und sich entfalten kann, ohne Normen und eine Form des Erzählens zu reproduzieren, die auf der Produktion von Empathie beruht. Hitchcock verwendet den Begriff ›McGuffin‹, um ein Objekt zu beschreiben, das zwar die Handlung in Gang setzt, aber für die Zuschauer:innen und den weiteren Plotverlauf bedeutungslos bleibt.44 Dieses Konzept übernimmt Pollesch für Carol Reed, da es ihm ermöglicht, eine Alternative zu klassischen Dramenformen mit einer kohärenten Handlung und psychologisch motivierten Figuren zu schaffen. Und doch transformiert er die Funktion von Hitchcocks McGuffin deutlich: Während dieser in Hitchcocks Filmen verschwindet, sobald er die Handlung in Gang gesetzt hat,45 bleibt er in Polleschs Stück präsent – auch wenn er in dem Sinne insofern bedeutungslos ist, als er nicht als Signifikant fungiert, der für etwas anderes steht –, ja, er gewinnt im Laufe des Stückes sogar an Bedeutung. In seiner Adaption des McGuffin zeigt sich deutlich, dass ­Pollesch

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beständig an einem Darwin-Theater arbeitet, das sich verschiedener Praktiken bedient, um eine theatrale Praxis zu entwickeln, die vom Nichts ausgeht und in dem nichts, das sicht- und hörbar wird, in einer Weise bedeutungsvoll ist, dass es das Gefühl vermittelt, unserer Interpretation zu harren. So werden wir mit einer Aufführung konfrontiert, in der nichts einen Sinn zu machen scheint. Aber gerade an diesem Punkt wird die Leere in Polleschs Theater als unbestimmter Ursprung all dessen, was ist und noch sein könnte, deutlich und beginnt, auf radikal andere Art und Weise Bedeutung zu generieren. Auf dem Weg zu einem neuen Realismus: Die Welt gestalten

Dem Theater von Pollesch wurde oft vorgeworfen, dass es keinen Bezug zur Welt und zum Realen habe.46 Eine solche Lesart ist das Ergebnis einer Verortung seiner Praktiken im Kontext der Postmoderne bzw. des postdramatischen Theaters sowie einer verkürzten Lesart und eines falschen Verständnisses von beidem. Wie Lehmann gezeigt hat, ist nicht die Frage, ob ein Bezug zur Welt besteht, zentral, sondern es geht darum, wie das Verhältnis zur Welt gedacht wird. So zeigt er, dass Drama und Repräsentationstheater, indem sie dem Prinzip der Nachahmung folgen, einen geschlossenen, fiktionalen Kosmos präsentieren und die Welt in ihrer Totalität darstellen – sei es, dass die Bühne als Spiegel einer Außenwelt oder als eigene Welt fungiert.47 Hier greift Pollesch ein, um ein anderes Denken von Welt und dem Bezug des Theaters zur dieser zu entwickeln. Sein Theater, das eher an den Effekten der Differenz interessiert ist, als dass es sich durch die Differenz konstituiert, schlägt nicht mehr die Totalität als Modell für das Reale vor, sondern macht deutlich, dass sich das Reale iterativ in den Begegnungen verschiedener Elemente konstituiert. Mit Barad lässt sich davon ausgehend noch präziser fassen, wie die alte Repräsentationslogik, die davon ausgeht, dass die Welt aus klar abgegrenzten Individuen besteht, bei Pollesch umgearbeitet wird: In seinem Theater stützt sich Realismus nicht mehr auf Repräsentation, sondern es ist ein Theater, das aus dem Bewusstsein entsteht, dass Wirklichkeit nicht unbedingt ›thingness‹ implizieren muss, wie es Barad formuliert.48 Ihr folgend kann von einem Realismus der Phänomene gesprochen werden, verstanden als »neither individual entities nor mental impressions, but entangled material agencies«49. Dies bezeichnet sie auch als agentiellen ­Realismus:

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[T]he agential realist understanding that I propose is a non-­ representationalist form of realism that is based on an ontology that does not take for granted the existence of »words« and »things« and an epistemology that does not subscribe to a notion of truth based on their correct correspondence.50 Barads agentieller Realismus erlaubt es mir, Polleschs Theater mit einem Realismus in Verbindung zu bringen, ohne ihn mit jener Spielart des Realismus zu verwechseln, der die Bühne im ausklingenden 19. Jahrhundert dominierte und dem gegenständlichen Theater verpflichtet war. Außerdem unterscheidet er sich von dem postmodernen »paradoxen Realismus«, den Stegemann in Polleschs Werken ausmacht, auch wenn er durchaus paradoxe Phänomene vorführt.51 Wir finden bei Pollesch also weder einen Realismus, der die Idee von vordefinierten, stabilen Identitäten fördert, noch ein rein kontingentes Spiel. Während Stegemanns paradoxer Realismus ein Fehlen von Verantwortung ausmacht, widerlegt der agentielle Realismus die einfache Schlussfolgerung, dass der Verzicht auf das Individuum zwangsläufig eine Vernachlässigung der Verantwortung bedeutet.52 Im Gegenteil: Barads agentieller Realismus erweitert den Begriff der Verantwortung, indem Handlungsfähigkeit hier nicht länger als etwas verstanden wird, das jemand haben kann, sondern das beständig erzeugt wird: Crucially, agency is a matter of intra-acting; it is an enactment, not something that someone or something has. It cannot be designated as an attribute of subjects or objects (as they do not preexist as such). It is not an attribute whatsoever. Agency is »doing« or »being« in its intra-activity. It is the enactment of iterative changes to particular practices – iterative reconfigurings of topological manifolds of spacetime­matter relations – through the dynamics of intra-activity. Agency is about changing possibilities of change entailed in reconfiguring material-discursive apparatuses of bodily production, including the boundary articulations and exclusions that are marked by those practices in the enactment of a causal structure. Particular possibilities for (intra-)acting exist at every moment, and these changing possibilities entail an ethical o ­ bligation to intra-act responsibly in the world’s becoming, to contest and rework what matters and what is excluded from ­mattering.53

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Barad definiert den agentiellen Realismus als »not [being] about representations of an independent reality but about the real consequences, interventions, creative possibilities, and responsibilities of intra-­acting within and as part of the world«54. Wir können und müssen darauf aufmerksam werden, dass Polleschs Theater danach fragt, wie Welt verantwortungsvoll gestaltet werden kann. Denn hier ist auch das kritische Potenzial seines ›Theaters der Leere‹ begründet: Es begreift das Publikum und die Darsteller:innen, menschliche und nicht-menschliche, als am Herstellen der Welt Beteiligte, anstatt sie außerhalb als Beobachter:innen einer bereits existierenden Realität zu positionieren. Polleschs Stücke reflektieren oder spiegeln nicht diskrete Welten, Individuen oder Objekte, die außerhalb des Theaters vorzufinden sind, sondern erzeugen bewusste Momente der Begegnung und praktizieren gemeinsame Welterzeugung, in der sich alle Elemente gegenseitig durchdringen und neue Erkenntnisse über das Sein, Formen der Wissensproduktion etc. gewinnen. Wie Barad weiter ausführt, fördert das Denken im Sinne der Repräsentation eine dreigliedrige Logik von Wissen, Gewusstem und Wissendem, wobei der:die Wissende zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat vermittelt.55 Dieser Logik liegt die Annahme einer ontologischen Kluft zwischen unabhängig voneinander existierenden Entitäten zugrunde. Wenn das Theater einer Darstellungslogik folgt, bei der das Wissen eindeutig auf der Seite des Produktionsteams liegt, übernimmt es diese Funktion des Vermittlers und reproduziert die vorher beschriebene Kluft. In einem solchen Theater geht es v. a. darum, die Dinge für das Publikum verständlich zu machen und so die Kluft zwischen Bühne und Publikum zu überbrücken. Polleschs Theater bricht mit einer solchen Logik. Es vermittelt nicht mehr, denn es gibt hier keine eigenständig existierende Welt, kein Individuum usw. Stattdessen ist sein Theater Teil der iterativen Konstitution von Phänomenen der Welterzeugung. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum, sondern auch auf die Struktur des Produktionsteams selbst. In einem solchen Theater begegnen sich Publikum und Produktionsteam im Moment der Aufführung tatsächlich. Wenn Wissen gestreut und Intraaktivität produziert wird, kann der:die Regisseur:in nicht mehr als derjenige positioniert werden, der bereits bestehende Probleme aus der Ferne kommentiert und betrachtet. Die Beobachtung aus der Distanz führt schließlich zu der Frage, welche Bedeutung das Visuelle und der Blick in Polleschs Theater haben. Während ich bei Müller, Jelinek und Schlingensief betont

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habe, dass sie konventionelle Darstellungsformen herausfordern, indem sie mit der Bedeutung des Bildes und des Blickes brechen, scheint sich Polleschs Theater weiterhin auf den Blick zu verlassen, da die Begriffe, die ich verwendet habe, um über sein Theater zu sprechen, nicht über die Sphäre der Beobachtung hinausgehen. Und doch ist das Sehen bei Pollesch radikal anders zu begreifen und sollte daher nicht mit dem theatralen Blick verwechselt werden: Pollesch arbeitet mit Bühnenbildern, die unser Verständnis des Auges als verlässliches Werkzeug zur Wahrnehmung der Welt verkomplizieren. Sie sind so gestaltet, dass große Teile der Bühne meist uneinsehbar sind und nur mithilfe von Videokameras und Projektionswänden, die dem Publikum Einblick in diese geschlossenen Räume geben, sichtbar gemacht werden können. Während solche Praktiken v. a. als Kritik an Technologie und Massenmedien diskutiert wurden, argumentiere ich, dass sie eine spezifische Art des Sehens einführen, die eine Verbindung zur Quantenphysik ermöglicht. Wie Barad erklärt, hat die Quantenphysik unsere Vorstellung vom Sehen drastisch verändert, weil die Teilchen, mit denen sie sich beschäftigt, so klein sind, dass man sie auch mit einem optischen Mikroskop nicht sehen kann. Die Quantenphysik verwendet daher ein sogenanntes Rastertunnelmikroskop (RTM), das es erlaubt, Teilchen zu ›sehen‹, indem es deren Oberfläche abtastet. Als solches ist es nicht mehr an die Optik und das Auge gebunden, sondern es handelt sich um eine Praxis, die von der Intra-Aktion verschiedener Elemente abhängig ist. ›Sehen‹ bedeutet im Sinne der Quantenphysik nicht einfach, durch eine Linse zu blicken, sondern es handelt sich dabei um eine sinnliche Wahrnehmung, die Praxis und Übung erfordert. Es beinhaltet das Verstehen aller Elemente des Prozesses, der schließlich zu einem Bild führt. Diese Art des Sehens erlaubt eine Verbindung zu dem seismografischen Prinzip, das ich im ersten Kapitel dieses Buches ausführlicher diskutiert habe. Es ist dieses abtastende, Vibrationen fühlende Sehen, das Polleschs Theater nutzbar macht, um mit dem Regime der Z ­ entralperspektive und des rahmenden Blickes zu brechen. So wird deutlich, dass Pollesch Brechts Vision eines ›Theaters für das wissenschaftliche Zeitalter‹ fortschreibt. Er tut dies jedoch unter anderen Bedingungen und auf der Grundlage zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Während Brecht sein Denken im ­Kontext der Moderne entwickelte, ist Pollesch deutlich vom gegenwärtigen technowissenschaftlichen Zeitalter geprägt, in dem die Grenzen zwischen Wissenschaft und Technik, Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt sowie natürlich und künstlich verschwimmen.56

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Während Brechts Ansatz auf das Menschliche fokussiert bleibt, plädiert ­Pollesch wiederholt dafür, die Aufmerksamkeit auf die fortwährende Intra-Aktivität zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu lenken.57 Und während Brechts Theater mit dem Denken im Sinne eines pädagogischen Theaters und der starken Binarität zwischen aktivem und passivem Publikum verbunden ist, überarbeitet Pollesch dieses Denken und ersetzt es durch Unbestimmtheit und Interdependenz. So hält Brecht das Theater für relevant, da es die Möglichkeit des Anders-Werdens eröffnet; Pollesch hingegen sieht eine zentrale Kraft im Theater, weil es die Leere zu seinem grundlosen Grund machen kann und gerade deshalb Zukunft möglich macht. Damit verschiebt Pollesch Brechts Lehrstück zu einem Leerstück und findet gerade hier eine Zukunft, die ein Anders-Werden-mit impliziert.

1 Eine frühere Version dieses Kapitels wurde in Seminar. A Journal of Germanic Studies 58 (2022), H. 3 veröffentlicht. Diese kann allerdings lediglich als Vorstufe zu dem hier vorliegenden Kapitel angesehen werden, da sie weder P ­ olleschs Interesse an Darwin noch die Perspektive der Leere berücksichtigt. 2 Vgl. Pollesch, René: Der Schnittchenkauf. 2011 – 2012, Berlin 2012, S. 10. ­Pollesch kann mit Jacques Rancière und seinen Überlegungen zur Pädagogik, wie er sie in Der unwissende Schulmeister formuliert, sowie mit seiner Diskussion des emanzipierten Zuschauers gelesen werden. Mit Schlingensief verbindet ihn dagegen, dass sie beide die Position des Publikums erforschen und die üblicherweise unhinterfragte Beziehung zwischen Bühne und Rezipient:innen infrage stellen. Für eine detaillierte Analyse dieses Aspekts bei Schlingensief siehe: Kovacs, Teresa: »Götterdämmerung im Ruhrgebiet. Christoph Schlingensiefs ›­Wagner-Rallye‹«, in: German Studies Review 46 (2023), H. 1, S. 77 – 96. 3 Vgl. Pollesch: Schnittchenkauf, S. 18 – 19. 4 Polleschs Verständnis weist hier Parallelen zu Müller und seiner Kritik am apokalyptischen Denken auf; und doch spiegelt sich bei Pollesch stärker eine neoliberale Gesellschaft wider, wie sie durch den Verlust eines alternativen wirtschaftlichen und politischen Systems nach 1989 geprägt ist. Für eine detaillierte Analyse siehe Katrin Siegs Kapitel über Pollesch in Choreographing the Global in European Cinema and Theater (New York 2008). 5 Pollesch: Schnittchenkauf, S. 13. 6 Das Messingkauf-Fragment entstand in den späten 1930er und frühen 1940er ­Jahren und greift zentrale Fragen rund um das Verhältnis von Theater und ­Wissenschaft auf, die Brecht in verkürzter Form auch in seinem Kleinen Organon für das ­Theater interessieren. 7 Barad verbindet in ihren Arbeiten Ontologie und Erkenntnistheorie, um zu betonen, dass diese nicht voneinander getrennt werden können. 8 Ich erwähne dies, da Haraway in den letzten Jahren zu einer Art Ikone für eine Reihe von Künstler:innen wurde, die sich mit einem veränderten Verständnis des Menschen und der Mensch-Nichtmensch-Beziehung auseinandersetzen. 9 Vgl. Davis, Jack: »Who’s Afraid of Kommissar Rex? Postdramatic Ecology and the Theater of the Holocaust in René Pollesch’s ›Cappuccetto Rosso‹«, in: Martin Kagel und David Z. Saltz (Hrsg.): Open Wounds. Holocaust Theater and the Legacy of George Tabori, Ann Arbor 2022, S. 133. 10 Die Art und Weise, wie Haraway Beugung versteht, ist durchaus an Foucaults Transsubjektivierung und an das Denken von Differenz und Veränderung in ­Malabous Philosophie der Plastizität anschließbar.

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Endnoten

11 Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_Meets_ OncoMouseTM, New York 1997, S. 16. 12 Siehe hierzu v. a. Bernd Stegemanns Kritik an Pollesch in Lob des Realismus (­Berlin 2015, S. 184 – 186). 13 In seiner Rede kommt Schiller zu dem Schluss: »Jeder erfreut sich an den Freuden der anderen, die ihm dann, vergrößert an Schönheit und Kraft, von hundert Augen zurückgespiegelt werden, und nun hat sein Busen Platz für ein einziges Gefühl, und das ist: wahrhaft menschlich zu sein« (Schiller, Friedrich: »Was kann eine gut stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784)«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen/Theoretische Schriften, hrsg. v. Gerhard Fricke, ­München 1975, S. 831). 14 Pollesch, René und Frank M. Raddatz: »Die Probleme der Anderen. René Pollesch im Gespräch über Brecht, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags«, in: Theater der Zeit 2 (2007), S. 25. 15 Pollesch scheint den Vortrag »Foucault liest Darwin. Bemerkungen zu einer stillen Referenz«, den Sarasin 2007 im Berliner Zentrum für Literaturforschung gehalten hat, verfolgt zu haben; hier v. a. von einer Besprechung des Vortrags in der taz. Dies zeigt sich etwa daran, dass er sich wiederholt auf die Katze bezieht, an deren Beispiel in der taz-Rezension Sarasins Darwin-Lesart veranschaulicht wird (vgl. »Die Katze ohne Plan«, in taz (12. Dezember 2007), https://taz.de/Foucault-und-­ Darwin/!5189880/ (23. März 2023)). 16 Sarasins Argument deckt sich weitgehend mit Malabous Lesart der Leere bei ­Darwin, wie ich sie in der Einleitung dieses Buches diskutiere. 17 Pollesch: Schnittchenkauf, S. 11. 18 Ebd. 19 Pollesch verbindet das mit einer Kritik am affektiven Regime des Kapitalismus, der vorgibt, welche Art der Gefühle wann empfunden werden müssen und wie sie sich zu äußern haben. Hier reagiert Pollesch also auf eine Kultur, deren Gefühle vollständig normiert sind, und versucht, aus diesen Normen auszubrechen, um authentische Affekte zu ermöglichen. So spielt er z. B. in Kill your Darlings durch, wie man sich zu verhalten und wie man auszusehen habe, wenn man Liebe empfindet etc., und macht damit sichtbar, dass das affektive Regime des Kapitalismus unsere eigentlichen Affekte tötet. 20 Pollesch: Schnittchenkauf, S. 11. 21 Ebd., S. 14. 22 Bühnenbild von Barbara Steiner. 23 Transkript der Aufführung. 24 In der Retrospektive wird also klar, dass die schwarz-weißen Kostüme ein solches Interferenzmuster andeuten. 25 Transkript der Aufführung. 26 Barad, Karen: »Diffracting Diffraction. Cutting Together-Apart«, in: Parallax 20 (2014), H. 3, S. 173, Übersetzung T.K. 27 Barad verwendet diese Formulierung, um deutlich zu machen, dass es sich bei dieser Bewegung nicht um ein ›entweder-oder‹ handelt und auch kein ›und‹ hervorgebracht wird, sondern dass wir es mit einem Differenzieren-Verschränken zu tun haben (vgl. ebd., S. 168 – 187). 28 Pollesch, René: »Dialektisches Theater Now!«, in: ders.: Liebe ist kälter als das Kapital, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 320. 29 Pollesch, Raddatz: »Die Probleme der Anderen«, S. 25. 30 Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 49, Herv. i. O. 31 Vgl. Barad: »Diffracting Diffraction«, S. 172. 32 Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 19, Herv. i. O. 33 Ebd., S. 169 – 170, Herv. i. O. 34 Barad zieht Bohrs ›Komplementaritätsprinzip‹ dem weitaus populäreren ›Unschärfeprinzip‹ von Werner Heisenberg vor, da es nicht zu metaphysischen Annahmen führt. Heisenbergs Prinzip besagt, dass die Elektronen im Moment der Beobachtung gestört sind und daher nicht vollständig beobachtet und beschrieben werden können. Sie argumentiert, dass Heisenberg ein erkenntnistheoretisches Prinzip entwickelt, das sich mit der Frage auseinandersetzt, was wir wissen können, während das Bohr’sche Prinzip eher der Frage nachgeht, was gleichzeitig existiert (vgl. ebd., S. 115 – 118).

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35 Vgl. ebd., S. 20. 36 Vgl. Barad: »Diffracting Diffraction«, S. 174. 37 Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 59, Herv. i. O. 38 Eine Ausnahme ist hier z. B. Schlingensief, den ich in Kapitel 4 ausführlich diskutiere. 39 Pollesch, René: »Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt«, in: ders.: Liebe ist kälter als das Kapital, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 317. 40 Pollesch: Schnittchenkauf, S. 9. 41 Ebd., S. 5. 42 Das Stück wurde 2017 in der kleineren Spielstätte des Wiener Burgtheaters, dem Akademietheater, uraufgeführt. Wenn ich aus dem Stück zitiere, tue ich das auf Grundlage einer Aufnahme von Polleschs Carol Reed von der Generalprobe am 28. April 2017. 43 Hier sehen wir deutliche Parallelen zu Schlingensief und seiner Praxis des Scheiterns und des Verlusts eines vorgegebenen Plans. 44 Vgl. Truffaut, François: Hitchcock, New York 1984, S. 138. 45 François Truffaut fasst in seinem Gespräch mit Hitchcock zusammen: »As the action moves forward, the MacGuffin will pretty much be forgotten« (ebd.). 46 Zuletzt hat Bernd Stegemann für einen neuen Realismus auf der Bühne plädiert, der die postmodernen Praktiken überwindet, die er u. a. bei Pollesch findet (vgl. Stegemann: Lob des Realismus, S. 184 – 198). 47 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Berlin 1999, S. 22. 48 Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 56. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. Stegemann: Lob des Realismus, S. 188, 197. 52 Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S 172. 53 Ebd., S. 178, Herv. i. O. 54 Ebd., S. 37. 55 Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 46. 56 Vgl. Haraway: Modest_Witness, S. 3 – 4. 57 In seinem Kleinen Organon für das Theater konzentriert sich Brecht auf den Menschen in seinen sozialen und historischen Beziehungen. Mehr noch, er verwendet explizit die Kategorie des Tieres für das, wovon der Mensch abgegrenzt werden soll: »Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft« (Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater«, in: ders.: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 23: Schriften 3, hrsg. v. Werner Hecht, Berlin 1967, S. 687). Bei Pollesch hat sich diese Erwartung an die Schauspieler:innen und an das Theater im Allgemeinen gewandelt; er würde sicherlich behaupten, dass Schauspieler:innen lieber Papageien oder Affen sein sollten, als auf ihr Menschsein fixiert zu bleiben. So schreibt Pollesch auch provokativ das Tier in Brechts dialektisches Theater ein: »Der Mensch kann nicht das Maß aller Dinge sein! [...] Die meisten Hunde haben einen längeren Stammbaum als ich, sagt Haraway« (Pollesch: »Dialektisches Theater Now!«, S. 303).

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VI Theater nach dem Ende der Welt Wärs anders. ——Heiner Müller, Philoktet

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, suggerierten der Fokus auf die Atombombe und auf die Angst vor der nuklearen Zerstörung für viele, mit denen ich dieses Buch diskutiert habe, eine Verankerung dieser neuen Theater(text)formen im Kalten Krieg. Das Buch war jedoch nie dazu gedacht, diese Theater(text)formen dezidiert an die Jahre des Kalten Krieges zu binden, vielmehr habe ich die Atombombe von Beginn an als etwas begriffen, das die Welt auf so tiefgreifende Weise verändert hat, dass Gegenwart und Zukunft nicht davon losgelöst betrachtet werden können. Leider ist in den letzten Jahren überdeutlich geworden, dass die Bedrohung durch Atomwaffen nicht der Vergangenheit angehört. Nicht nur der Krieg in der Ukraine hat diese Ängste wieder aufleben lassen – sei es durch die Belagerung und den möglichen Angriff ukrainischer Kernkraftwerke oder den Einsatz von Kernwaffen durch die russische Armee –, sondern auch der in Palästina und Israel wütende Konflikt, der nun auch den Iran miteinschließt, schürt solche Ängste. Darüber hinaus haben Wissenschaftler:innen in den letzten Jahren auf ein weiteres Problem aufmerksam gemacht, mit dem wir in absehbarer Zukunft konfrontiert sein werden: den beständigen Ausbau des chinesischen Atomwaffenarsenals, der zum Aufstieg einer dritten atomaren Supermacht neben den USA und Russland führen wird. Wie ein Artikel aus der New York Times vom 26. Juni 2023 thematisiert, bringen Expert:innen militärische Strategie und Physik zusammen, um besser zu verstehen, was die Existenz einer dritten atomaren Supermacht bedeuten würde. Sie beurteilen die neue Situation anhand des ›Dreikörperproblems‹ und warnen davor, dass der Übergang von zwei zu drei Atommächten nicht einfach ein Wachstum um eine zusätzliche Macht bedeutet. Vielmehr handelt es sich um eine Veränderung, die alles so sehr verkomplizieren würde, dass es zu einem thermonuklearen Krieg kommen könnte; also einer Form von Krieg, dessen Ausmaß an Zerstörung aus heutiger Sicht weder vorhersehbar noch vorstellbar ist.1 Kurz gesagt: Wir leben wieder in einer Zeit, die vom nuklear Erhabenen und von den Ängsten vor dem undenkbaren Ereignis geprägt ist, während auch hier

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die Zerstörung bereits Alltag geworden ist und sich schon lange in die materielle Realität der Welt eingeschrieben hat. Auch die Auswirkungen der globalen Erwärmung sind in den letzten Jahren noch sichtbarer geworden, während politische Führungsfiguren und Konzerne das Problem immer noch als fiktives Szenario abtun, um den neoliberalen Markt weiterhin frei agieren zu lassen. All das verweist darauf, dass das ›Theater der Leere‹, das sich mit Heiner Müller entwickelt hat, auch in der Gegenwart noch deutliche Resonanzen hat. In diesem abschließenden Kapitel wende ich mich, stärker als ich es bislang getan habe, der unmittelbaren Gegenwart zu und zeige, dass das ›Theater der Leere‹ die gegenwärtige Welterfahrung vorwegnimmt. Dazu kehre ich noch einmal zu Müllers explosiven Theatermomenten zurück, die für meine Theoretisierung des ›Theaters der Leere‹ entscheidend waren. Ich beziehe mich hier zunächst auf ein Gespräch, das seiner Dankesrede »Die Wunde Woyzeck« gefolgt ist; ein Gespräch, in dem sich Müller dezidiert mit dem Empfinden eines Weltendes und der Möglichkeit auf Zukunft auseinandersetzt: Was ich als Grunderfahrung habe, ist, daß eine Welt zu Ende gegangen ist, eine Welt, die sicher auch Annehmlichkeiten hat. Wo man auch bei vielem bedauert, daß es zu Ende ist. Aber die ist zu Ende. Und das Neue ist zunächst einmal sehr diffus und auch sehr erschreckend vielleicht. Aber die Haupterfahrung ist das Ende, eine Welt ist zu Ende, und die neue hat ihre Schrecken, ihre Dummheiten, ihre Borniertheiten und ihre komischen Seiten und was alles, aber es ist eine neue Welt.2 Müller reagiert mit dieser Bemerkung auf einen Vorwurf, der ihm vonseiten des Publikums gemacht wurde, nämlich dass die Zukunft in seinem Theater nicht optimistisch und schön sei, sondern eine düstere Leichenwelt inszeniere. Er jedoch widerspricht einer solch dystopischen Lesart und betont, dass es bei ihm immer um die Möglichkeit einer Zukunft geht. Sein Insistieren darauf, das ›Ende einer Welt‹ zu erleben, berührt unsere Gegenwart auf fast unheimliche Weise. Denn was er hier vorwegnimmt, ist eine zeitgenössische Erfahrung des Lebens ›nach dem Ende der Welt‹, wie sie Timothy Morton in ­Hyperobjects für unsere Gegenwart beschreibt.3 Wenn ich eine Verbindung zwischen Müller und Morton herstelle, dann um zu betonen, dass sich Müllers Begriff vom ›Ende einer Welt‹ deutlich von den apokalyptischen Narrativen unterscheidet, die uns im Angesicht der Katastrophe so oft begegnen. Müller hat sich wiederholt gegen einen

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›Hype‹ um die Apokalypse ausgesprochen, wie er ihn in der westlichen Welt der 1980er Jahre erlebte. Eine Welt angesichts der Apokalypse produziere, so Müller weiter, eine Gesellschaft, die zum Handeln unfähig und im passiven Warten auf den Untergang gefangen ist.4 Dagegen betont er, dass es keinen Grund gibt, auf ein Ende der Welt zu warten, weil eine Welt bereits untergegangen ist – und hier ist wichtig, dass er nicht von ›der Welt‹, sondern von ›einer Welt‹ spricht. Was Müller hier deutlich macht – und das entspricht durchaus dem, wie Morton in Hyperobjects argumentiert –, ist, dass die Art und Weise, wie wir uns ›die Welt‹ normalerweise vorstellen, zu Ende gegangen ist. Konkret ist dies eine Welt, die sich noch mit Newtons Gesetzen erklären lässt; eine Welt, in der der Mensch im Zentrum steht und wir es mit klar voneinander getrennten Subjekten und Objekten zu tun haben. Morton bringt den neuen Begriff der ›Hyperobjekte‹ ein, um zu markieren, dass wir heute mit Dingen konfrontiert sind, die in Bezug auf den Menschen zeitlich und räumlich massiv verteilt sind.5 Diese Hyperobjekte zeichnen sich Morton zufolge dadurch aus, dass sie nicht lokalisierbar sind, zahlreiche Zeitlichkeiten umfassen und mit allem verbunden bleiben, mit dem sie in Berührung kommen. Darüber hinaus sind sie für den Menschen meist unsichtbar und entfalten ihre Wirkung interobjektiv, d. h., sie können nur in einem Raum wahrgenommen werden, der über Wechselbeziehungen zwischen ästhetischen Eigenschaften von Objekten verfügt.6 Während Morton von ›Interobjektivität‹ spricht, schlage ich vor, diese Beziehung in Anlehnung an Barads ›Intra-Aktion‹ eher im Sinne des ›Intra-Objektiven‹ zu denken, um zu unterstreichen, dass es sich auch hier nicht um klar abgegrenzte und stabile Entitäten handelt, sondern dass Hyperobjekte immer erst in der Wechselbeziehung entstehen und konstituiert werden.7 Das ›Theater der Leere‹ verschiebt konventionelle Formen der Wahrnehmung hin zu einer gemeinsamen Praxis des Aufspürens und konfrontiert uns mit dem, was für das Auge zwar nicht sichtbar, aber dennoch in die materielle Realität der Welt eingeschrieben ist. Das seismografische ›Theater der Leere‹ ist also ein Theater, das uns nicht mehr so sehr mit Objekten, sondern mit Hyperobjekten konfrontiert und die Sinne auf neue Arten der Wahrnehmung einstimmt, wie sie diese neue Welt erfordert. Hier ist es durchaus interessant, auch Amitav Ghoshs Diskussion der literarischen Form in Zeiten des Klimawandels miteinzubeziehen, da er zwei Nuancen von Mortons Buch stärker hervorhebt, die auch für meine Überlegungen zum Theater von großer Relevanz sind: das Unheimliche und die Erkenntnis – wobei

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v. a. Letzteres im Kontext des Theaters überaus interessant erscheint, betrifft es doch die tief in das Theater eingeschriebene Kategorie der ­anagnorisis. In diesem letzten Kapitel zeige ich, dass das ›Theater der Leere‹ die Kategorie der anagnorisis umarbeitet und auch dadurch eine theatrale Grammatik für die Gegenwart entwickelt, wie sie in der Forschung bislang oft übersehen wurde.8 Schließlich wende ich mich noch einmal Sophokles’ Antigone und damit jener Tragödie zu, die auch am Beginn dieses Buches steht. In diesem Kapitel weite ich meine Lektüre dieses Stückes auf den Aspekt des Unheimlichen aus. Wie ich abschließend zeige, steckt im ›Theater der Leere‹ eine Chance für einen Neuanfang nach dem Ende der Welt. Als solches wird die Leere auch von einer neuen Generation von Theatermacher:innen produktiv gemacht, die sich mit einer Welt auseinandersetzen, die von Gefahren und Herausforderungen geprägt ist, wie sie die globale Erwärmung mit sich bringt. Ästhetiken und Praktiken, die heute oftmals unter dem Label des postmodernen oder postdramatischen Theaters als nicht mehr relevant kritisiert werden, sind vor diesem Hintergrund ganz im Gegenteil äußert bedeutsam für die Gegenwart. Es handelt sich dabei gerade nicht um Theater(text)formen, die in Selbst­reflexion schwelgen, sondern um ein Theater, das auf radikalste Art und Weise eine Zukunft in ein geschlossenes System einführt, in dem Zukunft unmöglich erscheint. Unheimliche Begegnungen oder: Anagnorisis in Endzeiten

Amitav Ghosh stellt in Die große Verblendung die Frage, warum sich die Literatur bisher kaum zum Klimawandel geäußert hat. Auch wenn die Unterscheidung zwischen ›Literatur‹ und dem ›populären Genre‹ der Science-Fiction, an der er dabei festhält, sicherlich fragwürdig ist, macht Ghosh doch eine wichtige Beobachtung, wenn er dieses Versagen mit der Form und den Konventionen des Romans in Verbindung bringt, die »die narrative Imagination in genau der Periode prägte, in der die Anhäufung von Kohlendioxid in der Atmosphäre die Geschichte vom Schicksal der Erde umzuschreiben begann«9. Was Ghosh hier deutlich macht, ist, dass die globale Erwärmung nicht zum Thema der Literatur werden kann, solange wir an jener Form festhalten, die genau jene Subjektivität inszeniert, die untrennbar mit jenen tiefgreifenden Veränderungen verwoben ist, die schließlich dazu geführt haben, dass wir heute menschliche und geologische Zeit nicht mehr voneinander trennen können.10 Die vom Klimawandel geprägte Gegenwart verlangt nach neuen Formen und

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Modi der narrativen Imagination, die jedoch erst gefunden bzw. entwickelt werden müssen. Für den Bereich des Theaters ließen sich ähnliche Beobachtungen anstellen, scheint es doch in Bezug auf die Darstellung der globalen Erwärmung oder des Anthropozäns ebenfalls an seine Grenzen zu stoßen. Hier denke ich etwa an die im deutschsprachigen Raum erschienene Forschungsliteratur und v. a. an Florian Malzacher und Frank M. Raddatz, die dezidiert die Frage nach dem Theater im Anthropozän gestellt haben. Wie beide betonen, müsse dieses ein radikal neues Verständnis des Menschen entwickeln, das sich seiner Verwobenheit mit dem Nicht-Menschlichen bewusst ist. Beide bezweifeln jedoch, dass dies im Theater tatsächlich passieren kann, ist das Theater doch eine Kunstform, die den Menschen und sein Handeln ins Zentrum stellt. In den Worten Malzachers: [...] das etwas altmodische, analoge, anthropozentrische Medium des Theaters tut sich schwerer als beispielsweise die bildende Kunst, mit Entwicklungen umzugehen, die den Menschen aus dem Zentrum des Denkens und Fühlens verbannen wollen. Die Perspektive des Theaters ist keine aus der Zukunft, sondern auf die Zukunft gerichtete. Eine Welt, in der sich die Menschheit in Natur, Technologie oder Daten aufgelöst hat, kann das Theater nicht repräsentieren, nicht darstellen.11 Raddatz argumentiert ähnlich, wenn er festhält: [...] doch existiert momentan noch keine überzeugende theatrale Grammatik, die in Bewegung geratenen planetarischen Parameter – wie die Erderwärmung, den anhaltenden Verlust von Biodiversität, die schmelzenden Polkappen – in dramatische Kontexte zurückzubinden und als Folge von Handlungen bestimmter Figurengruppen darzustellen beziehungsweise in einzelnen psychischen Segmenten der Conditio humana festzumachen.12 Solche Behauptungen über das Scheitern des Theaters resultieren aus dessen andauernden Verwechslung mit der historischen Formation des Dramas. Sobald wir uns von einer solchen Gleichsetzung von Theater und Drama lösen, wird deutlich, dass das Theater durchaus interessante Mittel bietet, um einer Welt zu begegnen, die nicht nur aus den Fugen, sondern auch aus dem Maßstab geraten ist und uns so oft mit dem Undenkbaren oder Unfassbaren zu konfrontieren scheint.

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Ghosh bietet hier eine interessante Perspektive, um das Potenzial des ›Theaters der Leere‹ zu fassen, da er dem Wieder/Erkennen große A ­ ufmerksamkeit schenkt und dieses schließlich mit dem Unheimlichen in Zusammenhang bringt. So setzt sein Buch mit der Frage ein: »Wie könnte man diese Momente vergessen, in denen etwas scheinbar Lebloses sich als äußerst oder gar gefährlich lebendig herausstellt?«13 Die Gefahr, die Ghosh hier am Ende andeutet, wird für ihn im Laufe seiner Reflexion über Literatur und Klimawandel zentral, da er daran anschließend argumentiert, dass wir uns darüber bewusst werden müssen, dass wir in einer Welt leben, in der sich das scheinbar Unbelebte nicht nur als lebendig, sondern auch als eine große Gefahr für unsere Existenz erweist. So gilt es, dieses nur scheinbar Unbelebte als eine Präsenz zu erkennen, derer man sich bereits bewusst war, von der allerdings erst jetzt klar wird, dass diese nicht-menschliche Präsenz auch ein Bewusstsein über uns besitzt.14 Das Wieder/Erkennen oder, um den griechischen Begriff zu verwenden, anagnorisis ist eine wesentliche Kategorie des Theaters. In Aristoteles’ Poetik wird sie neben der peripetie und dem pathos als eines der zentralen Elemente der tragischen Handlung angeführt. So ist sie Aristoteles zufolge neben der peripetie jenes Element, das die Zuschauer:innen am meisten ergreift,15 da sie den »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis«16 markiert. Anagnorisis hängt also engstens mit dem Moment der Erkenntnis zusammen. Dieses Erkennen ist Aristoteles zufolge zwar am stärksten, wenn es das Erkennen zwischen Menschen betrifft – hier, so Aristoteles, ruft es eleos und phobos hervor, die für die katharsis wesentlich sind –, er betont jedoch, dass es nicht auf menschliche Beziehungen beschränkt ist. Es kann, ganz im Gegenteil, auch unbelebte Gegenstände einschließen.17 Anagnorisis ist eine zentrale Kategorie in Müllers ›Theater der Leere‹, doch bezeichnet sie hier weder einen linearen Weg von Unkenntnis zu Kenntnis, noch enthüllt sie eine bereits existierende, aber zuvor verborgene Logik. Vielmehr meint sie bei Müller die Un/Möglichkeit, jederzeit zu explodieren und (sich selbst) zu er/ kennen. Damit versteht er Erkenntnis als die fortwährende Arbeit, in einer ­intra-aktiv rekonfigurierten und ausgedehnten Topologie Sinn zu erzeugen und wieder zu verwerfen. Anagnorisis ist hier also eine geteilte, beständige Praxis des Erkennens und des Wahrnehmens vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger Stimmen und Klänge, die nicht mehr auf den Menschen beschränkt ist, sondern in der Intra-­Aktion zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem entsteht.

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Um dies zu konkretisieren, können wir uns noch einmal der kurzen Erzählung »Der Mann im Fahrstuhl« aus Der Auftrag zuwenden, dieses Mal jedoch mit besonderer Berücksichtigung der unheimlichen Begegnungen, die darin inszeniert werden und schließlich in die Aussicht auf eine zukünftige Begegnung mit dem Doppelgänger des Erzählers münden, die nur einer der beiden überleben wird. Wir können hier eine Verbindung zu Müllers Erfahrung des Lebens nach dem Ende einer Welt herstellen. Eine solche Konfrontation mit einer anderen, neuen Welt wird überdeutlich, wenn das ›Ich‹ mitten in der Erzählung plötzlich aus dem Fahrstuhl steigt und sich auf einer abgelegenen Landstraße in Peru wiederfindet. Was das ›Ich‹ hier erfährt, ist, was es bedeutet, nach dem Ende einer bekannten Welt zu leben, wenn jedoch noch kein alternatives Verständnis von ihr entwickelt wurde. Während bei Morton und Ghosh das Unheimliche durchaus im Sinne einer Wiederkehr von etwas Verdrängtem verstanden wird, hat das Unheimliche in Müllers Theater nichts mehr mit dem Verdrängten zu tun, sondern es bezieht sich auf etwas, das das Subjekt nicht mehr begreifen kann. Hier zeigt sich, wie ich in Kapitel 2 mit Malabou argumentiert habe, das indifferente Subjekt, das durch den Zufall geschaffen wird und blind für die hermeneutische Dimension dieses Zufalls ist. So konfrontiert uns Müllers ›Theater der Leere‹ auch mit einem transformierten Begriff des Unheimlichen, der sich aus der Leere als dem grundlosen Grund seines Theaters ableitet. Es ist dieses neue Verständnis des Unheimlichen, das das ›Theater der Leere‹ für die Gegenwart so interessant macht, denn das Unheimliche, dem wir in der Gegenwart begegnen, ist nichts mehr, das mit der Verdrängung durch ein Subjekt in Zusammenhang gebracht werden kann. Im Gegenteil: Die Welt ist unheimlich, weil sie aus Dingen besteht, die nicht mehr vom Subjekt assimiliert oder angeeignet werden können. Anagnorisis als die Un/Möglichkeit des Erkennens führt bei Müller jedoch nicht zu Verzweiflung oder völliger (Selbst-)Kapitulation; vielmehr lässt sie im Erzähler ein Gefühl der Freude und Leichtigkeit entstehen. Diese Leichtigkeit hat mit der Akzeptanz der radikal neuen Welt zu tun und mit der Bereitschaft des Erzählers, in dieser neuen Welt alternative Formen der Sinnproduktion zu praktizieren. Darüber hinaus schreibt Müller dem Text hier eine ethische Dimension ein, die eine neue Form der Verantwortung für den Planeten und für alle, die ihn bewohnen, verspricht. Diese ethische Dimension findet sich in der Haltung des Erzählers ausgedrückt, die er im Laufe der unterschiedlichen, stets unheimlichen Begegnungen – jene mit dem Hund, den Männern, der Frau, den Kindern und schließlich dem Selbst –

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entwickelt. Was alle diese Interaktionen auszeichnet, ist, dass der Erzähler die Möglichkeit hat, zu handeln, sich jedoch dazu entscheidet, es nicht zu tun.18 Mit Žižek können wir dieses Nichthandeln als elementare ethische Geste lesen, die ihm zufolge eine negative ist, da sie die unmittelbaren Neigungen blockiert.19 In diesem Unterdrücken des Impulses entsteht nach Žižek so etwas wie Freiheit, da diese Entscheidung mit dem Determinismus bricht und eine Möglichkeit von Zukunft und Vergangenheit zugleich eröffnet.20 Die ethische Dimension in Müllers Text ist also unmittelbar mit der Plastizität und der Entstehung einer Zukunft verbunden, selbst wenn wir ihr gegenwärtig radikal beraubt zu sein scheinen. Es ist eine Ethik, die nicht auf Moral, sondern auf Freiheit beruht. Ungeheure Kreaturen

Das ›Theater der Leere‹, das sich von der üblichen Repräsentation im Theater mit ihrer Fixierung auf das Auge und das Bild löst und stattdessen das Ohr und alle anderen Sinne in ihrer sensorischen Funktion erkundet, führt auch neue Möglichkeiten und Modi des Erkennens ein. Die Arbeiten der in diesem Buch besprochenen Regisseur:innen und Dramatiker:innen konzentrieren sich deutlich auf Momente der Kontaktaufnahme und des Registrierens von Stimmen, Klängen und Vibrationen, die stets in die Umgebung eingebettet sind. So rückt hier auch verstärkt das Nicht-Menschliche in den Fokus. Bei Müller ist es z. B. die Landschaft, die sich aus unbestimmten vergangenen und zukünftigen Möglichkeiten konstituiert. Jelinek konfrontiert uns mit Hyperobjekten, wie dem Atomkraftwerk in Fukushima oder der Natur selbst, die Gerechtigkeit für das durch den Menschen erlittene Unrecht einfordern. Schlingensief wiederum führt vor, dass unbelebte Gegenstände ein Eigenleben haben, das sich in kreative Prozesse einschreiben kann, während sich bei Pollesch das menschliche Handeln in einem gemeinsamen Agieren von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen auflöst. Die Bedeutung, die die Kontaktaufnahme zum Nicht-Menschlichen für das ›Theater der Leere‹ hat, und inwieweit ein solches ­Theater zu unserer Gegenwart spricht, lässt sich mit Morton besser verstehen. Sie betrifft zuallererst den Versuch, die Vormachtstellung des Menschen zu brechen. So fokussiert Morton auf das Ungeheure, das nicht nur fest in die conditio humana eingeschrieben ist, sondern, wie er argumentiert, ebenso das Nicht-Menschliche betrifft, weshalb es eher angemessen wäre, von einer conditio non/humana zu sprechen. In diesem Kontext zitiert Morton den Chor von Sophokles’ Antigone

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und macht auf jene Zeile aufmerksam, die ich bereits in der Einleitung dieses Buches erwähnt habe: »Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer, als der Mensch.«21 Dieser Satz ist im Laufe der (Theater-) Geschichte immer wieder aufgegriffen worden, um die erschreckende Macht des Menschen zu befragen, die aus seiner Fähigkeit hervorgeht, Dinge zu entwickeln, die nicht nur dem Gemeinwohl dienen, sondern zugleich enorme Zerstörung verursachen können.22 Und diese Warnung vor menschlicher Hybris ist auch bereits in Sophokles’ Stück eingeschrieben, in dem die Zeile des Chors nicht nur Antigones Verstoß gegen König Kreons Gesetz kommentiert, sondern auch in zahlreichen Beispielen fortklingt, die der Chor im Laufe des Stückes einbringt, um die Fähigkeiten der menschlichen Kreativität zu preisen und gleichzeitig auf ihre Gefahren und Grenzen hinzuweisen. Angeregt durch diese Zeile argumentiert Morton, dass die ökologische Macht der Menschen sie zwar zu furchtbaren Kreaturen macht, es aber zu kurz greifen würde, das Furchtbare nur auf das Menschliche zu beziehen. Im Gegenteil, Morton insistiert darauf, dass auch das Nicht-Menschliche eine furchtbare Tiefe besitzt.23 Jelinek konfrontiert uns mit dem Ungeheuren des Menschlichen und Nicht-Menschlichen, und zwar ebenfalls mit Bezug auf diese Zeilen aus Antigone. So zitiert sie sie in ihrem Epilog? zu Kein Licht, allerdings in deutlich veränderter Form, wenn es bei ihr heißt: »Doch nichts ist ungeheurer als die Natur.«24 Ralf Schnell hat überzeugend dargelegt, dass Jelinek hier an die Überlegungen Hegels anknüpft, wie er sie in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften am Beispiel der Antigone entwickelt. Für Hegel ist Antigone Beweis seiner These, dass das »praktische Verhalten« des Menschen gegenüber der Natur »durch die Begierde, welche selbstsüchtig ist«25, bestimmt wird. So argumentiert er, dass das Verhältnis des Menschen zur Natur v. a. durch den Anspruch geprägt ist, diese zum eigenen Vorteil zu nutzen und sie somit »abzureiben, aufzureiben, kurz, sie zu vernichten«26. Hegel weist jedoch auf die Grenzen eines solchen zerstörerischen Umgangs hin. Er hält fest, dass die Natur, was auch immer der Mensch tut, mit der Entfesselung ihrer eigenen ungeheuren Kräfte kontern wird. Der Mensch wiederum wird sich umgekehrt genau jener Mittel der Natur bedienen, so Hegel weiter: »[E]r [nimmt] diese Mittel aus ihr« und »gebraucht sie gegen sie selbst.«27 Während dies eine Überlegenheit des Menschen über die Natur zu beschreiben scheint, erinnert er jedoch auch daran, dass sie dem Menschen niemals vollkommen erliegen wird, denn »der Natur selbst, des Allgemeinen derselben, kann er auf diese Weise nicht sich bemeistern, noch es zu seinen Zwecken abrichten«28.

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Jelinek zeigt in Epilog? die Natur tatsächlich als etwas, das lebendig und gefährlich ist und durchaus die Möglichkeit hat, sich gegen die gewaltsamen menschlichen Eingriffe zu wehren: »Die Erde ein Ungeheuer. Aber ungeheuer ist viel. Ich ändere den Rest um, damit hier das Richtige steht: Doch nichts ist ungeheurer als die Natur. Der Mensch ist zwar ein Ungeheuer, aber er ist ein Dreck, ein Nichts gegen die Natur.«29 Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur,30 bei dem sich beide gegenseitig schinden und zerstören, ist eines der zentralen, wiederkehrenden Themen in ihrem Theater. Sie konfrontiert mit der Gewalt, die im Denken dieser Dichotomie entfesselt wird, wenn der Mensch die Natur als sein ›Anderes‹ begreift, das es zu bezwingen gilt. Wenn der Mensch in ihren Texten die Natur ausbeutet und gewaltsam nach seinen Bedürfnissen formt (sei es durch Fabriken, Atomkraftwerke oder den Ausbau von Skigebieten), wehrt sich die Natur und schlägt durch Katastrophen wie Überschwemmungen, Lawinen und Erdbeben zurück.31 Die Natur leidet in Jelineks ›Theater der Leere‹ nicht passiv, sondern wird als mächtiger Gegenspieler inszeniert. Wenn Jelinek also eine Dichotomie von Mensch und Nicht-Mensch aufmacht, dann tut sie das, um zu entlarven, dass diese immer noch das westliche Denken strukturiert, während sie sie zugleich von innen heraus umarbeitet und den vielfältigen Beziehungsgeflechten zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Ökologie, Technik und Geschichte nachgeht. Wir werden bei Jelinek mit einer Welt konfrontiert, die sich aus Hyperobjekten konstituiert, wie sie Morton beschreibt, und in der daher Mensch und Natur ineinander übergehen. Innerhalb dieser konfliktreichen Beziehungen, die sich hier aufspannen, stellt Jelinek die Frage nach der Verantwortung. Obwohl sie sich der komplexen Verflechtungen von Mikro- und Makrostrukturen bewusst ist, ist ihr Theater von der Überzeugung geprägt, dass wir diejenigen finden und zur Rechenschaft ziehen können, die für die gegenwärtige Gewalt verantwortlich sind. Am eindrücklichsten kommt dies im Titel ihres Essays »Diese Maschine ist unschuldig. Ich klage andere an« (2009) zum Ausdruck. In diesem Text entlarvt sie die Absurdität des Gerichtsprozesses nach einem der tödlichsten Unfälle in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgelöst durch die fehlerhafte Installation eines Heizstrahlers in einer Gletscherbahn im österreichischen Kaprun. Das Unglück, bei dem 155 Menschen ums Leben kamen, passierte im Jahr 2000. In dem darauffolgenden Prozess wurden alle 16 Angeklagten, darunter die Geschäftsführer der Gletscherbahn, die Angestellten, die die Heizung eingebaut hatten, Beamte des Verkehrsministeriums sowie Prüfer des Technischen Überwachungs-

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vereins (TÜV), freigesprochen. Der Freispruch stützte sich auf die zweifelhafte Auslegung des Status der Gletscherbahn. J­ elinek verweigert ein solches Leugnen jeglicher menschlicher Verantwortung und entlarvt menschliche Hybris, kapitalistische Gier und die Dummheit spezifischer Akteur:innen als verantwortlich für den Tod so vieler Menschen. Ihr Theater ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie das ›Theater der Leere‹ auf die durch scheinbar endlose Kaskaden von Katastrophen geprägte Gegenwart reagiert. Als ein Theater, das uns mit den reichhaltigen Klängen und dem Rauschen dieser Leere als dem Bereich all dessen, was ist und noch sein könnte, konfrontiert, erlaubt es, einen alternativen Modus der Sinnproduktion zu praktizieren. Auf diese Weise wehrt es sich gegen eine Form der Indifferenz, die es dem Subjekt nicht nur unmöglich macht, den Katastrophen einen Sinn zu geben, sondern es auch zu einem potenziellen Aggressor macht. Während wir in Gesellschaften leben, die zunehmend von der Unmöglichkeit geprägt sind, den andauernden Katastrophen und gewaltsamen Ereignissen, mit denen wir konfrontiert sind, einen Sinn zu geben und Verantwortung zu übernehmen, wirkt das ›Theater der Leere‹ dieser Sinnlosigkeit entgegen und findet eine theatrale Form, in der Sinnerzeugung so ausgeweitet wird, dass sie in der wechselseitigen Beziehung zwischen Materiellem und Immateriellem, zwischen Lebendigem und Inertem entsteht. Anfänge

Das ›Theaters der Leere‹ konfrontiert uns mit den ruinösen, kontaminierten Landschaften des technowissenschaftlichen Zeitalters und findet darin zugleich die Möglichkeit einer Zukunft. Diese entsteht aus der Plastizität, die sowohl Arbeit und Praxis als auch Explosion, Zerstörung und Verwundung einschließt. So rücken in diesem Theater Transformation und Metamorphose in den Blick und verweisen auf die Möglichkeit, neu und anders zu werden und damit eine Zukunft zu haben – in Zeiten, in denen es scheinbar keine Zukunft gibt. Wie dieses Theater zeigt, muss die Katastrophe nicht notwendigerweise einen Null- oder Endpunkt im Sinne einer vollständigen Leere erzeugen. Vielmehr ist die Leere voller Bewegung und Möglichkeiten, die zu neuem Leben gebracht werden (könn(t)en). Diese Anfänge werden in Müllers Bearbeitung von Sophokles’ Philoktet besonders deutlich: Die Tragödie fragt, wie individuelle Konflikte, Hass und Rachsucht überwunden werden können, um sowohl dem Einzelnen als auch der – in diesem Fall griechischen – Gemein-

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schaft eine Zukunft zu geben. Sophokles’ lässt Philoktet auf Odysseus treffen, der ihn Jahre zuvor aufgrund einer nicht heilen wollenden Wunde auf einer einsamen Insel ausgesetzt hat und nun erkennt, dass der Krieg gegen Troja nur mit der Hilfe von Philoktet zu gewinnen ist. Trotz aller Tricks vonseiten Odysseus’ kann in S ­ ophokles’ Version nur ein deus ex machina Philoktet davon überzeugen, seine Wut auf ­Odysseus zu überwinden und sich dem Kampf gegen Troja anzuschließen. Bei Müller gibt es diesen deus ex machina, der die Zusammenarbeit zwischen ehemals verfeindeten Individuen garantieren würde, nicht mehr. Während also Sophokles’ Tragödie deutlich macht, dass in einer solchen Situation nur ein Gott helfen kann, konfrontiert uns Müllers Version damit, dass es eine solche Instanz nicht gibt. In seinem Stück wird der Konflikt ohne die Hilfe eines Gottes durch die Tötung von Philoktet ›gelöst‹, wobei dessen Leichnam sofort von Odysseus instrumentalisiert wird, um seinen Sieg im Kampf gegen Troja zu garantieren. So hinterlässt Müllers Stück bei den Zuschauer:innen die düstere Vision einer Zukunft, die von kaltblütigen Pragmatiker:innen geprägt ist, die gelernt haben, selbst den toten Körper zum Kapital zu machen. Wie Müller in seinem Brief an den Regisseur Dimiter Gotscheff erklärt, markiert Odysseus die »Geburt des archäologischen Denkens«32, das den Menschen von der Natur trennt – was unausweichlich zur totalen Zerstörung führt, hier symbolisiert durch eine Neutronenbombe.33 Doch auch wenn Müllers Version jeder Hoffnung auf eine Alternative und positive Veränderung entbehrt, ist es gerade die Vision der Bombe, die die Möglichkeit eines Neuanfangs verspricht und das Potenzial für eine radikal neue Zukunft in sich trägt. Philoktet leidet an einer klaffenden, fauligen Wunde, die ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter macht. Bei Müller ist die Wunde die Leere, die die Möglichkeit eines Anfangs in sich trägt. In seinem Brief an Gotscheff macht er deutlich, dass diese Wunde nicht als etwas zu verstehen ist, das einfach überwunden werden kann oder muss. Vielmehr birgt sie das Potenzial für neue Anfänge und damit für eine Zukunft, denn sie ist das Loch, die Lücke, die eine Öffnung hin zu dem immer prekären Raum der Freiheit ermöglicht: »Die Tragödie geht leer aus. Ihr Gang verwirft die Tröstung, die ein Aufschub ist. Er transportiert das Nichts, den möglichen Anfang.«34 Der Anfang, den Müller in seinem Brief an Gotscheff imaginiert, erlaubt schließlich eine Verbindung zu einem seiner anderen Stücke, zu ­Verkommenes Ufer ­ Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1983). Im dritten und letzten Teil dieses Theatertexts mit dem Titel »Landschaft mit

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­ rgonauten« erinnert das ›Ich‹, das hier spricht, nicht nur an O A ­ dysseus, sondern auch an das ›Ich‹ in »Der Mann im Fahrstuhl« aus Der Auftrag und seine finale Wanderung durch die peruanische Landschaft. Dieses Mal ist der Spaziergang jedoch weitaus deutlicher mit den Ruinen des technowissenschaftlichen Zeitalters verbunden – und auch mit der möglichen totalen Zerstörung durch die Atombombe: Mein Gang durch die Vorstadt Ich Zwischen Trümmern und Bauschutt wächst DAS NEUE Fickzellen mit Fernheizung Der Bildschirm speit Welt in die Stube Verschleiß ist eingeplant Als Friedhof Dient der Container Gestalten im Abraum Eingeborne des Betons Parade Der Zombies perforiert von Werbespots In den Uniformen der Mode von gestern vormittag Die Jugend von heute Gespenster Der Toten des Krieges der morgen stattfinden wird WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN In der prachtvollen Paarung von Eiweiß und Dosenblech Die Kinder entwerfen Landschaften aus Müll Eine Frau ist der gewohnte Lichtblick ZWISCHEN DEN SCHENKELN HAT DER TOD EINE HOFFNUNG […].35 Wie bereits in Der Auftrag begegnen wir hier der Verschränkung von Zerstörung und Hoffnung. Darüber hinaus evoziert Müller das Bild der im Schutt spielenden Kinder, das in Der Auftrag mit dem Versuch verbunden war, kaputtes Spielzeug zu reparieren – ein Versuch, den der ›Ich‹-Erzähler dort ebenfalls mit dem Begriff der Hoffnung verbindet. Während das Leben in Trümmern einerseits auf das Fortbestehen des Kapitalismus hindeutet, der sogar nach dem Ende der Welt als ›Zombie-Kapitalismus‹ weiterexistiert,36 verweist das Leben inmitten von Ruinen zugleich auf eine andere Möglichkeit, nämlich eine von Veränderung und Neuanfängen. Mit Anna Tsing können wir in diesem Zusammenhang von einem Theater sprechen, das sich auf die Suche nach einer ›dritten Natur‹ oder einem ›Leben in den Trümmern‹ macht: Tsing ergänzt hier die hegelianische und marxistische ›erste Natur‹ (die vormenschliche Natur) und ›zweite Natur‹ (die Natur, die der Mensch über der ersten Natur konstruiert hat, d. h. die kapitalisti-

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schen Transformationen der Umwelt) um eine ›dritte Natur‹ und fasst darunter all das, was trotz des Kapitalismus über/lebt.37 Ihr Begriff der dritten Natur ist aufs Engste mit meinem Konzept der Leere verwandt, geht es doch auch hier um das Sensorische und die Un/Möglichkeiten der Nicht/Existenz, die aus dem scheinbaren Nichts hervorgehen können. So bringt Tsing explizit die Metapher der Quantumleere ein, um zu veranschaulichen, was die dritte Natur ist: »To even notice third nature, we must evade assumptions that the future is that singular direction ahead. Like virtual particles in a quantum field, multiple futures pop in and out of possibility; third nature emerges within such temporal polyphony.«38 Müllers Theater sucht nach Leben in Trümmern; das Gleiche gilt für Jelinek, Schlingensief und Pollesch. Allen vier ist gemeinsam, dass sie eine zerstörte Welt präsentieren, aus der dennoch Leben und Zukunft hervorgehen können. Jelinek steht Müller nahe, wenn sie ihre Rezipient:innen in ihren Texttopologien mit dem Zombie-Leben des Kapitalismus in einer von Katastrophen geprägten Welt konfrontiert, die jedoch zugleich ein möglichkeitsoffener Raum ist. Bei Schlingensief werden wir als Zuschauer:innen aufgefordert, uns einen Weg durch weite, räumliche Installationen zu bahnen, die mit Müllbergen gefüllt sind und damit auf die fortlaufende Produktion von Abfall in der anhaltenden Überakkumulation neoliberaler Gesellschaften verweisen. Doch inmitten dieser Müllberge entstehen durch die Betonung der Dunkelphase und der Bewegung neue Möglichkeiten und unerwartete Begegnungen. Bei Pollesch schließlich werden die Ruinen durch wiederholte Verweise auf ehemals konventionelle Arten und Weisen, die Welt zu verstehen, präsent, die sich als nicht mehr funktional entpuppen, aber dennoch die Gegenwart überschatten. Denn seine Gegenwart hat noch keinen Weg gefunden, sich mit der neuen Welt auseinanderzusetzen. Doch auch bei Pollesch signalisieren die Ruinen schließlich nicht einfach ein Ende allen Daseins, sondern sie ermöglichen eine Öffnung für die Leere als einen Bereich, in dem das Unerwartete und Einzigartige entstehen kann. Die Frage nach der Zukunft wird im Theater der Gegenwart immer dringlicher. Ich möchte in diesem Kontext auf zwei Arbeiten verweisen, die sich in jüngster Zeit mit dieser Frage auseinandergesetzt haben und als Fortsetzung des ›Theaters der Leere‹, wie ich es hier anhand der vier Theatermacher:innen theoretisiert habe, gesehen werden können. Eine davon ist Kevin Rittbergers Kassandra/ Prometheus. Recht auf Welt (2019), die andere Florentina Holzingers Ophelia’s got talent (2022).

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Der Dramatiker und Regisseur Kevin Rittberger kehrt in ­Kassandra/Prometheus zu den berühmten ersten Zeilen von Heiner Müllers Hamletmaschine (1979) zurück: »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.«39 Sich stets der inhärenten Zukünftigkeit von Müllers ›Theater der Leere‹ bewusst, enthüllt Rittberger das verborgene Potenzial dieser Zeilen, wenn er sie im Sinne eines Lebens, das inmitten der Ruinen zu gedeihen beginnt, und als Praxis für einen Neuanfang neu erfindet: »Ich stehe an der Brandung / Sammle aus den Wellen den Müll / Reassemblage.«40 Während sich Rittberger in seinem Theater v. a. mit den Modi einer alle Arten umfassenden Welterzeugung in einer postkolonialen Welt auseinandersetzt, denkt Florentina Holzinger die Zukunft ausgehend von einer ausgeprägt feministischen Perspektive. In Ophelia’s got talent füllt sich die Bühne im Laufe der Aufführung mit Müll und Dreck, sodass sich irgendwann das riesige, inmitten der Bühne positionierte Wasserbecken bräunlich-rötlich verfärbt und so das Gefühl einer verseuchten, giftigen Landschaft hervorruft. An dieser Stelle betreten Kinder die Bühne. Weit davon entfernt, zu suggerieren, dass diese Kinder die Zukunft symbolisieren, beginnen sie einfach mit all dem Dreck, den sie auf der Bühne vorfinden, zu spielen. Mit dieser Arbeit führt Holzinger uns in persönliche und gesellschaftliche Traumata und fragt, wie man daraus eine Zukunft gewinnen kann. Die Zukunft, die darin aufblitzt, ist von Momenten der Verwundung nicht zu trennen. Auf der Bühne wird die Wunde dabei jedoch nicht nur durch rigorose Selbstdisziplin und Akte der Selbstverletzung präsent, sondern auch durch das Teilen von persönlichen Erfahrungen, die sexuellen Missbrauch, Essstörungen und die Verletzung des Körpers durch Medizin und Therapie umfassen und mit Jemma Tosh als Formen der ›therapeutischen Vergewaltigung‹ gelesen werden können.41 Es sind diese Wunden, die sich bei Holzinger in die größere Erfahrung einer sich an ihrem Ende befindlichen Welt einschreiben und in ihrem Theater jene Leere schaffen, die es ihr ermöglichen, uns nicht nur auf die vielfältigen Zukünfte und Möglichkeiten, die ihr innewohnen, aufmerksam zu machen, sondern auch innerhalb der Ruinen so etwas wie Freude und Leichtigkeit zu entwickeln. Dies sind nur zwei Beispiele für eine wachsende Zahl von Arbeiten, die sich mit Fragen des Wandels und der Zukunft im technowissenschaftlichen Zeitalter auseinandersetzen und einen solchen Wandel mit Arbeit, Explosion, Zerstörung und Verwundung in Verbindung bringen. Als weitere Beispiele können so unterschiedli-

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che Regisseur:innen, Dramatiker:innen und Kollektive wie Julien ­Gosselin, Constanza Macras, Susanne Kennedy, Thomas Köck, die Otolith Group und Toshiki Okada genannt werden, die die ruinösen Landschaften der Gegenwart erkunden und gleichzeitig die vielfältigen Möglichkeiten untersuchen, die sich daraus ergeben könnten. Während diese Untersuchung der Leere und des Ruinösen in der Vergangenheit oft als Dystopie abgetan wurde, hat dieses Buch einen anderen Weg aufgezeigt, der die Zukunft, den Zufall und die Veränderung betont, die der Leere innewohnen. Müller sah ein solches Potenzial bei Brecht, als er auf einen anderen Materialismus hinwies, der dessen Theater innewohnt, aber von seiner dominanten marxistischen Dialektik verdeckt wird. Stattdessen macht Müller auf den Materialismus des Aleatorischen aufmerksam, den er ebenfalls bei Brecht findet und der für sein ›Theater der Leere‹ zentral wird. Das ist der Punkt, an dem sich nicht nur eine Möglichkeit auf Zukunft, sondern auch so etwas wie Freude und Leichtigkeit einstellen kann – und darin liegt auch das größte Potenzial des ›Theaters der Leere‹ für die Gegenwart. Denn das ›Theater der Leere‹ ist kein Theater der Verzweiflung, sondern eines, das Freude in das Ringen um eine Zukunft einschreibt. Wobei Freude hier nicht als neoliberales Begehren verstanden wird, sondern als Arbeit, als ständiger Kampf um Freiheit und als Bereitschaft, sich diesem hinzugeben. Als ein Theater, das Freude, Leichtigkeit und Vergnügen nicht aufgibt, muss das ›Theater der Leere‹ durchaus auch als Fortsetzung von Brechts Theater angesehen werden, bestand dieser doch darauf, dass die zentrale Qualität des Theaters die Leichtigkeit sei, da nur sie es erlaube, ernstere Fragen anzusprechen: »In dieser Leichtigkeit ist jeder Grad von Ernst erreichbar, ohne sie gar keiner.«42 Brecht schrieb diese Zeilen 1945 und er wusste sehr wohl, dass ein Lob der Leichtigkeit für seine Zeitgenoss:innen schockierend klingen könnte, weshalb er ausführte: »Es mag ja auch beinahe anstößig erscheinen, daß wir hier jetzt, zwischen blutigen Kriegen, und keineswegs, um in eine andere Welt zu flüchten, solche theatralischen Dinge diskutieren, welche dem Wunsch nach Zerstreuung ihre Existenz zu verdanken scheinen. Ach, es können morgen unsere Gebeine zerstreut werden!«, aber, so fährt er fort, die Dringlichkeit unserer Lage darf uns nicht das Mittel, dessen wir uns bedienen wollen, zerstören lassen. [...] Die Welt ist gewiß aus den Fugen, nur durch gewaltige Bewegungen kann alles eingerenkt werden. Aber es kann unter manchen Instrumenten, die

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dem dienen, ein dünnes, zerbrechliches sein, das leichte Handhabung beansprucht.43 Das ›Theater der Leere‹ findet eine Zukunft in einer Gegenwart ohne Zukunft. Es macht sich auf die Suche nach dem Leben in den Ruinen und dies, wie das ›Ich‹ in Müllers »Der Mann im Fahrstuhl«, indem es unseren ängstlichen Gang in einen Spaziergang verwandelt. »Schon seit geraumer Zeit / Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts / Mir je fehlen kann, vorausgesetzt / Ich selber fehle. Jetzt / Gelang es mir, mich zu freuen / Alles Amselgesanges nach mir auch.«44

1 Vgl. Broad, William J.: »The Terror of Threes in the Heavens and on Earth«, in: New York Times (26. Juni 2023). 2 Müller, Heiner: »Ich bin ein Neger«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1: 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 409 – 410. 3 Wir finden das in Anna Tsings The Mushroom at the End of the World (Princeton 2015) ähnlich formuliert. 4 Vgl. Müller, Heiner: »Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 10: Gespräche 1: 1965 – 1987, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 346. Müller beobachtet eine solche Haltung in diesem Gespräch v. a. in Westdeutschland, während er behauptet, dass ein ­solcher Defätismus in der DDR immer noch ein Tabuthema ist. 5 Vgl. Morton, Timothy: Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013, S. 1. 6 Vgl. ebd. 7 Siehe hierzu Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 33. 8 Ich denke hier v. a. wieder an Raddatz, Frank M.: Das Drama des Anthropozäns, Berlin 2021; und Malzacher, Florian: Gesellschaftsspiele. Politisches T ­ ­ heater heute, Berlin 2020. 9 Ghosh, Amitav: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare, aus dem Engl. von Yvonne Badal, München 2017, S. 16. 10 Die Verflechtung von Mensch und Natur ist die Folge der großen Mengen an ­Kohlendioxid, die durch die Industrialisierung in die Atmosphäre gelangen. Für eine kritische Analyse des Anthropozäns siehe z. B. Wark, McKenzie: Molecular Red. Theory for the Anthropocene, New York 2016. 11 Malzacher: Gesellschaftsspiele, S. 45, Herv. i. O. 12 Raddatz.: »Abenteuer Gaia«, S. 8. 13 Ghosh: Die große Verblendung, S. 11. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. Aristoteles: Poetik, aus dem Griech. und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 23. 16 Ebd., S. 35. 17 Vgl. ebd., S. 35 – 37. 18 Diese Haltung verbindet Müllers Theater noch einmal mit der unpublizierten Szene aus Brechts Galilei, die sich ebenfalls dadurch auszeichnet, dass Galilei ­seinem eigentlichen Impuls nicht folgt. 19 Žižek, Slavoj: The Parallax View, Cambridge, MA 2006, S. 202. Žižek entwickelt diesen Begriff des Ethischen anhand der Lektüre von Freuds Überlegungen zu Michelangelos Moses.

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20 Malabou verweist ebenfalls auf diese Analyse von Žižek und unterstreicht, dass das, was Žižek hier entwickelt, eine Möglichkeit in Abwesenheit von Zukunft ist (vgl. Malabou, Catherine: Plasticity at the Dusk of Writing, aus dem Franz. von Carolyn Schread, New York 2010, S. 81). 21 Hölderlin, Friedrich: »Sophokles: Antigonae«, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Michael Franz, Michael Knaupp und D. E. Sattler, Basel 1988, S. 261 – 407, S. 299. 22 Wir können hier an Hegel denken, der sich im zweiten Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften damit befasst, oder an Heidegger, der Antigone in seiner Einführung in die Metaphysik (Frankfurt a. M. 2020) diskutiert. Aktuell sehen wir zahlreiche Bezüge dazu in Theaterstücken, die sich kritisch mit dem Klimawandel und dem Anthropozän auseinandersetzen. Siehe z. B. Milo Raus Antigone im Amazonas (2023), in dem diese Chorzeile ganz zu Beginn wiederholt performt wird. 23 Vgl. Morton: Hyperobjects, S. 201. Morton argumentiert hier, stark an Kant orientiert, dass dieses Entgleiten zwar auch in der Vergangenheit der Fall war, die Bedingungen der Gegenwart es allerdings erstmals erlauben, dies vollständig zu erkennen. 24 Jelinek, Elfriede: »Epilog?«, in: Elfriede Jelinek (2012), https://original.elfriedejelinek.com/ffukushima.html (8. Mai 2024). 25 Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Werkausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 9, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, S. 13. 26 Ebd., S. 13. 27 Ebd., S. 13. 28 Ebd., S. 14. 29 Jelinek: »Epilog?«. 30 ›Natur‹ ist bei Jelinek eine Kategorie, die nicht ausschließlich den ökologischen Bereich umfasst, sondern alle/s, was aus dem üblichen, westlichen Begriff ›des Menschen‹ ausgeschlossen ist. 31 So z. B. in Das Werk, das sich mit dem Bau eines Kraftwerks in den österreichischen Alpen befasst, der während des Naziregimes hauptsächlich von jüdischen Zwangsarbeitern übernommen wurde und in den 1950er Jahren zum Vorzeigeprojekt Nachkriegsösterreichs wurde: »[H]ier greift der Mensch die Natur an! [...] kommen Sie her und schauen Sie sich die Natur als solche an, und dann schauen Sie sich die Technik an, wie sie über die Natur siegt! Und dann schauen Sie sich den Menschen an, wie er über Mensch und Technik siegt, bis nichts mehr übrig ist« (Jelinek, Elfriede: »Das Werk«, in: dies.: In den Alpen. Drei Dramen, Berlin 2002, S. 93). 32 Müller, Heiner: »Brief an den Regisseur der Bulgarischen Erstaufführung von ›­Philoktet‹ am dramatischen Theater in Sofia«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 8: Schriften, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2005, S. 268. 33 Müllers hat einen weiteren Entwurf für eine zweite Philoktet-Bearbeitung erstellt, der auf das Jahr 1979 datiert ist. Dieser Entwurf ist deshalb interessant, weil er Odysseus als neuen Typus einer politischen Führungsfigur deutlicher mit dem technowissenschaftlichen Zeitalter verbindet. In dieser Version ist Philoktet nicht auf einer einsamen, sondern auf einer von sexhungrigen Frauen bevölkerten Insel gefangen. Odysseus und Neoptolemus vergessen in dieser Fassung ihren eigentlichen Auftrag – den Sieg gegen Troja – sofort und geben sich den Verführungen der Frauen hin, während Philoktet in den Kampf gegen Troja zieht. Heinrich Schliemann fungiert dabei als eine Art deus ex machina, der mit einem Hubschrauber auf der Insel eintrifft. Schliemann steht bei Müller für die ›Geburt der Archäologie‹, die Musealisierung des Theaters und die Entwicklung der Neutronenbombe, die, so die letzten Worte des Stückes, »die Traumwaffe der Archäologie, das Finalprodukt des Humanismus« ist (Müller, Heiner: »Philoktet 1979. Drama mit Ballett (Entwurf)«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Die Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 10). 34 Müller: »Brief an den Regisseur«, S. 261. 35 Müller, Heiner: »Der Auftrag«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 5: Die Stücke 3, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2002, S. 81. 36 Siehe hierzu Kapitel 1. 37 Vgl. Tsing: The Mushroom, S. VIII.

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Endnoten

38 Ebd. 39 Müller, Heiner: »Hamletmaschine«, in: ders.: Heiner Müller. Werke 4: Stücke 2, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, S. 545. 40 Rittberger, Kevin: »Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt«, Unveröffentlichtes Manuskript, S. 76. 41 Siehe hier Caroline Schopps Rezension zu der Aufführung, die Toshs Begriff der ›therapeutischen Vergewaltigung‹ einbringt: Schopp, Caroline: »Importunate Feminism«, in: Texte zur Kunst 131 (2023), https://www.textezurkunst.de/en/ 131/caroline-lillian-schopp-florentina-holzinger-importunate-feminism/#id6 (1. Okto­­ber 2023). 42 Brecht, Bertolt: »Der Messingkauf«, in ders.: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht, Berlin 1993, S. 817. 43 Ebd. 44 Brecht, Bertolt: »Als ich in weißem Krankenzimmer in der Charité«, in: ders.: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 15: Gedichte 5, hrsg. v. Werner Hecht, Berlin 1993, S. 300.

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Zur Autorin

Teresa Kovacs ist Assistant Professor an der Indiana University ­Bloomington. Sie studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und promovierte mit einer Arbeit zu Elfriede Jelineks ›Sekundärdramen‹. Sie war zunächst als Wissenschaftlerin an der Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Universität Wien beschäftigt, bevor sie als Post-Doc an die University of ­Michigan, Ann Arbor, wechselte. Sie publiziert regelmäßig über Fragen des zeitgenössischen Theaters und der Theatertheorie, mit besonderem Interesse für das Theater im Anthropozän, die Transkulturalität des Theaters und das Spannungsgefüge zwischen Ästhetik und Politik. Publikationen u. a.: Drama als Störung, transcript 2016, Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Praesens 2011, hrsg. mit Pia Janke; Postdramatic Theatre as Transcultural Theatre, Narr 2018, hrsg. mit Koku Nonoa; Schlingensief-Handbuch, Metzler (­ forthcoming), hrsg. mit Peter Scheinpflug und Thomas Wortmann.


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Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm


Recherchen 93

Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­ Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I 163 Charlotte Wegen – Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion . Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 164 Theresa Schütz – Theater der ­Vereinnahmung . Publikumsinvolvierung im immersiven Theater 165 Benjamin Wihstutz, Daniele Vecchiato und Mirjam Kreuser – #CoronaTheater . Der Wandel der performativen ­Künste in der Pandemie 166 Dazwischengehen! . Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik 167 Dramatisch lesen . Wie über neue ­Dramatik sprechen? 168 Der urheberrechtliche Schutz ­performativer Kunst . Theater Aktion Performance 169 Wir waren die Müller-Spieler . Hermann Beyer, Michael Gwisdek, Dieter Montag über die Kunst des Schauspielens in der DDR 170 Tropen des Kollektiven . Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater 171 Stefanie Diekmann und Dennis Göttel – Nebenfiguren 172 Teresa Kovacs – Theater der ­Leere . ­Heiner Müller, Elfriede Jelinek, ­Christoph Schlingensief, René Pollesch



Theater der Leere macht die Katastrophen des technowissenschaftlichen Zeitalters zum Ausgangspunkt für die Annäherung an das Theater und zeigt, dass die Leere im zeitgenössischen Theater mehr ist als ein bloßes Nichts. Im Gegenteil, sie ist das Potenzial und die Möglichkeit einer radikalen Transformation des Theaters selbst. Im Dialog mit dem Theater von Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und René Pollesch wird das Gefüge von Explosion, Unfall, Wunde und Transformation in den Blick genommen, das in den Arbeiten aller vier Theatermacher:innen aufzuspüren ist. Die Studie zeigt, dass gerade hier eine theatrale Grammatik aufblitzt, die Leichtigkeit und Glück in das Ringen um eine Zukunft einführt und die uns in einer von Atomtechnologie und Klimawandel bedrohten Gegenwart viel zu sagen hat.

978-3-95749-524-2 tdz.de


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