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Selen Kara I love you, Turkey

Regie Selen Kara

I love you, Turkey!

von Ceren Ercan

Deutschsprachige Erstaufführung 7. Dezember 2019 Staatstheater Nürnberg

Bühne Lydia Merkel Kostüme Anna Maria Schories Dramaturgie Christina Zintl Musik Vera Mohrs

Die Zeiten sind unwirtlich geworden in der Türkei. Seit dem Wechsel des Regierungschefs Recep Tayyip Erdog˘ an ins Amt des Staatspräsidenten 2014 werden Öffnung und Säkularisierung der türkischen Gesellschaft peu à peu zurückgedrängt, wird das Erbe Atatürks beschnitten. Regierungskritiker müssen spätestens seit dem Putschversuch gegen Erdog˘ an 2016 mit härtesten Repressionen rechnen, rund 129 000 Staatsbedienstete verloren wegen angeblicher Verbindungen zum Putsch ihre Anstellung. Teile der Intelligenz verlassen das Land; man spricht bereits von einer zweiten Auswanderungswelle, vom großen „Brain Drain“; die Regierung probiert, Akademiker*innen mit überdurchschnittlichen Monatsgehältern zurückzuholen.

Von dieser türkischen Gegenwart erzählt Ceren Ercans Zeitstück „I love you, Turkey!“. Wir sehen junge Intellektuelle: eine Journalistin im Mutterschutz, eine Übersetzerin in der Selbstisolation, einen schwulen YouTuber und eine arbeitslose Wissenschaftlerin. Sie alle ringen mit ihrem Land, das ihnen zu entgleiten droht. Sollen sie auswandern wie so viele ihrer Bekannten, Freunde, Partner? Sollen sie bleiben und erdulden, dass die Daumenschrauben weiter angezogen werden? „I love you, Turkey“, ich liebe dich. Aber was ist der Preis dieser Liebe? In einem Waschsalon treffen sie auf den Ladenbesitzer und Spitzel Alican, der seine ganz eigene Geschichte mit dem Regime hat.

Die Istanbuler Uraufführung von „I love you, Turkey!“, in der Regie von Yelda Baskın 2017 im Arbeitervorort Bakırköy am dortigen Stadttheater, dem Bakırköy Belediye Tiyatrosu, herausgebracht, lief im vergangenen Jahr beim Heidelberger Stückemarkt und war dem Vernehmen nach eines der Highlights des Festivals. „Dass dieser mutige, hochpolitische Abend in der Türkei so gespielt wird, ist kaum zu glauben“, schrieb Verena Großkreutz auf dem Festivalportal von nachtkritik.de. Die Dringlichkeit des Stücks wird auch in der deutschsprachigen Erstaufführung, die Regisseurin Selen Kara jetzt am Staatstheater Nürnberg besorgt hat, fassbar. Am eindrucksvollsten wohl in jener Szene, in der Nicolas Frederick Djuren als Waschsalonbesitzer Alican an die Rampe tritt, mit gehetztem, verhuschtem Blick, ein Baum von einem Mann, aber er wirkt in sich eingekerkert. „Wenn du ein bisschen aufsteigst, gibt es auf jeden Fall jemanden, der dich nicht leiden kann. Schlechte Zeiten. Jeden Augenblick

könnte jemand dich ausspionieren“, sagt er mit gedämpfter Furcht, unterschwellig bebend. Ihn selbst, so erzählt er, haben alte Fotos aus der Uni-Zeit, bei Facebook gepostet, verdächtig gemacht. Ein Karriereknick und das Abgleiten in die Fänge des Staates. Jetzt bespitzelt er selbst Leute in seinem Waschsalon.

Für Regisseurin Selen Kara ist es die erste Einladung zu Radikal jung. Die Tochter türkischer Einwanderer wurde 1985 in Velbert, Kreis Mettmann, in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie studierte ein Jahr auf einer privaten Istanbuler Theaterschule, wechselte dann zu Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Bochum. Eine Übersetzertätigkeit für eine „Faust“-Inszenierung des Regisseurs Mahir Güns¸ iray brachte sie 2010 ans Schauspielhaus Bochum während der Intendanz von Anselm Weber. Sie blieb als Regieassistentin, debütierte mit „Blaubart – Hoffnung der Frauen“ von Dea Loher 2014 als Regisseurin.

Auch nach dem Weggang von Weber arbeitete sie am Theater ihres Wohnorts Bochum, inszenierte 2018 in den Kammerspielen des Schauspielhauses „Träum weiter“ aus der Feder der Drehbuchautorin Nesrin S¸ amdereli. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Musiker Torsten Kindermann, und Akın Emanuel S¸ ipal schuf sie 2015 fürs Theater Bremen den Sezen-Aksu-Liederabend „Istanbul“, der zum Nachspielhit avancierte und von Kara selbst in Bochum und Mannheim wiederaufgelegt wurde. Danach war sie erst einmal auf das Format Liederabend abonniert, wie sie beim Telefonat erzählt. Von dem Rollenmodell löst sie sich gerade. „Ich will jetzt nicht nur die Türkeibeauftragte sein oder die Liederabendtante“, sagt Selen Kara.

Gleichwohl merkt man auch „I love you, Turkey!“ ihr Händchen für musikalische Entwürfe an. Bei der Hälfte des Stücks, wenn sich die Figuren im Waschsalon zum Schlagabtausch über ihr Leben in der Türkei eingefunden haben, blendet Kara den Siegessong der Türkei beim Eurovision Songcontest 2003 von Sertab Erener ein. Das Licht schaltet auf Dancefloor, die Discokugel funkelt. Das Ensemble zitiert die einschlägige Hüftschwungchoreografie. Und im aufleuchtenden Nürnberger Saal swingt das Publikum leise mit. Es ist der emotionale Höhepunkt der Inszenierung, ein Surfen auf der Popwelle. Aber zugleich auch ein Blitzlicht aus jener Zeit, an die sich die Figuren des Stücks wehmütig erinnern: die Nuller Jahre, als am Bosporus das Tor nach Westen weit offen stand, als die Türkei der EU so nahe war wie seither nicht wieder und als man eben auch mit cheesy Anmachsongs die Herzen des Fernsehpublikums zwischen Dublin und Athen erobern konnte.

Der Pop-Appeal, der in dieser wie in anderen Songeinlagen des Abends vordergründig wird, bestimmt die Bildsprache der Inszenierung auch auf anderen Ebenen. Selen Kara arbeitet für „I love you, Turkey!“ mit ihrer vertrauten Bühnenbildnerin Lydia Merkel zusammen, die den Ort der Handlung als reizvolle Synthese aus Club und Waschsalon einrichtet. Die Kacheln der Wände fungieren mitunter als Leuchtfelder, die davor getürmten Waschmaschinen, ebenfalls von innen beleuchtet, verströmen einen Hauch von Astro-Bar. Die Spieler*innen kleidet Anna Maria Schories passend in prononcierte Plastikpopkluft mit Faible für Pailletten und Retro80er-Jahre-Blazer. Die Optik ist einem starken formalen Ansatz verpflichtet, Elemente werden gezielt aus einer Farbfamilie gewählt, um die Stimmung zu grundieren: „Es ist mir wichtig, durch das Farbkonzept der Inszenierung eine eigene künstliche Welt zu schaffen“, sagt Selen Kara. Mit türkischen Ornamenten, Teppichen oder ähnlichem zu arbeiten läge ihr fern.

Die Anleihen bei der Clubkultur korrespondieren aber auch mit einem wichtigen Twist des Stücks. Immer wieder fragen sich die Akteure, woher ihnen dieser Waschsalon, in dem sie zusammentreffen, bekannt vorkommt – dieser Waschsalon, in dem der Inhaber Alican sie alle festhält, weil er in ihrer Wäsche ein „Help!“-T-Shirt entdeckt hat, das als politisches Statement wider die Regierung eingestuft wird. Und wie sich herausstellen wird, war dieser Waschsalon am Taksim-Platz einst eine Bar, in den Zeiten, als Taksim das Zentrum der nunmehr inkriminierten Liberalität und queeren Kultur war, der Demonstrationsort der Istanbul Gay Pride. Das Stück sucht hier ein symbolträchtiges Gefüge für den politischen Wandel: der Club, der Alkohol, das Bunte und vermeintlich Unreine, all das wird von der Obrigkeit weggeschafft – im Vollwaschgang.

Ceren Ercan lässt die Figuren ihres Stücks diesen epochalen Shift umkreisen. „Ernstgemeinte Frage: Muss ich wirklich gehen?“, wirft Emre ins Rund. Sein Freund hat ihn gerade verlassen, er taumelt. „Akzeptier das hier so, wie es ist“, gibt Damla zurück. Auch ihr Ex ist fort, nach Arizona ausgewandert. Zwischen Bleiben und Gehen, zwischen einem zerknirschten Ausharren und dem Liebäugeln mit dem Absprung pendeln hier alle. Die Sachtext-Übersetzerin Irem hat sich ins innere Exil zurückgezogen und verweigert seit 92 Tagen die Körperpflege. Die Dusche hat sie gegen das Rumlungern auf Twitter eingetauscht. Ihre Nachbarin Defne ist gerade im Mutterschutz, ob sie den Weg in ihre Zeitungsredaktion zurückfindet, ist angesichts um sich greifender Publikationsver

bote mehr als offen. Ihren neugeborenen Sohn nennt Defne Derwisch, zu Deutsch: Widerstand.

Ihre Geschichten, die Gefühlslagen und politische Konflikte in der Türkei sehr unverblümt ansprechen, bringen die Figuren vor allem in Monologen vor, das szenische Miteinander fällt schlanker aus, mitunter gibt es eine schöne trockene Pointe: Damla (Süheyla Ünlü) sagt, als die Runde wegen des strittigen T-Shirts nun schon lange im Waschsalon festgehalten wird: „Anwalt! Hat jemand hier einen Anwalt?“ Darauf Irem (Lisa Mies) mit dem ihr eigenen burschikosen Humor: „Alle Anwälte, die ich kenne, sitzen im Knast.“ So klingt der Sarkasmus aus der gesellschaftlichen Stagnation heraus.

Selen Kara sucht immer wieder gezielte performative Auflockerungen des Geschehens. Als Intro und übergreifendes Sinnbild wählt sie eine Szene, die bei Ceren Ercan erst etwas später vorgesehen ist: YouTuber Emre (Amadeus Köhli) bittet zur „Chubby Bunny Challenge“, und alle stopfen sich Marshmallows in den Mund, um im Chor zu sprechen: „Ausnahmezustand Ausbadezustand Aushaltezustand“. Und immer mehr und immer mehr. Sie stopfen die Marshmallows in sich rein, bis das Sprechen zum Würgen und Spucken wird. Der „Aushaltezustand“ – kaum auszuhalten.

Es sei ihr wichtig gewesen, mit dem Stück von Ceren Ercan „der Gegenbewegung der jungen Generation, die in der Türkei unterdrückt wird, hier eine Stimme zu geben“, sagt Selen Kara im Programmheft. Eben auch, weil das Stück aus der Türkei selbst heraus spricht, wie sie im Interview unterstreicht, eine „Stimme von dort“ bietet. Wie bei vielen interkulturell angelegten Abenden stand auch das Nürnberger Team vor der Frage, ob deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler sich diesen Stoff so umstandslos aneignen können. Im Licht der Identitätspolitik erntet solch ein Vorgehen ja gern Kritik als illegitime kulturelle Appropriation und Bemächtigung. Selen Kara, deren eigene Wurzeln in Nordrhein-Westfalen liegen und deren Türkeierfahrungen aus der Familiengeschichte und aus regelmäßigen Besuchen im Land stammen, geht mit solchen Fragen eher unverkrampft um. „Für mich ist es selbstverständlich, dass jeder alles spielen kann“, sagt sie beim Telefoninterview. Ihren Bremer Liederabend „Istanbul“ hat sie mit deutschsprachigen Schauspielerinnen und Schauspielern eingerichtet und dafür gesorgt, dass diese die türkischen Lieder im Original vortragen. Einen Song in Originalsprache gibt es in „I love you, Turkey!“ auch. „Da müssen wir uns hin entwi-

ckeln“, sagt Selen Kara ganz unaufgeregt, „dass jeder alles spielen kann, wie ja auch im Rahmen des Genderdiskurses Frauen auch Männer spielen und umgekehrt.“

Ceren Ercans Stück bietet selbst bereits den Bogenschlag zwischen der Türkei und Deutschland an. In einer zentralen Szene spielen Irem und Defne (Lea Sophie Salfeld) eine Szene aus Rainer Werner Fassbinders Beitrag für den Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ aus dem Jahr 1978 ein. Es ist die Zeit, als RAF-Terror das Land erschüttert und die BRD-Regierung sich mit härtesten Maßnahmen zur Wehr setzt. Intellektuelle fürchten, als RAF-Sympathisanten gebrandmarkt und verfolgt zu werden. Das Gespenst des Totalitarismus geht um. Fassbinder diskutiert die Lage der Nation mit seiner Mutter, attackiert sie, provoziert sie heftig. Ihm graut vor der Rückkehr des Dritten Reichs, er fordert die Mutter zur Überprüfung der deutschen Vergangenheit und ihrer Gegenwart auf. Sie, leicht eingeschüchtert, auch mit dem Stoizismus des So-isser-halt-der-Sohn, sagt Sätze wie: „Du weißt nicht, was die Leute mit deinen Worten machen. Deswegen würde ich niemanden ermutigen, zu diskutieren.“ Selen Kara hat für ihre Inszenierung die Passage um einige Originalzitate aus der Fassbinder-Episode erweitert und bietet die Conclusio der Mutter: „Das Beste wäre so ein autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich.“ Hier drückt sich die kleinbürgerliche Sehnsucht nach

der Herrschaft des Mittelmaßes aus. Eine Sehnsucht nach Normdiktat, in der türkische und deutsche Verhältnisse gestern und heute plötzlich ganz naherücken. Entsprechend findet man den Schlusssatz der Fassbinder-Szene in Abwandlung leitmotivisch in Ercans Stück wieder: „Ja, ich hab auch Angst, aber ich hab das Gefühl, dass ich nicht weg kann.“

So erzählt „I love you, Turkey!“ von der zerrissenen Heimat, vom inneren Konflikt der jungen Intellektuellen. Ein gespaltener Liebesbrief, ein Bekenntnis zu einem Land, das es nicht leicht macht zu bleiben und nicht leicht zu gehen. In einer Situation, die historisch nicht einzig ist und die über den Bosporus hinausweist. Die Erdog˘ ans unserer Tage sind Legion. Sie pressen intellektuelles Leben in einen Käfig – oder in die Waschtrommel.

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