Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit

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Ohne Kultur keine Nach

Wie der Kulturund Naturbereich gemeinsam die UN-Nachhaltigkeitsziele voranbringen können

haltig

Herausgegeben von Olaf Zimmermann und Hubert Weiger

Ohne Kultur keine Nachhaltig

Wie der Kulturund Naturbereich gemeinsam die UN-Nachhaltigkeitsziele voranbringen können

Herausgegeben von Olaf Zimmermann und Hubert Weiger

Vorwort und Einleitung

010 Vorwort der Staatsministerin für Kultur und Medien

Claudia Roth

014 Nachhaltige Entwicklung wird nur durch einen kulturellen Wandel gelingen

Olaf Zimmermann und Hubert Weiger

1

022 Bekämpfung von Armut in Deutschland und kulturelle Teilhabe

Ulrich Lilie

028 Das Ende der Bescheidenheit — Gerechte Bezahlung in Kunst und Kultur ist Armutsprävention

2

Keine Armut Kein Hunger

Frank Werneke

036 Ökologischer Landbau als globale Antwort auf den Hunger in der Welt Felix zu Löwenstein

042 Die Hungerzahlen steigen — das SDG 2 wird verfehlt!

Dagmar Pruin

3

Gesundheit und Wohlergehen

050 Wir alle müssen die Transformation gestalten

Claudia Traidl-Hoffmann

4

Hochwertige Bildung

056 Die Wunder der Welt erklären — Anforderungen an eine naturwissenschaftliche Bildung

Ernst Peter Fischer

062 Lebenslanges Lernen für alle — der Beitrag der kulturellen Bildung

Martin Rabanus und Philip Smets

Geschlechtergleichheit

070 Noch viel zu tun —

Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur

Gabriele Schulz

076 Auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten

Gesellschaft

Beate von Miquel

Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen

084 »Ich muss mal …« — warum die Hälfte der Weltbevölkerung nicht einfach mal »müssen« kann

Lena Bodewein

090 Konfliktpotenzial oder Quelle von Kooperation?

Wasser als Politikum in Zeiten des Klimawandels

Susanne Schmeier

094 Sauberes Wasser! Für Mensch und Natur lebenswichtig

Sascha Maier

5 8 6 9 7 10

Bezahlbare und saubere Energie

102 Energieversorgung von Morgen weltweit neu aufstellen

Raimund Bleischwitz

108 Raus aus der Kohle — Anforderungen an einen erneuten Strukturwandel

Kai Niebert

Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

116 Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

Yasmin Fahimi

122 Kulturarbeit zwischen Traumjob und Prekariat

Olaf Zimmermann

Industrie, Innovation und Infrastruktur

130 Die EWSA-Arbeit im Spiegel der UN-Nachhaltigkeitsziele

Hans-Peter Klös und Sandra Parthie

136 Die Bedeutung ländlicher Räume für eine Nachhaltigkeitstransformation

Manfred Miosga und Lisa Maschke

Weniger Ungleichheiten

144 Wie kann Ungleichheit in Deutschland verringert werden?

Ulrich Schneider

Nachhaltige Städte und Gemeinden

152 Zukunft ist eine Frage der Planung — Entwurf für eine Baukultur der Verantwortung

Tillman Prinz

156 Nachhaltige Städte und Gemeinden — eine gemeinsame Aufgabe

Reiner Nagel

160 Keine Zukunftsmusik — die nachhaltige Stadt

Helmut Dedy

Nachhaltige/r Konsum und Produktion

168 Nachhaltigkeit — das Jahrhundert.Ziel in der Mode

Mara Michel

174 Weniger, haltbarer, reparierbar

Frederike Kintscher-Schmidt

Maßnahmen zum Klimaschutz

182 Die Zeit läuft uns davon!

Michael Müller

188 Beim Klimaschutz konsequent werden — denn jedes Zehntelgrad zählt

Olaf Bandt

Leben an Land

204 Naturschutz sichert unsere menschlichen Lebensgrundlagen

Hubert Weiger

212 Das Kunming-MontrealAbkommen von 2022

Josef Settele

Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen

220 Recht für Nachhaltigkeit — Recht auf Nachhaltigkeit

Günter Winands

230 Das Alleskönner-Phlegma

Günther Bachmann

236 (Kultur)Verantwortung — zwischen L’art pour l’art und Pflicht

Olaf Zimmermann

242 Kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit

Christian Höppner

Partnerschaften zur Erreichung der Ziele 11 15 12 16 13 14 17

Leben unter Wasser

196 Eine zukunftsfähige Meerespolitik — Weichen stellen für Meer und Mensch

Nadja Ziebarth

248 Wie kann Ungleichheit zwischen den Ländern, insbesondere Nord-Süd, verringert werden?

Bernd Bornhorst

2015 —

—2030

Vorwort der Staatsministerin für Kultur und Medien

Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der globalen Agenda für nachhaltige Entwicklung zur Einhaltung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Die Umsetzung dieser Ziele ist auch mir ein wichtiges Anliegen. Aktuell fordern uns nicht nur eine, sondern viele Krisen. Die Nachrichten werden vom brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dominiert. Ein Krieg, der die gesamte internationale Friedensordnung gefährdet. Wir erfahren von Tod, Zerstörung und menschlichem Leid. Nachrichten und Bilder, die wir in Europa lange für unvorstellbar hielten. Die Auswirkungen dieses Krieges führen zu weiteren Krisen weltweit. Energie und Nahrungsmittel werden knapp. Menschen hungern, weil sie sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. Medizinische Versorgung gerät in Gefahr, weil globale Versorgungswege gestört sind. Zugleich sind die Auswirkungen der Pandemie immer noch spürbar. Schließlich erleben wir auch die Folgen der sich immer weiter verschärfenden Klimakrise. Der Ausnahmezustand wird zur »neuen Normalität«. Meldungen über Wärmerekorde »seit Beginn der Aufzeichnungen« erscheinen inzwischen selbstverständlich, während sich sogenannte Jahrtausendfluten häufen, die, wie der Name schon sagt, eigentlich nur einmal im Jahrtausend auftreten sollten. Wälder brennen weltweit. Arten sterben aus.

Hier will die globale Agenda 2030 eingreifen und setzt mit 17 Nachhaltigkeitszielen Handlungsmaßstäbe in allen Bereichen.

Auch die Kultur ist gefordert. Unser Ziel sollte nicht nur eine nachhaltige Kultur, sondern auch eine Kultur der Nachhaltigkeit sein. Kreative haben seit Jahrhunderten politische und soziale Krisen auf der Bühne, in der Literatur oder im Film künstlerisch verarbeitet. Sie haben Fehlentwicklungen aufgezeigt und Visionen einer besseren Welt entworfen. Der vorliegende Sammelband verbindet Beides. Dafür bin ich den Autorinnen und Autoren sehr dankbar. Die Beiträge zeigen, dass der Kulturbetrieb noch immer nicht geschlechtergerecht, klimaneutral, für alle zugänglich oder lohngerecht ist. Es gibt viel zu tun. Und wir alle wissen, dass wir allein mit künstlerischen Mitteln die Krisen nicht bewältigen können. In meiner Amtszeit hat mein Haus bereits zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Einige Beispiele:

SDG 4 — Hochwertige Bildung

Ich setze mich dafür ein, dass die vom Bund geförderten Kultureinrichtungen noch intensiver als bisher kulturelle Teilhabemöglichkeiten eröffnen und die Diversität in den Einrichtungen stärken. Das gilt für die Gremien- und Personalbesetzung ebenso wie für die Ansprache des Publikums oder die Zugänglichkeit der Angebote. Ziel ist es, eine »Kultur für alle« zu fördern — und in wachsendem Maße eine »Kultur mit allen« und »von allen«. Ziel ist es, Menschen anzusprechen, die bislang nicht zum traditionellen Publikum der Kultureinrichtungen gehören. Ein Beispiel: Mit der 2021 eröffneten Kinderwelt »Anoha« hat das Jüdische Museum Berlin seine Workshop-Angebote um neue, wegweisende Vermittlungsformate speziell für Kinder und Familien, Kita- und Grundschulgruppen sowie pädagogische Fachkräfte erweitert. Auf insgesamt 2.500 m2 führt die interaktive Erlebnisausstellung 3- bis 10-Jährige spielerisch an Fragen nach Zugehörigkeit und Abgrenzung, Akzeptanz und Ablehnung heran.

SDG 5 — Geschlechtergerechtigkeit

Machtmissbrauch, Sexismus und sexualisierte Grenzüberschreitungen sind in den Kultur- und Medienbranchen leider weiterhin keine Ausnahmen. Das ist vollkommen in-

akzeptabel. Deshalb habe ich einen Aktionsplan für einen Kulturwandel gegen sexuelle Belästigung und Gewalt gestartet, in dessen Rahmen u. a. ein verbindlicher Code of Conduct für respektvolles Arbeiten branchenweit erarbeitet und der Ausbau von Präventionsangeboten insbesondere für Führungskräfte in Kultur und Medien bei der Themis Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e. V. gefördert wird. Für ein geschlechtergerechtes, solidarisches und respektvolles Arbeitsklima.

SDG 7 — Bezahlbare und saubere Energie

Krisen können immer auch als Gelegenheitsfenster für Veränderungen verstanden werden. So können wir beispielsweise fragen, wie die aktuelle Energiekrise zur ökologischen Transformation beitragen kann. Hier setzt das Vorhaben »Sprint 20« des von der BKM geförderten »Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit in Kultur und Medien« an. Im Jahr 2023 werden bis zu 50 Einrichtungen beraten, um zeitnah zu einer spürbaren Verbrauchsreduzierung beizutragen. Viele Kulturakteure sind darüber hinaus aber durch die rasant gestiegenen Energiepreise in ihrer Existenz gefährdet. Um die Auswirkungen der Energiekrise zu mindern, haben Bund und Länder beschlossen, Mittel aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu nutzen und Kultureinrichtungen sowie Kulturveranstaltende in den Jahren 2023 und 2024 über den Kulturfonds Energie des Bundes zu unterstützen. Davon profitieren mittelbar auch Künstlerinnen und Künstler und alle Gewerke rund um den Kulturbetrieb.

SDG 8

— Menschenwürdige Arbeit

Zur Verbesserung der sozialen Lage von Kreativen wurden erweiterte Zuverdienstmöglichkeiten in der Künstlersozialversicherung und die Sonderregelung für einen erleichterten Zugang zum Arbeitslosengeld für überwiegend kurz befristet Beschäftigte verstetigt. Außerdem konnten wir den Künstlersozialabgabesatz 2023 bei 5 Prozent stabilisieren; weitere sozialversicherungsrechtliche Verbesserungen für die häufig soloselbstständig oder hybrid Erwerbstätigen sind in Planung. Außerdem gilt: Wer Fördergelder der öffentlichen Hand erhält, sollte auch Gagen zahlen müssen, die einen Lebensunterhalt ermöglichen.

SDG 10 — Weniger Ungleichheiten

Um sowohl junge Menschen als auch die Kultur zu unterstützen, haben wir den KulturPass eingeführt. Er wendet sich zunächst an alle Jugendlichen in Deutschland, die in diesem Jahr 18 Jahre alt werden und bietet ihnen mit einer eigenen App die Möglichkeit, ein Budget von 200 Euro deutschlandweit für eine Vielzahl von Kulturangeboten einzusetzen. Damit weckt der KulturPass nicht nur die Neugier auf kulturelle Erlebnisse, sondern bietet auch sozial benachteiligten jungen Menschen eine neue Möglichkeit, kulturelle Angebote ohne zusätzliche Kosten wahrzunehmen.

SDG 13 — Maßnahmen zum Klimaschutz

Ich setze mich für eine umwelt- und klimagerechte Kultur- und Medienproduktion ein. Das Projektbudget habe ich verzehnfacht, so dass mein Haus zahlreiche Projekte starten konnte, etwa zur Schaffung von Klimabilanzierungsstandards, Energieberatungen, ökologischen Mindeststandards und zur Verbreitung von Kreislaufwirtschaftsprozessen bei Kulturveranstaltungen. Wir starten gerade die zentrale Anlaufstelle »Green Culture«, bei der sich Kultureinrichtungen zu Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes beraten lassen können. Sie wird mit den konkreten Aufgabenfeldern »Kompeten-

zen, Wissen, Datenerfassung, Beratung und Ressourcen« vernetzen, Notwendigkeiten, Entwicklungen und Best Practices sichtbar machen und damit den »Knotenpunkt« für den ökologischen Transformationsprozess in der Kultur bilden.

SDG 16 — Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen

Mein Haus hat im letzten Jahr zur Milderung der Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine 20 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Schwerpunkte waren dabei der Kulturgüterschutz, Medien, Stipendien, Residenz-Programme sowie sonstige Kulturangebote. Im Bereich Kulturgutschutz haben wir gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben gerufen. Ebenfalls mit dem Auswärtigen Amt haben wir die Hannah-Arendt-Initiative gestartet, ein Schutzprogramm für Medienschaffende sowie Verteidigerinnen und Verteidiger der Meinungsfreiheit in Krisen- und Konfliktgebieten im Ausland wie auch im Exil in Deutschland.

Betrachten wir die Krisen unserer Zeit tatsächlich als »Krisis«, als eine entscheidende Wendung. Die vielfältigen Krisen zwingen uns in vieler Hinsicht zu einem Umdenken. Machen wir daraus einen Aufbruch, von dem wir alle nachhaltig profitieren werden, die Kultur ebenso wie die Wirtschaft und der soziale Zusammenhalt Europas.

Nachhaltige Entwicklung wird nur durch einen kulturellen Wandel gelingen

Jürgen Kocka beschreibt in seinem Buch »Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland«, dass die Industrialisierung und die damit einhergehende Modernisierung vor allem auch ein kultureller Wandel war. Die technischen Erfindungen, die sukzessiven Marktöffnungen und die Bildung von Zollvereinen, um den Handel zu beflügeln, sind nur einige Elemente der erfolgreichen Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts. Sie wäre nicht möglich gewesen, ohne den wissenschaftlichen Fortschritt und die kulturellen Veränderungen. Verbürgerlichung, Bedeutungsgewinn von Kultur und Wissenschaft, Bildung von Vereinen und Genossenschaften — generell die Entstehung einer Zivilgesellschaft — sind nur einige wenige Stichworte dieses kulturellen Wandels. Ebenso gehören dazu die Stadttheater, die Museen, die Kunstvereine sowie generell die Entstehung einer kulturellen Öffentlichkeit.

Das lange 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Verwerfungen. Beginnend mit der französischen Revolution und endend mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 umspannt es die Lebensspanne mehrerer Generationen. Es ist eine Zeitspanne mit tiefen Umbrüchen, großer wirtschaftlicher Not und ökonomischen Höhenflügen. Es ist Phase erheblicher Wanderungsbewegungen. Lebten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches im Jahr 1780 21 Millionen Menschen und damit 38 Personen pro km², waren es 1914 67,7 Millionen Menschen mit einer Bevölkerungsdichte von 123 Menschen pro km². Die starke wirtschaftliche Entwicklung gepaart mit medizinischem Fortschritt, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trugen das Ihrige zu dem Bevölkerungswachstum bei. Ohne die großen Auswanderungswellen 1850—1854, 1865—1869 sowie 1880—1884 in Sonderheit nach Nordamerika wäre das Elend deutlich größer gewesen. Kocka spricht davon, dass zwischen 1820 und 1890 rund 10 Prozent der Bevölkerung aus dem Gebiet des Deutschen Reiches ausgewandert sind (Kocka 2021, 54). Neben der Auswanderung fand zwischen 1870 und 1914 eine immense Binnenwanderung statt. In diesem Zeitraum hat jeder zweite Deutsche (32 Millionen Menschen) an der Binnenwanderung teilgenommen, bei rund der Hälfte davon, also 15 bis 16 Millionen Menschen, war die Binnenwanderung eine Fernwanderung. Sie waren »Wirtschaftsflüchtlinge« aus den östlichen Reichsgebieten und wanderten in die wirtschaftlich florierenden Industrieregionen, wie z. B. Berlin oder das Ruhrgebiet. Das »lange« 19. Jahrhundert vor allem mit dem sprichwörtlichen Biedermeier in Verbindung zu bringen, ist ein Trugschluss. Es ist oft gerade die Literatur und bildende Kunst der Romantik, in der versucht wird, eine Zeit festzuhalten, die es so nicht mehr gab. Die Literatur des bürgerlichen Realismus ist, was aufmerksamen Leserinnen und Lesern kaum entgeht, durchzogen vom Schmerz der Veränderung, dem Staunen und der Unbegreiflichkeit der neuen schnellen industriellen Welt. Im Naturalismus werden die Verwerfungen auf der Bühne, in den Romanen und Bildern schonungslos thematisiert. Die Industrialisierung war und ist allen Brüchen zum Trotz mit einem Wohlstandsversprechen verbunden, was insbesondere für die sogenannten westlichen Industrienationen gilt. Der Wohlstand für breite Schichten der Bevölkerung ist in den Jahrzehnten seit der Industrialisierung ebenso gewachsen wie der Zugang zu Bildung, zu Medizin, zu Wohnraum usw. Industrialisierung war verbunden mit einem massiven Raubbau an der Kultur. Selbstverständlich hat der Mensch auch in früheren Jahrhunderten in die Natur eingegriffen und aus der Natur- eine Kulturlandschaft gemacht. Dies sei kurz skizziert: Bis zum Ende der Völkerwanderung war Mitteleuropa im Gegensatz zum Mittelmeerraum von den zerstörerischen Aktivitäten des Menschen weitgehend verschont geblieben. Dann fand aber durch mehrere Rodungsphasen eine erhebliche Veränderung der Landschaft statt. Darüber hinaus war Holz im Mittelalter die zentrale Res-

source mit vielseitigen Verwendungen als wichtigster Baustoff, Werkstoff und Energieträger. Vor allem die Erz- und Salzgewinnung hatte wegen des hohen Energiebedarfs einen unstillbaren Holzbedarf, da Holz bzw. Holzkohle die einzige relevante Energiequelle war. Zusammen mit vor allem den landwirtschaftlichen Praktiken der Streunutzung und der Weidewirtschaft führte dies häufig zur Übernutzung der Wälder. In diesem Kontext wurde in der Forstwirtschaft das Prinzip der Nachhaltigkeit geprägt. Der Begriff und das Konzept tauchen erstmals 1713 in der Schrift »Sylvicultura oeconomica« des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz auf — als eine Reaktion auf die Holzknappheit aufgrund des Raubbaus am Wald: »Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/ wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe/weiln es eine unentberliche Sache ist/ohne welche das Land in seinem Esse (im Sinne von Wesen, Dasein, Anm. d. Verf.) nicht bleiben mag« (von Carlowitz 1713). Lange Zeit wurde Nachhaltigkeit vor allem als Mengennachhaltigkeit verstanden, also nicht mehr Holz zu nutzen, als nachwächst. Beginnend im 19. Jahrhundert, aber vor allem im 20. Jahrhundert wurde im Bereich der Forstwirtschaft das Konzept der Nachhaltigkeit nicht nur auf die Holzbereitstellung, sondern auch auf die weiteren Waldfunktionen, wie zum Beispiel klimatische Wirkung, Wasserhaushalt, Boden- und Artenschutz sowie Erholung, angewendet (vgl. Roßmäßler 1882).

Spätestens mit der sogenannten Ölkrise 1973, also einem massiven Anstieg der Ölpreise durch die Preispolitik der erdölexportierenden Länder, wurde fassbar, wie eng Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum zusammenhingen. In Westdeutschland wurde zum Energiesparen aufgefordert und autofreie Sonntage eingeführt. Die wirtschaftliche Rezession und insbesondere der Strukturwandel, der besonders die in den 1950er Jahren in Westdeutschland prosperierenden Montanregionen betraf, trugen mit dazu bei, dass das Prinzip des Ressourcenraubbaus infrage gestellt wurde.

1987 erschien von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der sogenannte »Brundtland-Bericht«, der das Konzept der Nachhaltigkeit in einem holistischen Ansatz auf alle Umweltbereiche ausdehnte und eine nachhaltige Entwicklung definierte als »eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können« (United Nations 1987: 16). Nach dem »Brundtland-Bericht« sollte die Zielsetzung sein, dass Umweltschutz und Wirtschaftswachstum gemeinsam möglich sind. Infolge des Berichts entwickelte sich eine globale Diskussion und Kompromisssuche. Der »Brundtland-Bericht« sollte in internationales Handeln umgesetzt werden. Dafür wurde vom 3. bis 14. Juni 1992 die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (als Rio-Konferenz oder Erdgipfel bekannt) in Rio de Janeiro einberufen. Sie gilt als Meilenstein für die Integration von Umwelt- und Entwicklungsbestrebungen und für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen an internationalen Prozessen. Die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz waren: die Deklaration über Umwelt und Entwicklung, die Klimarahmenkonvention, die Biodiversitäts-Konvention, die Walddeklaration und die Agenda 21. Als Nachfolgekonferenzen fanden 1997 die Konferenz Rio+5 in New York, 2002 der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (Rio+10) und 2012 die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung in Brasilien statt (Rio+20). Auf dieser letzten Konferenz Rio+20 wäre angesichts der realen Situation mit zunehmenden Treibhausgasemissionen, fortschreitendem Artensterben und steigendem Ressourcenverbrauch ein entschlossenes Handeln

mit konkreten Zielen notwendig gewesen. Aber die 190 an der Konferenz teilnehmenden Staaten haben sich nur auf einen von Brasilien vorgelegten Minimalkonsens geeinigt, der in den zentralen Bereichen nur das festschreibt, was früher schon einmal beschlossen wurde. Die Konferenz ist im Verhältnis zu ihren Ansprüchen gescheitert. Offensichtlich war die Weltpolitikgemeinschaft nicht zum Handeln bereit.

Dennoch gibt es Ansätze, die Hoffnung aufkeimen lassen. Insbesondere könnte das Jahr 2015 als das Jahr der entscheidenden Wende in die Geschichte eingehen, denn in diesem Jahr wurden wegweisende Beschlüsse für das Klima und die globale Gerechtigkeit gefasst: Auf dem G7-Gipfel in Deutschland gab es ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Die Vereinten Nationen haben in New York die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals → SDGs) beschlossen, die der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung dienen und soziale, existenzielle (Hunger und Armut) und ökologische Fragen miteinander verknüpfen. Im Unterschied zu den Vorgängern, den Millenniums-Entwicklungszielen, die insbesondere Entwicklungsländern galten, gelten die SDGs nun für alle Staaten. Und schließlich wurden im Weltklimavertrag von Paris von 2015 eine Dekarbonisierung und eine Begrenzung des Klimawandels auf »deutlich unter 2° C« beschlossen. Dies war ein großer Erfolg, den vor der Konferenz niemand erwartet hatte, auch wenn die Umsetzung in den folgenden Jahren zu schleppend voranging und es an ausreichend ernsthaften Klimaschutzmaßnahmen der Nationalstaaten einschließlich Deutschlands mangelt. Und schließlich richtete Papst Franziskus 2015 in diese Situation hinein mit der Umweltenzyklika »Laudato Si — Über die Sorge für das gemeinsame Haus« einen umfassenden Appell an die Welt, sie zu schützen und zu bewahren, um globale Gerechtigkeit zu schaffen.

Wo stehen wir heute?

Im Jahr 2023 stehen wir in der Mitte des Zeitraums, der in der Agenda 2030 in den Blick genommen wurde. Etwas über 7 Jahre sind seit der Verabschiedung durch die Weltgemeinschaft vergangen und etwas über 7 Jahre liegen bis 2030 noch vor uns. Angesichts dieses Zeitrahmens und der Ziele, die auf europäischer und nationaler Ebene gesetzt werden, verwundert einerseits nicht, dass die Wut und Ungeduld wachsen, wann endlich mit dem Handeln begonnen wird, und andererseits die Sorge und Ablehnung zunehmen, welche »Zumutungen« auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen. Nachhaltige Entwicklung bedeutet nichts anderes als der Abschied vom Wachstumsparadigma. Nicht mehr, schöner, besser kann die Devise sein, sondern weniger muss das neue Wachstumsparadigma werden. Dieses ist ein kultureller Umbruch wie er in seiner Wirkmächtigkeit mit den Veränderungen des 19. Jahrhunderts verglichen werden kann. Das Schwierige für alle diejenigen, die in dem Prozess stecken, ist, die Dimension als Ganze zu begreifen und den großen Bogen tatsächlich zu verstehen. Nachhaltige Entwicklung ist eine immense ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Herausforderung. Die verbleibende Zeit, um die Klimaziele zu erreichen, wird immer knapper. Klimaforscherinnen und -forscher warnen vor Kipppunkten, die einmal erreicht, eine Entwicklung in Gang setzen werden, die unumkehrbar sein wird. Ähnlich einer Lawine, bei der es nur des letzten kleinen Anstoßes bedarf, damit sie sich unaufhaltbar ins Tal ergießt, sind es Kipppunkte, nach deren Erreichen unaufhaltsam beispielsweise die Meeresspiegel steigen, das Klima sich weltweit ändern wird. Allein diese Entwicklung zu begreifen ist schwer genug. Alle 17 Nachhaltigkeitsziele in den Blick zu nehmen und zu verstehen, wie eng sie miteinander verbunden bzw. sich aufeinander beziehen, ist eine weitere Herausforderung.

Das Thema Nachhaltigkeit muss kulturell bearbeitet werden. Wenn uns dies gelingt, wird nicht mehr der Verzicht als Erstes stehen, sondern der Gewinn. Der ökonomische Gewinn, denn nachhaltiges Wirtschaften ist längst ein Markt und Wirtschaftsfaktor. Der ökologische Gewinn, denn der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist essenziell für unser Überleben. Der soziale Gewinn, denn eine nachhaltige Gesellschaft orientiert sich am Gemeinwohl. Der gesellschaftliche Gewinn, denn in einer Welt zu leben, in der Natur und Kultur dauerhaft miteinander auskommen, ist die Voraussetzung für ein gutes Leben (Zimmermann 2023).

In diesem Band werden die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 durchdekliniert. Mit jedem Nachhaltigkeitsziel wird sich in mindestens einem Beitrag auseinandergesetzt. Einige Nachhaltigkeitsziele werden aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Alle Beiträge unterstreichen, dass Nachhaltigkeit einen kulturellen Wandel bedeutet. Es geht um nicht weniger als um die Art, wie wir arbeiten, konsumieren, leben, lernen, miteinander umgehen, welche Chancen alle Menschen auf der Erde haben, wie soziale Ungleichheiten beseitigt werden können und vor allem, welche Wechselwirkungen es zwischen Kultur, Sozialem, Ökologie und Ökonomie gibt und wie sie aufeinander verwiesen sind. Wir sind fest davon überzeugt, nachhaltige Entwicklung wird nur durch einen kulturellen Wandel gelingen. Und wir hoffen, dass, wenn in hundert Jahren Bücher über den Nachhaltigkeitspfad, der in den 2020er Jahren unwiderruflich beschritten werden muss, geschrieben werden, herausgearbeitet wird, wie durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche nachhaltige Entwicklung tatsächlich gelingen konnte.

Olaf Zimmermann und Hubert Weiger

Literatur

Kocka, Jürgen (2021): Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

Roßmäßler, Emil Adolf (1882): Der Wald. (Nachdruck, Hansebooks, 2017 )

Carlowitz, Hans Carl von (1713): Sylvicultura oeconomica oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht, Leipzig, Braun (Nachdruck, TU Bergakademie Freiberg, 2000)

United Nations (1987 ): Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future. ↘ t1p.de/d5exp

Zimmermann, Olaf (2023): Mein kulturpolitisches Pflichtenheft. Berlin

Armut in allen ihren Formen und überall beenden

1

Keine Armut

Bekämpfung von Armut in Deutschland und kulturelle

Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland, zuvor war er u. a. als Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland tätig, von 2007 bis 2011 war er Stadtsuperintendent des Kirchenkreises Düsseldorf und von 2011 bis 2014 Theologischer Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf.

Teilhabe

Als die internationalen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2015 die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung und damit verbunden die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) verabschiedeten, setzten sie ambitionierte Ziele, um ein Leben in Würde für alle und einen naturverträglichen Umgang mit unserer Umwelt zu erreichen. An erster Stelle steht dabei die Bekämpfung von Armut. »SDG 1: Keine Armut — Armut in jeder Form und überall beenden« formuliert ausdrücklich, dass Armut umfassend bekämpft werden muss.

Armutsbekämpfung

1 United Nations, Department of Economic and Social Affairs Sustainable Development: SDG 1 — End poverty in all its forms everywhere. ↘ t1p.de/kkb0

2  Diakonie Deutschland (2021): Wissen kompakt — Armut. ↘ t1p.de/2v998

Kohler-Gehrig, Eleonora (2019): Armut heute: Eine Bestandsaufnahme für Deutschland. Kohlhammer Verlag, Stuttgart

Die Vereinten Nationen (UN) haben im Rahmen dieses Ziels unter anderem festgelegt, dass Armut bis zum Jahr 2030 in jedem UN-Mitgliedsstaat mindestens halbiert werden soll. Es wurde auch auf die besondere Vulnerabilität von Menschen, die in Armut leben, hingewiesen. So wurde unter diesem Ziel auch formuliert, dass die Widerstandsfähigkeit von Menschen in Armut gegenüber klimabedingten Extremereignissen und wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schocks gestärkt werden soll.1 Armut hängt eng mit umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen zusammen. Die UN haben anerkannt, dass Armut stets eine mehrdimensionale Herausforderung darstellt und nicht nur in ihrer offensichtlichsten Form beendet werden muss. Es müssen nachhaltige, langfristig wirksame Instrumente zur Armutsbekämpfung gestaltet werden. Nur so kann Armut in all ihren Dimensionen bekämpft werden und allen Menschen ein Leben in Würde möglich sein. Vordringlich wird dabei zuerst daran gedacht, absolute Armut zu beenden. Absolute Armut bedeutet, dass Menschen nicht über die zur Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung oder eine Wohnung verfügen und sie sich keine ausreichende Gesundheitsversorgung leisten können. Die UN definieren Armut jedoch breiter und beziehen auch Aspekte von Armut ein, die auf den ersten Blick weniger sichtbar sind. SDG 1 umfasst also ebenso das Ziel, relative Armut zu bekämpfen.

Das Konzept der relativen Armut richtet sich an der Norm eines menschenwürdigen Daseins aus. Diese Definition von Armut bezieht die Lebens- und Entwicklungschancen eines jeden in unserer Gesellschaft ein. Soziale Ungleichheit ist mit dem Konzept der relativen Armut eng verknüpft. Wer relativ arm ist, hat beispielsweise schlechtere Bildungschancen, weniger soziale Kontakte und größere Schwierigkeiten, beruflich aufzusteigen. Die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, die soziale und kulturelle Teilhabe, ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt.²

3  Bundesamt für Statistik (2022): Lebensbedingungen und Armutsgefährdung. ↘ t1p.de/byx93

Die Umsetzung der SDGs stagniert weltweit und die Bekämpfung von Armut ist davon nicht ausgeschlossen. Insbesondere vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und den daraus resultierenden weltweiten Folgen hat Armut wieder global zugenommen. Auch Menschen in Deutschland sind betroffen. Betrachtet man monetäre Armut in Deutschland, waren Ende 2021 16 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, 6,6 Millionen Menschen haben Leistungen der sozialen Mindestsicherung erhalten. Von Armut und sozialer Ausgrenzung sind jedoch noch deutlich mehr Menschen bedroht (21 Prozent der Bevölkerung).3

Armut hat auch zur Folge, dass Menschen weniger resilient gegenüber Krisen sind. Jede Preissteigerung ist sofort deutlich im Budget spürbar, und es besteht kaum Spielraum,

diese aufzufangen. Auch nach der Einführung des Bürgergelds und der damit verbundenen Anpassung des Regelsatzes werden Sozialleistungen weiterhin knapp gehalten.

Armut und Klimakrise

Die stärkere Betroffenheit durch Krisen zeigt sich ebenfalls im Kontext der Klimakrise.4 Auch in Deutschland sind Menschen in Armut stärker von den Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung betroffen als Menschen mit höherem Einkommen. Sie leben häufiger an vielbefahrenen Straßen und sind entsprechend stärker Lärm und Schadstoffbelastungen ausgesetzt, ihre Wohnungen sind oft in einem energetisch schlechten Zustand. Sie müssen dadurch im Winter mehr geheizt werden und wärmen sich im Sommer schneller stark auf. Besonders für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Ältere und Kinder kann das gesundheitsgefährdend sein. Für Menschen ohne Wohnung sind kaum Schutzräume vor extremen Wetterereignissen zugänglich. Situationen, in denen solcher Schutz nötig ist, werden zukünftig jedoch häufiger entstehen. Durch den Klimawandel müssen wir in Deutschland immer häufiger mit Ereignissen wie Starkregen oder extremen Hitzewellen rechnen. Schon jetzt ist die Zahl von sogenannten »Hitzetoten« größer als die der Opfer im Straßenverkehr. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen.5

Wichtig ist jedoch auch festzuhalten, dass Menschen in Armut häufig nicht nur besonders stark vom Klimawandel betroffen sind, sie tragen andererseits in viel geringerem Maße zum Klimawandel bei als Menschen mit hohen Einkommen. Zum Vergleich: Weltweit sind die 10 Prozent der reichsten Menschen für 47 Prozent der CO₂Emissionen verantwortlich, im starken Kontrast dazu steht, dass 50 Prozent der Menschen nur 10 Prozent des CO₂-Ausstoßes verursachen.6 Aber auch in Deutschland ist diese ungleiche Verteilung zu beobachten, denn auch hier steigen mit dem Einkommen auch die Konsumausgaben, die wiederum zu mehr Umweltbelastungen führen.7

4  Gough, Ian (2013): Carbon Mitigation Policies, Distributional Dilemmas and Social Policies. Journal of Social Policy, 42 (2), S. 191—213. ↘ t1p.de/ltsg6

5  Kahlenborn, Walter; Porst, Luise; Voß, Maike; Fritsch, Uta; et al. (2021): Klimawirkungsund Risikoanalyse für Deutschland 2021 (Kurzfassung). Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau ↘ t1p.de/zaxv9

Intergovernmental Panel on Climate Change (2021): Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. In: Naturwissenschaftliche Grundlagen. Beitrag von Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (Masson-Delmotte, Valérie; et al.). In Druck. Deutsche Übersetzung auf Basis der Druckvorlage, Oktober 2021. Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle, Bonn, Februar 2022

Kreienkamp, Frank; Philip, Sjoukje Y.; Tradowsky, Jordis S.; et al. (2022): Rapid attribution of heavy rainfall events leading to the severe flooding in Western Europe during July 2021. ↘ t1p.de/nv3m7

Menschen mit wenig Geld leben einerseits in vielen Bereichen schon allein armutsbedingt ökologischer, weil sie zum Beispiel häufig auf ein eigenes Auto verzichten, Flugreisen nicht im Budget sind und sie aus Kostengründen Energie sparen wo irgend möglich. So haben Menschen mit wenig Geld häufig weniger elektronische Geräte und leben in kleineren Wohnungen, sodass die CO₂-Bilanz insgesamt gering ausfällt, auch wenn die Energieeffizienz der genutzten Geräte bzw. des Wohngebäudes unzureichend ist. Diese Einschränkungen mögen (unfreiwillig) ökologisch vorteilhaft erscheinen, sie schließen Menschen in der Konsequenz aber von vielen gesellschaftlichen Teilhabechancen aus. In vielen anderen Lebensbereichen fehlen dagegen die Handlungsspielräume und Anreize, sich ökologisch zu verhalten. Das vom Staat zur Verfügung gestellte Existenzminimum ist dafür nicht ausreichend, wie diese Beispiele zeigen: Nachhaltige Lebensmittel sind meist teurer als konventionelle, energieeffiziente Haushaltsgeräte für Menschen mit geringem Einkommen kaum bezahlbar, Strom aus erneuerbaren Ener-

6  Boksch, René (2021): Der riesige CO₂-Fußabdruck der Reichen. ↘ t1p.de/jd7bb

7  Umweltbundesamt (2022): Treibhausgasemissionen in Deutschland. ↘ t1p.de/3iadg

8  Bruckdorfer, Matthias; David, Michael (2021): Sozialpolitische und sozialarbeiterische Anmerkungen zur sozialökologischen gesellschaftlichen Transformation. In: Ethik Journal 7. Jg., Ausgabe 1/2021, Sozialökologische Transformation — Diskursfelder und Themen Sozialer Arbeit ↘ t1p.de/gqxi4

Spannagel, Dorothee; Zucco, Aline (2022): Armut grenzt aus: WSI-Verteilungsbericht 2022, WSI Report, No. 79, Hans-Böckler-Stiftung, Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftliches Institut ( WSI), Düsseldorf ↘ t1p.de/z4qgj

9  Reutlinger, Christian; Vellacott, Christina (2021): Sozialraum und soziale Ausschließung. In: Anhorn, Roland; Stehr, Johannes (Hg. ): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit. Vol. 26. Springer VS, Wiesbaden ↘ t1p.de/oybb6

Brocchi, Davide (2019): Nachhaltige Transformation im Quartier. In: Niermann, Oliver; Schnur, Olaf; Drilling, Matthias (eds): Ökonomie im Quartier. Quartiersforschung. Springer VS, Wiesbaden ↘ t1p.de/d1wok Bormann, René; et al. (2016): Das Soziale Quartier — Quartierspolitik für Teilhabe, Zusammenhalt und Lebensqualität. Friedrich-EbertStiftung ↘ t1p.de/yvcms

giequellen ist ebenfalls häufig nur über vergleichsweise teure Tarife zu beziehen. Wenn die nötigen finanziellen Ressourcen fehlen, bestehen keine Möglichkeiten, sich für nachhaltigere Konsumoptionen zu entscheiden.8

Soziale und kulturelle Teilhabe Menschen, die von Armut betroffen sind, verfügen aber nicht nur über geringere Handlungsspielräume, wenn es um ökologischere Lebensweisen geht. Armut schränkt die gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen ein, sodass auch eine Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben nur sehr eingeschränkt möglich ist. Im Regelsatz für Erwachsene sind für Freizeitaktivitäten, Unterhaltung und Kultur 9,76 Prozent (48,98 Euro pro Monat) des Regelsatzes vorgesehen. Was zunächst nach einem ausreichenden Anteil aussieht, wird bei näherer Betrachtung schnell relativiert. Der Maßstab für den Regelsatz ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Bei Erwachsenen sind die Haushalte mit den unteren 15 Prozent der Einkommen Vergleichsgruppe. Herausgestrichen wurden in der Bedarfsermittlung 2020 allerdings Ausgaben wie z. B. Tierfutter, Schnittblumen, Weihnachtsbaum, Malsachen für Kinder, Speiseeis im Sommer, Essen vom Imbiss, etc. Das heißt, wenn Ausgaben für diese gekürzten Bedarfspositionen in den Haushalten anfallen, steht unter Umständen weniger Geld für die im Regelsatz enthaltenen Positionen wie Kulturangebote zur Verfügung.

Die persönlichen Einschränkungen, die sich daraus ergeben, sind für die Betroffenen eine Herausforderung. Wer kaum Möglichkeiten hat, sich an kulturellen Angeboten zu beteiligen, droht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein und ein Leben in Einsamkeit zu führen. Ziel sollte es deshalb sein, Sozialräume stadtplanerisch so zu gestalten, dass Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe und des sozialen Austauschs für alle Menschen zugänglich sind. Häufig sind Quartiere, in denen vor allem Menschen mit geringem Einkommen leben, sowohl durch weniger kulturelle Angebote gekennzeichnet als auch durch Mobilitätsbarrieren und Erreichbarkeitsdefizite. Menschen mit geringem Einkommen sind aber besonders auf Angebote in der Nachbarschaft angewiesen. Das bedeutet z. B., dass öffentliche Bibliotheken in jeden Stadtteil gehören und Kulturangebote erschwinglich sein müssen.9

Heutzutage bedeutet kulturelle Teilhabe aber nicht ausschließlich, Zugang zu physischen Orten der Kultur und Begegnung. Ein immer größerer Teil unserer Kommunikation und Teilhabe findet digital statt. Wer in die digitalen Räume und Angebote nicht eingebunden ist, verliert leicht den Anschluss an die Gemeinschaft, sei es in der Schule und im Studium, bei der Suche nach Arbeit oder in Freizeit und Freundeskreis. Das bedeutet, dass auch digitale Teilhabechancen eröffnet werden müssen, was sowohl den Zugang zum Internet als auch die dafür notwendigen Geräte umfasst. Gleichzeitig sind Angebote notwendig, die die Möglichkeit bieten, den Umgang mit den digitalen Medien und Kommunikationsformen zu üben. Die Kosten für digitale Angebote

stellen für viele Menschen eine große finanzielle Belastung dar. Hinzu kommt, dass es viele Menschen gibt, denen die Voraussetzungen fehlen, Verträge mit Telekommunikationsanbietern abzuschließen, wie zum Beispiel Überschuldete, Wohnungslose oder auch Wanderarbeitende.10

Zugänge zu kulturellen Angeboten, seien sie digital oder vor Ort, sind also auch in unserer Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Sie sind zum Teil mit hohen Hürden für den Einzelnen verbunden. Teilhabe an kulturellen Angeboten ermöglicht aber, sich weiterzubilden, an gesellschaftlichen Diskussionen teilzunehmen und nicht zuletzt auch soziale Kontakte.

Kulturelle Teilhabe eröffnet nicht nur dem Einzelnen Chancen. Auch gesamtgesellschaftlich betrachtet, stellt der Zugang zu kulturellen Angeboten ein wichtiges Gut dar: Kulturelle Teilhabe fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie Diskursräume eröffnet, um sich über gesellschaftliche Traditionen, Wertesysteme und Normen auszutauschen, diese infrage zu stellen, zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Kultur ist damit eine Art Aushandlungsund Reflexionsraum, in dem neue Impulse für eine Einwanderungsgesellschaft gesetzt werden können. Sie kann damit auch einen Wandel bestehender Werte und Normen befruchten oder anregen. Kulturelle Teilhabe ermöglicht, positive Zukunftsvisionen für sich selbst und unsere Gesellschaft insgesamt zu entwerfen. Damit wird auch das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft gestärkt.11 Diesen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf mitzuentwickeln sollten wir allen Menschen ermöglichen. Besonders im Kontext der sozial-ökologischen Transformation erlangen Fragen, wie wir unser gesellschaftliches Zusammenleben gestalten wollen und welche Werte und Normen dabei Kern unseres Handelns sein sollen, ein neues Gewicht.

Um ein komplexes gesellschaftliches Projekt wie die ökologische Transformation erfolgreich voranzutreiben, ist es notwendig, dass dieses Projekt auf Akzeptanz in der Gesellschaft insgesamt trifft. Diese entsteht durch öffentliche Aushandlungsprozesse und Entscheidungen im politischen Raum, die das Vertrauen der Menschen in die sachliche Notwendigkeit stärken sollten sowie eine sozial gerechte Umsetzung von staatlichen Zielen und Maßnahmen in der Transformation verfolgen.

Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse finden auch im kulturellen Raum zu der Frage statt, welche Wege etwa in der Transformation beschritten werden sollen und auf welchen Werten diese Entscheidungen beruhen sollten. Wenn Menschen systematisch von solchen Diskursen ausgeschlossen werden, heißt das auch, dass ihre Perspektiven und Anliegen nicht gehört werden und — wenn überhaupt — nur am Rande in die Weiterentwicklung unseres gesellschaftlichen Wertesystems einbezogen werden. Für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Entwicklung eines auf Nachhaltigkeit basierenden gesellschaftlichen Konsenses für unser Zusammenleben müssen jedoch alle Gruppen einbezogen sein.1² Andernfalls verbreitet sich das Gefühl, politisch verlassen zu sein.

10  Diakonie Deutschland (2022): Vorschlag für ein »Bundesprogramm digitale Teilhabe«. Kostenberechnung zu »6 Forderungen für ein digitales Existenzminimum«

↘ t1p.de/fv6m5

Diakonie Deutschland (2022): 6 Forderungen für ein Digitales Existenzminimum.

↘ t1p.de/e2sx2

11  Benikowski, Bernd; Emmerich, Johannes (2022): Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit. In: Krauss, Sabrina; Plugmann, Philipp (eds): Innovationen in der Wirtschaft. Springer Gabler, Wiesbaden ↘ t1p.de/7cbba

Heinrich-Böll-Stiftung (2022): Sozialatlas. Daten und Fakten über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. ↘ t1p.de/s83a5

Ahrens, Jörn (2012): Kultur und die Bereitstellung von Imaginationsräumen. In: Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden ↘ t1p.de/bnmeb

12  Baedeker, Carolin; Fischedick, Manfred; Liedtke, Christa (2022): Kunst und Kultur als Hebel für die große Transformation ↘ t1p.de/208ij

Kopatz, Michael (2013): Die soziale-kulturelle Transformation. In: Huncke, Wolfram: Wege in die Nachhaltigkeit — die Rolle von Medien, Politik und Wirtschaft bei der Gestaltung unserer Zukunft. Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden, S. 155—191 ↘ t1p.de/oshxm

Armut bedeutet also keinesfalls nur, materiell ausgeschlossen zu sein. Armut bedeutet auch, von gesellschaftlicher Teilhabe und aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen zu sein. Um dies zu verhindern, braucht es strukturelle Veränderungen im Umgang der Gesellschaft mit Menschen in Armut: ein angemessener Regelsatz, der die Anforderungen an eine ökologische Lebensweise und gesellschaftliche Teilhabechancen erfüllt, ist dabei nur ein Aspekt. Staatliche Existenzsicherung sollte vielmehr so gestaltet sein, dass Betroffene zu selbstbestimmten Entscheidungen befähigt werden und ihre Persönlichkeiten tatsächlich gestärkt werden. Das schließt auch ein, Menschen in Armut bei der Gestaltung der Sozialräume einzubeziehen und digitale sowie physische Zugänge zu Orten der gesellschaftlichen Teilhabe zu eröffnen. Davon profitieren sowohl die betroffenen Menschen wie auch das demokratische Gemeinwesen.

Das Ende der Bescheidenheit — Gerechte Bezahlung in Kunst und Kultur ist Armutsprävention

Frank Werneke ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), er war von 2002 bis 2019 Stellvertretender Vorsitzender von ver.di und zuvor im geschäftsführenden Hauptvorstand der IG Medien, von 1983 bis 1993 war er unterbrochen vom Zivildienst als Verpackungsmechaniker tätig.

Die Einkommen von selbstständigen Kulturschaffenden sind zu niedrig. Dabei wird Kultur zu großen Teilen aus Steuergeldern finanziert, womit Kulturförderung die größte Einkommensquelle von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden ist. Der öffentlichen Hand kommt bei der Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Kulturschaffenden ganz klar eine besondere Verantwortung zu. Denn diese Menschen bauen ihre wirtschaftliche Existenz darauf auf, kreative Produkte zu schaffen und in kreativen Projekten tätig zu sein. Doch bislang gibt es nur selten Kriterien, die bei Vergabe öffentlicher Gelder garantieren, dass Mindesthonorare und soziale Standards gelten. Aktuell wird selbstständige Kulturarbeit oft zu viel zu geringen Tages- oder Stundensätzen geleistet. Außerdem wird nicht die gesamte Arbeitsleistung bezahlt. Oft sind es nur die für das Publikum oder Kundinnen und Kunden sichtbaren Zeiten, Ergebnisse und Produkte, die entlohnt werden — viele Teile der Entwicklungs-, Produktions- und Vermarktungsarbeit bleiben unsichtbar und unbezahlt. Das wird der so häufig betonten gesellschaftlichen Rolle der Kultur nicht gerecht.

Die soziale und wirtschaftliche Lage von Solo-Selbstständigen und hybrid Beschäftigten in Kunst und Kultur muss verbessert werden, damit sie krisenfester werden und um mittel- und langfristiger Armut präventiv zu begegnen. Dazu gehören neben einer gerechten Bezahlung auch die Einführung von Mindeststandards und Basishonoraren sowie solide Altersvorsorge und eine nachhaltige Kulturfinanzierung. Welche Verbesserungen besonders für Solo-Selbstständige und hybrid Beschäftigte notwendig und möglich sind, darum geht es im Folgenden.

Ein Blick in die Zahlen

Aktuelle Daten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage von Solo-Selbstständigen in Kunst und Kultur ergeben ein vielschichtiges, jedoch unvollständiges Bild: Die Studien einzelner Berufsverbände sowie öffentliche regionale und bundesweite Statistiken unterscheiden sich methodisch voneinander, können also nicht miteinander kombiniert oder verglichen und ihre Aussagen nur puzzlestückartig aneinandergefügt werden. Auch die Definition dessen, was Kultur ist, wer in welcher Form kulturschaffend ist und welche Tätigkeiten unter Selbstständigkeit fallen, sind je verschieden. Damit unterscheiden sich die Erhebungen auch darin, wer in der jeweiligen Statistik berücksichtigt wird und wessen Perspektive und Arbeitsrealität bei den aus diesen Zahlen abgeleiteten Maßnahmen fehlt.

Laut Statistischem Bundesamt waren 2019 von rund 1,3 Millionen Kulturschaffenden ca. 38 Prozent, also etwa 444.250 Personen, freischaffend oder solo-selbstständig (DeStatis 2021). Zum Vergleich: In anderen Berufen und Branchen sind nur 10 Prozent freischaffend oder solo-selbstständig (ebd.).

Die jüngste Umfrage von ver.di zur Arbeitsrealität von Kulturschaffenden zeigt, dass 51 Prozent der 2.293 Befragten weiblich und zudem hybride Arbeitsmodelle und Einkommensmixe typisch sind: Die meisten Kulturschaffenden beziehen ihr Einkommen aus mehreren Quellen.

Eine von ver.di beauftragte Auswertung der Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK ) zeigt, dass Frauen, die über die KSK versichert sind, 24 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Der Gender Pay Gap zeigt sich in allen Branchen und liegt in der Musik bei 23 Prozent, in der bildenden Kunst und dem Design bei 30 Prozent, im Theater und Film bei 34 Prozent und bei 22 Prozent in Wort-bezogenen Berufen. Der Gender Pay Gap liegt bei selbstständigen Kulturschaffenden damit deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt von 18 Prozent im Jahr 2022. In Arbeitstage umgerechnet

ergibt sich: Frauen arbeiten in Deutschland im Schnitt die ersten 66 Tage des Jahres umsonst. Altersarmut ist und bleibt weiblich, auch und gerade in der Kulturbranche. Das muss sich ändern. Eine nachhaltige Armutsbekämpfung kann nur durch eine bessere, gerechte Bezahlung und eine gute soziale Absicherung gelingen.

Auch in der Kultur reale Arbeitszeit fair entlohnen

Eine gerechte Bezahlung im Kulturbereich bedeutet einerseits, gleiche Arbeit gleich zu entlohnen und den oben dargestellten Gender Pay Gap abzubauen. Gerechte Bezahlung für Solo-Selbstständige umfasst vor allem aber auch, nicht nur die konsumierbare, rezipierte Arbeit in Form eines künstlerischen Produktes, sondern die reale Arbeitszeit inklusive Konzeption, Vor- und Nachbereitung zu entlohnen und dabei Abgaben für Sozialversicherungen einzubeziehen. ver.di Kunst und Kultur hat ein Berechnungsmodell für Basishonorare entwickelt, auf das unten noch genauer eingegangen wird.

Denn ein Risiko, das sich aus den Teilzeitmodellen von hybrid Beschäftigten oder SoloSelbstständigen in Kunst und Kultur ergibt, ist eine ungenügende oder vollständig fehlende Altersvorsorge. Und das betrifft vor allem Frauen, denn statistisch gesehen, arbeitet jede zweite Frau in Teilzeit. Die Gründe liegen unter anderem in der ungleichen Verteilung von Sorgearbeit im Rahmen familiärer Verpflichtungen und Kinderbetreuung. Teilzeitarbeit führt zu weniger Einkommen, schlechteren Karrierechancen und niedrigeren Einzahlungen in die Rentenversicherung sowie private Vorsorgemodelle. Damit verbunden sind die finanzielle Abhängigkeit von Partnerinnen und Partnern sowie drohende Altersarmut.

Mit der Künstlersozialkasse gibt es zwar eine großartige Institution für die Altersabsicherung von selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern bzw. Publizistinnen und Publizisten. Trotzdem ist seit vielen Jahren klar: Viele Solo-Selbstständige in der Kunst und Kultur haben zu geringe Einkommen und Rücklagen, um aus eigener Kraft der Altersarmut vorzubeugen.

Die Folgen von Prekarität und Armut für Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende sind bekannt und enorm: Armut bedeutet sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ausschluss, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nicht möglich. Wo andere beispielsweise Zeit und Geld in Weiterbildung und politische Ämter investieren können, bleiben prekär beschäftigten Menschen dafür weder Geld noch Kapazitäten. Prekarität und Armut bedeuten zudem Existenzangst und psychischen Stress, der sich auch körperlich auswirkt. Solo-Selbstständigkeit heißt, Verantwortung, die in Organisationen häufig auf mehreren Schultern verteilt wird, allein zu tragen — und diese Entscheidung kann aus der Not heraus oder aus freiem Willen getroffen werden. Prekarität bedeutet auch, dass der für künstlerisches Schaffen und Kulturproduktion notwendige Denkraum nicht mehr genutzt werden kann, davon abgesehen, dass einer nicht künstlerischen Erwerbsarbeit nachgegangen werden muss, um für eine finanzielle Grundsicherung zu sorgen.

Eine gerechte Bezahlung beinhaltet deshalb auch, Zugangsbarrieren zur Kulturproduktion abzubauen und Klassismus in der Kultur zu durchbrechen: Künstlerische und Kulturberufe zu ergreifen soll keine Frage des »Sich-leisten-Könnens« sein! Denn Kultur braucht eine Vielfalt von Stimmen. Es ist essenziell, dass wir in Deutschland die Stimmen und Werke unterschiedlichster Menschen hören, lesen und sehen können. Die Bedingungen von Kulturproduktion in Deutschland gehen noch immer von dem in Deutschland aufgewachsenen, bürgerlichen und gebildeten Mann aus. Der Zugang

ist erschwert für Menschen, die von diesem Bild abweichen. Also für Personen aus bildungsfernen Milieus, mit Migrationsgeschichte oder nicht weiße Menschen sowie für Frauen. Die Entscheidung für eine künstlerische Tätigkeit erfordert oftmals eine Risikobereitschaft, die nur mit finanziellem Sicherheitsnetz eingegangen werden kann. So wird Kulturarbeit zum Beispiel für Menschen schwieriger, die ohne finanzielle Unterstützung Sorgearbeit leisten. Der hohe Gender Pay Gap und Ungleichheit produzierende Machtstrukturen zeigen, wie viel noch getan werden muss, bevor die Kulturbranche tatsächlich die Rolle einer gesellschaftlichen Avantgarde annehmen kann, die ihnen oft zugeschrieben wird. Barrieren gehören abgebaut — dafür braucht es Transparenz in der Verteilung öffentlicher Gelder, in Jurybesetzungen und der Besetzung von Leitungspositionen und eine gerechte Bezahlung, um auf all diesen Ebenen grundlegende Sicherheit zu schaffen.

Wie stellen wir uns eine gerechte Bezahlung vor?

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist angekündigt, dass Mindesthonorare für selbstständige Kreative in die Förderrichtlinien des Bundes aufgenommen werden. Doch bislang hat die Regierung keine transparenten Berechnungsgrundlagen oder konkreten Honorarvorstellungen. Auch einzelne Bundesländer wollen eine Mindesthonorierung als Bedingung in der Kulturförderung festsetzen. Anstatt individueller, branchenspezifischer Lösungen verschiedener Interessenverbände schlägt ver.di ein transparentes Berechnungsmodell vor, das von Politik und Verwaltung nachvollzogen und angewendet werden kann. Und das dynamisch ist, also auf Inflation und Veränderungen der Arbeitsrealitäten in der Kulturbranche reagieren kann. Hier setzen die ver.di-Basishonorare an.

Die Berechnung der Basishonorare folgt 2 simplen Grundsätzen. Die real anfallende Arbeitszeit wird vergütet. Und der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes dient als Berechnungsgrundlage. Das heißt, die Entgelte, die im Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes stehen, werden an die Arbeitsmodelle von Selbstständigen angepasst. Betriebsausgaben werden genauso addiert, wie beispielsweise die zusätzlichen Beiträge zu Sozialversicherungen für Selbstständige. Auch wird projektübergreifende Arbeitszeit für Tätigkeiten wie Buchhaltung, Akquise, Netzwerk- oder Öffentlichkeitsarbeit einkalkuliert, aber auch für die künstlerische Weiterentwicklung. Daraus ergeben sich stufenweise Honorarsätze entsprechend den Anforderungen der Tätigkeit.

Dieses Modell dient sowohl Bund, Ländern und weiteren öffentlichen Fördergebern als auch Solo-Selbstständigen und hybrid Beschäftigten als Berechnungsgrundlage, um ihrer Arbeitsrealität entsprechend eine gerechte Bezahlung einzufordern — und dabei auch für ihre jeweilige Branche einzutreten.

Keine falsche Bescheidenheit: Gemeinsam für eine nachhaltige Finanzierung der Kultur

Der Dauerkrisenmodus zehrt allen an den Kräften, besonders Solo-Selbstständige und hybrid Beschäftigte wissen, wovon ich spreche. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam und auf allen politischen Ebenen für ihre soziale und wirtschaftliche Absicherung zu sorgen. Und mit gemeinsam sind alle Akteurinnen und Akteure in Kunst und Kultur gemeint: Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker, Referentinnen und Referenten, soloselbstständige Künstlerinnen und Künstler wie angestellte Kulturschaffende, hybrid Beschäftigte, Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter sowie Forscherinnen und Forscher.

Denn auf dem Weg zu einer verbesserten Lage von Solo-Selbstständigen in Kunst und Kultur sind Basishonorare ein wichtiger erster Schritt. Ihn umzusetzen und weitere Verbesserungsvorschläge zu entwickeln und einzufordern braucht in erster Linie Mut und Gestaltungswillen. Beides lässt sich gemeinschaftlich organisiert besser aufrechterhalten als allein: weg vom Ich, hin zum Wir. Für den gemeinsamen Einsatz gibt es folgende konkrete Verbesserungsvorschläge und Forderungen:

– Basishonorare für Selbstständige sollen zur verpflichtenden Voraussetzung von Kulturförderung werden. Das Berechnungsmodell von ver.di zielt auf Honorare, die die reale, nicht nur die sichtbare, Arbeitszeit von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden umfassen. So ergibt sich eine faire Bezahlung, die Auftragsflauten bei Solo-Selbstständigen absichert.

– Für unvorhergesehene Honorarausfälle, fundamentale Krisen und berufliche Umorientierungen brauchen Solo-Selbstständige und hybrid Beschäftigte eine Erwerbslosenversicherung, die frei von strukturellen Zugangsbarrieren ist. Zusätzlich zu einer solchen Grundsicherung müssten bspw. von der Bundesagentur für Arbeit Weiterbildungs- und Coaching-Angebote bereitgestellt werden, die den Bedürfnissen von Kulturschaffenden entsprechen.

– Auch für die Altersvorsorge muss eine Lösung gefunden werden. Denn wo nichts oder nur wenig zurückgelegt werden kann, ist die Altersarmut vorprogrammiert. Um dem vorzubeugen, ist eine einkommensbezogene, solidarische Altersvorsorge notwendig, die wechselnde Lebenslagen berücksichtigt und generationengerecht ist.

– All diese Schritte können nur entsprechend den Bedürfnissen und unterschiedlichen Lebensrealitäten der Betroffenen geplant und umgesetzt werden, wenn dazu eine solide Datenlage vorliegt. Dazu ist eine dauerhafte statistische Berichterstattung zur sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaffenden erforderlich. Dazu gehört, Primärdaten zu erheben, die auch die vielfältige Arbeitsrealität von Kulturschaffenden einbeziehen. Also etwa selbstständige und hybride Arbeitsmodelle, projektbasierte Erwerbsarbeit sowie unterbrochene Erwerbsbiografien und breite Einkommensspannen. Die von ver.di vorgeschlagene Sondererhebung im sozio-ökonomischen Panel (SOEP) würde diese Anforderungen erfüllen und darüber hinaus valide, national und international vergleichbare Daten liefern. Auch hier gilt es für die bisher aktiven Akteurinnen und Akteuren, sich zu vernetzen, um Vergleichbarkeit zwischen ihren Studien herzustellen und Wissenslücken zu schließen.

Wir brauchen eine nachhaltige, stabile Kulturfinanzierung. Ob öffentliche Fördergelder in hochprekäre Solo-Selbstständigkeit oder tariflich abgesicherte Vollzeitbeschäftigung fließen, ist der Kulturpolitik in Bund und vielen Ländern bislang weitgehend egal. Das muss sich ändern! Es ist die Aufgabe von Kulturpolitik, Rahmenbedingungen zu ermöglichen, in denen Kulturschaffende von ihrer Arbeit gut leben können. Neben der Bindung öffentlicher Gelder an Mindeststandards und Basishonorare fordert ver.di eine verlässliche Kulturfinanzierung, damit künstlerisches Schaffen und Kulturarbeit frei sein kann. Das bedeutet nicht zuletzt, die Projektlogik in der Kulturförderlandschaft um strukturelle Finanzierungen zu ergänzen. Nur so können sich kulturelle Infrastrukturen entwickeln und längerfristiges Engagement auf lokaler, regionaler und auch Bundesebene entstehen.

Literatur

Basten, Lisa (2023): Hybride Erwerbstätigkeit — Herausforderung für die Arbeitslosenversicherung. In: Systemcheck. Wer kümmert sich? Soziale Absicherungsoptionen und -hürden für hybrid arbeitende Künstler*innen. S. 8—22 ↘ t1p.de/036la

Mangold, Lisa (2023): Fundamentales Umdenken nötig. In: Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates, 31.01.2023 ↘ t1p.de/0dhzw

Statistisches Bundesamt (2021): 444.250 SoloSelbstständige in Kulturberufen im Jahr 2019. Pressemitteilung Nr. 223 vom 11.05.2021 ↘ t1p.de/a4z1e

Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und nachhaltige Landwirtschaft fördern

2 Kein Hunger

Ökologischer Landbau als globale Antwort auf den Hunger in der Welt

Dr. Felix zu Löwenstein ist Landwirt, er gehört seit 2020 dem Bioökonomierat der Bundesregierung an; er war von 2002 bis 2021 Vorstandsvorsitzender des Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft; er ist Vorstandsmitglied des Forschungsinstitut für biologischen Landbau.

1  Nach Auskunft von Martin Frick, Welternährungsprogramm

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat eine weltweite Ernährungskrise auf furchtbare Weise verstärkt, die sich bereits im zweiten Jahr der Covid-Pandemie abzeichnete. Von Dezember 2021 bis September 2022 stieg die Zahl der akut Hungernden — also jener Unterkategorie der Hungernden, die dem »Verhungern« am Nächsten steht — von 276 Millionen auf 345 Millionen an. 2019 hatte die Zahl noch 135 Millionen betragen.1 Ein weiteres Mal wurde sichtbar, dass die Produktivität landwirtschaftlicher Anbausysteme keineswegs den größten Einfluss auf die Hunger-Statistik hat. Kriegerische Auseinandersetzungen in und zwischen Staaten, soziale Ungleichheiten, mangelnder Zugang zu Nahrung aufgrund zu geringer Kaufkraft, das Zerbrechen von Lieferketten und in wachsendem Umfang die Folgen der Klimakrise sind die entscheidenden Faktoren. Wie schon im Jahre 2008 waren auch 2022 die explosionsartig gestiegenen Lebensmittelpreise verantwortlich für die Zuspitzung der Hungerkrise. Selbst in unseren Volkswirtschaften stellt die Inflation immer mehr Menschen vor die Frage, wie sie sich eine ausgeglichene Ernährung leisten können. Dort, wo die Haushaltsausgaben für Ernährung schon vorher weit über die Hälfte des Einkommens ausgemacht haben, bedeutete die Verdoppelung der Preise von Grundnahrungsmitteln den Unterschied zwischen essen können und hungern. Diese Preise waren jedoch zum Zeitpunkt ihres dramatischsten Anstieges nicht die Folge zu geringer Lebensmittelmengen, sondern vor allem der Knappheitserwartung der Märkte. Aus der Ukraine erwartete man einen Minderexport von ca. 30 Millionen Tonnen Getreide. Dass in der Europäischen Union 200 Millionen Tonnen Getreide verfüttert werden oder in den USA 120 Millionen Tonnen Mais zu Ethanol verarbeitet werden, zeigt, welche Hebel man hätte bedienen müssen, um dem entgegenzusteuern.

Bei der Diskussion über die Frage, mit welcher Art von Landwirtschaft Ernährungssicherheit für eine weiter ansteigende Weltbevölkerung herstellbar ist, ist es unabdingbar, einen Blick darauf zu werfen, wie wir mit dem umgehen, was auf dem Acker und im Stall erzeugt wird. Dass darüber hinaus bis zu 20 Prozent der Lebensmittel noch nicht einmal die Ladentheke erreichen und weitere 30 Prozent in unseren Haushalten weggeworfen werden, verstärkt die Wahrnehmung, dass unser zentrales Problem nicht die Produktionsmenge ist. Auch in den wenig entwickelten Volkswirtschaften des Südens sind die Verluste ähnlich hoch. Dort handelt es sich unter dem Sammelbegriff »Nachernte-Verluste« um Folgen schlechter Infrastruktur in Lagerung, Transport, Kühlketten und Vermarktungseinrichtungen.

Die entscheidende Frage ist deshalb: Wie müssen wir wirtschaften, damit die Produktionsgrundlagen der Landwirtschaft nicht weiter geschädigt werden: die biologische Vielfalt, die Fruchtbarkeit der Böden, die Funktionsfähigkeit von Wasserkreisläufen und die Stabilität des Klimas? Wenn man sie als Ressourcen für die Zukunft unserer Ernährung begreift, dann muss man der unbestreitbar hoch produktiven industriell organisierten Landwirtschaft, die bei uns zum Normalfall geworden ist und deshalb »konventionell« genannt wird, attestieren, dass sie erbärmlich ineffizient ist. Denn der Verbrauch und die Schädigung dieser Ressourcen ist unakzeptabel hoch. An einem grundlegenden Umbau unseres Agrarsystems und mit ihm der Art und Weise, wie wir uns ernähren und wie unser Konsum natürliche Ressourcen beansprucht, führt kein Weg vorbei. Wir müssen, wie mir das einmal ein kluger Mensch auseinandergesetzt hat, eine Methode der Landwirtschaft finden, die wir die nächsten 10.000 Jahre so weiter betreiben können. Diesen Horizont hatte er gesetzt, weil unsere Ackerbaugeschichte ungefähr so weit zurückreicht.

Dieser Anforderung genügt das konventionelle Agrarmodell nicht. Seine Auswirkungen auf die genannten Produktionsgrundlagen, die seine eigenen sind, sind vielfach beschrieben. Selbst die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Amtszeit eingesetzte Zukunftskommission Landwirtschaft (ZkL), in der ich 2021 mitarbeiten durfte, hat — unter der Zustimmung auch derjenigen Kräfte aus Agrarindustrie und landwirtschaftlichem Berufsstand, die manche für völlig reformunwillig gehalten hatten — deutlich ausgesprochen, dass es einer umfassenden Transformation bedarf. Aber ist der ökologische Landbau, für den ich in der ZkL saß, enkeltauglich mit Blick auf diesen weiten Horizont? Ganz sicher auch noch nicht. So fahren auch unsere Traktoren noch mit fossiler Energie. Und auch die Nährstoffe, die mit unseren Produkten vom Hof fahren, kehren nicht als Dünger zurück — was aber die Voraussetzung für einen vollkommen geschlossenen Kreislauf wäre. Ob der Ökolandbau aber auf dem Weg dazu, 10.000 Jahre geeignet zu sein, weiter ist, braucht nicht mehr diskutiert zu werden. In seiner Studie »Leistungen des ökologischen Landbaus für Umwelt und Gesellschaft«² stellte 2019 das Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, eine Metastudie vor, in der weltweit 528 Studien mit 2.816 Vergleichspaaren ausgewertet wurden. Sie zeigt deutlich, dass Bio vorteilhafter auf allen möglichen Feldern des Umwelt- und Ressourcenschutzes ist. Wenn die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag den Ausbau des ökologischen Landbaus mit ehrgeizigen Zielen unterlegt hat und ihn als Zielbild definiert, so beruht das also nicht auf einem Verhandlungserfolg grüner Klientelpolitik, sondern auf soliden Daten.

2  Sanders, Jürn; Heß, Jürgen (Hrsg.) (2019): Thünen-Report 65. Johann Heinrich von ThünenInstitut, Braunschweig ↘ t1p.de/ywf8

Die Gegenargumente im wissenschaftlichen Diskurs ziehen diese Wirkungen in der Regel nicht infrage. Sie bringen nur vor, man dürfe sie nicht in Bezug auf die bewirtschaftete Fläche setzen. Die Bezugsgröße müsse vielmehr der Ertrag sein. Wenn man also, sagen wir, unter Bio-Bedingungen mehr Braunkehlchen findet, dann dürfe man das nicht pro Hektar zählen, sondern müsse es auf die Tonnen Ertrag beziehen. Denn schließlich ernte man auf Bioflächen viel weniger. Und weil man dann, um die gleiche Menge zu ernten, mehr Fläche bräuchte, müsse man zusätzlich beackern, was heute dem Naturschutz dient, und das wäre für die Artenvielfalt sehr viel schlechter. Nun hat die Thünen-Studie sehr sauber argumentiert, weshalb sie bei der einen Größe die Fläche, bei der anderen den Ertrag als Bezugsgröße gerechnet hat. Aber selbst wenn man davon absieht, beinhaltet diese Argumentation einen argen Denkfehler. Sie unterstellt nämlich, dass alles gleich bleibt oder bleiben muss, und setzt damit das, was der Wissenschaftler eine »Ceteris paribus«-Bedingung nennt. Das ist aber eine Bedingung, die nicht funktioniert. So wie wir nicht seelenruhig in Zukunft genauso viel Energie verbrauchen können wie bisher — nur dann erneuerbar, so ist das mit unserer Nahrung auch. Wir können nicht weiterhin 60 Prozent des Getreides (in der EU) in den Futtertrog werfen, 20 Prozent unserer Ackerfläche für Biogas-Mais nutzen und in unbegrentzem Umfang Lebensmittel verschwenden. Würden alle Erdenbewohner auch nur 75 Prozent der Fleischmenge des Durchschnitts-Deutschen konsumieren, wäre das gesamte auf der Welt geerntete Getreide verfüttert. Fürs täglich Brot bliebe nichts mehr. Wer würde behaupten wollen, dass das möglich ist — mit welcher Form von Landwirtschaft auch immer! Und dass wir auf 200 Hektar Biogas-Mais so viel Energie erzeugen wie auf 14 Hektar Photovoltaikfläche oder 0,3 Hektar Aufstellfläche eines Windparks samt Zuwegung — das zeigt, dass diese absurd flächenschluckende Form der Energieerzeugung spätestens dann zu Ende ist, wenn wir das

Energiespeicherproblem gelöst haben. Und schließlich: Wollen wir wirklich ein Menschenrecht auf Lebensmittelverschwendung geltend machen, um weiterhin die Produktion von 200 Prozent zu rechtfertigen, wenn wir 100 Prozent essen wollen? Nein — wir werden beides ändern müssen. Wie wir produzieren und wie wir konsumieren. Die gute Nachricht: Dafür braucht es weder Verbote, Fleischgutscheine oder auch nur moralische Druckmittel. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Preise die ökologische Wahrheit sprechen. Wir müssen bei unseren Lebensmitteln das mitbezahlen, was wir heute leichten Herzens Umwelt, sozial Schwachen, der Bevölkerung ferner Kontinente und künftigen Generationen in Rechnung stellen. Damit verändern sich die Preise unserer Lebensmittel. Und mit ihnen die Konsummuster. Besichtigen kann man diesen Zusammenhang in der Hauptstadt des Königreiches Dänemark. Dort hat 2007 der Stadtrat beschlossen, bis 2015 alle von der Stadt verantworteten Küchen auf mindestens 90 Prozent Bio umzustellen. Das ist gelungen. Heute erfüllen täglich 88.000 Mahlzeiten in Schulen, Kindergärten, Altenheimen, Obdachlosenasylen, Altersheimen oder im Rathaus diese Anforderung. Spannend ist, dass die ebenfalls 2007 beschlossene Randbedingung war, dass die Kosten nicht wesentlich steigen dürften. Wie geht das? Der Frage durfte ich in Kopenhagen 3 Tage nachgehen. Das Rezept ist simpel: weniger (nicht kein!) Fleisch, mehr Frische, weniger Convenience und weniger Abfall. Das zu erreichen ist keineswegs trivial. Aber was für uns hier zählt: Bewirkt haben es die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage — ganz von selbst.

Das macht sozialen Ausgleich nötig, denn es ist ein Menschenrecht, ausreichend und ausgewogen essen zu können. Nur gibt es keine dümmere — und teurere — Methode dafür, Lebensmittel zulasten der Umwelt billig zu machen. Denn weltweit leiden gerade die Armen als Erste unter den Folgen der Umweltzerstörung.

3  Siehe auch: zu Löwenstein, Felix (2017 ): Food Crash. Wir werden uns ökologisch ernähren oder gar nicht mehr Drömer-Knaur, München

Doch auch wenn der entscheidende Parameter für die Frage »Langt es für alle?« in unseren Konsummustern liegt und die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaftssysteme davon abhängt, ob es uns gelingt, sie hin zu zirkulären, die Stoffe im Kreislauf haltenden Modellen umzubauen, bleibt es von Relevanz, wie es um die Produktivität des Zielbildes Ökolandbau steht. Wir wissen seit einer großen Metastudie an der Universität Berkeley, dass die Ertragsunterschiede, weltweit betrachtet, bei etwa 20 Prozent liegen — ein Wert, der sich verringert, wenn man nicht einzelne Kulturen (z. B. Reis mit Reis), sondern ganze Anbausysteme und Fruchtfolgen miteinander vergleicht. Es geht hier um einen Durchschnitt zwischen großen Ertragsunterschieden in Intensiv-Produktionsgebieten Mitteleuropas, geringen Unterschieden in der extensiveren Produktion, beispielsweise im Mittleren Westen der USA, und sogar höheren Bio-Erträgen in vielen Regionen des Globalen Südens. Die Forscherinnen und Forscher aus Berkeley weisen zu Recht darauf hin, dass seit Jahrzehnten nur einstellige Prozentsätze von Mitteln in systemische, ökologische Forschungsansätze investiert wurden, der Löwenanteil aber in konventionelle, auf Agrarchemie beruhende Anbausysteme. Sie halten deshalb eine Verringerung der Ertragslücke bei entsprechendem Einsatz von Forschungsmitteln für wahrscheinlich.3

Die Frage, ob es bei 100 Prozent Bio für alle reicht, ist aber insofern wirklichkeitsfremd, als wir diesen Zustand ohnehin in keiner Weise vor uns haben. Selbst wenn die EU die Ziele der »Farm-to-Fork-Strategie«, nämlich 25 Prozent Bio, erreicht, dann sind immer noch 75 Prozent konventionell. Und die können angesichts der Herausforderungen auf keinen Fall weiter so wie bisher betrieben werden. Wenn die konventionelle Landwirtschaft eine grundstürzende Transformation vor sich hat, dann braucht es den Öko-

landbau noch viel dringender. Nicht nur wegen der beschriebenen Wirkungen auf den von ihm bewirtschafteten Flächen und in seinen Ställen. Sondern weil er darüber hinaus Lösungen entwickeln muss, ohne die diese Transformation nicht funktioniert. Diese Lösungen findet er nicht, weil Biobauern schlauer wären. Sondern weil seine klaren Beschränkungen ihn dazu zwingen. Weil er die bequemen Abkürzungen nicht nutzen kann, welche die Agrarchemie zur Verfügung stellt.

In auch zukünftig von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und extremen Produktionsbedingungen geprägten Weltgegenden — ob in Äthiopien, auf den Philippinen, Peru oder Indien — geschieht das schon in großem Maßstab. Selbst dort, wo Marktzugänge für zertifizierte, als Bio gekennzeichnete Produkte nicht bestehen, findet dieser Umbau statt. Meist genügt es, das staatliche Geld nicht mehr in die Subventionierung von Kunstdünger und Pestiziden, sondern in Beratung und Know-how zu investieren. Wer diesen Weg gegangen ist, dem konnten die Preisexplosionen bei Düngemitteln, die infolge der Energiepreissteigerung die letzten Monate geprägt haben, nichts anhaben.

Die Hungerzahlen steigen — das SDG 2 wird verfehlt!

Dr. Dagmar Pruin ist Präsidentin von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe und Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung. Sie ist Mitglied im Aufsichtsrat des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (GEP), im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ ) und im Kuratorium der Evangelischen Hochschule Berlin. Sie wurde von Landwirtschaftsminister Özdemir in die Zukunftskommission Landwirtschaft des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft berufen.

Weltweit sollen weniger Menschen an Hunger leiden — dieses Ziel hat sich die Staatengemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach gesetzt. Tatsächlich gibt es inzwischen Fortschritte. Nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) gelang es in 25 Ländern, die Anzahl der hungernden Menschen seit 1990 zu halbieren. Trotzdem geht der weltweite Trend in eine andere Richtung: Die Zahl der hungernden Menschen weltweit steigt wieder an, besonders in den Krisenjahren der Covid-19 Pandemie und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Weltgemeinschaft entfernt sich somit immer weiter von dem im Nachhaltigkeitsziel 2 (SDG 2) formulierten Ziel, eine Welt ohne Hunger bis 2030 zu erreichen.

828 Millionen Menschen leiden aktuell an chronischem Hunger. Das heißt: jeder zehnte Mensch hungert — in den Ländern Afrikas südlich der Sahara sogar jeder fünfte. 149 Millionen Kinder sind chronisch unterernährt. Das sind die Zahlen des letzten FAOBerichts 2022 zur globalen Ernährungssituation. Zum ersten Mal konstatierte die FAO in einer Detailanalyse, dass das SDG2 Ziel nicht erreicht werden wird. Sie geht davon aus, dass bis 2030 bestenfalls die Zahl der Hungernden auf 650 Millionen zurückgehen wird.

2,3 Milliarden Menschen können sich keine ausgewogene Ernährung mit Gemüse, Obst, Milch und Eiweißprodukten leisten. Dieser qualitative Mangel an Nahrung — im Gegensatz zum quantitativen Mangel an Nahrung — wird auch als »Stiller Hunger« oder »Versteckter Hunger« bezeichnet. Gleichzeitig gibt es weltweit über 2 Milliarden Übergewichtige und Fettleibige, mit steigender Tendenz in allen Regionen der Welt. Hunger ist das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Wie viele Menschen an Hunger sterben, ist nicht genau erfasst. Schätzungen gehen von jährlich 9 Millionen Hungertoten aus.

Genug für alle — aber nicht überall

Dabei wären genug Lebensmittel vorhanden, um alle Menschen weltweit satt zu machen. Die Lagerbestände für Getreide sind trotz der Drohungen Russlands, die Ausfuhren am Schwarzen Meer zu blockieren, so hoch wie sie in den vergangenen 50 Jahren nie waren. Auch die Preise scheinen sich 2023 wieder auf Vorkrisenniveau einzupendeln. Dennoch haben die Krisen der vergangenen Jahre wieder einmal offengelegt, dass die bisherigen Strategien der Hungerbekämpfung von Staaten, Institutionen und Ernährungs- und Landwirtschaftsindustrie nicht zielführend sind — im Gegenteil: in Krisenzeiten verschärfen sie Hunger und Armut.

In erster Linie gilt das in Ländern, die auf massive Nahrungsimporte angewiesen sind, aber ebenso für Staaten, die für ihren Getreideanbau — besonders Mais- und Reisanbau — von importierten Betriebsmitteln (Saatgut, Dünger, Pestizide, Maschinen) abhängig sind. Die extremen Preissteigerungen für Energie und Nahrungsmittel werden zumindest in 2023 in armen Ländern zu geringeren Ernteerträgen führen. Durch nach wie vor hohe Treibstoffkosten bleiben die Preise auch für lokal angebaute Nahrung hoch. So ist 2023 mit einer weiteren Steigerung der Zahl hungriger Menschen weltweit zu rechnen.

Endlich Lehren aus den Hungerkrisen ziehen Wann, wenn nicht jetzt, werden endlich Lehren daraus gezogen, dass Hunger nicht allein durch Mengensteigerung auf Basis einer intensiven Landwirtschaft beseitigt werden kann. Das Menschenrechtrecht auf Nahrung, das derzeit fast 3 Milliarden Menschen verwehrt wird, beinhaltet mehr als den Zugang zu Nahrungskalorien. Es

beinhaltet eine vielfältige und abwechslungsreiche Ernährung, die langfristig gesund hält. Daher nützt es den Hungernden wenig, wenn festgestellt wird, dass laut FAO noch nie so viel Nahrung produziert wurde wie heute. Alle geernteten Pflanzen zusammen liefern rein rechnerisch etwa das 2,5-fache der zur Ernährung benötigten Kalorienmenge. Doch das parallele Ansteigen der Produktions- und Lagerbestände einerseits und der Zahl hungernder Menschen andererseits zeigt deutlich, wie stark Agrarproduktion und Hunger heute entkoppelt sind und dass Hunger mehr denn je eine Folge von extremer Verteilungsungerechtigkeit ist. Viele Nahrungspflanzen gehen durch industrielle und energetische Nutzung (Bioökonomie), Fleischproduktion und Verarbeitungsverluste für die direkte menschliche Ernährung verloren. So dienen heute nur 47 Prozent der weltweiten Getreideernte der menschlichen Ernährung.

Ursachen- statt Symptombekämpfung: Transformation der Ernährungssysteme Schon lange macht Brot für die Welt mit seinen Partnerorganisationen darauf aufmerksam, dass Menschen in den meisten Fällen nicht deswegen hungern, weil es zu wenig Lebensmittel gibt, sondern weil sie arm sind, ausgebeutet werden, oder keinen Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Land, Wasser oder Saatgut haben. Der UN-Welternährungsbericht nennt soziale und wirtschaftliche Ungleichheit neben gewaltsamen Konflikten und den Auswirkungen der Klimakrise als wesentliche Hungertreiber. In den vergangenen Jahren ist die soziale Ungleichheit weiter angestiegen — und mit ihr die Zahl der Hungernden. Es besteht also dringender Handlungsbedarf, da die bisherigen Versuche, den Hunger zu überwinden, gescheitert sind. Die Ursachen dafür müssen identifiziert und die weltweite Agrar- und Ernährungspolitik neu ausgerichtet werden. Dabei geht es also nicht in erster Linie um eine Produktivitätssteigerung um jeden Preis und überall. Ernährung sollte als öffentliches Gemeingut betrachtet und nicht den Weltmärkten überlassen werden. Nur dann können Menschenrechte und die Verpflichtung der Staaten, diese zu verwirklichen, als Leitbild für die Transformation von Ernährungssystemen stehen. Oft werden die besonders von Hunger betroffenen Gruppen, wie kleinbäuerliche Erzeugerinnen und Erzeuger, Landlose, Hirten- und Fischereigemeinschaften, Landarbeiterinnen und Landarbeiter, indigene Gemeinden und arme Menschen in Städten nicht ausreichend in politische Entscheidungen zur ländlichen Entwicklung und Hungerbekämpfung einbezogen. Auch dies verletzt ihr Recht auf Nahrung. Ansätze, die einseitig auf Ertrags- und Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt basieren, blenden strukturelle Probleme und Gerechtigkeitsfragen im Agrar- und Ernährungssystem wie den ungerechten Zugang zu Land, Agrarberatung und Technologien, den unfairen Agrarhandel oder die negativen Auswirkungen von chemischen Düngemitteln und Pestiziden aus.

Krisen werden bleiben — Krisenfestigkeit ist das Ziel Immer drastischer zeigen sich die Ungerechtigkeiten und grundlegenden Probleme der industriellen Landwirtschaft und des konzerndominierten Ernährungssystems auch für das Erreichen anderer Nachhaltigkeitsziele — vor allem ihre Auswirkungen auf die globale Klima- und Biodiversitätskrise. Der dramatische Verlust an fruchtbaren Böden und Sortenvielfalt sowie Wasserknappheit und klimabedingte Extremwettereignisse werden Hunger und Armut weiter verstärken. Ohne eine tiefgreifende Agrar- und Ernährungswende werden sich weder die SDGs noch die Ziele des Pariser

Klimaabkommens erreichen lassen. Dass bei der Verabschiedung der SDGs und ihrer Unterziele darauf verzichtet wurde, sie mit den rechtlichen Staatenverpflichtungen aus der UN-Menschenrechtscharta oder anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu verknüpfen, zeigt sich nun als deren große Schwäche. Ihr freiwilliger Charakter und die Hoffnung auf Partnerschaften mit der Industrie, wie sie SDG 17 formuliert, haben sich nicht erfüllt und das, obwohl, wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer Studie 2021 betonte, SDG 2 mit einem Betrag von jährlich 40 Milliarden Euro zu erreichen wäre. Doch das würde auch nicht helfen, wenn die Rechte von ausgegrenzten und benachteiligten Menschen nicht an erster Stelle steht. Verletzliche (vulnerable) Gruppen müssen als Rechteinhaberinnen und -inhaber an der Erarbeitung von Förderansätzen und Strategien beteiligt werden, etwa über Ernährungsräte auf dem Land und in den Städten. Ein Positivbeispiel auf globaler Ebene ist der Welternährungsrat CFS, in dem Vertreterinnen und Vertreter von Kleinbäuerinnen, Plantagenarbeitern und anderer von Hunger betroffenen Gruppen bei Strategien zur Hungerbekämpfung direkt mitreden können. Die Legitimität und Inklusivität des CFS wird jedoch von vielen Regierungen zunehmend in Frage gestellt. Hier wäre aber der Schlüssel sowohl für einen effektiven Krisenmechanismus, damit Erfolge in der Hungerbekämpfung nicht wieder zunichtegemacht werden, aber auch, um die Ernährungssysteme so zu verändern, dass ein vielfältiges und gesundes Nahrungsangebot überall und für alle erschwinglich ist.

Agrarökologie und Ernährungssouveränität als Schlüssel der Hungerbekämpfung

Die Prinzipien der Agrarökologie sind das Kernelement für den Aufbau von produktiven, ökologischen, gerechten und widerstandsfähigen Ernährungssystemen. Im Mittelpunkt steht dabei ein ganzheitlicher Ansatz, der die Erfordernisse der landwirtschaftlichen Familienbetriebe, der Gemeinden und der Ökosysteme berücksichtigt. Agrarökologie fördert biologische Kreisläufe, damit weniger und langfristig keine Mineraldünger, Pestizide oder fossilen Brennstoffe benötigt werden. Ziele sind die Stärkung lokaler Strukturen, höhere Erträge, mehr Ertragsstabilität, Ernährungsdiversität und weniger Abhängigkeit von externen Betriebsmitteln, um die Gefahr der Verschuldung einzudämmen. Bei agrarökologischen Ansätzen wird vielfältiges Saatgut eingesetzt, die Bodenfruchtbarkeit verbessert und Humus im Boden aufgebaut. Dies bringt viele Vorteile gerade in Zeiten des Klimawandels: stabilere Ernten, weniger Krankheits- und Schädlingsdruck sowie eine verbesserte Wasserregulierung und mehr gespeicherter Kohlenstoff im Boden. Partnerorganisationen von Brot für die Welt haben diesen Ansatz in den vergangenen 40 Jahren mitentwickelt, systematisiert, und in internationale Prozesse wie das CFS oder die UN-Klimaverhandlungen eingebracht.

Fairer Handel und Soziale Sicherungssysteme

Ein solches holistisches Agrar- und Ernährungssystem bedarf aber eines handelspolitischen Außenschutzes. Der forcierte Abbau von Schutzzöllen und die Freihandelspolitik haben viele Länder des globalen Südens abhängig von Nahrungsmittelimporten und Weltagrarmärkten gemacht. Das hat lokale Ernährungssysteme zerstört und kleinbäuerliche Erzeugerinnen und Erzeuger sowie Viehhalterinnen und -halter verdrängt, die für den lokalen Markt produzierten. Gleichzeitig hat die Macht von multinationalen Konzernen zugenommen. Sie kontrollieren wichtige Märkte vom Acker bis zur Ladentheke. Zudem schafft die Politik Anreize für bäuerliche Erzeugerinnen

und Erzeuger, sich auf einzelne Agrarprodukte für den Export zu spezialisieren, statt die einheimische Bevölkerung mit vielfältigen Lebensmitteln zu versorgen. Gerade in der Corona-Pandemie und in der Preiskrise aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine zeigt sich, wie wichtig eine stabile und krisensichere Versorgung mit gesunden Lebensmitteln ist. Es müssen daher — bei uns und weltweit — politische Anreize für regionale und ökologische Wertschöpfungsketten mit existenzsichernden Preisen geschaffen werden.

Nicht zuletzt ist das SDG 2 stark mit SDG 1, der Abschaffung von Armut verknüpft. Die internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, sozialen Basisschutz für alle Menschen sicherzustellen. Nur 0,23 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts wären notwendig, um soziale Grundsicherung in den 57 Ländern mit niedrigstem Einkommen sicherzustellen und damit allen Menschen in diesen Ländern das Recht auf Nahrung zu gewähren. Doch dieses Ziel wird bislang verfehlt. Noch immer verdienen viele Menschen zu wenig Geld, um sich und ihre Familien zu ernähren, insbesondere jene, die im informellen Sektor arbeiten, im Arbeitsleben diskriminiert werden und aufgrund einer Behinderung oder ihres Alters keine Arbeit finden oder nicht mehr arbeiten können. Deshalb muss man das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung zusammen betrachten. Damit alle Menschen Zugang zu angemessener und ausreichender Nahrung haben, sind rechtebasierte, universelle soziale Sicherungssysteme unabdingbar.

Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten

und ihr Wohlergehen fördern

3 Gesundheit

und Wohlergehen

Wir alle müssen die Transformation gestalten

Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann ist Mitglied im Wissenschaflichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen ( WBGU); seit Sommer 2020 ist die zudem Mitglied der Kommission »Environmental Public Health« des Robert Koch Instituts (RKI); sie ist Direktorin des Instituts für Umweltmedizin bei Helmholtz Munich und Inhaberin des Lehrstuhls für Umweltmedizin an der Universität Augsburg.

»Gesundheit und Wohlergehen!« Das ist kein guter Wunsch zum Geburtstag und nicht das »Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage« eines Märchens. »Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten« — auch das klingt nach Utopie und ist doch das, was mich als Forscherin und Ärztin antreibt. Ich möchte Ärzte arbeitslos machen. Doch welcher Schritte bedarf es, um diesem Ziel näher zu kommen? Wie können wir jeden Tag nachhaltiger und gesünder leben? In unserer krisengeschüttelten Zeit erscheinen die Herausforderungen größer denn je. Unsere Welt ist eben erst dabei, die Folgen der Corona-Pandemie zu verdauen, und steckt doch bereits mitten in der vielleicht größten Krise, der die Menschheit bisher gegenüberstand: dem Klimawandel.1

1  Beerheide, Rebecca (2022): Klimawandel: Die mit Abstand größte Krise. In: Deutsches Ärzteblatt, 119 (45): A-1946/B-1618 ↘ t1p.de/z5ha7

2  ↘ t1p.de/epr71

3  Chen, Kai; Breitner, Susanne; Wolf, Kathrin; et al. (2019): Projection of Temperature-Related Myocardial Infarction in Augsburg, Germany: Moving on From the Paris Agreement on Climate Change. In: Deutsches Ärzteblatt, 116 (31—32), S. 521—527 ↘ t1p.de/jx6we

Unser Planet hat Fieber, die menschengemachte Klimakrise gefährdet nicht sofort und per se jegliches Leben auf unserem Planeten, aber definitiv das, das wir bislang kennen und vor allem das unserer zwar hoch anpassungsfähigen, aber dennoch sehr vulnerablen Spezies. Viele Menschen sterben, weltweit gesehen, bereits heute aufgrund des Klimawandels, hierzulande hallt die Flutkatastrophe nach. Allein Deutschland verzeichnete 2022 laut RKI-Schätzungen rund 4.500 Hitzetote.² Unzählige mehr leiden und können ihre Gesundheit aufgrund verschiedenster, durch Klimaveränderungen veränderter Umwelteinflüsse nicht erhalten. Der Klimawandel beeinflusst das ganze System Mensch wie auch das ganze System Erde, auch bei uns in Mitteleuropa und auch schon jetzt. Volkskrankheiten wie Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,3 Schlaganfall oder Diabetes treten häufiger auf. Hinzu kommen Infektionen oder vektorvermittelte Erkrankungen, die bislang in unseren Breitengraden nicht vorkamen oder gar gänzlich unbekannt waren. Die Malariamücke ist bei uns heimisch, noch hat sie den Erreger nicht im Gepäck. Es gibt vermehrt für uns schädliche Erreger in Gewässern. In der Ostsee überleben nun Vibrionen den Winter, die Infektionen von Wunden verursachen können. Die Liste der Erkrankungen, die durch den Klimawandel begünstigt oder verursacht werden, ist lang.

Vor allem umweltbedingte, chronisch entzündliche Erkrankungen werden durch Hitzeperioden getriggert oder verstärkt. Folgeerkrankungen der Diabetes, wie chronische Wunden, verschlechtern sich bei Hitze, die Heilung der Patienten in Krankenhäusern verschlechtert sich. Aber auch mentale Erkrankungen nehmen zu: Zukunftsängste, Depressionen, aber auch Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Demenz und Alzheimer. Ein letzter großer Punkt sind die Allergien, die durch Veränderung von Ökosystemen häufiger und stärker auftreten. Pollen fliegen länger im Jahr, wir haben mehr Pollen pro Tag, sie werden allergener, und auch neue Pollen finden in wärmerem Klima zu uns. Viele Volkskrankheiten nehmen also massiv zu. Die Diagnose ist eindeutig: Die Herausforderung erscheint bisweilen unbezwingbar, die 1,5 Grad für Europa bereits unerreichbar. Was also tun?

Eine Quintessenz aus der ernüchternden Bestandsaufnahme ist diese: Es gibt niemanden und nichts auf unserem schönen Planeten, der jetzt nicht gefragt ist. Wir alle müssen uns aufmachen und tun, was im Rahmen unserer Möglichkeiten maximal möglich ist. Wir können als Menschen auf der Erde weiterhin auf das blicken, was uns trennt und unterscheidet — West gegen Ost, Nord gegen Süd, Naturwissenschaften vs. Geisteswissenschaften, Mensch versus Umwelt, Ich gegen Du — und dabei gemeinsam untergehen oder — gemeinsam und jeder für sich anpacken, mag der eigene Wirkungs-

radius auch noch so klein erscheinen. Die Klimakrise ist existenziell, aber sie bietet auch die Möglichkeit für eine Transformation und Veränderung, die für uns Menschen und uns als Menschheit tiefgreifenden und nachhaltigen Wandel ermöglicht, sogar Wachstum in ein neues Miteinander, in eine neue Sicht auf uns selbst und auf das, was unser Leben auf diesem Planeten ausmacht. »Everything is connected to everything else« — Barry Commoners erstes von 4 Gesetzen der Ökologie4 ist viel zitiert, um die Folgen unseres Handelns zu illustrieren. Es bedeutet aber auch: Jede Tat hat Wirkung, nichts, was wir tun, ist umsonst, jeder Gang zum Bäcker, statt mit dem Auto zu fahren, hat Wirkung — nicht nur eine Einsparung an CO₂, sondern auch als Vorbild. Mit Blick auf die Forschung und die Medizin gibt es Ansatzpunkte, die einer Transformation die Richtung weisen können. Allem voran ist in meiner Naturwissenschaft ein Kulturwandel vonnöten: Weg von einer Medizin, die sich allein mit Krankheit beschäftigt und diese möglichst erfolgreich bekämpft, hin zu einer salutogenetischen Sicht: Gesundheit und deren Erhalt sollte vordringlichstes Anliegen der Medizin sein. In diesem Sinne wird Prävention zu dem Aspekt, auf dem unser Hauptfokus liegen sollte. Die Umweltmedizin steht hier an einer Schlüsselposition und kann eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn sie sich in umfassendem Sinne als solche begreift. Als eine ganzheitliche, integrative Herangehensweise, die mithilfe modernster Methodik, Analyseverfahren und hoher Rechnerleistung wertfrei nach den Faktoren sucht, die uns krank machen, und besonders auch nach denen, die uns gesund erhalten. So verstanden, kann Umweltmedizin uns — ganz im Sinne des Nachhaltigkeitszieles — helfen, gesund zu bleiben und eine Welt zu gestalten, in der es sich gesund sein lässt. Das beginnt bei jedem Einzelnen und zieht sich durch alle Bereiche unseres Lebens, bis hin zu den politischen Weichenstellungen auf nationaler und internationaler Ebene. »Health in All Policies« ist ein Ansatz, der angesichts der durch den Klimawandel hervorgerufenen Bedrohung gefordert ist. Nachhaltigkeit und Gesundheit sollten unser persönliches, aber auch das politische Handeln bestimmen.

4  Commoner, Barry (1971): The Closing Circle — Nature, Man, and Technology. New York

Im Großen wie im Kleinen aber gestaltet sich Veränderung sehr träge. Dass Rauchen der Gesundheit schadet, ist hinlänglich bekannt. Schrecklichste Fotos springen uns von den Packungen der Zigaretten ins Auge, trotzdem raucht noch jeder vierte Mensch in Deutschland. Wir als Einzelne können viel tun: uns bewegen, gesund ernähren, nicht rauchen, bedacht konsumieren. Dennoch hat das individuelle Tun allein auch Grenzen. Wir alle möchten in Umfeldern leben, die grün sind, in denen wir saubere Luft atmen können und Nahrungsmittel zu uns nehmen, die gesund und ohne Plastikanteile, Weichmacher oder Schadstoffe sind.

Aber dies ist nur möglich, wenn wir diese Umfelder auch schaffen — hier ist nicht nur die Städteplanung gefragt, auch die Politik. »Health in All Policies«, »Sustainability in All Policies« — das ist teuer, aber wir können sicher sein, die Folgekosten von all dem, was wir jetzt nicht tun, werden unendlich höher sein. Damit wir diese Herausforderung meistern können, brauchen wir ein Umdenken, eine neue Kultur, ein neues Denken, ein neues Selbstverständnis als Mensch in der Welt im Gegensatz zu einem Menschen, der sich als der Umwelt entgegengeordnet begreift.

Die Herausforderung ist groß. Was ist uns unsere Gesundheit und unser Wohlergehen auf dem Planeten wert? Wie können wir unser Leben so gestalten, dass wir gesund und nachhaltig — und dann nachhaltig gesund sind? Die Aufgabe ist allumfassend, und so umfasst ihre Lösung auch alle Bereiche unseres Menschseins. Wir alle müssen die Transformation gestalten!

Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern

4 Hochwertige Bildung

Die Wunder der Welt erklären — Anforderungen an eine naturwissenschaft- liche Bildung

Prof. Dr. Ernst Peter Fischer ist Wissenschaftshistoriker und -publizist; er war an den Universitäten Konstanz (bis 2011) und Heidelberg (ab 2011) tätig; ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Bedeutung der Naturwissenschaft für Allgemeinbildung herauszustellen.

Seit die Vereinten Nationen ihre Ziele zum Erreichen einer nachhaltig genutzten Welt formuliert haben, bemühen sich Regierungen wie die deutsche darum, ihnen gerecht zu werden oder näher zu kommen, und dabei wird stets die Jahreszahl 2030 als Vorgabe genannt. Das UN-Programm führt bekanntlich als 4. seiner bis zu diesem Zeitpunkt umzusetzenden Vorhaben die Vermittlung einer »Hochwertigen Bildung« an, was etwas irritiert, wird doch kaum jemand eine minderwertige Variante des hohen Guts ins Auge fassen. Dabei kann man die Vorstellung nicht unterdrücken, dass damit die »Ausbildung« gemeint ist, bei der praktische Fähigkeiten erworben werden. Hochwertige Bildung hingegen verbindet Menschen außerhalb ihrer Berufe, wenn sie Kulturthemen erörtern, was einen verleiten könnte, hier von »Einbildung« zu sprechen. Diese Unterscheidung der beiden Vorsilben eckt vielleicht an, aber wer Ein-Bildung latinisiert und zur In-Formation macht, erkennt darin die Dimension der Bildung, die zu dem Weltbild der Menschen führen soll.

Um das hochgesteckte 4. Nachhaltigkeitsziel der UN erreichen zu können, hat das hierzulande zuständige Ministerium einen nationalen Aktionsplan unter der Überschrift »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) entworfen und darin verkündet, so etwas wie Dialogfähigkeit, Orientierungswissen und ganzheitliches Lernen fördern und verbessern zu wollen. Wer die in großer Zahl produzierten Verlautbarungen über das Projekt BNE anschaut, trifft auf viele Vokabeln, mit denen politische und mediale Eliten hantieren, wenn sie ihre Halbbildung verbergen wollen. Gemeint sind Begriffe wie Gegenwartsanalyse, Dekadenbüro, Zukunftsstudien, Gestaltungs- und Teilkompetenz, und man wird darüber hinaus auf ökonomische, soziale und politische Gerechtigkeitsanliegen und viele weitere Aspekte des alltäglichen Lebens verwiesen. So nötig dies sein mag, es fällt auf, dass bei der BNE nichts von den Naturwissenschaften zu lesen ist, obwohl es vor allem ihre Eingriffe und Auswirkungen sind, mit denen die Bedingungen der menschlichen Existenz seit Jahrhunderten wesentlich erleichtert und in vielen Fällen überhaupt erst ermöglicht werden. Selbst wer die Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, Geologie, Informatik und viele weitere Disziplinen als Innovationstreiber und Impulsgeber der Wirtschaft für wichtig hält, wird bei dem Wort Bildung eher an Literatur, Kunst und Philosophie denken und weniger auf die Idee kommen, Experimentieren mit und Nachdenken über Energieumwandlung, Genmutationen, chemische Katalysen und Radioaktivität als Kulturgut zu betrachten und den Wunsch äußern, die dazugehörigen Einsichten in Bildungsgesprächen zu vertiefen. In den Talkrunden der deutschen Fernsehsender kommen die Naturwissenschaften selbst dann nicht vor, wenn in Stockholm die Nobelpreise für Physik, Chemie und Medizin vergeben werden, wobei allgemein bekannt sein sollte, dass mit diesen Auszeichnungen Personen geehrt werden, die am meisten »zum Nutzen der Menschheit« beigetragen haben, wie es offiziell heißt.

Das Publikum lernt seine Wohltäterinnen und Wohltäter nicht kennen, da die Medien lieber die mit Machtspielchen beschäftigten Figuren aus Politik und Wirtschaft einladen, um mit ihren Ansichten die Sendezeit zu füllen. Die zuständigen Redaktionen können sich nicht vorstellen, dass ein Verstehen von naturwissenschaftlich gewonnenen Einsichten nicht nur mentales Vergnügen bereiten, sondern auch die Teilhabe am kulturellen Geschehen als Ganzem ermöglichen kann. Wenn sich in der Bildung einer Person die Kultur zu erkennen geben soll, in der dieses Individuum lebt und sich wohlfühlt und mit der es sich Orientierung verschafft, dann kann niemand ohne Kenntnis der Naturwissenschaften als gebildet bezeichnet werden — ohne Wenn und Aber. Man sollte beispielsweise ein Minimum an Quantenphysik und Evolutionsbiologie ken-

nen und in der Lage sein, 2 oder 3 nicht triviale Sätze zu den Inhalten dieser Theoriegebäude zu sagen. Die naturwissenschaftliche Bildung ist nicht nur wichtig, sie wird überlebenswichtig, wenn die Menschen zu dem Verhalten angeleitet werden sollen, das mit dem leider zum Modewort verkommenen Begriff »nachhaltig« bezeichnet wird. Nachhaltig kann der Umgang mit der Natur nur sein, wenn er nicht mehr dem überlieferten göttlichen Befehl folgt, »Macht euch die Erde untertan«. »Macht euch die Erde zur Freundin«, könnte der neue Leitspruch heißen, der aber seine Wirkung erst entfaltet, wenn sich die Menschen daran erinnern, dass die Welt so ist wie eine geliebte Person, nämlich schön und geheimnisvoll. Die Schönheit der Natur beurteilen Menschen durch die Wahrnehmung ihrer Sinne, was auf Griechisch »aisthésis« heißt und woraus das deutsche Wort Ästhetik geworden ist. Die Freude am Schönen der Welt ist nicht nur der Grund, warum Menschen von Natur aus überhaupt nach Wissen streben, wie Aristoteles im ersten Satz seiner »Metaphysik« schreibt. Das Schöne verhilft auch zu einem richtigen Handeln, denn »Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik«, wie es der russische Poet Joseph Brodsky auf den literarischen Punkt gebracht hat.1 Für die hier gestellte Aufgabe bedeutet dieser Satz, aus der ästhetischen Welterfahrung eine Kultur der Nachhaltigkeit zu schaffen, und damit besteht eine Aufgabe für die Zukunft darin, die Wahrnehmung der Natur so einzuüben, dass zuerst mit ihrer Hilfe das wissenschaftliche Wissen wächst, um in der Folge mit den ästhetisch erworbenen Kenntnissen zu dem Handeln zu kommen, das die Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde zu bewahren hilft und in diesem Sinne Nachhaltigkeit ermöglicht.

1  Brodsky, Joseph (1994): In: Das sichtbar Unsichtbare. (Ohne Hg.). Edition Tertium, Ostfildern, S. 123; zitiert bei Fischer, Ernst Peter (1997 ): Das Schöne und das Biest. München, S. 269

2  Einstein, Albert (1962): Mein Weltbild. Berlin, S. 9

Wer sich der Natur mit seinen oder ihren Sinnen öffnet und den Kosmos so anschaut oder in sich aufnimmt, wie es unter anderem der große Naturforscher Alexander von Humboldt getan hat, wird bei dem dazugehörigen Treiben ein Gefühl entwickeln, das auch Albert Einstein gekannt hat, obwohl er als Theoretischer Physiker sich mehr mit den innen erzeugten Bildern seiner Fantasie als mit den von außen kommenden Wahrnehmungen von Natur abgegeben hat. Doch die beiden Giganten der Wissenschaft reagierten bei ihrer Suche nach der Wahrheit mit demselben Empfinden, das Einstein in dem herrlichen Satz zusammengefasst hat: »Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge ist erloschen.«² Es kommt somit auf die Fähigkeit an, sich das Erlebnis des Geheimnisvollen zu verschaffen, und dies gelingt Menschen, die bereit und in der Lage sind, sich zu wundern — über die funkelnden Sterne am Himmel, über das wimmelnde Leben im Dschungel, über das neugierige Verhalten von Menschen und vieles mehr. Und mit ihrem Wundern setzt das Verlangen ein, »die Wunder der Welt erklären« zu wollen, wie dieser Beitrag überschrieben ist. Menschen treffen bei ihrem Suchen immer wieder auf Geheimnisse, wie noch an einem historischen Beispiel ausgeführt wird, und niemand kann ihr Mysterium aufheben. Im Gegenteil — jede naturwissenschaftliche Erklärung vertieft das Geheimnisvolle der Welt, was den Menschen hilft, das Grundgefühl der Schönheit immer intensiver zu spüren und so ihren Willen zum Wissen zu befeuern. Dieser ersten Herausforderung an die naturwissenschaftliche Bildung kann man weitere hinzufügen, die auf das Problem zu reagieren versuchen, das Robert Musil in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« als »unermessliche Undurchdringlichkeit« bezeichnet hat. Bereits um 1930, als der Roman geschrieben wurde, gab es so viele

Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, »dass es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte«, 3 wie bei Musil zu lesen ist, der zwar selbst als Physiker ausgebildet worden ist, aber trotzdem das Fachwissen seiner Zunft, die damals die Quantentheorie der Atome ausarbeiten konnte, als höchst undurchdringlich wahrnehmen musste. Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass die fortgesetzte »Trunksucht am Tatsächlichen« knapp hundert Jahre später viele Menschen immer mehr am Stand des Wissens verzweifeln lässt. Zwar werden unentwegt Versuche einer populären Darstellung der Genetik, der Astrophysik, der Hirnforschung oder der Biochemie unternommen, doch ein öffentliches Verständnis stellt sich trotz der bunten Bildchen mit umherhuschenden Molekülen und lustigen Knalleffekten nirgendwo ein.

3  Musil, Robert (1930): Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Berlin S. 214

4  Barzun, Jacques (1968): Vorwort zu dem Buch von Toulmin, Stephen: Voraussicht und Verstehen. Frankfurt am Main, S. 10—11

Der französische Kulturhistoriker Jacques Barzun hat bereits in den 1960er Jahren zu diesem Thema ein vernichtendes Urteil gefällt und Sätze geschrieben, die an Musil erinnern: »Man kann sagen, dass die westliche Gesellschaft gegenwärtig die Wissenschaft beherbergt wie einen fremden, mächtigen und geheimnisvollen Gott. Unser Leben wird von seinen Werken verändert; aber die Bevölkerung des Westens ist von einem Verständnis dieser seltsamen Macht wohl ebenso weit entfernt, wie ein Bauer in einem abgelegenen mittelalterlichen Dorf es von einem Verständnis der Theologie des Thomas von Aquin gewesen ist. Und was schlimmer ist: Die Lücke ist heute größer, als sie vor hundert Jahren war, zu einer Zeit, als jeder gebildete Mensch sich die Hauptergebnisse und die einfachen Prinzipien, die damals Physik, Chemie und Biologie ausmachten, aneignen konnte. Die Schwierigkeit heute besteht nicht darin, dass die Wissenschaft mehr Tatsachen entdeckt hat, als sich in einem Kopf zusammenhalten lassen, sie besteht vielmehr darin, dass die Wissenschaft — selbst für die Wissenschaftler — aufgehört hat, eine prinzipielle Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation zu sein.« Und weiter: »Es ist die moderne Geschichte, die Geschichte seit 1500, die den Schlüssel zu den charakteristischen Formen und Auswirkungen des wissenschaftlichen Denkens in sich enthält. Gerade weil die Wissenschaft eine stupende Leistung des menschlichen Geistes ist, erscheinen ihr Wert und ihre Größe nur in voller Deutlichkeit, wenn man die Abfolge ihrer Schritte unter wachsamer und informierter Beobachtung ihrer Begleitumstände verfolgt, das heißt wiederum: kritisch und historisch. Zu erkennen, was die Wissenschaft ist, was sie tut, und welchen Einfluss sie auf andere Manifestationen des Geistes hat: Das ist eine Aufgabe für jemanden, der zugleich Kritiker, Historiker und Philosoph ist, und der außerdem in einem Wissenschaftszweig und in Mathematik ausgebildet worden ist.«4

Damit sind 2 Herausforderungen für die naturwissenschaftliche Bildung benannt, nämlich zum einen, die Menschen zu ermutigen, sich nicht nur aktiv, sondern auch kontemplativ der Natur zu nähern, was mit einer Ermutigung für das Gefühl des Geheimnisvollen beginnen kann. Und zum anderen gilt es, die historische Entwicklung der Naturwissenschaften in den Blick zu nehmen und von den tätigen Menschen zu erzählen, die in ihrer jeweiligen Epoche ihre besonderen Beiträge liefern konnten und Schritt für Schritt das Theoriegebäude komplexer werden ließen. Wenn Johannes Kepler die Planetengesetze aufstellt, dann treibt er nicht nur Physik, er verschiebt zudem die Grundlage der Erklärung von den transzendenten Göttern hin zu immanenten Kraftwirkungen, ohne dabei die Suche nach der christlichen Trinität am Himmel aufzugeben. Wenn Kepler die Bahnen von Himmelskörpern berechnet, kontempliert er zugleich eine Harmonie im Kosmos. Sie beeindruckte im 20. Jahrhundert auch

Albert Einstein, der in physikalischen Theorien »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtender Schönheit« erkennt und meint, dass »dies Wissen und Fühlen wahre Religiosität ausmacht«. Die Kulturgeschichte des Christentums kann tatsächlich ebenso als »Verzauberung der Welt«5 beschrieben werden wie die naturwissenschaftliche Erklärung der Wunder am Himmel und auf der Erde, und so können der religiöse und der wissenschaftlich orientierte Mensch zusammenkommen, um die Bedingungen der eigenen Existenz kontemplativ zu bewahren, während man zugleich sich weiter darum bemüht, sie aktiv zu erleichtern.

Das Problem der unermesslichen Undurchdringlichkeit von naturwissenschaftlichen Erklärungen bleibt auch für den kontemplativ orientierten und Herzensbildung anstrebenden Menschen bestehen, und hier soll der Vorschlag unterbreitet werden, durch eine historische Betrachtung Abhilfe zu schaffen. Dabei taucht eine grundlegende Schwierigkeit auf, die der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres so gefasst hat: »Wir lehren unsere Geschichte meist ohne die der Wissenschaften, verkürzen die Philosophie im Unterricht um jede fachliche Argumentation und halten die Literatur von ihrer wissenschaftlichen Nachbarschaft wunderbar isoliert.«6 Mit anderen Worten, die aktuelle Lehre bleibt der wirklichen Welt mit ihren technischen Errungenschaften fremd, wobei die Naturwissenschaften darunter besonders leiden, weil man die hier handelnden Personen gar nicht vorgestellt bekommt. Das Publikum kennt die Namen von Philosophen und Schriftstellerinnen, muss aber mit der Schulter zucken, wenn es Chemikerinnen, Biologen oder Ingenieure benennen soll. Dabei wird Wissenschaft von Menschen gemacht, die sich wie alle irren können. Und wer hätte nicht Lust, von den Schnitzern der Großen zu lernen, etwa wenn Einstein darauf beharrt, dass Gott nicht würfelt, ohne zu merken, dass es ganz schön frech von einem Sterblichen ist, dem Herrn im Himmel vorzuschreiben, wie er mit der Welt umzugehen hat. Abgesehen davon erlaubt der historische Gedankengang zu verstehen, wie das Geheimnisvolle der Natur durch ihre Erkundigung zunimmt. Als Isaac Newton im 17. Jahrhundert erklären wollte, warum ein Apfel zu Boden fällt, führte er die Schwerkraft ein, ohne mehr als ihren Namen zu nennen. Im 19. Jahrhundert tauchte die Idee auf, dass die Wechselwirkung zwischen dem Obst und der Erde durch ein Gravitationsfeld zustande kommt, ohne dass man mehr darüber zu sagen wusste, und im 20. Jahrhundert zeigte Einstein, wie dieser Feldeffekt produziert wird, nämlich dadurch, dass Materie den Raum krümmen und seine Geometrie verändern kann. Es bleibt dasselbe Phänomen — ein Gegenstand fällt nach unten —, aber die Erklärung des Geschehens wird immer geheimnisvoller, und so geht die Wissenschaft allgemein mit den kleinen und großen Wundern der Welt um. Sie vertieft ihre Geheimnisse, wie jede und jeder an Beispielen seiner oder ihrer Wahl durchprobieren kann. Die Herausforderung an die naturwissenschaftliche Bildung besteht darin, eine sokratische Weisheit in dem Sinne zu vermitteln, dass man versteht, es kommt auf die Fragen an, die bleiben, und nicht auf die Antworten, die sich ändern. Dadurch erweist sich das Abenteuer Wissenschaft als so offen wie die Zukunft, die Menschen gestalten wollen. Sie kann nachhaltig werden, wenn man sich daran macht, das Wort Bildung in seiner doppelten Bedeutung ernst zu nehmen und umzusetzen, als Ergebnis und Prozess zugleich, der wiederum ein neues Ergebnis hervorbringt, und so weiter. Die Welt ist in Bewegung und erwartet die kreativen Fragen der Menschen, die neugierig in ihr leben und sich wundern wollen.

5  Lauster, Jörg (2014): Die Verzauberung der Welt — Eine Kulturgeschichte des Christentums. München Fischer, Ernst Peter (2014): Die Verzauberung der Welt — Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften. München

6  Serres, Michel (Hg. ) (1994): Vorwort zu: Elemente einer Geschichte der Naturwissenschaften. Frankfurt am Main, S. 11

Lebenslanges Lernen für alle — der Beitrag der kulturellen Bildung

Martin Rabanus ist Vorsitzender des Deutschen Volkshochschulverbands; von 2013 bis 2021 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und von 2018 bis 2021 Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.

Philip Smets ist Fachreferent in der Stabsstelle Grundsatz und Verbandsentwicklung im Deutschen Volkshochschulverband. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Bereiche Bildung für nachhaltige Entwicklung und berufliche Bildung.

Immer sichtbarer und wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft bestritten sind die gravierenden Folgen des Klimawandels, von Artensterben über den Anstieg des Meeresspiegels bis hin zu gewaltsamen Konflikten und massiven Migrationsbewegungen in Folge von Dürren und Nahrungsmittelknappheit. Um diesen globalen Herausforderungen zu begegnen, ist die Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zentral. Die in ihr festgelegten 17 Nachhaltigkeitsziele spiegeln die vielfältigen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung wider — von Armutsbekämpfung und Sicherung der Lebensgrundlagen für alle Menschen über die Gleichstellung der Geschlechter und die Bekämpfung globaler sozialer Ungleichheiten bis hin zu Energiesicherheit und der Etablierung nachhaltiger Produktionsweisen in der Wirtschaft. Bildung, genuin in Ziel 4 genannt, ist ein zentraler Schlüssel zur Umsetzung des gesamten ambitionierten Zielkatalogs. Die nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft ist unerlässlich und nur mithilfe von ganzheitlicher Bildung und lebenslangem Lernen erreichbar.

Bildung für nachhaltige Entwicklung und lebenslanges Lernen als Schlüssel zur Umsetzung der Agenda 2030

Zur Umsetzung der Agenda 2030 muss die Verankerung von Nachhaltigkeitsaspekten in allen Bildungsbereichen entlang der gesamten Bildungskette erreicht werden. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zu. BNE als Element der Agenda 2030 ist in Nachhaltigkeitsziel 4.7, das auch als Markenkern der Bildungsagenda der Vereinten Nationen gilt, verortet:

»Bis 2030 sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung.« (Nachhaltigkeitsziel 4.7 )

Das Ziel von BNE ist es, die Lernenden dazu zu befähigen, die Auswirkungen des eigenen Handelns erkennen und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu können, wie auch eigene Gestaltungs- und Handlungspotenziale auf der individuellen sowie auf der politischen Ebene wahrnehmen zu können. Dabei sollen die Lernenden ein Gefühl der Selbstwirksamkeit entwickeln. BNE ist dann wirksam, wenn nicht nur theoretisch verstanden wird, an welchen Stellen Veränderungen notwendig sind, sondern auch konkrete Veränderungen angestoßen werden können. Dabei ist nicht nur die Vermittlung von (Fakten-)Wissen von Bedeutung, sondern insbesondere auch die sozio-emotionalen Dimensionen des Lernens, indem BNE z. B. positive Zukunftsvisionen erzeugt. Lebensweltorientierung sowie die Förderung von Multiperspektivität und Offenheit sind weitere zentrale Elemente der BNE, die eine Anschlussfähigkeit zur kulturellen Bildung bereits deutlich machen. Mit der expliziten Adressierung aller Lernenden wird die Bedeutung des lebenslangen Lernens für die Erreichung der Agenda 2030 betont. Die Vermittlung von BNE-Kenntnissen und die Unterstützung der Lernenden bei dem Erwerb der notwendigen Kompetenzen ist nicht nur Aufgabe der formalen Bildung in Schule, Hochschule und Ausbildung, sondern auch der non-formalen und der Erwachsenenbildung. Auf dem Weg der Transformation zu einer nachhaltigeren Gesellschaft kommt der Erwachsenenbildung aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrichtung, ihrer Inhalts- und Methodenvielfalt, ihrer Ausrichtung an den Interessen und Bedarfen der Zielgruppe und ihrer Offenheit für alle Menschen eine entscheidende

Rolle zu. Es ist wichtig, dass nicht nur Kinder und Jugendliche mit BNE-Maßnahmen erreicht werden, sondern auch Erwachsene. Denn diese sind nicht nur Vorbilder für die jüngere Generation, sondern auch die heutigen Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Und der gesellschaftliche Wandel muss heute organisiert werden — denn morgen ist es zu spät.

Im Bereich der Erwachsenenbildung kommt den Volkshochschulen eine Schlüsselrolle zu: Sie bieten Orientierung im gesellschaftlichen Wandel und fördern Kompetenzen im Sinne einer zukunftsfähigen Gestaltung von Gesellschaft. Aufgrund ihrer kommunalen Verankerung befinden sich die Volkshochschulen in einer besonderen Position in der deutschen ( Weiter-)Bildungslandschaft. Sie sind als Akteure der allgemeinen Erwachsenenbildung Teil der kommunalen Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger, sie bilden eine Schnittstelle zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft. In dieser Position sind sie in der Lage, gesellschaftlich drängende Themen, wie die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und der dafür notwendigen Transformation, breiten Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen und als Orte der Vernetzung in der Kommune auch Diskussionsprozesse anzustoßen und zu begleiten. BNE möchte Wissen vermitteln, Perspektiven eröffnen und zu systemischem Denken und dem Erkennen von Zusammenhängen befähigen. Das breite Bildungsangebot über die verschiedenen Fachbereiche hinweg bietet den Volkshochschulen die strukturelle Voraussetzung, BNE als übergreifendes Querschnittsthema in allen Programmbereichen zu verankern und den vielfältigen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung auf diese Weise Rechnung zu tragen. Die bundesweit über 850 Volkshochschulen bekennen sich zu den Zielen der BNE und nehmen sich der Herausforderung an. Indem sie Nachhaltigkeitsthemen langfristig in ihren Leitbildern und Programmangeboten verankern, nehmen sie ihre Verantwortung als Schlüsselakteure in der allgemeinen Weiterbildung in diesem Bereich wahr.

Der Beitrag der kulturellen Bildung zu einer ganzheitlichen BNE

Gefordert ist dabei nicht zuletzt die kulturelle Bildung — an Volkshochschulen ebenso wie an anderen Bildungseinrichtungen. Kultur ist das Grundgerüst unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wie wir leben, wie wir miteinander und mit unserer Umwelt umgehen, wie wir Vergangenes tradieren und uns auf die Zukunft vorbereiten, ist entscheidend von unseren kulturellen Prägungen und Werten beeinflusst. Angebote kultureller Bildung vermitteln Kulturtechniken und Kernkompetenzen wie Kreativität, Flexibilität, Improvisationsbereitschaft. Sie stärken Urteils- und Gestaltungsfähigkeit sowie Problemlösungskompetenzen und Teamfähigkeit und unterstützen Menschen so in ihrer Persönlichkeitsbildung. Gleichzeitig bieten sie Raum zum Erleben von Gemeinsamkeiten im künstlerischen Prozess und stärken damit den sozialen Zusammenhalt. Kulturelle Bildung leistet damit einen wichtigen Beitrag bei der Umsetzung einer ganzheitlichen BNE und unterstützt die für eine nachhaltige Entwicklung notwendigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Indem sie alternative Erfahrungsräume eröffnet und interkulturelle Kompetenz fördert, trägt sie zum Verständnis globaler Zusammenhänge bei und ermöglicht es den Lernenden, eigene Überzeugungen und Wertmuster zu reflektieren und neue Perspektiven einzunehmen. Durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Künsten und ästhetischen Praxen durch die Lernenden entfaltet die kulturelle Bildung ihr spezifisches Potenzial dadurch, dass sie Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten der Lernenden befördert und auf diese Weise

eine bedeutende Grundlage bildet für im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung essenzielle Kompetenzen zur Selbstreflexion, Selbstwirksamkeit und gesellschaftlichen Teilhabe. BNE möchte Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigen — sie verfolgt in diesem Sinne ein normatives Bildungsziel. Dieses Ziel wird durch die Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich Lernende durch kulturelle Bildung aneignen können, wesentlich unterstützt.1

Beispiele aus der Bildungspraxis

1  vgl. hierzu ausführlicher: Reinwand-Weiss, VanessaIsabelle: Kulturelle Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Über die Verbindung zweier normativer Ansätze und Praxen. In: Braun-Wanke, Karola; Wagner, Ernst (Hg. ) (2020): Über die Kunst, den Wandel zu gestalten. Kultur — Nachhaltigkeit — Bildung. Münster/New York, S. 64—71

Die Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen für die kulturelle Bildung wird von den Volkshochschulen seit Langem erkannt. Angebote, die beide Themenbereiche verschränken, werden stetig neu entwickelt. An dieser Stelle sollen nur 2 Beispiele guter Bildungspraxis hervorgehoben werden, die die Vielfalt der Ansätze für verschiedene Zielgruppen verdeutlichen können. Ein gelingendes Beispiel für die Verschränkung kultureller Bildung und BNE ist das Projekt »talentCAMPus« des Deutschen Volkshochschulverbands (DVV ). Im Rahmen des Projekts, welches über das Programm »Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung« durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF ) bereits in der dritten Förderphase gefördert wird, setzen Volkshochschulen in lokalen Bündnissen kulturelle Bildungsprojekte für junge Menschen um, die in Risikolagen aufwachsen. Sie kooperieren dabei mit Kultureinrichtungen, Jugendzentren, Migranten- und Migrantinnenorganisationen oder Schulen und erreichen so jährlich bis zu 11.000 Kinder und Jugendliche. Über das Projekt werden auch konkrete Angebote von Volkshochschulen gefördert, die Nachhaltigkeitsthemen mit kultureller Bildung zusammenbringen. Ein Beispiel ist der talentCAMPus »Wie wollen wir in Zukunft leben?«, den die Volkshochschule Nienburg im Herbst 2021 in Kooperation mit dem Museum Nienburg mit 17 Jugendlichen umgesetzt hat. Teil des Programms waren unter anderem die Auseinandersetzung mit nachhaltigen Produktionsweisen in der Textilindustrie sowie mit dem Thema Müllvermeidung und Upcycling: Vermeintlichem Plastikmüll wurde durch Basteln und die Gestaltung von Collagen neue Gestalt und neuer ästhetischer Wert verliehen. Über diesen künstlerisch-kreativen Ansatz haben sich die teilnehmenden Jugendlichen mit drängenden Fragen einer nachhaltigen Entwicklung auseinandergesetzt.

Ein weiteres Beispiel, explizit aus der Erwachsenenbildung, ist das aktuell laufende Projekt »BNE in städtischen und ländlichen Sozialräumen« an der Volkshochschule Köln. Ziel des Projekts ist es, BNE an lokale Lebenswelten anzuknüpfen und gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe für Zielgruppen zu erreichen, die durch die Angebote der Volkshochschule sonst nur schwer erreicht werden. In Kooperation mit Sozialraumkoordinatorinnen und -koordinatoren sowie lokalen Akteurinnen und Akteuren wurden Bedarfsanalysen erstellt und unter anderem ein Mieteracker mit dem beteiligten Immobilienunternehmen gegründet. Über diesen Ansatz ist es gelungen, Inhalte klassischer Umweltbildung, soziale Teilhabe und interkulturellen Austausch der Teilnehmenden zu befördern.

Die Beispiele werfen nur ein Schlaglicht auf das vielfältige Programmangebot der Volkshochschulen in der kulturellen Bildung. Sie verdeutlichen aber deren wichtigen Beitrag bei der Umsetzung einer ganzheitlichen BNE, die die Voraussetzung ist für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und damit der erfolgreichen

Gestaltung der nachhaltigen Transformation der Gesellschaft. Die Volkshochschulen werden die Verankerung von BNE als Querschnittsthema aller Programmbereiche und die eigene nachhaltige Organisationsentwicklung auch in Zukunft weiter vorantreiben. Hierfür ist eine zielgerichtete politische Unterstützung und finanzielle Ausstattung der Weiterbildung und ihrer Akteure unerlässlich — über die Berücksichtigung in Förderprogrammen ebenso wie über eine strukturelle Dauerfinanzierung der Einrichtungen.

Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen

5 Geschlechtergleichheit

Noch viel zu tun —

Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur

Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates; zuvor war sie von 1992 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Kulturrat.

Auch wenn der Kultur- und Medienbereich gern für sich Anspruch nimmt zur Avantgarde zu zählen, kann dies für das Thema Geschlechtergerechtigkeit1 nicht gesagt werden. Seit vielen Jahren wird kontinuierlich durch sekundärstatistische Auswertungen² oder auch in Primärerhebungen3 nachgewiesen, dass Frauen in Führungspositionen im Kultur- und Medienbereich nach wie vor unterrepräsentiert sind und sowohl als Selbstständige als auch als abhängig Beschäftigte sehr oft weniger als Männer verdienen. Im Folgenden soll anhand einiger weniger ausgewählter Daten der Handlungsbedarf im Kultur- und Medienbereich aufgezeigt werden. Dabei stütze ich mich auf eigene Auswertungen der amtlichen Statistik.

1  Im Folgenden wird ausschließlich auf Frauen und Männer eingegangen. In der amtlichen Statistik werden aufgrund der Stichprobengröße keine weiteren Daten zu »divers« oder »non-binär« ausgewiesen. In der gesellschaftlichen wie auch kulturpolitischen Diskussion wird »Geschlecht« deutlich weiter gefasst.

2  Siehe z. B. Schulz 2013, Schulz 2016, Schulz 2020

3  Siehe z. B. Deutscher Musikrat 2023, ver.di 2023, Bühnenmütter 2022, Deutscher Musikrat 2021, Deutsche Jazzunion 2020

4  Hier findet sich u. a. auch der Buchhandel, der Musikalienhandel oder auch der Handel mit Kunstwerken und Antiquitäten.

Betrachtung des Gender Pay Gap nach Wirtschaftszweigen Unternehmen und Selbstständige werden in der amtlichen Statistik nach Wirtschaftszweigen klassifiziert. Die deutsche Klassifikation lehnt sich an die internationale Klassifikation an. Entscheidend bei der Betrachtung der Erwerbstätigen im Rahmen der Wirtschaftszweige ist zum einen, dass in den Wirtschaftszweigen Unternehmen und Selbstständige zusammengeführt werden. Zum anderen wird hinsichtlich der Erwerbstätigen erfasst, ob eine Tätigkeit in einem bestimmten Wirtschaftszweig ausgeführt wird. Ob eine Ausbildung in einem bestimmten Beruf, die für eine Tätigkeit in dem Wirtschaftszweig qualifiziert, vorliegt oder nicht, spielt keine Rolle. Das heißt hier werden auch jene Erwerbstätigen aus Kunst und Kultur erfasst, die nicht in einem Kulturberuf, wohl aber in einem Kulturunternehmen tätig sind.

Die Statistiken und Erhebungsinstrumente werden fortlaufend angepasst. Das führt zu sogenannten Brüchen in der Statistik, d. h. die Daten eines Jahres sind mit denen der Vorjahre nur bedingt bzw. nicht vergleichbar. Mit Blick auf Kunst und Kultur trifft ein solcher statistischer Bruch für den Wirtschaftszweig »Kunst, Unterhaltung, Erholung« zu. Dies hat zur Folge, dass 2022 der Gender Pay Gap in diesem Wirtschaftszweig 30 Prozent betrug und der Wert 2023 bei 20 Prozent liegt.

Es werden insgesamt 17 Wirtschaftszweige unterschieden. Der Gender Pay Gap ist gespannt zwischen -1 Prozent im Wirtschaftszweig »Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, Beseitigung von Umweltverschmutzungen« und 27 Prozent im Wirtschaftszweig »Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen«.

Für den Kulturbereich sind 4 Wirtschaftszweige relevant, weil hier eine nennenswerte Zahl von Kulturunternehmen bzw. Selbstständigen aus Kunst und Kultur subsumiert werden. Es handelt sich um folgende:

– »Kunst, Unterhaltung, Erholung« mit einem Gender Pay Gap von 20 Prozent

– »Handel«4 mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

– »Information, Kommunikation« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

– »Erbringung freiberuflicher, technischer und wissenschaftlicher Dienstleistungen« mit einem Gender Pay Gap von 27 Prozent

Im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige liegt der Gender Pay Gap bei 18 Prozent, woraus folgt, dass in allen 4 Wirtschaftszweigen, die für den Kulturbereich relevant sind, der Gender Pay Gap über dem Durchschnitt liegt.

Betrachtung des Gender Pay bei abhängig Beschäftigten

Einen anderen Zugang zur Betrachtung des Gender Pay Gap bietet die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Grundlage ist hier die Klassifikation der Berufe. Das heißt im Unterschied zu den Wirtschaftszweigen wird hier der Fokus auf den Beruf gelegt und nicht das Tätigkeitsfeld bzw. Unternehmen, in dem die Erwerbstätigen tätig sind.

Das heißt hier werden auch jene »Kulturberufler« erfasst, die nicht in einem Kulturunternehmen tätig sind. Die hier zur Auswertung herangezogene Statistik der Bundesagentur für Arbeit beruht auf Meldungen der Arbeitgeber.

In der Klassifikation werden 37 Berufshauptgruppen, 144 Berufsgruppen, 702 Berufsuntergruppen und 1.300 Berufsgattungen unterschieden. Im Folgenden soll kursorisch auf 2 Berufshauptgruppen eingegangen werden: die Berufshauptgruppe »Darstellende und unterhaltende Berufe« sowie die Berufshauptgruppe »Produktdesign und Kunsthandwerk«.

Mit Blick auf die Berufshauptgruppe »Darstellende und unterhaltende Berufe« kann Folgendes festgestellt werden:

– »Museumstechnik und -management« mit einem Gender Pay Gap von -1 Prozent, das heißt hier verdienen Frauen mehr als Männer

– »Moderation und Unterhaltung« mit einem Gender Pay Gap von 0 Prozent

– »Bühnen- und Kostümbild« mit einem Gender Pay Gap von 9 Prozent

– »Musik-, Gesangs- und Dirigententätigkeit« mit einem Gender Pay Gap von 9 Prozent

– »Veranstaltungs-, Kamera-, Tontechnik« mit einem Gender Pay Gap von 9 Prozent

– »Schauspiel, Tanz und Bewegungskunst« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

Die Spannweite liegt also zwischen -1 und 22 Prozent.

Für die Berufshauptgruppe »Produktdesign und Kunsthandwerk« ist folgender Befund festzuhalten:

– »Kunsthandwerk« mit einem Gender Pay Gap von 6 Prozent

– »Kunsthandwerkliche Metallgestaltung« mit einem Gender Pay Gap von 17 Prozent

– »Kunsthandwerkliche Keramik- und Glasgestaltung« mit einem Gender Pay Gap von 20 Prozent

– »Musikinstrumentenbau« mit einem Gender Pay Gap von 25 Prozent

– »Produkt- und Industriedesign« mit einem Gender Pay Gap von 28 Prozent

Bemerkenswert ist im Vergleich der beiden vorgestellten Berufshauptgruppen, dass in der erstgenannten »Darstellende und unterhaltende Berufe« in 2 Berufen ein negativer bzw. gar kein Gender Pay Gap zu ermitteln ist. Bei der Berufshauptgruppe »Produktdesign und Kunsthandwerk« sticht ins Auge, dass der Gender Pay Gap in jener Berufsgruppe, in der die höchsten Einkommen erzielt werden, im »Produkt- und Industriedesign«, der Gender Pay Gap am höchsten ist. In der öffentlichen Debatte um

den Gender Pay Gap in Kunst und Kultur wird diese Berufsgruppe aber nur sehr wenig thematisiert. Ganz im Gegensatz zu den Bühnenberufen, Theater und Musik, in denen eine deutlich engagiertere Debatte zu Gleichstellung, Entgeltgleichheit und Gender Pay Gap geführt wird.

Betrachtung des Gender Pay Gap bei in der Künstlersozialkasse Versicherten Selbstständige künstlerische oder publizistisch Tätige sind, sofern sie das Mindestjahreseinkommen5 erreichen und die selbstständige künstlerische Tätigkeit die Haupttätigkeit ist, über die Künstlersozialkasse kranken-, pflege- und rentenversichert6. Sie zahlen ähnlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Hälfte der Beiträge, die andere Hälfte wird durch die Künstlersozialabgabe, die Verwerter künstlerischer oder publizistischer Leistungen zahlen, und einen Bundeszuschuss erbracht. Der Gender Pay Gap bei den Versicherten der Künstlersozialkasse beträgt im Schnitt 24 Prozent. Unterschiede bestehen allerdings zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, die sich wie folgt darstellen:

5  Aktuell beträgt das Mindestjahreseinkommen, das die Versicherten erreichen müssen, 3.900 Euro. Innerhalb von 6 Jahren kann das Mindesteinkommen 2 Mal unterschritten werden, ohne dass der Versicherungsschutz verloren geht. Als während der Corona-Pandemie die Arbeits- und Auftrittsmöglichkeiten der Künstlerinnen und Künstler stark eingeschränkt waren, wurde das Erreichen des Mindesteinkommens ausgesetzt. Das heißt die Versicherten verloren ihren Versicherungsschutz auch dann nicht, wenn sie das Mindesteinkommen nicht erzielt haben.

6  Der Zweig Arbeitslosenversicherung ist in der Künstlersozialversicherung nicht erfasst.

7  Die Künstlersozialkasse unterscheidet nicht nach Berufen, sondern nach Tätigkeitsbereichen. Die Versicherten müssen bei Antragstellung zunächst angeben, welcher Berufsgruppe sie angehören und dann spezifizieren, in welchem Tätigkeitsbereich sie vornehmlich tätig sind.

– Berufsgruppe »Wort« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

– Berufsgruppe »Musik« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

– Berufsgruppe »Bildende Kunst/Design« mit einem Gender Pay Gap von 30 Prozent

– Berufsgruppe »Darstellende Kunst« mit einem Gender Pay Gap von 34 Prozent

Der bereits zwischen den Berufsgruppen erhebliche Unterschied im Gender Pay Gap wird noch größer, werden die einzelnen Tätigkeitsbereiche7 angeschaut. Da spannt sich der Gender Pay Gap von 1 Prozent im »Tätigkeitsbereich Tanz« (Ballett, Tanztheater, Musical, Show) bis zu 47 Prozent im »Tätigkeitsbereich Libretto/Textdichtung«. Oder anders gesagt: Librettisten/Textdichter melden ein im Durchschnitt um 47 Prozent höheres Einkommen als Librettistinnen/Textdichterinnen.

In 21 Tätigkeitsbereichen liegt der Gender Pay Gap unterhalb des Durchschnittswerts von 21 Prozent, dazu zählen neben dem bereits genannten Tätigkeitsbereich Tanz u. a. »Ausbilder/Ausbilderinnen Darstellende Kunst« mit einem Gender Pay Gap von 4 Prozent, »Autoren/Autorinnen Belletristik« mit einem Gender Pay Gap von 8 Prozent, »Musiker/Musikerinnen Jazz und improvisierte Musik« mit einem Gender Pay Gap von 17 Prozent. In 6 Tätigkeitsbereichen liegt der Gender Pay Gap bei 24 Prozent, also dem Durchschnittswert der 4 Berufsgruppen, und zwar u. a. »Autor/Autorin für Bühne, Film, Funk und Fernsehen«, »künstlerisch-technische Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen Musik« oder auch »künstlerisch-technische Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen Darstellende Kunst«. In 27 Tätigkeitsbereichen, also der Mehrheit, liegt der Gender Pay Gap über dem Durchschnittswert von 24 Prozent. Hierzu zählen unter anderem:

– »Maler/Malerinnen, Zeichner/Zeichnerinnen, Illustrator/ Illustratorinnen« mit einem Gender Pay Gap von 29 Prozent – »Sänger/Sängerinnen (Lied, Oper)« mit einem Gender Pay Gap von 31 Prozent – »Bildhauer/Bildhauerinnen« mit einem Gender Pay Gap von 33 Prozent – »Dirigat, Chorleitung« mit einem Gender Pay Gap von 36 Prozent – »Sänger/Sängerinnen (Pop-, Rock-, Jazz-, Unterhaltungsmusik)« mit einem Gender Pay Gap von 42 Prozent – »Komponist/Komponistin« mit einem Gender Pay Gap von 44 Prozent – »Industrie-, Mode-, Textildesign« mit einem Gender Pay Gap von 46 Prozent – »Libretto/Textdichtung« mit einem Gender Pay Gap von 47 Prozent

Das heißt die Spreizung des Gender Pay Gap bei den in der Künstlersozialversicherung versicherten selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern sowie Publizistinnen und Publizisten ist noch deutlich größer, als es bei den abhängig Beschäftigten der Fall ist.

Ein wichtiger Aspekt mit Blick auf den Gender Pay Gap ist der Gender Show Gap. Wenn Werke von Frauen nicht aufgeführt oder gezeigt werden, können Künstlerinnen kein Einkommen generieren. Das trifft insbesondere für Librettistinnen und Komponistinnen zu, für die Tantiemen aus Aufführungen sowie Ausschüttungen von Verwertungsgesellschaften essenzielle Einkommensbestandteile sind. Die Bekanntheit von Künstlerinnen hängt auch davon ab, ob ihre Werke besprochen werden. Das erfolgt in der Regel erst dann, wenn die Werke zu sehen sind. Die Überwindung des Gender Show Gap ist daher ein wichtiger Baustein zur Überwindung des Gender Pay Gap. Und jeder bzw. jede Einzelne kann etwas tun, um den Gender Show Gap zu überwinden: indem er oder sie Kunst von Frauen ausstellt, indem er oder sie Werke von Frauen aufführt, indem er oder sie Werke von Frauen kauft, indem er oder sie Autorinnenlesungen veranstaltet und anderes mehr. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Jeder und jede kann aktiv werden.

Frauen in Führung

Zum Schluss seien 2 positive Zahlen für Frauen in Führungspositionen in Kultureinrichtungen angeführt. Der Frauenanteil in der Leitung von Kunstmuseen ist von 30 Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Jahr 2020 angestiegen. Bei den Fachmuseen stieg der Anteil an weiblicher Führung von 33 Prozent im Jahr 2016 auf 40 Prozent im Jahr 2020. Museen, die sich in Trägerschaft der öffentlichen Hand befinden, sind bei der Besetzung von Stellen an Gleichstellungsvorgaben gebunden. Große Häuser haben auch Gleichstellungsbeauftragte, die bei Stellenbesetzungen zurate gezogen werden müssen. Die Ergebnisse zeigen, es lohnt sich, sich für mehr Frauen in Führung einzusetzen und vor allem Gleichstellungsvorgaben umzusetzen bzw. auf deren Einhaltung zu drängen.

Der Deutsche Kulturrat unterstützt mit seinem Mentoring-Programm, das sich an Frauen mit 10 Jahren Berufserfahrung richtet, gezielt Frauen, die eine Führungsposition im Kultur- und Medienbereich anstreben. Die Vernetzung der Mentees untereinander, die Unterstützung durch erfahrene Mentorinnen und Mentoren sowie die angebotenen Weiterbildungsveranstaltungen tragen mit dazu bei, dass mehr Frauen in Führung im Kultur- und Medienbereich gehen.

Nachhaltige Kultureinrichtungen sollten Geschlechtergerechtigkeit als wichtiges Nachhaltigkeitsziel in ihre Agenda aufnehmen.

Literatur

Bühnenmütter e. V. (Hg. ) (2022): Belastungen, Bedürfnisse und Herausforderungen von Bühnenmüttern. Eine Pilotstudie zur Lebenssituation von Bühnenkünstlerinnen mit Kindern. ↘ t1p.de/c5wa8

Deutsche Jazzunion (Hg. ) (2020): Gender. Macht. Musik. Geschlechtergerechtigkeit im Jazz. Berlin ↘ t1p.de/avvqb

Deutscher Musikrat; Deutsches Musikinformationszentrum (Hg. ) (2021): Geschlechterverteilung in deutschen Berufsorchestern. Bonn ↘ t1p.de/gym9w

Deutscher Musikrat; Deutsches Musikinformationszentrum (Hg. ) (2023): Professionelles Musizieren in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung zu Erwerbstätigkeit, wirtschaftlicher Lage und Ausbildungswegen von Berufsmusizierenden. Bonn

Schulz, Gabriele (2013): Arbeitsmarkt Kultur. Eine Analyse von KSK-Daten. In: Schulz, Gabriele; Zimmermann, Olaf; Hufnagel, Rainer: Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen. Berlin, S. 241—323

Schulz, Gabriele (2016): Zahlen — Daten — Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medienbetrieb. In: Schulz, Gabriele; Ries, Carolin; Zimmermann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Berlin, S. 27—361

Schulz, Gabriele (2020): Arbeitsmarkt Kultur: Ausbildung, Arbeitskräfte, Einkommen. In: Schulz, Gabriele; Zimmermann, Olaf: Frauen und Männer im Kulturmarkt. Bericht zur sozialen und wirtschaftlichen Lage. Berlin, S. 17—433

ver.di (2023): Massiver Gender Pay Gap in Kulturberufen. ↘ t1p.de/k2shj

Auf dem Weg zu einer geschlechter- gerechten Gesellschaft

Dr. Beate von Miquel ist Vorsitzende des Deutschen Frauenrats; sie ist Geschäftsführerin des interdisziplinären Marie Jahoda Center for International Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum (RUB); 2011 bis 2016 war sie zentrale Gleichstellungsbeauftragte der RUB.

Der Stand der Gleichstellung der Geschlechter ist ein starker Indikator für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft, wie sich zuletzt in Afghanistan und in der feministischen Revolte im Iran zeigte. Geschlechtergleichstellung wirkt als transformative Kraft, die die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Stereotypen fördert, um strukturelle Ungleichheiten zu identifizieren und Wege aufzuzeigen, sie abzubauen.

In Deutschland haben uns die Krisenjahre der COVID-19-Pandemie, die hohe Inflation infolge des Ukraine-Krieges nachdrücklich vor Augen geführt, mit welcher Geschwindigkeit Gleichstellungsfortschritte beinahe pulverisiert wurden und sich soziale Ungleichheiten verschärften. Die multiplen Krisen unserer Zeit warfen einmal mehr die Frage auf, wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet sein müssen, um Chancengleichheit zu erreichen und zu sichern. Die Frage gerät aber — durchaus typisch für die Debattenlage im Gleichstellungsfeld — angesichts der Wucht der politischen Ereignisse und eines durchaus virulenten Antifeminismus immer wieder in den Hintergrund. Aber erst wenn wir Geschlechtergleichstellung als konstituierendes Element für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbrüche begreifen, werden wir auch für die sozial-ökologische Transformation, die vor uns liegt, wirklich gewappnet sein.

Zivilgesellschaft als starker Gleichstellungsmotor in Deutschland Kennzeichnend für Deutschland ist eine äußerst aktive und gut vernetzte zivilgesellschaftliche Szene, die ein wichtiger Motor für die Gleichstellungspolitik ist. Allein der Deutsche Frauenrat umfasst als Dachverband mehr als 60 frauenpolitische Organisationen — von Berufsverbänden über Sportverbände, Gewerkschaften, kirchliche Frauenorganisationen bis zu den Frauenorganisationen der Parteien, und repräsentiert etwa 11 Millionen Frauen in Deutschland. Durch zivilgesellschaftliche Dialogprozesse wie Women 7/Women 20, die flankierend zu den regelmäßigen G7/G20-Treffen der Regierungschefinnen und -chefs durchgeführt und für Deutschland durch den Deutschen Frauenrat koordiniert werden, bestehen enge Verbindungen zu Aktivistinnen, Aktivisten und Frauenorganisationen weltweit. Und nicht zuletzt die internationale Perspektive macht deutlich: »Die« Frauen gibt es nicht. Will man Geschlechtergerechtigkeit für Frauen in all ihrer Vielfalt erreichen, ist intersektionales Denken unverzichtbar. Denn Diskriminierungsmerkmale wie Rassismus, Klassismus, Ableismus, Alter, sexuelle Identität und Religion können sich mit der Kategorie Geschlecht überlagern und gegenseitig verstärken.

Bedeutung von Ziel 5 in der deutschen Gleichstellungsdebatte

Die Hebelwirkung, die gerade die Gleichstellung der Geschlechter für weitere Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat, entfaltet sich in Deutschland bislang vor allem im entwicklungspolitischen Zusammenhang. Nach dem Vorbild Kanadas gab sich das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ ) 2023 erstmals Leitlinien für eine »Feministische Entwicklungspolitik«. Gleichstellung wird hier insgesamt als Schlüssel zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung betrachtet und Querverbindungen zu weiteren Zielen, wie Beseitigung von Armut (Ziel 1) und Hunger (Ziel 2) gezogen. Zur Umsetzung der Leitlinie beabsichtigt das BMZ auch die Förderprogramme stärker auf Geschlechtergerech-

tigkeit auszurichten. Bis zum Jahr 2025 soll sich der Anteil der Fördermittel zur Förderung der Gleichstellung als Haupt- und Nebenziel in den neu zugesagten Projekten auf 93 Prozent erhöhen. Trotz dieses ambitionierten Ziels — derzeit liegt die Förderquote für Gleichstellungsprojekte im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bei ca. 40 Prozent — blieb Kritik von Expertinnen und Experten am Konzept der feministischen Agenda des BMZ nicht aus. Es fehle die Reflexion über die wirtschaftliche und politische Verantwortung des Globalen Nordens für soziale Ungleichheit im Globalen Süden, eine konsequente postkoloniale Perspektive sowie das klare Ziel, die regionale feministische Zivilgesellschaft zu stärken und in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen.

Sieht man vom entwicklungspolitischen Feld ab, bleibt Ziel 5 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in der deutschen gleichstellungspolitischen Debatte eher blass. Dies ist zum einen auch darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Handlungsfelder, die im Ziel 5 beschrieben sind, wie die Aufwertung der Care-Arbeit oder die Erhöhung des Frauenanteils auf Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur, seit Langem in den Forderungskatalogen zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure auftauchen. Zum anderen sind die in den 9 Unterzielen von Ziel 5 beschriebenen Handlungsfelder seit 2015, also seit der Verabschiedung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, vielfach ohne konkrete Zielmarken geblieben. Wenn aber die gleichstellungspolitische Debatte der letzten Jahrzehnte eines gezeigt hat, dann dies: Ohne gut aufeinander abgestimmte gesetzliche Regelungen, ohne konkrete, qualitativ wie quantitativ ausgerichtete Zielvorgaben, kontinuierliche Monitoring-Verfahren — und im Falle der fortgesetzten Verfehlung von Gleichstellungszielen auch wirksamen Sanktionen — bleibt der gleichstellungspolitische Fortschritt eine Schnecke.

Gleichstellung in Deutschland — wo stehen wir aktuell?

In der EU dokumentiert der Gender Equality Index des European Institute for Gender Equality den Stand der Gleichstellung in den Mitgliedsstaaten. Unter der deutschen G7-Präsidentschaft konnte 2022 ein neues Instrument für ein Gleichstellungsmonitoring eingeführt werden, das sogenannte »G7 Dashboard on Gender Gaps«. Darüber hinaus analysiert der jährlich erscheinende Gobal Gender Report des Weltwirtschaftsforums Entwicklungen auf dem Feld der Gleichstellung im weltweiten Vergleich. Wenngleich Deutschland im Jahr 2022 auf Platz 10 der 146 verglichenen Staaten vorgerückt ist, fällt der Blick auf den Stand der Gleichstellung ernüchternd aus. Schließlich rangierte Deutschland im Jahr 2006 schon einmal auf Platz 5 des globalen Rankings — und zwar direkt hinter den skandinavischen Staaten Schweden, Finnland, Norwegen und Island, die seit Jahrzehnten als Vorbilder in Sachen Geschlechtergleichstellung gelten. Inzwischen liegen Länder wie Ruanda, Nicaragua, Namibia und Irland vor Deutschland. Wir haben in Sachen Gleichstellung also nicht nur im europäischen, sondern auch im weltweiten Maßstab an Boden verloren.

Dies gilt gerade für 2 Aspekte, die mit dem Blick auf die Herausforderungen der sozialökologischen Transformation eine besondere Bedeutung haben: die Bildungsgerechtigkeit und die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen. Im Bereich der Bildungsgerechtigkeit fiel Deutschland zwischen 2021 und 2022 im weltweiten Vergleich von Platz 55 auf Platz 81 zurück. Rückgänge verzeichnet Deutschland insbesondere im Bereich der Sekundärschulbildung von Mädchen. Überdies bestimmt auch in Deutschland weiterhin ein stereotypes Berufs- und Studienwahlverhalten das Bild, allen bisherigen Be-

mühungen um die Förderung von Mädchen und Frauen im MINT-Bereich zum Trotz. Die bestehenden Maßnahmen gehören daher — auch angesichts der Digitalisierung der Weltwirtschaft — auf den Prüfstand.

Aufmerken lässt zudem, dass die Chancen für eine gerechte wirtschaftliche Teilhabe von Frauen in Deutschland laut dem Global Gender Report 2022 auf das Niveau des Jahres 2009 zurückgefallen sind. Weltweit bekleidet Deutschland in diesem Indikator nur Platz 75 und hat allein zwischen 2021 und 2022 13 Rangplätze eingebüßt — wohl als Folge der Corona-Pandemie, die sich auf die traditionell geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen, die sich überdurchschnittlich in Teilzeit und in prekären Minijobs wiederfinden, noch einmal negativ auswirkte. Auch der Gender Pay Gap, also die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, betrug 2022 im Durchschnitt noch 18 Prozent und bescherte Deutschland im europäischen Vergleich nur einen hinteren Rangplatz. Im Vergleich der 27 EU-Staaten ist der Gender Pay Gap nur in Estland und Österreich größer (Eurostat für 2021). Wesentliche Hürden für eine ökonomische Gleichstellung von Frauen in Deutschland bilden neben einer weiterhin stark ausbaufähigen Kinderbetreuungsinfrastruktur auch Fehlanreize in der Sozial- und Steuergesetzgebung, wie die geringfügige Beschäftigung und das Ehegattensplitting. Schließlich ist der gesamte Sektor der Care-Arbeit, in dem Frauen traditionell überrepräsentiert sind, unterfinanziert. Dies ist deshalb bedeutsam, da dieser als tragende Säule einer zukunftsorientierten »Green Economy« verstanden werden kann. Immerhin hat sich der Anteil von Frauen auf Führungspositionen in der Wirtschaft, so etwa in Vorständen in DAX-, MDAX- und SDAX-notierten Unternehmen, 2022 leicht auf 15,3 Prozent erhöht, wie der Women-on-Board-Index von FiDaR 2022 feststellt. Der Frauenanteil in den Aufsichtsräten mit 34,9 Prozent verfehlt jedoch weiterhin das europäische Ziel von 40 Prozent.

Gleichstellung endlich umsetzen

Nüchtern bilanziert der Global Gender Gap Report 2022 des Weltwirtschaftsforums den Stand der Gleichstellung. Demnach dauert es weitere 132 Jahre, bis die vollständige Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden kann — die Erreichung von Ziel 5 der Agenda für nachhaltige Entwicklung 2030 rückt also in weite Ferne? Doch wollen und können wir das Ziel nicht aufgeben. Die Frage ist vielmehr: Welche Schritte und Maßnahmen sind notwendig, um Geschlechtergerechtigkeit schneller voranzubringen und bis 2030 tatsächlich umzusetzen? Aus Sicht der Zivilgesellschaft bedarf es dafür eines grundlegenden Perspektivwechsels in der Gleichstellungspolitik hin zu einer strukturellen Verankerung von Gleichstellung in allen Ressorts. Dazu zählen eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie, eine geschlechtergerechte Haushaltspolitik auf Ebene des Bundes, der Länder sowie der Kommunen und eine gleichstellungsorientierte Gesetzesfolgenabschätzung. So schafft erst eine verbindlich verankerte, ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie — umgesetzt unter Federführung des Kanzleramts — die notwendige Grundlage für einen roten Faden in der Gleichstellungspolitik. Dazu bedarf es der Formulierung verbindlicher Ziele in den einzelnen Politikfeldern, deren Halbwertszeit auch über die jeweilige Legislatur hinausgeht.

Schließlich gestalten auch finanzpolitische Entscheidungen im Bundeshaushalt Gesellschaft und damit Geschlechterverhältnisse, wie ein 2020 veröffentlichtes Gutachten des Deutschen Frauenrates zum geschlechtergerechten Bundeshaushalt belegt hat. Im Gender Budgeting liegt eine große gleichstellungspolitische Chance. Denn: Öffentliche Ausgaben können Geschlechtergerechtigkeit voranbringen. Dafür muss

die geschlechtergerechte Haushaltsführung im Bund als durchgängiges Prinzip umgesetzt werden, indem die Einnahmen und Ausgaben systematisch unter dem Aspekt der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit analysiert, geplant und bewertet werden. Richtig umgesetzt, trägt geschlechtergerechte Haushaltspolitik auch zu einer transparenteren Mittelverwendung und damit zu einer Modernisierung in der Regierungsführung bei.

Und zuletzt gilt es, die Gesetzgebungsverfahren selbst stärker in den Blick zu nehmen, da sie sich unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirken können. Obwohl in der Arbeitshilfe der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien die geschlechterdifferenzierte Gesetzesfolgenabschätzung als Ziel formuliert ist, werden in der Praxis die unterschiedlichen Auswirkungen von Vorhaben der Bundesregierung auf Frauen und Männer nicht konsequent berücksichtigt. Ein Gender Check für Gesetze und Maßnahmen muss dazu genutzt werden, Geschlechtergerechtigkeit zu verbessern. So können auch bei scheinbar geschlechtsneutralen Gesetzgebungsvorhaben und Maßnahmen verdeckte Benachteiligungen, Beteiligungsdefizite und die Verfestigung tradierter Rollenmuster identifiziert und ausgeschlossen werden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Machen wir den Weg für eine nachhaltig gestaltete, geschlechtergerechte Gesellschaft frei.

Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten

6 Sauberes Wasser

und Sanitäreinrichtungen

»Ich muss mal …« — warum die Hälfte der Weltbevölkerung nicht einfach mal »müssen«

Lena Bodewein ist NDR-Journalistin; sie war von 2016 bis 2022 Hörfunkkorrespondentin der ARD in Südostasien/Südpazifik; zuvor war sie u. a. Hörfunkkorrespondentin für die ARD in New York und berichtete über die Arbeit der Vereinten Nationen.

Eine der, sagen wir mal, bemerkenswertesten Szenen des Filmerfolges »Slumdog Millionaire« spielt auf bzw. unter einer Toilette, einer wackeligen Freiluftkabine über einer großen Grube voller Fäkalien: Weil sein Bruder ihn dort eingeschlossen hat, muss der junge Jamal sich in die Grube herablassen, um, von Kopf bis Fuß mit Exkrementen bedeckt, rechtzeitig sein Bollywood-Idol zu erreichen. Was im Zusammenhang mit dem Film als skurrile Szenerie fungiert, ist für viele Millionen Menschen Wirklichkeit, nicht nur, wie im Film, in den Slums von Mumbai. Dutzende oder mehr Menschen müssen sich dort oft einen unsauberen Verschlag als Toilette teilen, denn in ihren Häusern oder Hütten gibt es einfach keine. Und wer zwischen Millionen von Menschen auf engstem Raum ein urmenschliches Bedürfnis halbwegs unbeobachtet verrichten möchte, nimmt diese windigen, dreckigen Kabinen in Kauf — und die Gefahren, die sie bergen: Die britische Tageszeitung »The Guardian« berichtete vor einigen Jahren wiederholt von Fällen, in denen das Gestell dieser Slum-Klos einstürzte und mehrere Menschen, die sie gerade benutzten in den septischen Tank fielen. Einige von ihnen kamen dabei ums Leben — ein Tod, den sich niemand wünscht.

Für Milliarden von Menschen besteht eine Toilette oft nur aus einem einzigen Verschlag für viele, aus einem Eimer, einem stinkenden Loch im Boden, aus 2 Planken über einer Matschkuhle oder einem Bach, aus einem Stab, an dem man sich auf dem Feld hockend abstützt, aus einem Fleckchen Strand … kurz: Sie haben nicht das, was für die westliche Welt selbstverständlich ist und worüber wir fast nie nachdenken: Auf Toilette gehen, in geschützter Privatsphäre, sich erleichtern, ungestört, ungefährdet, danach einfach einen Wasserhahn aufdrehen und die Hände waschen — das ist ein Luxus, den ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung nicht genießen kann. Aber es ist auch ein Luxus, über den wir fast nie reden, denn wir betrachten ihn als »igitt« — die Formulierungen, mit denen wir vermeiden zu sagen, dass wir die Toilette benutzen, sind zahllos: »Ich muss mal nach den Pferden sehen … mir die Nase pudern … für kleine Königstiger … dahin, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht … die Hände waschen … dem Ruf der Natur folgen … austreten … ein Bedürfnis verrichten …«

Dass wir, die diesen Bedürfnissen problemlos nachkommen können, zu schamhaft sind, sie zu benennen, ist Teil des Problems: »Worüber wir nicht reden, das können wir nicht ändern«, sagt Jack Sim, Gründer der World Toilet Organization, die in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen das Ziel von sauberen Toiletten für alle verfolgt. Doch das ist ein harter Kampf: Die Weltbevölkerung wächst gerade in ärmeren Ländern — und gerade dort fehlt der Zugang zu sicheren sanitären Einrichtungen. Dieser Mangel hat weitreichende Folgen.

Zum einen gesundheitlich: Fast 300.000 Kinder unter 5 Jahren sterben jährlich an Durchfallerkrankungen, ausgelöst durch verschmutztes Wasser. Denn wo keine Toiletten sind und die Menschen sich überall hin entleeren, ist die Sauberkeit des Trinkwassers in Gefahr, und damit die Gesundheit. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO müssen 2 Milliarden Menschen Trinkwasser nutzen, das mit Fäkalien verunreinigt ist. Das bedeutet eben: Mehr als 800 Kinder unter 5 Jahren sterben deshalb täglich an Durchfallerkrankungen, mehr als an Aids, Malaria und Masern zusammen!

Zum andern betrifft ein Mangel an sauberen oder überhaupt Toiletten auch die Bildung — ein Zusammenhang, der erst beim zweiten oder dritten Hinsehen erkennbar ist: Denn wenn eine Schule keine sanitären Einrichtungen hat, stellt das vor allem für Mädchen ein Problem dar, besonders dann, wenn sie die Pubertät erreicht haben. Haben sie keine Möglichkeit, sich während ihrer Regelblutung zu säubern, führt das oft dazu, dass sie während dieser Zeit, also bis zu einer Woche im Monat, den Unterricht ver-

passen, weil sie lieber zu Hause bleiben. Oder den Schulbesuch ganz abbrechen. So verlieren sie den Schutz der Schule, die Chance, ihre Situation zu verbessern, bleiben arm. Oder werden in eine Frühehe gezwungen: Laut Unicef verringert nur ein einziges Jahr auf einer weiterführenden Schule die Wahrscheinlichkeit einer erzwungenen Heirat um mindestens 5 Prozent. Mädchen, die länger zur Schule gehen, heiraten später und bekommen weniger und gesündere Kinder. Jedes weitere Jahr, das ein Mädchen zur Grundschule geht, sorgt dafür, dass es später 10 bis 20 Prozent mehr verdient, so Unicef. Alles verloren, wenn es keine Toiletten gibt. Und der Verlust von Bildung schlägt sich für das ganze Land nieder. Gerade in armen Ländern würden gebildete Frauen das Ende der Armut voranbringen.

Des Weiteren führt der Mangel an sicherem Zugang zu sanitären Einrichtungen zu mehr Verbrechen: Dort, wo sich Mädchen und Frauen auf ein Feld oder hinter einen Busch zurückziehen müssen — womöglich in der Dunkelheit — sind sie besonders angreifbar, werden belästigt, vergewaltigt, ermordet. All das, weil es nicht genügend Toiletten gibt.

»Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten« — so heißt SDG 6, das Nachhaltige Entwicklungsziel Nr. 6 der Vereinten Nationen. Doch beim jetzigen Entwicklungstempo werden 2030 fast 3 Milliarden Menschen (2,8 Milliarden) keinen Zugang zu Toiletten haben und mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung mit unbehandelten Abwässern leben müssen. Denn wie Jack Sim von der World Toilet Organization erklärt: »Selbst wenn du eine Toilette hast, gibt es da noch zweieinhalb Milliarden Menschen, deren Abwässer unbehandelt bleiben.« Und Schmutzwasser wiederum verunreinigt das Trinkwasser, bleibt auf den Feldern oder überall dort, wo Kinder spielen. Damit wären wir wieder bei den Durchfallerkrankungen, denen insgesamt 2 Millionen Menschen pro Jahr zum Opfer fallen.

Ein ernüchternder Zustand. »Die Welt ist weit von Ziel 6 entfernt, Wasser und sanitäre Einrichtungen für alle bis zum Jahr 2030 zu erreichen«, sagt Gilbert F. Houngbo, Vorsitzender von UN Wasser und Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation. »So bleiben Milliarden Menschen weiterhin durch Infektionskrankheiten gefährdet, vor allem nach Katastrophen, die auch durch den Klimawandel hervorgerufen werden.« Houngbo bezieht sich auf den jüngsten GLAAS-Report, die Globale Analyse und Einschätzung von Sanitären Einrichtungen und Trinkwasser durch WHO und UN Wasser, der Ende 2022 erschienen ist. Demnach besteht dringender Handlungsbedarf auf globaler wie lokaler Ebene, um sauberes und nachhaltig bewirtschaftetes Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen und Hygiene für alle zu erreichen — nur so könnten verheerende Folgen für die Gesundheit von Millionen Menschen verhindert werden. Es brauche in vielen der 120 Länder, die der Bericht miteinbezieht, mehr Tempo fürs Erreichen von Ziel 6. Zwar sind immerhin 45 Prozent der Länder dabei, ihre national abgesteckten Ziele einer Abdeckung mit Trinkwasser zu erreichen. Schaut man auf den sicheren Zugang zu sanitären Einrichtungen, sieht es anders aus: Laut Weltgesundheitsorganisation sind gerade einmal 30 der betrachteten Länder auf dem Weg, ihr nationales Sanitärziel zu schaffen.

Der Direktor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, ruft darum Regierungen und Entwicklungspartner auf, ihre Investitionen zu erhöhen und die WASH-Systeme zu stärken. WASH, das steht für »Wasser — Sanitärversorgung — Hygiene«, ein Netzwerk, dem sich in vielen Ländern Hilfsorganisationen angeschlossen haben. In internationalen Einsätzen befasst sich WASH zum Beispiel auch mit Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung in Katastrophenlagen.

Denn die schlechte sanitäre Lage weltweit wird durch Krisen weiter verstärkt — das kennen wir aus zahlreichen Medienberichten, nach der Katastrophe kommen die Folgekatastrophen: Hunger und Wasserknappheit sind das eine, der Mangel an sanitären Einrichtungen das andere. Ausbrüche von Cholera und anderen Seuchen folgen auf Dürren (zu wenig Wasser für sanitäre Einrichtungen), Überschwemmungen (sanitäre Einrichtungen ruiniert, Abwässer überall hingespült), Kriege (alles zerstört). Und: »Die steigende Häufigkeit und Intensität von klimabedingten Extremwetterereignissen erschweren weiterhin die Umsetzung von sicherer Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung«, so WHO-Chef Ghebreyesus weiter. Das heißt: Der Klimawandel verstärkt die sanitäre Notlage weiter: Zum einen führt er oft zu den oben genannten Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Dürren, zum andern gibt es einen Grund auf der Meta-Ebene: Er überdeckt die Dringlichkeit vieler anderer Themen. Jack Sim von der World Toilet Organization meint, es habe alle anderen Programmpunkte verdrängt, von allen nachhaltigen Entwicklungszielen bekomme der Klimaschutz inzwischen am meisten Finanzierung. Dabei zählten nicht nur grüne Themen, sondern auch braune Themen — eben das Thema Toiletten, sanitäre Versorgung.

Diese Offenheit, mit der Jack Sim spricht, ist Programm. Denn die Peinlichkeit, die das Thema für viele Menschen begleitet, sei auch ein Grund dafür, dass nichts geändert wird. Aber nicht mit Jack Sim: Er nennt sich »The World’s #2 Man« — das ließe sich übersetzen als »Der Mann fürs große Geschäft«. Kein Kalauer ist ihm zu tiefgegriffen, um seine Mission ins Gespräch zu bringen. Und er weiß, wovon er spricht: Als er in Singapur aufwuchs, »da hatten wir kein eigenes Klo, es gab nur ein Häuschen für mehrere Familien, und da war ein Eimer. Alles lag darin, Binden, Kacke, Klopapier — und immer flogen Fliegen um dich herum, das war traumatisch«. Inzwischen hat Singapur mit die duftigsten und saubersten Toiletten der Welt.

Auch das lässt sich nur erreichen, wenn man das Thema anspricht. Jack Sim kennt keine Berührungsängste. »Die meisten Menschen tun so, als gingen sie nie auf Toilette, als hätten sie keine Beziehung dazu!« Gemeinsam mit dem Singapurer Science Centre hat er eine Ausstellung konzipiert, »Know your poo«, »Kenne deine Kacke« — zur Begrüßung kann man auf einer thronartigen Porzellantoilette Platz nehmen, »der königliche Thron«. Das ist die Wichtigkeit, die Jack Sim weltweit für dieses Thema erreichen möchte — »wir versuchen alles, um der Toilette einen Glamourfaktor zu verleihen«, meint er; weg von der Peinlichkeit, hin zur Aufmerksamkeit. Darum hat er 2001 den Welttag der Toilette ins Leben gerufen — am 19. November wird weltweit auf die Bedeutung guter Sanitärversorgung hingewiesen, und auf dem Rasen vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York steht dann eine riesige aufblasbare Toilette. Selbst auf den kleinsten Pazifikinseln wie denen des Staates Kiribati wetteifern die Dörfer an dem Tag miteinander, wer denn die schönsten Toiletten aufweisen kann — wenn es überhaupt welche gibt. Denn hier — wie auch in zahlreichen anderen Inselstaaten — benutzen viele Bewohner die weißen Sandstrände in den türkisblauen Lagunen, um sich zu entleeren. Die Idylle ist also schnell dahin, wenn die Flut die Fäkalien in die Trinkwasserquellen spült und in dem kleinen Südseestaat Hunderte Kinder pro Jahr an Durchfallerkrankungen sterben. Wenn es gelingt, das Thema Sanitärversorgung auf die politische Agenda zu heben, dann sei viel gewonnen, meint Jack Sim. Zum Beispiel in Indien: Dort hatte Premier Modi zum Amtsantritt versprochen, 100 Millionen neue Toiletten zu bauen, denn Indien solle sauberer und hygienischer werden. Trotzdem werden sie, so berichten Zeitungen, gerade auf dem Land lieber als Lagerhäuschen benutzt, während die Besitzer weiter

aufs Feld gehen. Denn der Bau allein ist es nicht, die gesundheitliche Aufklärung muss damit einhergehen. Nur eine weitere Herausforderung auf dem Weg zu Toilettennutzung für alle, eine, die sich mit entsprechend begleitender Erziehung meistern lässt.

Das Toilettenthema muss für die Öffentlichkeit weniger peinlich werden, viel glamouröser, auch für Politiker und Investoren. Sagt Jack Sim. Zumindest einen Gleichgesinnten auf großer Bühne hat er: Bill Gates. Auch er will die Toilettenrevolution; auch er ist sich nicht zu schade, beispielsweise mit einem Glas voller Kot ans Rednerpult zu treten. Er geht es allerdings technisch an: Die Bill & Melinda Gates Stiftung hat 2011 das »Reinvent the Toilet«-Programm ausgerufen, für das der Milliardär weltweit wirbt. Seit August 2022 berichten Medien über eine Kooperation mit Samsung — der südkoreanische Konzern entwickelt anscheinend eine Hightech-Toilette, die Fäkalien sicher entsorgt, durch einen integrierten Verbrennungsofen und eine Recycling-Anlage. Doch bis diese Variante überall dort, wo Toiletten fehlen, zum Einsatz kommen kann, braucht es noch sehr viele Investitionen.

Die aber — und da kommen wirtschaftliche Argumente zum Tragen — lohnen sich. Bei einem Toiletten-Kongress in China sagte Bill Gates, unsichere Sanitärversorgung koste die Wirtschaft geschätzte 223 Milliarden US-Dollar — durch höhere Gesundheitskosten, verlorene Produktivität und Löhne.

Umgekehrt lohnt sich jeder Dollar, der in Sanitärversorgung gesteckt wird — und zwar bis zu 9 Dollar an verbesserter Produktivität durch bessere Gesundheit und andere Vorteile, so Studien, die das Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen zitiert.

Das ist vielleicht nicht der Glamour-Faktor, den sich Jack Sim für das Thema Toilettenversorgung wünscht. Doch Wirtschaft zieht. Und mit welchen Argumenten auch immer die Sanitärversorgung für alle erreicht werden kann — für die Menschen, die dadurch ein besseres, gesünderes, sichereres Leben bekommen, ist die Toilette dann wie ein Thron.

Konfliktpotenzial oder Quelle von Kooperation? Wasser als Politikum in Zeiten des Klimawandels

Prof. Dr. Susanne Schmeier ist Professorin für Wasserrecht und Wasserdiplomatie am IHE Delft und arbeitet vor allem zu rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen von Kooperation im Wasser- und Umweltbereich; sie berät sie Regierungen und internationale Organisationen zu Wasserkooperation; zuvor war sie u. a. für die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ ), die Weltbank und verschiedene Flussgebietsorganisationen tätig.

Wasser ist essenziell für menschliches Leben und Überleben, aber auch für die sozioökonomische Entwicklung sowie die politische Stabilität von Städten, Regionen und ganzen Ländern. Dies hat die internationale Gemeinschaft mit dem nachhaltigen Entwicklungsziel 6 (SDG 6), welches Wasser erstmals als eigenständiges Element nachhaltiger Entwicklung definiert, anerkannt und sich verplichtet, Wasser- und Sanitärversorgung weltweit zu verbessern, aquatische Ökosysteme und Wasserressourcen besser zu schützen und ihre Qualität zu verbessern, sowie Kooperation zwischen verschiedenen Nutzern zu verbessern. Gleichzeitig ist die Kontrolle über Wasser oftmals auch mit politischem Einfluss oder Macht verbunden. Somit wird Wasser oft zum Politikum — und wird es in Zukunft wohl noch häufiger werden.

Im öffentlichen Diskurs steht dabei meistens das Konfliktpotenzial von Wasser im Vordergrund. Insbesondere seit den 1990er Jahren — im Kontext der nicht traditionellen Sicherheitsdebatte — und nochmals mehr seit den 2010er Jahren — im Rahmen des Klimasicherheitsdiskurses — warnen Politiker sowie Medien immer wieder vor Kriegen um Wasser. Und zahlreiche Beispiele scheinen dies zu bestätigen: Vielerorts im Sahel gibt es immer wieder gewaltsame Zusammenstöße zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern, die um knappe Wasserressourcen konkurrieren. Im Iran sprengen Landwirte Rohrleitungen, die Wasser aus den ohnehin von Trockenheit bedrohten ländlichen Gegenden in die ebenfalls wasserknappen Städte liefern. Und der Staudammbau Äthiopiens am Nil hat den Widerstand Ägyptens ausgelöst, das sich in seiner Wassersicherheit bedroht fühlt und mehrfach verkündete, diese notfalls auch militärisch verteidigen zu wollen.

Gleichzeitig gibt es aber auch — wenngleich deutlich weniger im Rampenlicht stehend — gute Nachrichten: Weltweit überwiegen kooperative Interaktionen zwischen Wassernutzern bei Weitem über Konflikte. Auf zwischenstaatlicher Ebene konnte dies durch umfassende Forschung zahlenmäßig belegt werden. Die meisten Interaktionen zwischen Staaten sind friedlicher und kooperativer Natur, und selbst die auftretenden Konflikte bleiben so gut wie immer gewaltfrei. Auf staatlicher und innerstaatlicher Ebene gibt es dazu deutlich weniger Forschung. Dennoch zeigt sich, dass auch hier die Kooperation überwiegt. Weltweit tun sich Menschen zusammen, um Wasserressourcen gemeinsam in ihrem Dorf, mit anderen Nutzern oder zwischen verschiedenen Sektoren zu managen.

Die Grundlage dieser fast überall friedlichen Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen sind Institutionen auf lokaler, nationaler, aber auch internationaler Ebene, die rechtliche und politische Rahmenbedingungen formulieren, auf Basis derer verschiedene Akteure Wasser nutzen können. Deren Funktionsfähigkeit ist essenziell für die Wahrung lokaler Kooperation um Wasser — gleichzeitig sind sie insbesondere in fragilen Staaten oder konfliktträchtigen Regionen bedroht. SDG 6.5 (»Bis 2030 auf allen Ebenen eine integrierte Bewirtschaftung der Wasserressourcen umsetzen, gegebenenfalls auch mittels grenzüberschreitender Zusammenarbeit«) verpflichtet daher alle Staaten, integriertes Wasserressourcenmanagement — auch auf zwischenstaatlicher Ebene — sicherzustellen. Laut des letzten (2021) Fortschrittsberichts der UN haben alledings erst 38 Prozent aller Länder dieses Ziel auf nationaler Ebene erreicht, während es auf zwischenstaatlicher Ebene sogar erst für 32 Prozent aller Einzugsgebiete effektive grenzüberschreitende Managementinstitutionen gibt.

Auf lokaler Ebene sind dies oftmals kommunale — in vielen Weltregionen aber auch informelle — Institutionen, die Wasser managen oder verteilen, etwa Bewässerungskomitees oder Verhandlungsplattformen für Viehhirten und Ackerbauern. Im Tschad und

im Niger beispielsweise haben terroristische und illegitime Gruppen Regierungsinstitutionen weitgehend aus der lokalen Regierung verdrängt und managen nun auch die Wasserressourcen. Ähnlich verhielt es sich mit den Taliban in Afghanistan, die in den von ihr kontrollierten Gebieten eigene lokale Wassermanagementorganisationen aufbaute, die zumeist nicht die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung, sondern den Opiumanbau zum vorrangigen Ziel der Wasserwirtschaft machten.

Auf nationaler Ebene spielen funktionierende Gesetze und deren Umsetzung sowie die Effektivität verschiedener Regierungsinstitutionen — und insbesondere die Zusammenarbeit zwischen ihnen — eine entscheidende Rolle. Im Iran beispielsweise kann sich der Wassersektor — aus dem Energieministerium heraus gemanagt — bislang nicht gegen die Übermacht des Landwirtschaftsministeriums durchsetzen, sodass es trotz sich ständig verschärfender Wasserknappheit mit katastrophalen ökologischen und wirtschaftlichen Folgen noch kaum zu Einsparungen bei der Wasserentnahme kommt.

Und auf internationaler Ebene sind es mehr als 800 internationale Abkommen und mehr als 120 Flussgebietskommissionen, durch die sich Staaten vielfach auf völkerrechtlich verbindliche Weise verpflichtet haben, ihre gemeinsamen Wasserressourcen so zu bewirtschaften, dass negative Folgen für andere Anrainerstaaten vermieden oder begrenzt werden.

Aktuelle Herausforderungen können das inhärente Konfliktpotenzial von Wasser jedoch verstärken: Eine wachsende Bevölkerung in vielen Teilen der Welt benötigt nicht nur mehr Wasser, sondern auch Nahrungsmittel und Energie. Somit kommt es immer öfter zu Zielkonflikten zwischen Sektoren, aber auch zwischen SDG 6 und anderen nachhaltigen Entwicklungszielen (insbesondere SDG 2 zu Ernährung und SDG 7 zu Energie). Bereits heute ist die Landwirtschaft weltweit der größte Wasserverbraucher — mit durchschnittlich über 70 Prozent des Gesamtwasserverbrauchs, in ariden und semiariden Regionen sogar über 90 Prozent. Und der Bau von Staudämmen für die Produktion von Wasserkraft hat oftmals umfassende negative Folgen für die lokalen Bevölkerungen und Ökosysteme, wie beispielsweise die anhaltende Debatte um die ökologischen Folgen der Staudämme am Mekong zeigt.

Die zunehmende (Über-)Nutzung von Wasserressourcen insbesondere durch den Landwirtschafts- und Energiesektor schädigt Ökosysteme und wirkt sich oftmals katastrophal auf die Biodiversität aus. Nicht umsonst ist der Biodiversitätsverlust in den letzten Jahrzehnten in Süßwasserökosystemen so hoch wie in keiner anderen Habitatart. Damit verlieren künftige Generationen wichtige Quellen von Ökosystemdienstleistungen. Hier drücken sich ebenfalls inhärente Zielkonflikte zwischen verschiedenen nachhaltigen Entwicklungszielen aus, die nur durch effektive Institutionen auf allen Ebenen aufgelöst werden können — an denen es jedoch weiterhin oftmals fehlt.

Und der Klimawandel steigert nicht nur die Variabilität in der Wasserverfügbarkeit und verstärkt den Druck, Staudämme zu bauen, um grüne Energie zu generieren und sich an größere Wasservariabilität anzupassen, sondern stellt auch bestehende Kooperationsarrangements infrage. Beispielsweise der Helmand-Vertrag zwischen Afghanistan und Iran, der Wasser zwischen beiden Ländern aufteilt, ist heute schon weitgehend hinfällig, da der Helmand-Fluss zumeist weniger Wasser führt, als der Vereinbarung ursprünglich zugrunde lag.

Hinzu kommt, dass Interaktionen zu Wasser — gerade zwischenstaatlicher Natur — in einen größeren geopolitischen Kontext eingebettet sind. Globale Trends wie eine Abkehr von multilateralen Institutionen und eine Rückkehr zum Unilateralismus, in Kom-

bination mit Fake News und der Infragestellung wissenschaftlicher Fakten, erschweren auch denjenigen die Arbeit, die sich auf eher technischer und wenig politisierter Ebene für kooperatives Wassermanagement einsetzen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass das Konfliktpotenzial um Wasserressourcen — zwischen einzelnen Gruppen, innerhalb, aber auch zwischen Staaten — zunehmen wird. Dass Wasser ein Politikum ist und wohl noch stärker wird, wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Ob dies aber tatsächlich zu verstärkten Konflikten mit all ihren negativen humanitären, sozioökonomischen und politischen Konsequenzen führen wird oder aber neue Wege der Kooperation zwischen Menschen, Gemeinschaften und Ländern eröffnet, wird davon abhängen, ob und wie es politischen Akteuren — aber auch der Gesellschaft insgesamt — gelingt, funktionsfähige Institutionen zu schaffen und zu erhalten, die Konflikte entschärfen und Kooperation fördern — auch und gerade unter sich intensivierenden Rahmenbedingungen.

Sauberes Wasser! Für Mensch und Natur lebenswichtig

Sascha Maier ist Referent für Gewässerpolitik beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND); zuvor war er Vorstandsmitglied beim BUND Brandenburg und Campaigner bei Rewilding Oder Delta e. V., Schwerpunkte seiner Arbeit sind Fließgewässerschutz und Wasserrahmenrichtlinie.

Über das Element Wasser stellt der Historiker David Blackbourn in seinem Buch »Die Eroberung der Natur« die Geschichte der deutschen Landschaft dar. Anhand mehrerer Fallstudien wie der Trockenlegung des Oderbruchs, der Wasserkraftgewinnung oder dem Dammbau wird die vermeintlich glanzvolle Geschichte der »Modernisierung« und des Fortschritts aufgezeigt. Doch Blackbourn macht deutlich, dass sich bei den meisten Historikern das Interesse auf die Kehrseite der Medaille verlagert hat. Denn die durch oft von selbstüberschätzender Zuversicht inspirierten technischen Großprojekte hatten viele unvorhergesehene Folgen. So bewirkte die »Eroberung« des Wassers einen Rückgang der Biologischen Vielfalt. Die vor einem Jahrhundert errichteten Trinkwassersperren erhöhten den Grad an Wasserversorgung zwar, gleichzeitig entwickelten die Menschen dadurch ein Verhaltensmuster eines unkontrollierten und somit nicht nachhaltigen Wasserverbrauchs. Staudammbauten hatten auch die Vertreibung von Menschen und somit Verlust lokalen Wissens zur Folge. Es wurden also mit der Beseitigung von Unsicherheiten und Beschränkungen an der einen Stelle an anderer Stelle neue Gefahren und Restriktionen erzeugt.1

1  Blackbourn, David (2008): Die Eroberung der Natur. München, S. 18 ff.

2  Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und die Europäische Union haben unterschiedliche Definitionen, wie ein Gewässer als »gut« einzustufen ist. In der Europäischen Union weist die Wasserrahmenrichtlinie ( WRRL) anspruchsvolle Ziele für das Erreichen eines guten Zustands aller Oberflächengewässer und des Grundwassers auf. Demnach erreichen allein in Deutschland nur 9 Prozent aller Oberflächengewässer einen sehr guten oder einen guten ökologischen Zustand bzw. Potenzial und keines der Oberflächengewässer erreicht einen guten chemischen Zustand.

Ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wollen die Vereinten Nationen mit dem Nachhaltigkeitsziel 6 bis 2030 sauberes Wasser und Sanitärversorgung für alle, also derzeit rund 8 Milliarden Menschen, gewährleisten. Die Wasserqualität soll verbessert werden, indem u. a. die Verschmutzung durch gefährliche Chemikalien beendet wird. Zudem sollen die Gewässer als natürliche Ökosysteme geschützt und wiederhergestellt werden. Verbunden mit den globalen Herausforderungen aufgrund der Klima- und der Biodiversitätskrise, den Folgen der mittlerweile für beendet erklärten COVID-19-Pandemie, sowie der laufenden militärischen Konflikte gestaltet sich dies als eine Herkulesaufgabe.

vgl. BMUV/UBA (2022): Die Wasserrahmenrichtlinie — Gewässer in Deutschland 2021. Fortschritte und Herausforderungen. Bonn, Dessau ↘ t1p.de/fq6qb

Geringe Fortschritte bei der Erreichung des Nachhaltigkeitsziels Zusammen mit den anderen Nachhaltigkeitszielen trat im Jahr 2016 das Ziel »Wasser und Sanitärversorgung für alle« in Kraft. Dabei wurden Teilziele formuliert, bei denen es aber bislang nur geringe Fortschritte gibt. Weltweit haben immer noch 2 Milliarden Menschen (26 Prozent der Weltbevölkerung) keinen ständigen Zugang zu sauberem Trinkwasser (SDG 6.1) und 3,6 Milliarden Menschen (geschätzt 46 Prozent) keinen Zugang zu sauberen Toiletten, deren Abwasser behandelt und sicher entsorgt werden kann (SDG 6.2). Die Wasserqualität soll durch Verringerung von Verschmutzung und Steigerung der Wiederaufbereitung verbessert werden. Von den weltweit gemeldeten Gewässern wurden 60 Prozent zwar als »gut« eingestuft.² Aber nicht alle Gewässer wurden gemeldet und von den 75.000 gemeldeten lagen mehr als drei Viertel in 24 Ländern mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt. Hierbei wurde die Situation der 20 ärmsten Staaten kaum berücksichtigt. Weltweit fließen bis zu 44 Prozent der kommunalen Abwässer ungeklärt in Gewässer und gefährden somit Umwelt und Trinkwasservorräte (SDG 6.3). Das Wasser ist nicht nur zu stark verschmutzt, es mangelt auch an ihm. Um eine nachhaltige Entnahme und Bereitstellung von Süßwasser zu gewährleisten, ist die Effizienz der Wassernutzung wesentlich zu steigern. Hier gab es zwar einen Anstieg

von 2015 bis 2018 um 9 Prozent. Doch die Wasserknappheit ist regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, so ist sie in der SDG-Region Zentral- und Südasien hoch und in Nordafrika kritisch (SDG 6.4). Die Umsetzung einer integrierten Bewirtschaftung von Wasserressourcen schreitet zwar voran, um das Ziel bis 2030 zu erreichen, muss die Geschwindigkeit aber verdoppelt werden (SDG 6.5). Schon bis 2020 war vorgesehen, wasserabhängige Ökosysteme (Berge, Wälder, Feuchtgebiete, Gewässer inklusive Grundwasserleiter) zu schützen und wiederherzustellen. Die vorhandenen Daten über die Ökosysteme sind nicht präzise genug, um Trends über Jahre feststellen zu können. Aber einer der Hauptindikatoren zeigt bereits, dass sich die Fläche der natürlichen Feuchtgebiete seit 1700, also dem Zeitpunkt vor der Industrialisierung, um 80 Prozent verringert hat (SDG 6.6). Zwar sollen die internationale Zusammenarbeit und die Unterstützung der Entwicklungsländer beim Kapazitätsaufbau im Bereich der Wasser- und Sanitärversorgung ausgebaut werden, aber die Daten sind bislang nicht erfasst. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt die öffentliche Entwicklungshilfe für den Bereich »Wasser« im Jahr 2020 weltweit auf 8,7 Milliarden US-Dollar, im Jahr 2002 waren es nur 2,7 Milliarden US-Dollar (SDG 6.a). Die Unterstützung und Stärkung lokaler Gemeinwesen durch gesetzliche bzw. politische Verfahren zur Mitwirkung an der Verbesserung der Wasserbewirtschaftung und der Sanitärversorgung wird in mehr und mehr Staaten angegangen, aber jedoch immer noch auf zu niedrigem Niveau (SDG 6.b).3

Partnerschaften und verbesserte Zusammenarbeit

3  vgl. United Nations (2023): The United Nations World Water Development Report 2023: Partnerships and Cooperation for Water. Paris

Zur Halbzeit der UN-Dekade »Wasser für nachhaltige Entwicklung« fand im März 2023 eine große Wasserkonferenz der Vereinten Nationen statt — die erste seit 1977. Im Vorfeld wurde im Weltwasserbericht das Ausloten neuer Partnerschaften vorgeschlagen. Der Leitgedanke dabei ist, dass Zusammenarbeit sowohl die Bewirtschaftung von Wasser als auch die politische Willensbildung verbessern. Mit einem konstruktiven Austausch über Prioritäten und Strategien sollen innovative Lösungen angeregt und die Effizienz gesteigert werden. Diese Überlegungen werden sowohl auf die Weltregionen als auch auf die einzelnen Sektoren Landwirtschaft, Umwelt, Siedlungen Industrie, Gesundheit und Klimawandel angewandt.

Beispiel wachsende Städte und Wasserbedarf Am Beispiel der wachsenden Städte und den damit einhergehenden steigenden Wasserbedarf lässt sich das verdeutlichen. Bislang erfolgt meist eine Umleitung des Wassers vom ländlichen Raum in die urbanen Gebiete. Die Städte sind so leicht versorgt. Aber für die Landwirtschaft ergeben sich Nachteile: weniger Wasser für Bewässerung führt beispielsweise zu geringeren Ernten. Das sorgt für weniger Einkommen vor Ort und verschlechtert allgemein die Ernährungsversorgung. Durch neue Infrastrukturen und Transferzahlungen gibt es aber Möglichkeiten des Ausgleichs. Im Umweltbereich ist der Schutz von Wassereinzugsgebieten wesentlich. Die Stärkung der Fähigkeit, dass Gewässer nach einer Störung zum Ausgangszustand zurückkehren, ist ein Beitrag für die Anpassung an die Klimakrise. Gleichzeitig dienen resiliente Wasserökosysteme sowohl Klimaschutz, indem sie Hochwasserspitzen abmildern und CO₂ speichern, als auch dem Schutz der Biologischen Vielfalt. Solche naturbasierten Lösungen lassen sich über ihren Zusatznutzen leicht rechtfertigen. Flussabwärts gelegene Nutzergruppen wie Kommunen und Unternehmen haben ein Interesse, Wasser

langfristig, ausreichend und in guter Qualität zu erhalten und die Situation an flussaufwärts gelegenen Lebensräumen zu verbessern. Oft werden dafür Wasserfonds zur Finanzierung genutzt.

4  United Nations: Water Action Agenda ↘ t1p.de/4pqzp

5  BMUV: Weltwasserkonferenz der UN endet in New York mit ambitionierter Agenda und über 660 Selbstverpflichtungen für besseren Wasserschutz. Pressemitteilung Nr. 043/23, 24.03.2023

Mit der Weltwasserkonferenz 2023 soll ein Aufbruch erzielt werden. Das zentrale Ergebnis der Konferenz ist eine globale Aktionsagenda für Wasser. In diese haben die Mitgliedsstaaten und andere Akteurinnen und Akteure bisher mehrere hundert freiwillige Selbstverpflichtungen eingebracht.4 Auch die deutsche Bundesumweltministerin erklärte nach der Konferenz, dass wir schneller handeln müssen als bisher, um unsere Wasservorräte weltweit zu schützen und die Versorgung nachhaltig zu sichern. Es komme nun auf die entschiedene Umsetzung an. Die Bundesregierung will zur UN Water Action Agenda international mit Vorhaben vor Ort in der Demokratischen Republik Kongo, im Nigerbecken, in Südafrika und mit der Kofinanzierung des UNSonderbeauftragten für Wasser sowie national mit der Umsetzung der kurz vor der UN-Konferenz beschlossenen Wasserstrategie beitragen.5

Indirekt genutztes Wasser in Deutschland verursacht weltweite Wasserknappheit

6  BMUV: Nationale Wasserstrategie. Kabinettsbeschluss, 15.03.2023

7  Umweltbundesamt: Wassernutzung privater Haushalte. 14.10.2022 ↘ t1p.de/6wxas

8  BUND (2020): Sauberes Wasser! Für Mensch und Natur lebenswichtig. ↘ t1p.de/dek2q Statistisches Bundesamt (2023): Wichtigste Herkunftsländer für Textil- und Bekleidungsimporte in Deutschland nach Einfuhrwert im Jahr 2022. Hamburg ↘ t1p.de/0m2r World Wildlife Fund (2014): Handle with Care: Understanding the hidden environmental costs of cotton. World Wildlife Magazine, Spring 2014 ↘ t1p.de/vromt

Die Folgen der Klimakrise, verbunden mit regionaler Wasserknappheit, werden in Deutschland immer spürbarer. Doch die gesamte Menge Wasser, die Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland in Anspruch nehmen, ist weit größer als das nur vor Ort genutzte Wasser aus heimischen Gewässern. Die Menge des indirekt genutzten Wassers, das durch den Wasserfußabdruck abgebildet wird, bestimmt sich maßgeblich durch Gütererzeugung im Ausland und Importe. Die Nationale Wasserstrategie der Bundesregierung wurde mit einem umfassenden Aktionsprogramm ergänzt. Darin ist vorgesehen, dass die Maßnahmen zum gemeinsamen und gleichzeitig nachhaltigen Schutz der globalen Wasserressourcen kurzfristig beginnen werden.6 Zum Wasserfußabdruck Deutschlands nennt das Umweltbundesamt einen konsuminduzierten Wasserverbrauch täglich von rund 7.200 Liter pro Kopf oder für ganz Deutschland 219 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Davon stammen nur 14 Prozent des Wassers aus Deutschland, aber 86 Prozent aus dem Ausland.7 So tragen durch den Alltagskonsum von importierten Kleidern, Nahrungsmitteln etc. die in Deutschland lebenden Menschen zur Verschmutzung und zum Verbrauch großer Wassermengen im Ausland bei. Ungefähr 90 Prozent der in Deutschland gekauften importierten Kleidung stammt aus China, der Türkei und Bangladesch — Regionen mit hohem Wasserstress. Mehr als 80 Prozent des Wasserverbrauchs der globalen Textilindustrie fallen beim Anbau von Baumwolle an. Allein für die Herstellung eines BaumwollT-Shirts werden schätzungsweise 2.700 Liter Süßwasser benötigt. Das entspricht der Menge, die eine Person in 2,5 Jahren trinkt. Zudem verschmutzen Düngemittel und Pestizide das Grundwasser: Etwa ein Viertel der global gehandelten Insektizide kommt beim Anbau von Baumwolle zum Einsatz. Nach der Landwirtschaft ist die Textilindustrie der zweitgrößte Wasserverschmutzer der Welt.8

Die Fortschritte, das Ziel »Wasser und Sanitärversorgung für alle« bis 2030 zu erreichen, sind bislang ungenügend. »Der universelle Zugang zu Trinkwasser, Sanitärversorgung und Hygiene ist für die globale Gesundheit unabdingbar. Um ihn bis 2030 zu erreichen, müssten die aktuellen Fortschritte um das Vierfache gesteigert werden.«9 Es bleibt zu hoffen, dass die Versprechen der Weltwasserkonferenz 2023 nun auch realisiert werden.

9  United Nations (2022): The Sustainable Development Goals Report. New York

Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern

7

Bezahlbare und saubere Energie

Energieversorgung von Morgen weltweit neu aufstellen

Prof. Dr. Raimund Bleischwitz ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT ) und Professor an der Universität Bremen; zuvor hatte er von 2013 bis 2022 u. a. die Professur für Nachhaltige Globale Ressourcen an der University College London inne und war Direktor der Bartlett School of Environment, Energy and Resources; von 2003 bis 2013 war der Co-Direktor des Wuppertal-Institut für Klima, Energie und Umwelt und Professor am College of Europe in Brügge (Belgien).

Einleitung

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die internationale Landkarte für Energie und Rohstoffe nachdrücklich verändert. Langjährige Gewohnheiten, im Winter warme Häuser bewohnen und auf kostengünstige Energielieferungen für die Industrie vertrauen zu können, sind trügerisch geworden. Die individuelle Gewissheit, beim Aufdrehen der Heizung Wärme im Wohnzimmer zu haben, hängt für Viele nun am seidenen Faden von Lieferzuverlässigkeit und Leistbarkeit höherer Kosten.

Die »Zeitenwende« bedeutet konkret, dass Deutschland neue internationale Energiepartnerschaften abschließt. International trifft der Energiehunger auf fragile Situationen in vielen Ländern. Weltweit haben ca. 800 Millionen Menschen keinen Zugang zu einer Stromversorgung, und ca. 2,4 Milliarden Menschen nicht einmal Zugang zu zuverlässiger und sauberer Energie fürs Kochen. Mängel gelten auch für große Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien und Südafrika. Nach Kriegen ums Erdöl drohen nun bewaffnete Konflikte beim Zugang zu Rohstoffen wie Lithium, Seltene Erden und Kobalt, die für die Energieversorgung essenziell sind. Zudem zeigen sich soziale Konflikte bei den Prioritätensetzungen: wer darf im Zweifelsfall am Netz bleiben, die Industrie, die Wohlhabenden, oder arme private Haushalte?

Energie ist eine Schlüsselfrage für eine nachhaltige Entwicklung. Eine klug angelegte und international verantwortbare Strategie bietet vielfältige Chancen zur Verwirklichung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Dabei zeigt sich eine Mitverantwortung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Industrie: jede hier nicht in Anspruch genommene Kilowattstunde kann in einem international vernetzten Energiesystem für andere zur Verfügung stehen. Sie kann den Unterschied ausmachen, ob es gesunde Ernährung gibt, Kinder bei Dunkelheit noch Schularbeiten machen können, Krankenhäuser funktionieren oder Wasserpumpen zuverlässig arbeiten. Die Zeitenwende im Bereich Energie ist insofern auch ein Kulturwandel zum weltweiten »Prinzip Verantwortung« hin (Hans Jonas).

Der folgende Beitrag gibt einen Denkanstoß zum Kulturwandel in der Energieversorgung von Morgen. Er ist motiviert vom UN-Nachhaltigkeitsziel 7 einer bezahlbaren und sauberen Energie für alle. Wir möchten Wege anregen, wie Energie zum Motor einer zukunftsfähigen Entwicklung werden kann, wie Souveränität partnerschaftlich angelegt werden kann und wie Solidarität im 21. Jahrhundert aussehen kann.

Energie als Motor für eine Erreichung der SDGs

Energie ist letztlich ein hoch vernetztes System, das von der Erzeugung über die Verteilung hin zu vielfältigen Anwendungen geht. Wir sind mittlerweile mit Heizungssystemen vertraut und wissen, dass Mobilität mit dem Automobil auf Tankfüllungen oder Batterieaufladungen angewiesen ist. Beim Stöbern stoßen wir auf Umwälzpumpen im Keller, bei Stromausfällen registrieren wir mangelnden Zugang zu Bargeld und Ampelausfälle. An allfällige Beleuchtung in der Dunkelheit und gekühlte Nahrungsmittel haben wir uns gewöhnt. Selbst das allgegenwärtige Internet wäre nach Stromausfällen nicht mehr funktionsfähig.

Energie bedeutet jedoch mehr: Daseinsvorsorge, Sicherheit, Bildungschancen, soziales Miteinander. Im Zusammenwirken mit anderen UN-Nachhaltigkeitszielen zeigt sich die starke Rolle eines funktionierenden Energiesystems im Zieldreieck mit Ernährungssicherheit und Wasserversorgung. Man spricht vom »Nexus« Wasser — Energie — Nahrungsmittel. Im Hintergrund muss die Rohstoffversorgung funktionieren, um Materialien, Werkstoffe, und Pipelines bereitstellen zu können. Dazu gehören auch kritische

Materialien wie Kobalt, Lithium oder Seltene Erden, deren Abbau und Verarbeitung energie- und umweltintensiv sind und die obendrein häufig Quelle von Konflikten sind.

Eine Zeitenwende hin zur Verwirklichung von »sauberer und bezahlbarer Energie für alle« muss somit drei Elemente beinhalten:

1. Einen Aufbau von erneuerbaren Energien weltweit, mit Prioritäten für die lokale und regionale Versorgung;

2. eine Beachtung der Ressourcenimplikationen, so dass Ernährungssicherheit und Zugang zu Wasser verbessert werden und Rohstoffe auf verantwortbare Weise abgebaut und eingesetzt werden;

3. eine Abkehr vom fossilen Wirtschaftsmodell durch planvollen Rückbau bei Kohle, Erdöl und Erdgas mit einer Demokratisierung fossil abhängiger Politikstrukturen und einer Transformation hin zu einer Kreislaufwirtschaft (»Circular Economy«), die als weltweites Modell auch die Ozeane mit einbeziehen würde.

Energie-Souveränität statt Nationalismus und Autarkie Es geht also um Energie-Souveränität statt nationaler Großmachtphantasien. Die Europäische Union gibt ein gutes Beispiel: sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hervorgegangen, also gemeinschaftlich bewirtschafteten Energievorräten und Schlüsselwerkstoffen. Sie ist heute ein Modell für einen geschmeidigen Austausch von Strom, Waren und Dienstleistungen über frühere Grenzen hinweg. Selbst erfahrene Energiemanager können kaum vorhersagen, ob in Norddeutschland erzeugter Strom über die oft ausgelasteten deutschen Stromtrassen führt oder durch Nachbarländer wie Polen oder Belgien. Insofern ist es konsequent, auch künftige Energieträger europäisch zu denken. Spanien, Italien und Griechenland haben das Potenzial, starke Anbieter erneuerbarer Energien zu werden, ähnlich wie Skandinavien und die Alpenländer ihre Wasserkraft nutzen und zur Verfügung stellen.

Im Zeitalter geopolitischer Risiken und legitimer weltweiter Bedürfnisse nach Energie bietet Energiesouveränität folgende Orientierungen und Chancen:

1. Ein Offenhalten von künftigen Möglichkeiten durch den Aufbau und Erhalt eigener Fähigkeiten und die Vermeidung einseitiger Abhängigkeiten;

2. eine Priorität für eine kluge Bedarfssteuerung durch Digitalisierung, angepasste Bedürfnisse, Ausbildung und Weiterqualifizierung, und entsprechende Dienstleistungen;

3. glaubwürdige internationale Partnerschaften auf Augenhöhe, in denen lokalen Bedürfnissen und kulturellen Besonderheiten Rechnung getragen werden kann.

Entsprechend bieten internationale Energiepartnerschaften mit Island, Namibia und anderen die Chance, der dortigen Bevölkerung eine Mitgestaltung zu ermöglichen und

Versorgungslücken vor Ort anzugehen. Denkbar sind auch »Bürgergeld«-Modelle, um die lokale Bevölkerung an Exporterlösen für Energie teilhaben zu lassen. Ein ähnliches Modell hat in Alaska über Jahre hinweg funktioniert.

Zugleich ergeben sich Chancen für neue Nachbarschaften im »Nexus«: Agrophotovoltaik erzeugt Strom und beschattet zugleich wertvolle landwirtschaftliche Nutzfläche in semi-ariden Gebieten; grüner Strom ermöglicht die lokale Tropfenbewässerung für eine erhöhte Ernährungssicherheit. Wasserkraftwerke können Strom in Nachbarregionen exportieren, die wiederum Lebensmittel oder andere Handelsgüter anbieten. Küstengebiete bieten hohes Potenzial für marine erneuerbare Energien (offshore Wind, schwimmende Photovoltaik), wenn ihr Ausbau mit Meeresnaturschutzzonen und anderen Bedarfsfelder abgestimmt wird.

Energiesouveränität führt letztlich zu einer Kultur der technologisch anspruchsvollen Zusammenarbeit, der Gelassenheit, des Ausgleichs und des vernetzten Denkens. Sie basiert auf Selbstbewusstsein und einer realistischen Abschätzung von sozialen Kosten und beiderseitigem Nutzen. Man darf an ein neues EEG denken: vom rechtlich angeregten Ausbau durch das Erneuerbare Energien Gesetz der 1990er Jahre hin zum allgemeinen Ertüchtigen — Ermessen — Gestalten des 21. Jahrhunderts.

Solidarität anders denken

Internationale Solidarität wird weiterhin erforderlich sein, wenn es um Anpassungen an Klimaänderungen geht. Sie manifestiert sich beispielsweise im grünen Klimafonds, aus dem Transformationen hin zur nachhaltigen Entwicklung im Globalen Süden mit finanziert wird und im neuen globalen Anpassungsfonds. Zugleich gibt es Städtepartnerschaften und vielfältige Spenden (z. B. Firmenlauf ), durch die konkrete nützliche Projekte wie etwa die Montierung von Solarmodulen in Dorfschulen im Globalen Süden angestoßen werden.

Neue Datenbanken zeugen von der verborgenen Kraft von »Fußabdrücken«: sie basieren auf Kalkulationen für den täglichen Einkauf und jährlichen Verbrauch von Unternehmen und Konsumentinnen und Konsumenten, sie führen den Energieverbrauch oder Treibhausgasemissionen als neue Währung ein. Das »Carbon Disclosure Projekt« (CDP) führt die Inventare von ca 15.000 großen Unternehmen weltweit, die ihre Emissionen entlang der gesamten Lieferkette offenlegen. Etwa 450 gelten als Top-Performer. Ein ähnliches Modell des Messens und Managens wird für Bürgerinnen und Bürger getestet. So können weltweite Verantwortlichkeiten in eigene Ziele übersetzt werden, ohne Problemverlagerungen zu betreiben. Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger sind politisch relevante Akteure, deren Eigenanstrengungen Solidarität erzeugen. Neues ökonomisches Denken spricht von Kosten des Zugangs zu Energiedienstleistungen anstelle von Erzeugungskosten. Der aktuelle Bericht des zwischenstaatliches Klimarates (IPCC) beziffert erstmalig die gesunkenen Kosten der überwiegenden Zahl klimafreundlicher Energieoptionen gegenüber den traditionellen fossilen Energiepfaden. Insofern sollte Deutschland auch einen Schwerpunkt der internationalen Energiepartnerschaften auf Länder wie Indien, Indonesien, Südafrika, Kolumbien ausrichten, die bislang ihre Zukunft in einheimischen fossilen Energieträgern sahen. Internationale Energiefresser wie Flugreisen und Schifffahrt müssen durch eine Besteuerung ihren Beitrag zur Umsteuerung leisten. Gleiches kann auch für energieintensive Produktionsketten gelten; die Europäische Union erwägt eine Besteuerung an Außengrenzen, um Billigproduktion und Raubbau in einen fairen Wettbewerb zu überführen. Auch hier können Pilotprojekte Weichenstellungen leisten. Der Übergang auf grünen

Sekundärstahl wird erleichtert, wenn hochwertiges Schiffsrecycling gezielt ausgebaut wird. Ein durchschnittliches Frachtschiff enthält etwa so viel Stahl wie 10.000 Autos. Anstelle des hochproblematischen »Beaching« an Stränden des Globalen Südens würden geordnete Rückführungen entstehen, die zugleich etwa 80 Prozent Energieeinsparung gegenüber der Hochofenroute mit sich bringen. Weitere Projekte sind im Ökotourismus möglich, wenn neue Formen der sauberen Energieversorgung anstelle von Dieselgeneratoren zum Einsatz kommen.

Ausblick

Das SDG 7 bietet eine Chance, die Energieversorgung von Morgen weltweit neu aufzustellen. Grundprinzipien wären Souveränität und Solidarität, auch im wohlverstandenen Eigeninteresse und mit einer Neuordnung der Internationalen Beziehungen. Es geht also sowohl um einen Ausgleich zwischen Industrienationen und dem Globalen Süden als auch um einen Kulturwandel hin zu einer sauberen und bezahlbaren Energieversorgung für alle.

Literatur

Andrews-Speed, Philip; et al. (2014): Want, Waste or War? The Global Resource Nexus and the Struggle for Land, Energy, Food, Water and Minerals, Earthscan. Routledge, Milton Park

Behr, Alexander (2022): Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen. Oekom-Verlag, München

Edler, Jakob; et al. (2023): Technologiesouveränität: Von der Forderung zum Konzept. Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe

Fuso Nerini, Francesco; et al. (2018). Mapping synergies and trade-offs between energy and the Sustainable Development Goals. Nature Energy ↘ t1p.de/y7je0

Welfens, Paul J. J. (2022): Russlands Angriff auf die Ukraine. Ökonomische Schocks, EnergieEmbargo, Neue Weltordnung. Springer Verlag, Wiesbaden

Raus aus der Kohle —

Anforderungen an einen erneuten

Strukturwandel

Prof. Dr. Kai Niebert ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings; seit 2022 ist er Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Bundesstiftung Umwelt; er ist Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und hat die Bundesregierung in verschiedenen Kommissionen beraten; seit 2014 ist er Professor für Didaktik der Naturwissenschaften und Nachhaltigkeit an der Universität Zürich; zuvor war er u. a. Professor am Lehrstuhl für Didaktik er Naturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg.

Zeitenwende für saubere und bezahlbare Energie

Mit den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) wurden Entwicklungsziele erstmals wirklich global gedacht: Anders als bisherige UN-Zielsetzungen gelten die SDGs für alle Länder. Das ist wegweisend, denn es nimmt auch die Industrieländer in die Pflicht, ihre Hausaufgaben zu machen. Das SDG 7 — die Versorgung mit bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie — könnte in Deutschland kaum aktueller sein. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und der darauffolgende Anstieg der Energiepreise haben schmerzhaft gezeigt, wie wichtig eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung für Menschen und Industrie ist. Anstatt als Reaktion auf die Energiekrise fossile Infrastrukturen auf Jahrzehnte zu zementieren, muss eine Zeitenwende für echte Energiesicherheit und -souveränität, für mehr Klimaschutz, eingeläutet werden. Teilweise ist dies bereits geschehen. Von einer vollständigen Zeitenwende beim Umbau unseres Energiesystems kann jedoch noch keine Rede sein. Denn während 2022 zwar 46 Prozent unseres Strombedarfs aus Erneuerbaren produziert wurden, wurde der deutsche Endenergieverbrauch lediglich zu 20 Prozent aus erneuerbaren Quellen gedeckt. Dies kommt uns nicht nur volkswirtschaftlich teuer zu stehen, weil die Folgekosten der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl nach wie vor nicht eingepreist sind. Unsere Abhängigkeit von fossilen Energien trifft gerade die Menschen in unserem Land am stärksten, die ohnehin am wenigsten haben: Ökonomisch schlecht gestellte Menschen müssen einen großen Anteil ihres Haushaltseinkommens für Energiekosten aufbringen. Es ist deshalb nicht nur aus klima-, sondern auch aus sozialpolitischer Perspektive essenziell, unsere Energieversorgung so schnell wie möglich zukunftsweisend umzubauen. Nachdem die Ära der Atomenergie in Deutschland am 15. April 2023 endgültig beendet wurde, muss als Nächstes so schnell wie möglich der Energieträger verschwinden, der das Klima am meisten belastet: die Kohle. Den damit einhergehenden Strukturwandel vor Ort gilt es nachhaltig mit Leben zu füllen.

Abschied von der Kohle?

Nachdem Umweltverbände bereits jahrelang den Ausstieg aus der Kohle gefordert hatten, setzte die Bundesregierung 2018 die Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung ein, der auch ich, als Präsident des Deutschen Naturschutzrings, angehörte. Gemeinsam mit BUND und Greenpeace vertrat ich gegenüber den Teilnehmenden aus Politik, Industrie und Wissenschaft die Forderungen der Umweltverbände. Nach monatelangen Treffen und einer entscheidenden Verhandlungsnacht legte die Kohlekommission am 26. Januar 2019 schließlich ihren Abschlussbericht vor. Dieser empfahl, bis 2022 Braunkohlekraftwerke mit einer Kapazität von 3 Gigawatt sowie 4 Gigawatt Steinkohlekraftwerke stillzulegen. Bis 2030 sollten weitere 6 Gigawatt Braunkohle und 7 Gigawatt Steinkohle vom Netz gehen. Das letzte Kohlekraftwerk sollte 2038 abgeschaltet werden, mit der Option, den Ausstieg auf 2035 vorzuziehen. Gemeinsam mit meinen Kollegen von BUND und Greenpeace waren wir überzeugt, dass das klimapolitisch zu spät ist und energie- wie auch strukturpolitisch schneller gehen kann und muss. Wir haben deshalb in einem Minderheitsvotum dafür gestimmt, den Abschaltungspfad von 2023 bis 2030 deutlich zu beschleunigen und den Kohleausstieg in Deutschland bis spätestens 2030 zu beenden. Und dennoch: Mit dem Beschluss war der Einstieg in den Ausstieg geschafft.

Das alles wirkt heute sehr weit weg. Mittlerweile ist zwar eine Regierung im Amt, die sich den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben und im Koalitionsvertrag vereinbart hat, den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorzuziehen. Jedoch hat der Krieg Russlands

gegen die Ukraine und die knapper werdende Gasversorgung in Deutschland neben anderen energiepolitischen Entscheidungen dazu geführt, dass Kohlekraftwerke länger am Netz behalten werden. Mit dem Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor wurde bis zum 31. März 2024 eine Gasersatz-Reserve eingerichtet. Öl- und Kohlekraftwerke sollen Strom liefern, falls die Menge der Gaslieferungen für genügend Strom aus Gas nicht ausreicht, und dafür auf Abruf für den Markt bereitstehen. Davon sind insbesondere Kohlekraftwerke betroffen, die nach den Plänen für den Kohleausstieg eigentlich 2022 und 2023 außer Betrieb gehen sollten. Für die Umweltverbände ist das eine bittere Pille. Nach den klima- und energiepolitischen Versäumnissen der letzten Jahre und dem krisenbedingten Rückfall in fossile Strukturen müssen jetzt mehr denn je alle Weichen auf eine bezahlbare und saubere Energieversorgung gestellt werden.

Alle Macht den Erneuerbaren

In den letzten Legislaturperioden wurde versäumt, echte Klimapolitik zu betreiben: Energiepolitisch wurde in den vergangenen Jahren viel zu wenig diversifiziert und zu wenig dekarbonisiert. Es gab gigantische Subventionen für fossile Energieträger, zu viel Blauäugigkeit, zu viel Trägheit. Und: Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde massiv ausgebremst. Hürden wie komplizierte und lange Planungs- und Genehmigungsverfahren oder Personalmangel in den Planungs- und Fachbehörden wurden nicht abgebaut. Drastische Fehler, deren Auswirkungen wir während des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und auf Europas Energieversorgung deutlich spüren. Der massiv beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren gehört zu den Grundvoraussetzungen, um die unterschiedlichen Krisen — Klima-, Biodiversitäts- und Energiekrise — bewältigen zu können. Das Gute ist: Die Energiewende ist machbar. Auf unzähligen Dächern und weiteren versiegelten Flächen kann und muss die Solarenergie mit einem nie dagewesenen Tempo ausgebaut werden. Hier schlummert ein enormes Potenzial. Daher gilt auch: Wir brauchen eine bundesweitere Solarpflicht für Dächer bei Neubau oder Sanierung. Zudem wird die Anzahl großer Solarparks zunehmen, die uns günstigen Ökostrom liefern. Hier brauchen wir bundesweit anwendbare und verpflichtende (Mindest-)Kriterien für Bau, Betrieb und Pflege von großen Freiflächenanlagen, die auch den Belangen des Natur- und Artenschutzes ausreichend Rechnung tragen. Bei der Windenergie an Land haben wir keine Zeit mehr für willkürliche Abstandsregelungen, es bedarf Abnahmegarantien für Anlagenhersteller, Beschleunigung von Transportgenehmigungen und klare, verständliche Standards bei Erfassungsmethoden von Arten sowie einheitliche Regeln bei der Datenbereitstellung. Wir brauchen ein Mehr an Entbürokratisierung, ein Mehr an Digitalisierung. Die Flächenziele für die Windenergie an Land, die 2022 im neuen Windenergie-an-Land-Gesetz festgeschrieben wurden, müssen weit vor 2032 erreicht werden. Gleichzeitig muss der Netzausbau vorangetrieben werden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Energiewende, der Ausbau der Erneuerbaren, muss zentrales Projekt der deutschen und europäischen Industriepolitik werden. Lieferengpässe und Personalmangel dürfen uns auf dem Weg zu einem Mehr an Energiesouveränität und auf dem Weg hin zur sozial-ökologischen Transformation nicht ausbremsen. Die Klima- und Biodiversitätskrise warten nicht. Wir dürfen uns nicht im politischen Klein-Klein verlieren. Bereits in den vergangenen Jahren haben wir die verheerenden Folgen der Klimakatastrophe in Form von Waldbränden, Ernteausfällen und Überflutungen auch bei uns in Deutschland erlebt. Die Winterdürre in Italien und Frankreich führte u. a. dazu, dass der Wasserverbrauch gedrosselt wurde.

Strukturwandel — aber wie?

Die Nutzung von Kohle schnellstmöglich zu beenden ist unabdingbar. Das konstante Angebot an Energie, welches durch die Kohle über sehr lange Zeit gegeben war, wird sich wandeln. Die erneuerbaren Energien werden zum Energielieferant Nummer eins. Was bedeuten diese Entwicklungen, das Vorantreiben von mehr Energiesouveränität und das Einstehen für eine echte sozial-ökologische Transformation für die Kohleregionen und die Beschäftigten vor Ort?

Um der Klimakrise angemessen zu begegnen, um sozialen Frieden zu wahren und um unsere Gesellschaft klimaneutral umzubauen, können wir die Verantwortung nicht auf den Einzelnen abwälzen. Wir müssen unser gesamtes Wirtschaftssystem transformieren und unseren Ressourcenverbrauch absolut reduzieren. Dabei können wir es uns nicht erlauben, geeignete Instrumente aufgrund politischer Befindlichkeiten und Ideologien außen vor zu lassen. Der Kampf gegen die Klimakrise ist eine Aufgabe für die Politik und für die Gesellschaft. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt dabei nicht zu gefährden spielt eine zentrale Rolle.

Um eine tatsächliche und nachhaltige Transformation zu erreichen, brauchen wir von der Politik mehr Mut und mehr Umsicht, mehr Gestaltungswille, ressortübergreifenden und vor allem konstruktiven Diskurs. Die Verhandlungen in der Kohlekommission waren noch deutlich vom Bild geprägt: Wir machen die Transformation für euch, aber für euch wird sich nichts ändern: Der Strom wird grün, aber du arbeitest künftig immer noch im gleichen Betrieb in der gleichen Region. Dieses Versprechen war von Anfang an ein Fehler — kulturell wie politisch, denn die Transformation wird grundlegender sein, und er entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, da er sie von Subjekten zu Objekten der Transformation macht. Doch das Gegenteil muss der Fall sein: Die Menschen müssen Lust auf Transformation bekommen, wenn sie ein Erfolg werden soll. Und die bekommen sie nur mit aktiver Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeit. Damit können wir die nötige Transformation zu sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit erfolgreich vorantreiben. Die Strukturhilfen für die Kohleregionen müssen zielgerichtet eingesetzt werden. Wir brauchen den Ausbau einer zukunftsorientieren Infrastruktur, wir brauchen jetzt den intelligenten Mix an Maßnahmen und Instrumenten, die ganze Klaviatur politischer Gestaltungsmacht, einen handelnden, starken Staat. Wir brauchen eine bessere Kommunikation der Politik, die erklärt, warum welche Umbrüche in einzelnen Regionen nötig sind und welche Chancen sie beinhalten. Der Zugang zu bezahlbarer, nachhaltiger und vor allem sauberer Energie muss für alle möglich sein. Um Klimaneutralität zu erreichen, dürfen wir die Dinge nicht einfach nur ein bisschen besser und effizienter machen. Klimaneutralität bedeutet, die Dinge grundlegend anders zu machen. Wir werden in den 2030er Jahren anders essen, anders mobil sein und anders arbeiten. Neue Jobs entstehen, unser Landschaftsbild wird sich verändern, in einigen Regionen entstehen neue Wirtschaftsstrukturen. Nicht alle Geschäftsmodelle werden eine Zukunft haben. Darin liegt aber auch eine enorme Chance. Den Strukturwandel vor Ort müssen wir mit Leben füllen. Also müssen wir dafür sorgen, dass auch die Jobs der Zukunft gute Jobs sind. Gut bezahlt und tarifgebunden. Die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Wandel muss von der Politik gezielt ermöglicht werden. Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen dürfen nicht mehr ignoriert, sondern müssen konkret angegangen und gestaltet werden. Die Transformation gelingt nur miteinander. Die Transformation gelingt nur, wenn alle dabei sind: Industrie, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Politik und vor allem die Menschen in diesem Land.

Gerade in den Kohleregionen besteht enormes Potenzial, neue und insbesondere innovative Industriezweige und Forschungseinrichtungen mit internationaler Sichtbarkeit anzusiedeln, die uns auf dem Weg hin zur Klimaneutralität unterstützen können. Das Wasserstoffzentrum in der Lausitz sei hier nur als ein Beispiel genannt. Arbeitsplätze werden zukünftig nicht mehr von fossilen Brennstoffen abhängen. Die massive Landschaftszerstörung durch den Abbau von Kohle wird beendet, stattdessen ergeben sich neue Möglichkeiten im Bereich des — nachhaltigen — Tourismus. Die Partizipation an einem erfolgreichen Strukturwandel muss für alle ermöglicht werden. Partizipation, Zusammenhalt, eine gelebte Kooperationskultur und soziale Gerechtigkeit dürfen in den betroffenen Regionen keine bloßen Worthülsen bleiben, die Demokratie vor Ort muss tatsächlich gelebt, unterschiedliche Potenziale vor Ort müssen besser miteinander verbunden werden.

Die Bedeutung des Standortfaktors Lebensqualität muss erkannt, Kommunen vor Ort bei der Erarbeitung zukunftsfähiger und nachhaltiger Visionen unterstützt, die Modernisierung der Verwaltung vor Ort vorangetrieben, die Natur vor Ort gestärkt und als Standortvorteil gesehen, Vertrauen in die Politik vor Ort aufgebaut, Beteiligungsmodelle identifiziert, Verkehrsanbindungen massiv ausgebaut, nachhaltige Wohnangebote ( Wohnkonzepte) erstellt und neue Konzepte der Stadtentwicklung erarbeitet werden. Gerade die ehemaligen Kohleregionen können Vorreiter beim Vorantreiben einer naturverträglichen und dringend benötigten Energiewende sein.

Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern

8 Menschenwürdige Arbeit und Wirt - schaftswachstum

Menschenwürdige Arbeit und Wirt - schaftswachstum

Yasmin Fahimi ist Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes; zuvor war sie von 2014 bis 2015 Generalsekretärin der SPD und von 2016 bis 2017 Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales; von 2017 bis 2022 war sie Mitglied des Deutschen Bundestags.

Mit der Agenda 2030 und ihren 17 Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) für nachhaltige Entwicklung verfolgen die UN und die Weltgemeinschaft gemeinsam einen globalen Plan. Nachhaltiger Frieden und Wohlstand zum Schutz unseres Planeten für alle Menschen jetzt und in Zukunft sollen gefördert werden. Weltweite bisherige und zukünftige Missstände sollen am Ende systematisch abgeschafft sein. Alle UN-Staaten haben sich verpflichtet, die 17 SDGs bis zum Jahr 2030 umzusetzen. Seit 2016 wird daran gearbeitet, diese gemeinsame Vision zur Bekämpfung der Armut und Reduzierung von Ungleichheiten in nationalen Entwicklungsplänen und im globalen Kontext zu realisieren.

Mit dem Nachhaltigkeitsziel 8 haben sich alle Länder verpflichtet, dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle zu fördern. In den vergangenen Jahren ist einiges erreicht worden. Leider gibt es aber auch Fakten, die eindeutig zeigen, dass noch viel Arbeit vor uns liegt, wenn wir menschenwürdige Arbeit und sozial-ökologisches, nachhaltiges Wachstum für alle wollen. Nach wie vor muss rund die Hälfte der Weltbevölkerung noch immer von etwa 2 US-Dollar pro Tag leben. Insgesamt beträgt die globale Arbeitslosenquote 5,7 Prozent. Nur 47 Prozent aller erwerbstätigen Menschen arbeiten sozial abgesichert. Vielerorts garantiert ein Arbeitsplatz nicht den Hauch einer Chance, Armut zu entkommen.

Zusätzlich löste die COVID-19-Pandemie die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten aus. Zwar gab es eine leichte Erholung der Weltwirtschaft seit dem Ausbruch der Pandemie. Ende 2021 kamen jedoch neue COVID-19-Infektionswellen, steigende Inflation, erhebliche Unterbrechungen der Lieferketten, politische Unwägbarkeiten in vielen Ländern und anhaltende Arbeitsmarktprobleme hinzu. Der Konflikt in der Ukraine dürfte das globale Wirtschaftswachstum 2022 deutlich bremsen. Verschiedene Schocks sorgen dafür, dass eine robuste wirtschaftliche Erholung, von der auch die ärmsten Länder profitieren könnten, nicht geschieht. Wirft man einen kurzen Blick auf einige ökonomische Kennziffern, wie die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), mag zwar ein leichter Zuwachs pro Kopf weltweit von Jahr zu Jahr vorliegen, allerdings verlangsamt sich die Wachstumsrate vieler Entwicklungsländer und entfernt sich weiter von dem für 2030 festgelegten Wachstumsziel von 7 Prozent. Sinkende Arbeitsproduktivität, ein anhaltender Mangel an menschenwürdigen Arbeitsplätzen und steigende Arbeitslosenzahlen lassen den Lebensstandard aufgrund niedrigerer Löhne insgesamt sinken. Die Weltwirtschaftslage verbessert sich insgesamt langsam, doch die Erholung bleibt insgesamt fragil und ungleichmäßig. Vor allem die ärmsten Länder verzeichnen keinen Fortschritt und können damit nicht von einer verbesserten wirtschaftlichen Lage profitieren. Wenn wir die Idee der Agenda 2030 umsetzen wollen, dürfen wir aber niemanden zurücklassen (»Leave No one Behind«). Dieser ungleichmäßige Fortschritt fordert deshalb von uns allen ein Umdenken und endlich ein Umsteuern unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit zu fördern. Für uns Gewerkschaften ist menschenwürdige Arbeit einer der Schlüssel zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum, um Menschen auf Dauer wirtschaftliche und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Dafür setzen wir uns Tag für Tag in unserer Arbeit, national, europäisch und international ein. Wir machen uns für eine globale Agenda stark, in der Menschenrechte und Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern respektiert werden. Menschenwürdige Arbeit »Decent Work« bedeutet für uns Arbeit mit guten Arbeitsbedingungen, die Arbeits- und Gesundheitsschutz achten, in der es gerechte

Löhne für gute Arbeit gibt, in der Kinder- und Sklavenarbeit verbannt sind und staatliche Sozialpolitik die Lebensrisiken der abhängig Beschäftigten — auch und gerade in den ärmeren Ländern — absichert, weshalb es aus unserer Sicht eine universelle soziale Absicherung geben muss (»Universal Social Protection«).

Globale Schocks wie die COVID-19-Pandemie haben nicht nur gezeigt, wie anfällig unser Wirtschaftssystem ist, auf das wir jahrelang gesetzt haben. Wir sind immer stärker in Abhängigkeiten von Ländern mit autokratischen Systemen geraten. Wir haben auf die Produktion essenzieller Waren, Güter und Bestandteile in anderen Teilen der Welt vertraut. Kosten, Gewinne und marktliberale Argumente haben diese Politik des ewigen Wachstums gelenkt.

Welche Auswirkungen beispielsweise die Unterbrechung der Lieferketten auf Produktion, Verfügbarkeit von Produkten und Gütern hat, hat sich uns sehr deutlich gezeigt. In vielen Branchen gab und gibt es empfindliche Verzögerungen, weil die Produktion dringend benötigter Teile ausschließlich in anderen Teilen der Welt stattfand. Das hat auch heimische Arbeitsplätze gefährdet. Wir haben zusätzlich durch dieses System akzeptiert, dass Waren und Güter zu nicht akzeptablen Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hergestellt werden. Seit langer Zeit haben wir Gewerkschaften darauf aufmerksam gemacht, dass es sich vor allem innerhalb der Lieferketten zumeist um Arbeitsplätze mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen handelt. Lieferketten haben insbesondere auch ein weibliches Gesicht in der Textilbranche, wo Frauen überrepräsentiert sind und unter mehr als prekären Umständen Textilwaren fertigen. Insofern bedeuten menschenwürdige Arbeitsbedingungen in Lieferketten auch, dass wir das Nachhaltigkeitsziels 5 umsetzen, um endlich Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte von Frauen zu sichern. Dass Lieferketten Teil eines zukunftsorientierten, nachhaltigen Wirtschaftsmodells sind, wird also kaum noch jemand behaupten wollen.

Wenn wir als Weltgemeinschaft unser Versprechen, dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle zu fördern, einlösen wollen, brauchen wir jetzt ein Umsteuern. Aus

Sicht der Gewerkschaften können wir gemeinsam mit Politik, multinationalen Institutionen und gesellschaftlichen Kräften unseren Beitrag leisten, die Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle zu schaffen. Dazu gehören qualitativ hochwertige Arbeitsplätze, die die Wirtschaft stimulieren und gleichzeitig dem Klimawandel gerecht werden. Wir brauchen Arbeitsplätze, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne und eine soziale Absicherung bieten, um Menschen auf Dauer wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe zu garantieren.

Neben nachhaltigen Wertschöpfungsketten, die eine resiliente Produktion gewährleisten und vor allem menschenwürdige Arbeitsplätze hervorbringen, müssen alle Akteure ihren Teil der Verantwortung anerkennen, um die Umsetzung des Nachhaltigkeitsziels 8 im Rahmen der Agenda 2030 Realität werden zu lassen.

In Deutschland haben wir bereits einen ersten Meilenstein erreicht, der zeigt, dass Umsteuern im Sinne von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich ist. Um das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz haben wir lange gekämpft. Seit Januar 2023 ist es nun in Kraft. Es ist ein erster Schritt für mehr Verantwortung der Unternehmen für die Arbeitsbedingungen in der gesamten Lieferkette. Es ist zum einen ein historischer Erfolg für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten Mal wird unternehmerische Verantwortung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.

Damit endet die Verantwortung nicht mehr vor dem Werkstor. Zum anderen ist es ein historischer Erfolg für die Mitbestimmung als direktem Demokratieprinzip im Betrieb, die die Kolleginnen und Kollegen mit konkreten Mitsprache- und Gestaltungsrechten ausstattet. Zudem setzt das Gesetz auf einen Berichtsmodus, Kontroll- und Überprüfungsmechanismen inklusive Sanktionen. Damit können wir die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen in den Lieferketten absichern und verbindliche Standards für globale Lieferketten in nationalem Recht schaffen. Als Gewerkschaften sind wir überzeugt, dass wir unsere Ziele für nachhaltige Wertschöpfungsketten und resiliente Produktion im globalen Kontext nur erreichen, wenn wir globale Antworten geben. Das bedeutet, wir brauchen zusätzlich auf europäischer Ebene und auf globaler Ebene verbindliche Regelungen und Instrumente, die einen Mindestarbeitsstandard für Menschen in Lieferketten absichern. Mit ihrem Vorschlag für ein europäisches Lieferkettengesetz hat die Europäische Kommission einen wichtigen Impuls auf europäischer Ebene gesetzt. Bis Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergehen können, auch innerhalb Europas von verbindlichen Standards profitieren zu können, werden wir noch einige Anstrengungen unternehmen müssen. Das Verfahren im Rahmen des europäischen Prozesses wird noch einige Zeit dauern.

Während wir in Europa bereits mit den Arbeitgebern über konkrete Entwürfe einer Richtlinie diskutieren und uns gegenüber den europäischen Institutionen für Rechte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Lieferketten einsetzen, werden wir auf globaler Ebene für verbindliche Mindeststandards in Lieferketten noch weiterhin viel politische Überzeugungsarbeit leisten müssen. Unser Ziel muss es sein, einen international verbindlichen Arbeitsstandard zu schaffen, den wir über die Internationale Arbeitsorganisation der UN erreichen können. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass staatliche Investitionen dazu beitragen, dass einerseits bereits bestehende Arbeitsplätze mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen erhalten bleiben. Wir brauchen staatliche Investitionen andererseits, um dafür zu sorgen, dass auf Dauer neue Arbeitsplätze entstehen, die gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne versprechen. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist es, die Transformation im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gestalten. Es geht darum, klimaneutrale Beschäftigung mit guten und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zu schaffen, die nachhaltig unseren Wohlstand sichert und in der Zukunft schafft. Innerhalb der globalen Agenda müssen staatliche Investitionen neu gedacht und der soziale Dialog gestärkt werden. Dies kann nur mit einer Transformationspolitik, die mit strategischen Investitionen aktiv gute Arbeit gestaltet und klare Rahmenbedingungen schafft, gelingen. Dazu gehört, dass Staaten öffentliche Investitionen zwingend an klare Kriterien von Standortentwicklung, Beschäftigungssicherung, Qualifizierungsstrategien und gute Arbeit mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen knüpfen müssen. Für eine neue, globale Agenda, die nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit menschenwürdigen Arbeitsplätzen zum Ziel hat, braucht es aus Sicht der Gewerkschaften ein Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen. Globale Wertschöpfungsketten müssen neu gestaltet werden, staatliche Investitionen müssen für bestehende und neue Arbeitsplätze genutzt werden. Dazu müssen weitere Instrumente effektiver genutzt werden. Handelsabkommen werden auf diesem Weg ein weiterer zentraler Baustein sein. Bilaterale und multilaterale Handelsabkommen sollen aus unserer Sicht nicht nur den Import und Export aller Waren und Güter regeln. Zu Wirtschaftsbeziehungen gehören Rechte und Standards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weltweit zu achten und umzusetzen sind. Klare, durchsetzbare und vor allem sanktionierbare Re-

gelungen zum Schutz von Beschäftigten und der Umwelt sind unverzichtbar. Internationale Standards zu ratifizieren und national umzusetzen, müssen mit dem Abschluss und der Ratifizierung von Handelsabkommen Hand in Hand gehen und sind aus unserer Sicht nicht verhandelbar.

Die Agenda 2030 richtet sich an alle: Staaten, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und jede und jeden Einzelnen. Nur gemeinsam können wir daran arbeiten, strukturelle Missstände abzubauen und für einen Umbau hin zu einer sozial-ökologischen und nachhaltigen Wirtschaftspolitik zu sorgen, die menschenwürdige Arbeit mit guten Arbeitsbedingungen, auch im Sinne des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, sozial abgesichert und gute Löhne und Kollektivabkommen mit freien Gewerkschaften als natürlichen Bestandteil beinhaltet.

Als Gewerkschaften stehen wir an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind ein verlässlicher Partner, wenn es darum geht, gemeinsam mit der Bundesregierung und anderen zentralen Akteuren an der nationalen Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie zu arbeiten. Wir Gewerkschaften sind ein verlässlicher Partner an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und setzen uns für ihre Interessen und Rechte im europäischen und internationalen Kontext ein. Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Das erwarten wir auch von allen anderen Akteuren.

Bis 2030 bleiben uns lediglich noch rund 7 Jahre, um die Ziele der Agenda zu erreichen. Gelingt uns gemeinsam der Wandel hin zu einer nachhaltigen, sozial-ökologischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, haben wir die Chance, die Ziele der Agenda 2030 Realität werden zu lassen, von der Millionen von Menschen profitieren können.

Kulturarbeit zwischen Traumjob und Prekariat

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur; er ist Sprecher der Initiative kulturelle Integration, Mitherausgeber von Zeitzeichen — Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft sowie Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Kulturstiftung des Bundes.

Heinrich Heine und Gerhard Hauptmann beschrieben das Elend der Weber während der Frühindustrialisierung. Emile Zola verarbeitete in seinem eindrücklichen Roman »Germinal« die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den französischen Bergwerken im 19. Jahrhundert. Bertolt Brecht dichtete die Fragen eines Arbeiters beim Bau der bewunderten Werke. Irmgard Keun eröffnete mit »Gilgi, eine von uns« das neue Genre der Romane, die sich mit der Lebenswelt weiblicher Angestellter auseinandersetzen. Die Autoren des »Werkkreis Literatur in der Arbeitswelt« stellten die moderne Arbeitswelt mit ihren Zwängen und Anforderungen in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Emine Sevgi Özdamar gehört zu den ersten Autorinnen und Autoren, die vom Leben der sogenannten Gastarbeiter in Deutschland erzählten. Gün Tank zeichnet in ihrem Roman »Die Optimistinnen« das Leben von sogenannten Gastarbeiterinnen aus der Türkei und Spanien nach, die in Wohnheimen lebten und selbstbewusst und engagiert für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Viele weitere Beispiele von Autorinnen und Autoren könnten angeführt werden, die sich in ihrem Werk mit der Arbeitswelt, den Arbeitsbedingungen und vor allem auch den Lebensbedingungen arbeitender Menschen auseinandersetzten. Literatinnen und Literaten, die sich mit ihrem Werk für menschenwürdige Arbeit einsetzen, die Arbeiterinnen und Arbeitern ein Gesicht und eine Geschichte geben. Arbeit, Arbeitswelt, Arbeitsbedingungen sind seit spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ein Motiv in der Literatur, und sie sind seit diesem Zeitpunkt auch Ausdruck von Emanzipation. Doch wie sieht es mit der Darstellung künstlerischer Arbeit aus? Künstlerromane, wie z. B. Goethes »Wilhelm Meister« oder auch Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich«, thematisieren die innere Auseinandersetzung der Künstler-Protagonisten mit ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage, sie sind aber keine Werke über Kunst als Arbeit. Fast schon sprichwörtlich ist Carl Spitzwegs Bild vom »Armen Poeten« oder Giacomo Puccinis »La Bohème«. Im Mittelpunkt von Gabriele Tergits Roman »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« steht der Volkssänger Georg Käsebier, der von den Zeitungen erst hochgeschrieben und schnell wieder fallen gelassen wurde. Heute könnte man sagen, er ist eine erste, höchst amüsante und lesenswerte Abrechnung mit der Kulturund Kreativwirtschaft — insbesondere der Werbewirtschaft.

Trotz dieser und einiger weiterer Beispiele in der Literatur, der Bildenden Kunst, im Film oder im Theater ist das Thema menschenwürdige Arbeit in der Kultur eher eine Randerscheinung in der Kunst. Und auch die Künstlerinnen und Künstler, die sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen, werden — abgesehen von den gewerkschaftlich hoch organisierten Orchestermusikerinnen und -musikern — von den Kolleginnen und Kollegen oft eher mit Staunen angesehen, als das ihnen Wertschätzung entgegengebracht wird. »Verbandskünstlerinnen und -künstler« heißt es oft hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand.

Dennoch, Kunst ist Arbeit. In Kultureinrichtungen und -unternehmen wird gearbeitet. Menschenwürdige Arbeit für alle bedeutet auch menschenwürdige Arbeit in Kunst und Kultur. Gleichwohl muss gesehen werden, dass insbesondere die Kunstproduktion besonderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.

Hohe intrinsische Motivation

Wer einen Berufsweg im Kunst-, Kultur- oder Mediensektor einschlägt, hat sehr oft eine hohe intrinsische Motivation. Dies gilt nicht nur für die künstlerische Arbeit im engeren Sinne, sondern ebenso für diejenigen, die in der Administration, in der Technik oder im Management tätig sind. Arbeit im Kultur- und Mediensektor ist — wie in

anderen Branchen auch — arbeitsteilig organisiert, und jedes einzelne Gewerk oder jede einzelne Einheit leistet einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen. Das gilt für diejenigen, die die Bühne aufbauen, ebenso wie für die, die für Licht und Ton zuständig sind, das trifft auf jene zu, die die Texte lektorieren genauso wie für jene, die gestalten, das gilt für jene, die eine Ausstellung aufbauen, ebenso wie für die, die die Rahmen bauen. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Werden nur die abhängig Beschäftigten betrachtet und davon nur diejenigen, die in der höchsten Qualifikationsstufe, den sogenannten Spezialisten, tätig sind, fällt auf, dass sie weniger verdienen als die abhängig Beschäftigten in anderen Berufen (Schulz 2020, S. 233 f.). Das Geld lockt also nicht.

Das Einkommen spielt eine noch deutlich geringere Rolle bei der Berufsentscheidung der selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern, die in der Künstlersozialversicherung versichert sind. Sie haben für 2023 ein Durchschnittseinkommen von 19.988 Euro im Jahr angemeldet. Das gemeldete Durchschnittseinkommen der männlichen Versicherten lag mit 22.439 Euro im Jahr wiederum deutlich über dem der weiblichen mit 17.388 Euro im Jahr. Dabei variiert das Jahresdurchschnittseinkommen je nach Alter und Berufsgruppe ( Wort, Bildende Kunst, Musik, Darstellende Kunst).

Wird die Kultur- und Kreativwirtschaft betrachtet, waren laut Monitoringbericht Kulturund Kreativwirtschaft 2022 (Monitoringbericht 2023) im Jahr 2021 knapp 2 Millionen Erwerbstätige in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig. Die Mehrzahl (56 Prozent) der Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft war sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also angestellt. 12 Prozent der Erwerbstätigen sind Selbstständige, die einen Umsatz über 22.000 Euro im Jahr erzielen. 18 Prozent sind sogenannte Miniselbstständige, die einen Umsatz unter 22.000 Euro im Jahr erreichen. 14 Prozent sind geringfügig Beschäftigte, das heißt, sie haben einen Minijob und verdienten im Untersuchungszeitraum bis zu 450 Euro im Monat.

Die Selbstständigen mit einem Umsatz von mehr als 22.000 Euro im Jahr stellen demnach die kleinste Gruppe an Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Dieses Verhältnis aus dem Jahr 2021 ist kein Sonderfall, sondern zieht sich durch die bisher vorgelegten Monitoringberichte Kultur- und Kreativwirtschaft durch.

Das heißt, unabhängig davon ob die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten betrachtet werden oder die solo-selbstständigen in der Künstlersozialkasse Versicherten oder die Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft: Die Umsätze und daraus folgend die Einkommen sind im Durchschnitt eher gering. Dies schließt nicht aus, dass einige wenige Stars sehr gut und viel verdienen. Sie bilden aber die Ausnahme und nicht die Regel.

Daraus folgt zum einen, dass diejenigen, die sich für einen Berufsweg in Kunst und Kultur entscheiden, eine, wie oben ausgeführt, hohe intrinsische Motivation mitbringen. Zum anderen bleibt eine angemessene Vergütung bzw. Entlohnung eine Daueraufgabe für den Kultur- und Mediensektor. Denn auch wer mit Leidenschaft bei der Arbeit ist, muss dennoch seinen Kühlschrank füllen und die Miete bezahlen.

Eine Chance zur Verbesserung der Situation ist die Einführung von Basis-Honoraren, die nach dem Corona-Schock von einigen Bundesländern auf den Weg gebracht werden. Die Kulturministerkonferenz hat hierzu eine Matrix verabschiedet, die eine Orientierung bietet. Sie muss nun mit konkreten Entgelten gefüllt werden, hierfür sind Verhandlungen zwischen den Bundesländern und den Verbänden bzw. Gewerkschaften der Künstlerinnen und Künstler erforderlich. Es kann sein, dass die Einführung von Basishonoraren, zunächst bedeutet, dass weniger Kulturprojekte öffentlich gefördert

werden, diejenigen aber eine auskömmlichere Förderung erhalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine solche — hoffentlich kurze — Phase durchgestanden werden muss, denn es kann nicht sein, dass eine unzureichende Kulturförderung letztlich auf dem Rücken der Künstlerinnen und Künstler ausgetragen wird. Darüber hinaus kann es unter Umständen auch anders kommen. Bei der Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015 wurde das Menetekel an die Wand gemalt, dass Millionen von Jobs verloren gingen. Dieses ist keineswegs eingetreten.

Gute Arbeitsbedingungen

Menschenwürdige Arbeit erschöpft sich aber nicht in einer adäquaten Bezahlung. Zu menschenwürdiger Arbeit gehören auch die Arbeitsbedingungen und -beziehungen. Sie unterliegen im Kultur- und Medienbereich teilweise besonderen Bedingungen. So arbeiten im Theater, im Konzerthaus, auf Bühnen und auf Festivals die Menschen oftmals dann, wenn andere Freizeit haben. Ähnlich anderen Branchen, wie etwa der Gastronomie oder auch im Krankenhaus oder Pflegeeinrichtungen, weichen in Teilbereichen des Kultur- und Mediensektors die Arbeitszeiten deutlich von einem Normalarbeitsverhältnis an 5 Tagen die Woche mit geregelten Arbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr ab. Wer einen Beruf in einem der erwähnten Kulturbereiche wählt, lässt sich auf besondere Arbeitsbedingungen ein. Arbeitsbedingungen, die neben den speziellen Arbeitszeiten oftmals von spezifischer, auch körperlicher Nähe geprägt sind. Gepaart mit der geschilderten hohen intrinsischen Motivation und Genie-Vorstellungen kann dies zu extrem aufgeladenen Situationen führen. Berichte über toxische Arbeitsatmosphären, über Machtmissbrauch und auch über sexuelle Übergriffe bzw. Belästigung müssen sehr ernst genommen werden. »Respektvoll Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien« unter dieser Überschrift hat der Deutsche Kulturrat im Juni 2023 einen Dialogprozess innerhalb des Kultur- und Mediensektors gestartet. Unter seiner Moderation soll ein Verhaltenskodex für das Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien von den Verbänden der Künstlerinnen und Künstler, der Kultureinrichtungen, der Kulturunternehmen und der Kulturvereine stattfinden. Der Prozess selbst ist ein Teil der Auseinandersetzung mit dem Thema. Konkret wird es unter anderem um die Frage gehen, ob der Kultur- und Mediensektor besonders anfällig für Machtmissbrauch ist, und falls dies bejaht wird, mithilfe welcher Stellschrauben der Machtmissbrauch eingegrenzt werden kann. Denn eines ist klar, mit menschenwürdiger Arbeit sind Machtmissbrauch oder auch toxische Arbeitsatmosphären nicht vereinbar.

Arbeitskräftemangel

Darüber hinaus liegt es im ureigensten Interesse des Kunst-, Kultur- und Mediensektors gute Arbeitsbedingungen anzubieten. Der Arbeitskräftemangel angesichts des demografischen Wandels und des anstehenden Ausscheidens der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben wird auch den Kunst-, Kultur- und Mediensektor betreffen. Schon jetzt konkurrieren Kultureinrichtungen in den eher technisch ausgerichteten Arbeitsbereichen mit Unternehmen aus der Privatwirtschaft der verschiedenen Wirtschaftszweige und sind teilweise schon mit Blick auf die Bezahlung, beispielsweise in den IT-Berufen, nicht konkurrenzfähig. Hier wird es darauf ankommen, sich als attraktiver Arbeitgeber mit anderen positiven Aspekten, wie z. B. einem guten Arbeitsumfeld, zu präsentieren. Ferner gilt es, das noch vorhandene Arbeitskräftepotenzial zu heben. Hierzu zählt beispielsweise, Menschen mit Behinderungen in stärkerem Maße Chancen im Arbeitsmarkt Kultur und Medien zu bieten (Zimmermann 2023). Die

Mehrzahl der Behinderten ist hochmotiviert. Vielen Kulturbetrieben, egal ob öffentlich gefördert oder privatwirtschaftlich, fehlt aber oftmals das Wissen über die beruflichen Kompetenzen von Behinderten sowie die möglichen Unterstützungsmaßnahmen, die bei Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt unter Umständen in Anspruch genommen werden können. Der Deutsche Kulturrat führt daher derzeit zusammen mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, eine Werkstattreihe zusammen mit Behindertenverbänden und Selbsthilfeorganisationen durch, um Teilhabeempfehlungen für den Kultur- und Medienbereich zu erarbeiten. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt Kultur und Medien wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

Ein dickes Brett

Das Eintreten für menschenwürdige Arbeit im Kunst-, Kultur- und Medienbereich hat viele Facetten — angefangen von der Bezahlung über die Arbeitsbedingungen bis zur Inklusion — und ist das sprichwörtliche dicke Brett. Dieses dicke Brett zu bohren ist im Sinne des Nachhaltigkeitsziels 8 »Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum« eine Verpflichtung, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.

Literatur

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2022. Studie erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Berlin 2023

Schulz, Gabriele (2020): Arbeitsmarkt Kultur. Ausbildung, Arbeitskräfte, Einkommen. In: Schulz, Gabriele; Zimmermann, Olaf: Frauen und Männer im Kulturmarkt. Bericht zur sozialen und wirtschaftlichen Lage. Berlin

Zimmermann, Olaf (2023): Künstlerische Qualität und Behinderung schließen sich nicht aus. In: Zimmermann, Olaf: Mein Kulturpolitisches Pflichtenheft. Berlin, S. 68—69

Eine widerstandsfähige

Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige

Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen

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Industrie, Innovation und Infrastruktur

Die EWSA-Arbeit im Spiegel der UN-Nachhaltig- keitsziele

Hans-Peter Klös ist stellvertretendes Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss; er war Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft am Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Sandra Parthie ist Vorsitzende des Binnenmarktausschusses im Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss und Leiterin des Brüsseler Büros des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Worum es geht

In den letzten beiden Dekaden hat sich eine Debatte um das Verhältnis von Wachstum und Wohlstand entwickelt, die neue Konzepte, Indikatoren und Zielbündel für die Beurteilung des wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Wohlergehens der Bevölkerung hervorgebracht hat. Nahezu keine nationale ministerielle Agenda kommt mehr ohne Monitoring und Assessment ihrer Maßnahmen mit Bezug auf die 2015 vereinbarten 17 Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals, SDGs) aus. Die EU legt sogar einen jährlichen SDG-Monitoring Report vor. Verstärkt wird diese Entwicklung auch vom deutlichen Wunsch in der europäischen Bevölkerung nach mehr Klimaschutz und ökologischer Nachhaltigkeit:

1. Eine Eurobarometer-Umfrage aus dem Sommer 2021 zeigt, dass der Klimawandel nach Ansicht der europäischen Bürgerinnen und Bürger das schwerwiegendste Problem ist, vor dem die Welt steht.

2. Eine Befragung von jungen Menschen in 45 Ländern, die zwischen 1983 und 1994 (Millennials) und 1995 bis 2003 (Generation Z »GenZ«) geboren wurden, zeigt, dass ihnen Umwelt- und Klimaschutz und Fragen von Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Wachstum gleichermaßen wichtig sind.

Auch für Führungskräfte der Wirtschaft steht der Klimawandel trotz zahlreicher anderer und neuer Herausforderungen weiterhin oben auf der Agenda. Zugleich besteht in vielen Organisationen immer noch eine Lücke zwischen der Einsicht in die Dringlichkeit des Themas und der konkreten Einbettung von Nachhaltigkeit in Strategie, operativen Betrieb und Unternehmenskultur.

Im Durchschnitt hat die EU in den letzten 5 Jahren Fortschritte bei der Verwirklichung der meisten Ziele erzielt, bei einigen Zielen mehr als in anderen, und nur in wenigen Bereichen kam es zu leichten Rückschritten. An der Spitze der Verbesserungen rangieren die Ziele »Peace and Justice« (SDG 16), »Poverty« (SDG 1), »Decent work and Growth« (SDG 8) sowie »Affordable and clean Energy« (SDG 7 ).

Dass der SDG-Fortschritt durchaus nicht linear verläuft, kann zum einen auf Präferenzverschiebungen in der europäischen Bevölkerung einerseits und der Politik andererseits zurückgehen. Zum anderen können sich — wie aktuell zu beobachten — die geopolitische und die energiepolitische Lage in der EU drastisch verändern. Schon im letzten europäischen SDG-Fortschrittsbericht wurde betont, dass diese Krisen »ein großer Rückschlag für die SDGs und die menschliche Entwicklung auf der ganzen Welt« seien. Zudem würden die globalen Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine »höchstwahrscheinlich sogar die bisher erzielten Fortschritte zunichtemachen«. Noch gar nicht umfassend abzusehen ist schließlich, inwiefern sich im Zuge dieser Zeitenwende die Zielhierarchie der 17 SDGs untereinander und deren Zielkonflikte zueinander verändern werden.

Als Vertretung der Sozialpartner, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), eine der Gründungsinstitutionen der EU, eine besondere Rolle als Stimme der Zivilgesellschaft. Er sieht sich den SDGs besonders verpflichtet und schuf daher eine »Beobachtungsstelle für Nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Development Observatory). Sie ist das einzige Gremium innerhalb der EU-Institutionen, das

sich ausschließlich damit befasst, sektorübergreifende Nachhaltigkeitsmaßnahmen voranzubringen. Durch öffentliche Anhörungen, Konferenzen, Workshops, aber auch durch ihre Beiträge zu den EWSA-Stellungnahmen bietet sie eine einzigartige Plattform, die Menschen und Organisationen aus verschiedensten Fachgebieten und gesellschaftlichen Gruppen zusammenführt und verbindet. Ihre Mitglieder arbeiten mit ähnlichen Einrichtungen in den EU-Mitgliedstaaten, aber auch außerhalb Europas zusammen. Auch durch diese Beobachtungsstelle setzt sich der EWSA dafür ein, die grundlegenden SDG-Prinzipien unter anderem der sozialen Inklusion, der sauberen Energie, des verantwortungsvollen Energieeinsatzes, eines nachhaltigen Konsums und eines allgemeinen Zugangs zu Rechtsstaatlichkeit und öffentlichen Dienstleistungen zu verwirklichen.

Nicht alle 17 SDGs haben in und für die EU dieselbe strategische Bedeutung. Um die Nachhaltigkeitswende in Europa voranzutreiben, haben die Beobachtungsstelle und der EWSA sich für die prioritäre Verfolgung einiger Ziele entschieden: ein gerechter Übergang zu einer Niedrigemissions-, Kreislauf- und ressourceneffizienten Wirtschaft; der Wandel hin zu einer sozial inklusiven Gesellschaft und Wirtschaft mit menschenwürdiger Arbeit und Menschenrechten; der Wandel hin zu Nachhaltigkeit in Nahrungsmittelerzeugung und -verbrauch; Investitionen in Innovation, die langfristige Infrastrukturmodernisierung und die Förderung nachhaltiger Unternehmen, der Beitrag des Handels zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung. Hauptinstrument zur Beeinflussung der politischen Agenda der EU sind für den EWSA seine Stellungnahmen zu den Gesetzesvorschlägen der EU-Kommission sowie eigeninitiativ und in Abstimmung mit den Sozialpartnern ermittelte Prioritäten.

Doch der EWSA vertraut nicht nur auf Papier. Für eine bessere Sichtbarkeit, auch der Aktivitäten rund um die SDGs, setzt der Ausschuss auf vielfältige Formate und schreibt beispielsweise einen »EU Organic Award« aus, bei dem die besten und innovativsten Akteure im Bereich der ökologischen/biologischen Produktion in der EU prämiert werden. 2017 richtete der EWSA gemeinsam mit der Europäischen Kommission eine »European Circular Economy Stakeholder Platform« ein, die den diversen Projekten aus dem Bereich der Kreislaufwirtschaft eine Bühne, mehr Sichtbarkeit sowie Möglichkeiten zum Austausch bietet. Sie unterstützt UN-Projekte wie den »Youth Visual Call«, der gerade junge Menschen motivieren will, sich über Nachhaltigkeit auf kreative Art und Weise Gedanken zu machen, oder die jährlich stattfindende »Circular Week«. Der EWSA ist bestrebt, seine Reichweite in die europäische Zivilgesellschaft, aber auch zu den europäischen politischen Entscheidungsträgern zu nutzen, um auf gute Projekte und Ideen aufmerksam zu machen, als Sprachrohr für europäische Akteure im Bereich der Nachhaltigkeit zu dienen und vielversprechende Initiativen sichtbarer zu machen. Damit ist er ein Transmissionsriemen, der die SDGs von den »Grass Roots« bis in die Spitzen der Politik hinein bewirbt und aktiv voranbringt.

Leitplanken der ESG-Arbeit des EWSA

Zur Orientierung für seine SDG-Arbeit kann der EWSA auf 5 grundsätzliche Leitplanken vertrauen: Leitplanke 1 ist die klare Grundhaltung, dass sich ein nachhaltiges und generationengerechtes Wachstum am ehesten durch eine marktwirtschaftliche Politik erreichen lässt. Gestützt auf international vergleichende Daten wird deutlich, dass das Wirtschaftsordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft eine gute Ausgangsposition bietet, um den transformativen Strukturwandel hin zu einer ressourcenschonenderen Produktion erfolgreich zu meistern. Bei einem internationalen Vergleich der 17

Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen für 164 Länder rangieren zahlreiche europäische Länder auf vorderen Rängen, sowohl beim Niveau als auch bei der Veränderung. Dies gilt namentlich mit Blick auf die SDG-Zielbündel, die sich unter den Rubriken Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit subsumieren lassen. Interessanterweise gibt es dabei zwischen sozialer Gerechtigkeit und einem freiheitlichen Ordnungsrahmen einen positiven Zusammenhang (siehe Leitplanke 5). Zudem zeigt sich, dass Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in der Regel Hand in Hand gehen: Mit Ausnahme der USA bieten Länder, die über einen hohen materiellen Wohlstand verfügen, zugleich mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Auch diesbezüglich hat Europa in der vergangenen Dekade den größten Fortschritt aller Länderblöcke aufzuweisen.

In einem marktwirtschaftlichen Rahmen ist als Leitplanke 2 essenziell, dass der derzeitige materielle Wohlstand nicht auf eine fehlende Bepreisung des Naturverbrauchs zurückgehen darf. Ansonsten würde eine negative intertemporale Externalität erzeugt, die zu einer Lastverschiebung in die Zukunft führt, deretwegen zukünftige Generationen einen zunehmend höheren Preis bezahlen müssten. Dahinter steht als normative Referenz das sogenannte »goldene Wachstum«, eine intergenerationale Balance zwischen Gegenwartskonsum und Zukunftsinvestition. Dieser Gedanke der intergenerationalen Nachhaltigkeit ist der »Goldenen Regel der Kapitalakkumulation« entlehnt, einer makroökonomischen Regel für nachhaltiges Wachstum, nach der im Optimum die volkswirtschaftliche Investitionsquote der volkswirtschaftlichen Gewinnrate entsprechen sollte. Anders formuliert sollte eine Generation gerade jenen Teil ihres Einkommens für die zukünftige Generation investieren, den auch die vorangegangene für die jetzige Generation investiert hat.

Auch bei einem breiter angelegten Nachhaltigkeitskonzept bei der Wohlstandsmessung bleibt als Leitplanke 3 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) die wichtigste Messgröße zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit und des Wohlstandsniveaus einer Volkswirtschaft. Um diese zentrale Größe herum kann ein Satellitensystem aus unterschiedlichen Indikatoren zu 3 Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung gruppiert werden, das sich aus ökonomischer Nachhaltigkeit (Profit), sozialer Nachhaltigkeit (People) und ökologischer Nachhaltigkeit (Planet) zusammensetzt. Dieser Ansatz ist mit der SDG-Betrachtung kompatibel und zeigt eine sehr enge Korrelation zwischen alternativen Wohlfahrtsindikatoren wie dem »Human Development Index« oder dem »Better Life Index« einerseits und dem BIP pro Einwohner andererseits auf. Das BIP pro Einwohner ist damit neben seinen empirischen Vorteilen auch ein guter Indikator für den Wohlstand eines Landes und die Lebensqualität der Bürger. Der SDGAnsatz stellt jedoch solche Erkenntnisse bisher noch nicht unbedingt in den konzeptionellen Mittelpunkt.

Leitplanke 4: Konzeptionelle Weiterentwicklungen der 17 SDG-Oberziele mit ihren 169 Teilzielen und mit 232 Indikatoren sind hilfreich für eine analytische Annäherung an den Zusammenhang zwischen der SDG-Performance und einer wirtschaftlichen Performance durch eine Fortschrittsmessung bei den SDGs. Durch diese starke Datenbasierung können Zielerreichungsgrade gemessen und grafisch sehr eingängig verdichtet werden. Allerdings stößt das Konzept auch an seine Grenzen: Die Vielzahl an Zielen sorgt dafür, dass die Maßnahmen und Wege zu mehr Nachhaltigkeit unübersichtlich sind und ein Gesamtbild schwerfällt. Um das Potenzial der SDG-Fortschrittsmessung als Orientierung für die Politik und damit auch für den EWSA zu erhöhen, gibt es deshalb seit kurzer Zeit einen aggregierten SDG-Index, mit dem auch Ländervergleiche bei der Zielerreichung möglich sind. Zudem eröffnet sich damit eine empirisch unter-

legte Offenlegung von Zielkonflikten, indem eine Analyse der positiven und negativen Korrelationen zwischen den einzelnen SDGs vorgenommen werden kann. Eine solche Fundierung kann hilfreich sein, stärker die Opportunitätskosten politischer Entscheidungen und deren Folgekosten zu berücksichtigen.

Leitplanke 5: Durch stärker aggregierte Daten kann die Erreichung von SDGs analytisch mit anders gelagerten Datensätzen verknüpft werden. Kombiniert man die SDG-Zielerreichungsgrade mit Daten zur wirtschaftlichen Freiheit im internationalen Vergleich, so zeigt sich nämlich, dass sich wirtschaftliche Freiheit und Nachhaltigkeit nicht nur nicht widersprechen, sondern dass sie sogar komplementär sind. Danach weisen jene Länder, die laut SDG-Index gute Ausgangsbedingungen haben, um die 17 Ziele zu erreichen, zugleich eine größere gesellschaftliche und unternehmerische Freiheit auf. Umgekehrt tun sich Länder schwer, die stark reguliert sind, also etwa Unternehmen und Gründern weniger Freiheiten gewähren. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit fördern Wohlstand und Nachhaltigkeit jedoch nur, wenn es einen verlässlichen Ordnungsrahmen gibt. Fehlen Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit, Angebote an öffentlichen Gütern, Anreize zur Vermeidung von externen Effekten (wie Luftverschmutzung) sowie politische Stabilität, sind nachhaltige Investitionen und wirtschaftliche Tätigkeiten sehr risikoreich, unattraktiv und vor allem nur auf kurzfristige Rentabilität ausgerichtet. Diese Erfolgsfaktoren gesellschaftlicher Beteiligung und wirtschaftlicher Prosperität sind aber letztlich alles Grundsätze einer regelbasierten marktwirtschaftlichen Ordnung europäischer Provenienz.

Ausblick

In seiner Rolle als Stimme der europäischen Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wird auch der EWSA von der Zeitenwende erreicht, die zu veränderten Präferenzen für unterschiedliche Ziele führen können, wie sie in den SDGs formuliert sind. Es ist evident, dass sowohl innerhalb eines SDGs wie auch zwischen den einzelnen SDGs je nach ökonomischer Situation in unterschiedlicher Intensität und Dringlichkeit auch Ziele angestrebt werden können, die keinen direkten ökonomischen Bezug aufweisen, wie etwa SDG 11 (Sustainable Cities and Communities) oder SDG 17 (Partnerships for the Goals), oder die in einem potenziellen Zielkonflikt zueinanderstehen, wie etwa SDG 10 (Reduced Inequality) und SDG 13 (Climate Action), wie dies gerade aktuell im Zuge der rapiden Energieverteuerung und deren negativen Verteilungswirkungen beobachtet werden kann. Zudem wirft der Ausbruch eines Krieges in Europa auch die Frage auf, ob die bisherigen SDGs diesen Punkt angemessen abzubilden in der Lage sind. Hier bietet der EWSA einen Rahmen bzw. eine Plattform für einen strukturierten Austausch über sich verändernde Zielsetzungen und Prioritäten in der Gesellschaft. Er ist zugleich Spiegel und Sprachrohr der verschiedenen Gruppen gegenüber der europäischen Politik. Denn letztlich bleibt es in einem demokratischen System die Aufgabe der Politik Wählerpräferenzen nicht nur mitzugestalten, sondern ihnen auch im politischen Handeln Rechnung zu tragen. Wenn beispielsweise Klimaschutz in der Zielpriorisierung der Bevölkerung deutlich nach oben rückt, dies aber ökonomische Konsequenzen in Form höherer CO₂-Preise oder auch sinkenden Realeinkommen nach sich zieht, so hat dies sicherlich Auswirkungen auf die Zielhierarchie im SDG-Kontext. Im Kern führen diese potenziellen Trade-offs zur gerade in der EU stets gestellten Frage nach dem Verhältnis zwischen Wachstum, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einerseits und den 3 Nachhaltigkeitsdimensionen »ökonomisch«, »sozial« und »ökologisch« andererseits.

Letztlich handelt es sich bei beiden Zieldreiecken um komplementäre Ziele, die im politischen Handeln in Einklang miteinander und Balance zueinander gebracht werden müssen. Der EWSA kann und wird hier weiterhin seinen Beitrag dazu leisten, wie diese Balance bestmöglich erreicht werden kann.

Die Bedeutung ländlicher Räume für eine Nachhaltig - keitstransformation

Prof. Dr. Manfred Miosga ist Professor in der Abteilung Stadt- und Regionalentwicklung der Universität Bayreuth; er ist Präsident der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum e. V.; zuvor war er Berater für Stadt- und Regionalentwicklung.

Lisa Maschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Stadt- und Regionalentwicklung am Geographischen Institut der Universität Bayreuth; zuvor war sie Beraterin für kommunale Nachhaltigkeitsentwicklung.

1  vgl. Ashkenazy, Amit; Calvão Chebach, Tzruya; Knicke, Karlheinz; et al. (2018): Operationalising resilience in farms and rural regions — Findings from fourteen case studies. In: Journal of Rural Studies 59, S. 211—221

2  /  4  vgl. Meyer, Michelle A. (2016): Climate Change, Environment Hazards and Community Sustainability. In: Shucksmith, Mark; Brown, David L. (Hg. ): Routledge International Handbook of Rural Studies. Abingdon, S. 334—335

3  Freidhager, Rudolf; Schöppl, Georg (2019): Herausforderungen multifunktionaler Waldbewirtschaftung im Klimawandel. Modellfall österreichische Bundesforste. In: Sihn-Weber, Andrea; Fischler, Franz (Hg. ): CSR und Klimawandel: Unternehmenspotenziale und Chancen einer nachhaltigen und klimaschonenden Wirtschaftstransformation, S. 314

Mit den Globalen Nachhaltigkeitszielen hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und sich für menschenwürdige Lebensbedingungen weltweit einzusetzen. Die Agenda 2030 unterstreicht die gemeinsame Verantwortung und die Handlungsnotwendigkeit auf allen räumlichen Ebenen. Wie schon in der vorausgehenden Agenda21 werden auch in den SDGs Städte und Gemeinden besonders adressiert. Während das Ziel nachhaltiger Städte explizit genannt wird (SDG 11), sucht man hingegen eine direkte Ansprache der ländlichen Räume in den 17 Hauptzielen der Vereinten Nationen vergeblich. Dabei fallen viele der formulierten Zielsetzungen und Handlungsaufträge direkt oder indirekt in den Verantwortungsbereich ländlicher Räume und ihrer Kommunen. Dies betrifft insbesondere die Ziele zum Klimaschutz und dem Erhalt der Ökosysteme (SDG 13, SDG 14, SDG 15). Aber auch Trinkwasserschutz (SDG 6) und der Ausbau erneuerbarer Energien (SDG 7 ) sind vor allem in ländlichen Räumen zu verorten. Von Armut betroffene Bevölkerungsteile leben auch in ländlichen Räumen (SDG 1), in Ländern des Globalen Nordens ebenso wie in denen des Globalen Südens ( Woods 2011a). Auch die zur Bekämpfung des Hungers (SDG 2) notwendige Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung der ( Welt-)Bevölkerung findet zuvorderst durch die Landwirtschaft in den ländlichen Räumen statt.

Gornott, Christoph; Graß, Rüdiger (2022): Klimawandel. In: Wachendorf, Michael; Bürkert, Andreas; Graß, Rüdiger (Hg. ): Ökologische Landwirtschaft. Stuttgart, S. 237

Gleichzeitig sind rurale Räume existenziell von den Folgen der zunehmend existenziell bedrohlichen Krisen, wie der ungebremsten Erderhitzung, der zunehmenden Destabilisierung der Biosphäre durch das beschleunigte Artensterben, Bodendegradation und Schadstoffeinträge und besonders von den Folgen der heutigen »imperialen Lebensweise« (Brand und Wissen) betroffen.1 So bilden Land- und Forstwirtschaft, Tourismus und Rohstoffabbau nach wie vor die tragenden Wirtschaftszweige der ländlichen Ökonomien. Die Abhängigkeit dieser Sektoren von intakten lokalen Ökosystemen macht ländliche Räume besonders vulnerabel für die Folgen der existenziellen ökologischen Krisen.² Land- und Forstwirtschaft haben zunehmend mit den Folgen des Klimawandels in Form von Sturmschäden, Starkregen, Waldbränden, Dürren und Schädlingsbefall zu kämpfen.3 Ihre Resilienz nimmt mit der Erhitzung und der Verringerung der Artenvielfalt deutlich ab, Schadstoffeintrag und Bodendegradation und -versiegelung zerstören dauerhaft ihre Grundlagen. Gleichzeitig stehen ländlichen Gemeinden meist weniger finanzielle Mittel für den Aufbau lokaler Gegenstrategien zur Verfügung.4

Die Umsetzung der Agenda 2030 erfordert große Transformationsprozesse in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Zur Abwehr der drohenden Klimakatastrophe wird eine Umstellung der energetischen Basis unserer Lebensweise auf erneuerbare Energiequellen in möglichst kurzer Zeit zur drängenden Aufgabe. Um das Artensterben einzugrenzen und die Regeneration natürlicher Lebensräume zu ermöglichen, müssen Landnutzungsmuster geändert und Flächen aus intensiven Nutzungsformen herausgenommen werden. Zur Trinkwassersicherung und zur Verminderung des Schadstoffeintrags in Boden und Gewässer müssen die Methoden der Landwirtschaft verändert, extensiviert und ökologisiert werden. Um die stoffliche Basis der In-

dustrie auf regenerative Rohstoffe umzustellen und die Bioökonomiestrategien vieler Staaten umzusetzen, müssen dafür wiederum nicht nur die entsprechenden Innovationen, sondern auch entsprechende Anbauflächen geschaffen werden. Eine erfolgreiche Verkehrs- und Mobilitätswende erfordert neben der Umstellung der Antriebstechnologie vor allem eine deutliche Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs und den Ausbau von Alternativen im Umweltverbund. Die erforderliche Ernährungswende hin zu einer wesentlich stärker pflanzenbasierten, regionalen und saisonalen Nahrungsmittelversorgung setzt die gesamte Ernährungswirtschaft und mit ihr die Landwirtschaft unter erheblichen Transformationsdruck.

Während nun die konkreten Planungen und die Konkretisierung der Ziele und Vorgaben einer globalen Nachhaltigkeitstransformation in der EU und den Nationalstaaten in den urbanen Machtzentren beschlossen werden, fällt deren Umsetzung folglich besonders stark den ländlichen Regionen und Kommunen zu. Ländliche Räume und ihre Bedeutung für die soziale und ökologische Transformation spielen jedoch in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen meist eine untergeordnete Rolle.

Die Erzeugung sauberer und vor allem erneuerbarer Energien (SDG 7 ) ist eine der Grundvoraussetzungen zur Erreichung der internationalen Klimaziele (SDG 13). Die Sektoren übergreifende Umstellung der energetischen Basis unserer Gesellschaft erfordert nicht nur eine grundlegende Transformation der Energiewirtschaft, vielmehr sind es insbesondere die ländlichen Räume, die die Erzeugung erneuerbarer Energien organisieren müssen. Ländliche Räume verfügen über die erforderlichen Flächenpotenziale für den erforderlichen atemberaubend schnellen Ausbau von Anlagen zur Umwandlung erneuerbarer Energien. Da die räumliche Konzentration und die energetische Dichte erneuerbare Energieträger ( Wasser, Sonne, Wind und Biomasse) viel geringer sind als die der fossilen, werden Energielandschaften entstehen, die nicht nur die Installationen an sich, wie Photovoltaik-Anlagen oder Windparks, beinhalten, sondern auch durch den notwendigen Ausbau der Netzinfrastruktur und Speicher für die gewonnene Energie geprägt werden.5 Der steigende Bedarf nach Landfläche im Zuge der Energiewende führt aber auch zu verschärften Landnutzungskonflikten.6 Stellten landwirtschaftliche Flächen an sich in den vergangenen Jahren schon eine lohnende Investition dar (Lawrence 2016 RLS), verschärft sich die Nachfrage nach Landbesitz im Zuge der Energiewende zunehmend. Neben landwirtschaftlichen Nutzflächen sind oft aber gerade Schutzgebiete besonders geeignet für den Ausbau der Erneuerbaren, wie bspw. der Windenergie.7 Daraus ergeben sich Konflikte zwischen dem Nachhaltigkeitsziel der sauberen und bezahlbaren Energie (SDG 7 ) und dem Schutz der Ökosysteme (SDG 13, 14 & 15).

5  /  10  Megerle, Heidi Elisabeth; Frick, Adrian (2022): Energie(wenden) im Ländlichen Raum: Auswirkungen, Chancen und Risiken am Beispiel von Baden-Württemberg. In: Standort 46 (4), S. 251

6  Langbein, Atidh Jonas; Langner, Sigrun; Müller, Pia (2022): Dörfer im Agrarmeer. Entwurfsperspektiven für eine klimagerechte und lebenswerte Zukunft des Landes. In: Langner, Sigrun; Weiland, Marc (Hg. ): Die Zukunft auf dem Land. Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Bielefeld, S. 580

7  Gailing, Ludger; Röhring, Andreas (2015): Was ist dezentral an der Energiewende? Infrastrukturen erneuerbarer Energien als Herausforderungen und Chancen für ländliche Räume. In: RuR 73 (1), S. 40

8  Woods, Michael (2011 b): Rural Geography: Processes, Responses and Experiences in Rural Restructuring. London

Zudem sind die Forderung nach Ernährungssicherheit und einer nachhaltigen klimaschonenden Landwirtschaft nur durch einen Rückbau der industriellen Landwirtschaft zu erreichen. Seit den Nachkriegsjahren wurde im Zuge der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU ein Anstieg der Nutztierzahlen und die Vergrößerung der bewirtschafteten Fläche pro Hof aktiv durch Subventionen vorangetrieben.8 Mit diesem jahrzehntelangen Pfad des Wachstums und der Ertragsmaximierung in der Landwirtschaft und dem da-

9  Gornott, Christoph; Graß, Rüdiger (2022): Klimawandel. In: Wachendorf, Michael; Bürkert, Andreas; Graß, Rüdiger (Hg. ): Ökologische Landwirtschaft. Stuttgart, S. 236—243

11  Schlump, Christian (2018): Mobilitätsoptionen in ländlichen Räumen. Ökologisches Wirtschaften-Fachzeitschrift, (2), S. 23—24

12  Dangschat, Jens S. (2022): Verkehrswende — sozial und räumlich ausgewogen. In: jmv (14), S. 2

13  ebd. S. 3

14  ebd. S. 4 sowie Schlump, Christian (2018): Mobilitätsoptionen in ländlichen Räumen. Ökologisches Wirtschaften-Fachzeitschrift, (2), S. 23—24

15  Jakob, Michael (2023): Wege zu einer sozial gerechten Verkehrswende — Wie wir Mobilität nachhaltig gestalten können. München, S. 6

mit einhergehenden »Höfesterben« gilt es nun zu brechen. Die Agrarwende erfordert neben physischen Umstrukturierungen vor allem einen kulturellen Wandel der modernen Landwirtschaft und der Konsumentinnen und Konsumenten. Ein Umbau zu ökologisch wirtschaftenden Betrieben und der Erhalt von bäuerlichen Betriebsstrukturen, weg von industriellen Monokulturen und Massentierhaltungen hin zu Hofkreisläufen, Fruchtfolgen und mehr Freiflächen ermöglichen eine Vereinbarkeit von Umweltschutz und Lebensmittelproduktion und eröffnen Räume zum Experimentieren mit Klimawandelanpassungsmaßnahmen in der Landwirtschaft.9 Neben den Flächenbedarfen der Ernährungswende und Energiewende spielen in ländlichen Räumen auch die Interessen des Tourismus und der Erhalt des Landschaftsbildes eine Rolle.10 Die Produktion biogener Rohstoffe im Zuge der Transformation der Industrie zur Bioökonomie erfordert zudem zusätzliche Flächen ebenso wie die erforderliche Regeneration der Ökosysteme und die Re-Stabilisierung der Artenvielfalt für die Ausweitung einer möglichst wenig gestörten Wildnis. Auch die Mobilitätswende zeigt, wie schnell sich eine sozial-ökologische Transformation negativ auf ländliche Räume auswirken könnte. So ist ein Verbot der Verbrennungsmotoren ein längst notwendiger Schritt. Der zudem erforderliche Rückbau des Individualverkehrs stellt die Bevölkerungen ländlicher Räume aufgrund der größeren Distanzen zu Nahversorgungs- und Daseinsvorsorgeeinrichtungen, zu ÖPNV-Anbindungen sowie Kultur- und Weiterbildungseinrichtungen aber vor besondere Herausforderungen. Während Konzepte zur autofreien Stadt zumindest auf Quartiersebene in den urbanen Zentren Wirklichkeit werden, scheinen Visionen autofreier ländlicher Räume undenkbar.11 »Obwohl die stark umweltbelastenden kurzen Fahrten vor allem in ländlichen Räumen mit dem PKW zurückgelegt werden [… ]«. 1² Die große Bedeutung des PKW für die Anwohnenden ländlicher Räume ist auch auf die Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte zurückzuführen. So wurden Autobahn- und Schnellstraßenausbau damit begründet, den ländlichen Räumen einen Anschluss ermöglichen zu wollen. Gleichzeitig verschlechterte sich das ÖPNV-Netz in strukturschwachen Regionen.13 Um bestehende Ungleichheiten zwischen urbanen und ländlichen Räumen nicht zu vertiefen, müssen ländliche Kommunen bei der Entwicklung von nachhaltigen Mobilitätsformen wie CarsharingModellen und dem Aufbau eines kostengünstigen, multimodalen, hybriden ÖPNV mit hoher Taktfrequenz unterstützt werden.14

Die zu entwickelnden Mobilitätskonzepte für ländliche Räume sollten dabei auch soziokulturelle Aspekte bedenken. So erfordert der hohe Stellenwert, den der PKW für viele Menschen in ländlichen Räumen besitzt, nicht zuletzt einen erheblichen kulturellen Wandel. Die Mobilitätswende lediglich zu einer Frage des Antriebes verkommen zu lassen hätte insbesondere für die finanziell benachteiligten Teile ländlicher Bevölkerungen negative Auswirkungen, da Elektroautos nach wie vor höhere Anschaffungskosten bedeuten.15 Auch im Bereich der Mobilität besteht also die Gefahr, im Zuge von Transformationsprozessen räumliche Ungleichheiten zwischen Stadt und Land zu manifestieren oder neue Ungleichheiten innerhalb der ländlichen Regionen und Gemeinschaften zu produzieren.

Aus den zum Teil gegenläufigen Interessen und Flächenbedarfen der diversen Wenden entstehen Nutzungskonflikte, die besonders stark in ländlichen Räumen ausgetragen werden. Die Art und Weise, wie die sozial-ökologische Transformation konkret ausgestaltet wird, entscheidet schließlich darüber, ob sich daraus Chancen oder Risiken für ländliche Räume ergeben und wie die Konflikte bearbeitet werden können. So werden oft die Potenziale eines dezentralen Ausbaus einer klimagerechten Energieversorgung betont, die mit Energiedemokratie und mehr Energiegerechtigkeit einhergehen kann.16 Solche Strukturveränderungen bieten die Chance für Projekte auf kommunaler Ebene, in kommunaler Hand, unter Beteiligung und oder Teilhabe der lokalen Bevölkerung bspw. in Energiegenossenschaften der Bürgerinnen und Bürger oder durch dauerhaft günstige Stromtarife in der Direktvermarktung. Forschungen zeigen, dass Beteiligungs- und Teilhabeformate die Akzeptanz lokaler Projekte wie Windkraft- oder PV-Anlagen in der Bevölkerung deutlich erhöhen.17

Außerdem bedeutet eine Anteilseignerschaft der Bürgerinnen und Bürger höhere regionale Durchschnittseinkommen und steigende kommunale Einnahmen. Insbesondere für landwirtschaftliche Betriebe stellen die Einnahmen aus Energieanlagen durch Pachteinnahmen oder Einspeisevergütungen ein mögliches zweites Standbein dar.18 Allerdings birgt diese Investitionschance für Besitzende von Land und oder Finanzkapital in ländlichen Räumen auch die Gefahr sich verschärfender Ungerechtigkeiten innerhalb ruraler Gemeinschaften.

16  Megerle, Heidi Elisabeth; Frick, Adrian (2022): Energie (wenden) im Ländlichen Raum: Auswirkungen, Chancen und Risiken am Beispiel von BadenWürttemberg. In: Standort 46 (4), S. 250—258

17  vgl. Feddersen, Hauke (2020): Sozial-ökologische Transformationskonflikte im ländlichen Raum. Eine explorative Fallstudie aus konventionssoziologischer Perspektive. CSS Working Paper Series No. 2, Hamburg

Andererseits verfügen ländliche Kommunen, insbesondere in peripheren Räumen, meist nicht über die finanziellen und sozialen Ressourcen, die zum Aufbau partizipativer Projekte in kommunaler Hand notwendig sind. Solche Regionen laufen Gefahr, aufgrund ihrer vorhandenen natürlichen Ressourcen (insbesondere Landflächen und Biomasse) von großen Konzernen ausgebeutet zu werden.19 So wird an zwar nachwachsenden, aber begrenzten Rohstoffen wie Bau- und Brennholz oder anderer Biomasse, bspw. für Biogasanlagen oder Biotreibstoffen, schon jetzt mehr verbraucht, als die bestehenden Ressourcen zulassen.²0 Wenn Projekte in den ländlichen Regionen etabliert werden, die der lokalen Bevölkerung aber weder Mitbestimmungs- oder Gestaltungsmöglichkeiten noch Teilhabemöglichkeiten einräumen, fallen die positiven Effekte für die Region gering aus, während sie die negativen Folgen der Landschaftsveränderung tragen müssen. Dies verdeutlicht, dass die Transformation nicht zwangsläufig zu einem Vorteil für die ländlichen Räume wird. Vielmehr birgt sie die Gefahr, bestehende ungleiche Macht- und Raumverhältnisse zu reproduzieren und neue ungleiche räumliche Entwicklungen, bspw. innerhalb ländlicher Räume zu schaffen. Die Folgen sind erhebliche Akzeptanzprobleme und Widerstände in den ländlichen Räumen gegenüber den notwendigen Transformationsprozessen, die zu einer vertieften Spaltung zwischen Stadt und Land führen können. Die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen sich daher unbedingt aus einer urbanen Perspektive bei der Betrachtung notwendiger und möglicher Transformationsschritte lösen. Nur unter Beachtung der Unterschiedlichkeiten ländlicher Räume, unter Einbezug und Anhörung der lokalen Bevölkerungen und mit einem starken

18  ebd. S. 12

19  O’Sullivan, Kate; Golubchikov, Oleg; Mehmood, Abid (2020): Uneven energy transitions: Understanding continued energy peripheralization in rural communities: In: Energy Policy, Volume 138, 111288

20  IINAS (Internationales Institut für Nachhaltigkeitsanalysen und -strategien) (2021): Kurzstudie: Zukunftsfähige Bioökonomie. Im Auftrag des NABU — Naturschutzbund Deutschland e. V.

21  vgl. Miosga, Manfred (2022): Räumliche Gerechtigkeit. In: Neu, Claudia (Hg. ) (2023): Handbuch Daseinsvorsorge. Ein Überblick aus Forschung und Praxis. Berlin, S. 60—67

Magel, Holger (2016): Räumliche Gerechtigkeit — Ein Thema für Landentwickler und sonstige Geodäten?! In: Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement, Jg. 141, Heft 6, S. 377—383 22  Langbein, Atidh Jonas; Langner, Sigrun; Müller, Pia (2022): Dörfer im Agrarmeer. Entwurfsperspektiven für eine klimagerechte und lebenswerte Zukunft des Landes. In: Langner, Sigrun; Weiland, Marc (Hg. ): Die Zukunft auf dem Land. Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Bielefeld, S. 592

Fokus auf räumliche Gerechtigkeit²1 wird es gelingen, die große Transformation ökologisch und sozial zu gestalten und nicht weitere »abgehängte Versorgungswüsten« in den ländlichen Peripherien zu produzieren.²² Das Erreichen der Globalen Nachhaltigkeitsziele muss daher einerseits mit einer grundsätzlichen Veränderung bestehender Handlungs- und Denkmuster einhergehen; weg von Gewinnorientierung und Wachstum, hin zu Suffizienz und kooperativen Ansätzen. Des Weiteren ist die Weltgemeinschaft zur Umsetzung der SDGs auf die ländlichen Räume angewiesen. Dabei dürfen ländliche Räume weder zum Zweck der politischen und wirtschaftlichen (Macht)Zentren ausgebeutet, noch bei dem Prozess notwendiger Umstrukturierungen im Zuge einer Nachhaltigkeitstransformation vernachlässigt werden. Vielmehr gilt es, bestehende Potenziale in ländlichen Räumen zu erkennen und durch die Anpassung struktureller Rahmenbedingungen, wie etwa eine höhere Finanzausstattung der Kommunen, der Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen und dem Ausbau der Handlungskapazitäten mit der nötigen Gestaltungsfähigkeit auszustatten.

Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern

10 Weniger Ungleichheiten

Wie kann Ungleichheit in Deutschland verringert werden?

Dr. Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands; bevor er 1999 Hauptgeschäftsführer wurde, war er zuerst als Referent und dann als Geschäftsführer für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig.

Die Beantwortung der Frage, wie Ungleichheit in Deutschland verringert werden kann, ist tatsächlich voraussetzungsvoll. Sie setzt nämlich eine Antwort auf die Frage voraus, warum Ungleichheit überhaupt verringert werden muss. Und um welche Ungleichheit es dabei überhaupt gehen soll.

Ungleichheit ist begrifflich meist negativ konnotiert, obgleich sie doch erst einmal etwas unbestreitbar, ja fundamental Schönes ist. Ungleichheit ist Voraussetzung für Verschiedenheit, für Buntes und für Vielfalt. Sie ist wesentlich für eine dynamische Gesellschaft. Ungleichheit im Sinne von Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Lebendigkeit. Sie ist ein Motor für Bewegung. Sie ist eine Kraftquelle. Dies schließt auch soziale Ungleichheit durchaus mit ein. Es ist die Frage, wie und wo ich wohne, mit wem ich mich umgebe, aber auch, über welche Ressourcen ich verfüge, oder — einfach: wie ich lebe. Es geht um Lebensumstände und Lebensentwürfe.

Grundvoraussetzung für ein solch positives Verständnis von Ungleichheit ist jedoch ihre Freiwilligkeit. Ungleichheit und Vielfalt müssen das Ergebnis freier Entscheidungen freier Menschen sein. Es geht letztlich um die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.

1  Wilkinson, Richard; Pickett, Kate (2009): Gleichheit ist Glück — Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind. Berlin

Wenn eine Person denkt, sie müsse unter Hintanstellung von fast allem anderen, von Freundschaften, Kultur oder Familie ihr Glück darin suchen, Besitztümer anzuhäufen, mag dies aus psychologischer Sicht vielleicht bedenklich erscheinen, doch ist es, sofern dies einer freien Entscheidung entspringt, erst einmal genauso legitim wie die freie Entscheidung für ein ausgeglichenes Leben bei nur sehr überschaubarem Besitz. Entscheidend ist: Ungleichheit — soll sie positiv besetzt sein — darf nicht das vornehmliche Ergebnis von Herkunft und zugeteilten oder eben nicht zugeteilten Privilegien sein. Wo Ungleichheit aufoktroyiert ist, wo sie auf quasi hoheitlicher Zuteilung von Ressourcen und Privilegien beruht, wird sie für die Unterprivilegierten zur Diskriminierung in des Wortes doppelter Bedeutung: als Benachteiligung und als Herabwürdigung. Sie sorgt dann nicht mehr für produktive Vielfalt in einer Gesellschaft, sondern führt zu Spaltung und Erstarrung — materiell wie ideell. Fliehkräfte nehmen zu, treiben die Menschen einer Gesellschaft auseinander, Gräben vertiefen sich. Aus Vielfalt werden soziale Subkulturen und ideelle, kaum noch überbrückbare Gegensätze. Die Kohäsion einer Gesellschaft nimmt ab und damit auch ihre Krisenresilienz. Die britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben sich bereits vor über 10 Jahren der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, mit einer Fülle empirischen Materials aufzuzeigen, dass gleichere Gesellschaften zugleich auch die widerstandsfähigeren sind, mit weniger Kriminalität, weniger Drogenproblemen, weniger gesundheitlichen Problemen und weniger sozialen Missständen, und dass es dabei nicht nur um die Unterprivilegierten geht, sondern dass die Lebensqualität in Gesellschaften, in denen mehr Gleichheit herrscht, insgesamt eine höhere ist.1

Die gesellschaftstheoretische Brisanz der Ungleichheit liegt materiell auf dem Feld der Ressourcen und Privilegien, ideell spiegelt sie sich im Gerechtigkeitsempfinden einer Bevölkerung, das für den Zusammenhalt oder Nicht-Zusammenhalt einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Wie sehr unser Gerechtigkeitsempfingen mit Gleichheit, Ungleichheit und Privilegien verwoben ist, können wir am eindrücklichsten an unseren Kleinsten beobachten. Kinder reagieren auf jegliche Form der Ungleichbehandlung außerordentlich sensibel — zumindest dann, wenn sie sich im Nachteil sehen. Dann ist jegliche Ungleichheit eine schreiende Ungerechtigkeit. Ob die ältere Schwes-

ter abends etwas länger aufbleiben darf oder ob der kleine Bruder aus welchen Gründen auch immer mal eine Kugel Eis mehr bekommen sollte — ein völlig inakzeptabler Zustand, es sei denn, er wird sehr gut begründet.

Im Grunde durchzieht dieses fast archetypisch anmutende Gerechtigkeitsverständnis alle Debatten um soziale Gerechtigkeit. Es geht letztlich um die Begründung und um die Legitimation von Privilegien. Denn diese sind zumindest in einer sich selbst als aufgeklärt verstehenden Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Dem Ideal der Aufklärung folgend sind nun einmal alle Menschen ihresgleichen, »niemandes Herren, niemandes Knecht«; wahlweise auch alle »Gottes Ebenbild« — je nach Fasson. Jeder und jede sind gleich an Würde und gleich an Rechten. Die ungleiche Zuteilung ungleicher Privilegien steht dem grundsätzlich entgegen, wird dem nicht gerecht und kann deshalb vom Grundsatz her nicht gerecht sein. Um diesen Widerspruch zu glätten, wird dann von den Privilegierten in der Regel der Begriff der Leistungsgerechtigkeit bemüht, der ihnen eine besondere Würde aufgrund besonderer Leistung zuweisen soll. Zugleich werden Unterprivilegierte diffamiert, indem ihnen ihre Leistungsbereitschaft und damit ihre Gleichwürdigkeit abgesprochen wird. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist: Wenn eine Gesellschaft starke und dauerhafte Ungleichheiten in der Verteilung von Ressourcen und Lebensbedingungen aushalten soll, müssen die Privilegien der Privilegierten schon sehr wirkungsvoll begründet und unter das Volk gebracht werden.

Deutschland hat mittlerweile einen Grad an Ungleichheit erreicht, der das Land sowohl materiell als auch ideell vor eine Zerreißprobe stellt. Die reichsten 10 Prozent in der Bevölkerung teilen mittlerweile gut zwei Drittel des gesamten Nettovermögens in Deutschland unter sich auf, während die unteren 40 Prozent mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben oder sogar Schulden haben.²

2  Schröder, Carsten; Bartels, Charlotte; Göbler, Konstantin; et al. (2020): Millionärinnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen — Konzentration höher als bisher ausgewiesen. In: DIW-Wochenbericht 29/2020, S. 511—521 ↘ t1p.de/4q6g Fratzscher, Marcel (2019): Das Märchen von der freiwilligen Entscheidung für ein Vermögen. In: DIW-Blog Marcel Fratzscher vom 30.08.2019 ↘ t1p.de/4co01

3  Grabka, Markus M.: Einkommensungleichheit stagniert langfristig, sinkt aber während der Corona-Pandemie leicht. In: DIW-Wochenbericht 18/2021, S. 307—316

Dazu passt, dass die obersten 10 Prozent auf der Einkommensskala seit der Jahrtausendwende ihre Haushaltseinkommen um über 25 Prozent steigern konnten, während die ärmsten 10 Prozent sogar weniger Einkommen als im Jahr 2000 zur Verfügung haben.3 Die Schere zwischen Arm und Reich geht im Trend immer weiter auseinander. Und die Zahl der Millionäre wächst wie die der Armen. Mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent wurde 2021 in Deutschland ein neuer trauriger Höchststand an Armut markiert.4 Das heißt 13,8 Millionen hier lebende Menschen verfügten nicht einmal über 60 Prozent des mittleren Einkommens, was in einer Gesellschaft, in der fast alles über Geld funktioniert, praktisch den Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft bedeutet. Und mehr noch: Angesichts der seit September 2021 geradezu explodierenden Lebenshaltungskosten sind häufig nicht mal mehr Basics wie Ausgaben für Lebensmittel und Energie sichergestellt. Über 2 Millionen Menschen, die für sich und ihre Familien regelmäßig zu den Tafeln gehen, um Lebensmittelspenden zu erhalten, kennzeichnen eine neue Almosenkultur in einem Land mit der viertstärksten Wirtschaftskraft weltweit und einem Sozialstaat, der eigentlich mal geschaffen wurde, um solchen Exzessen der Ungleichheit vorzubeugen.5

Grabka, Markus M.: Löhne, Renten und Haushaltseinkommen sind in den vergangenen 25 Jahren real gestiegen. In: DIW-Wochenbericht 23/2022, S. 329—337

4  Schneider, Ulrich; Schröder, Wiebke; Stilling, Gwendolyn (2022): Zwischen Pandemie und Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2022. Berlin ↘ t1p.de/4nvol

5  Die Tafeln in aktuellen Zahlen — Sommer 2022 ↘ t1p.de/0f4ba

6  Schneider, S. Ulrich; et al.: a.a.O. S. 13

Dabei verfangen übliche Legitimationsversuche dieser Armut offenbar immer weniger. Mit rund 14 Millionen Menschen ist eine Größenordnung erreicht, die sich nicht mehr ohne Weiteres als arbeitsscheue Leistungsverweigerer diffamieren lässt. Zumal der ganz überwiegende Teil von ihnen aus Erwerbstätigen, Altersarmen und Kindern besteht. Gerade einmal 5,5 Prozent der Armen sind tatsächlich erwerbslos.6

7  Baarck, Julia; Dolls, Mathias; Unzicker, Kai; et al. (2022): Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh ↘ t1p.de/eruiu

So wollte es nicht erstaunen, als die Bertelsmann-Stiftung im September 2022 eine Umfrage vorstellte, wonach 79 Prozent der Befragten keine Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland erkennen mochten. Nur 39 Prozent empfanden ihr eigenes Einkommen und Vermögen als gerecht. Das Leistungsprinzip als ein Maßstab der Zuteilung wurde zwar mehrheitlich nach wie vor durchaus geteilt (85 Prozent Zuspruch), noch mehr aber sprachen sich — wenig überraschend — für ein Bedarfs- bzw. Gleichheitsprinzip aus (95 Prozent), wonach gerecht sei, »wenn alle die gleichen Lebensbedingungen haben« bzw. »wenn Einkommen und Vermögen in unserer Gesellschaft an alle Personen gleich verteilt sind«. 7

8  Pieper, Jonas; Schneider, Ulrich; Schröder, Wiebke (2020): Gegen Armut hilft Geld. Der Paritätische Armutsbericht 2020. Berlin ↘ t1p.de/zu2tt

9  Aust, Andreas (2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mängellagen eines Lebens mit Hartz IV. Berlin

10  vgl. Aust, Andreas; Schabram, Greta (2022): Regelbedarfe 2023: Fortschreibung der Paritätischen Regelbedarfsforderung. Paritätischen Forschungsstelle, Berlin ↘ t1p.de/0kfxd

Je stärker das Empfinden, es gehe alles in allem gerecht zu, umso stärker auch das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Auch das zeigt die Bertelsmann-Studie. Das Gegenteil davon können wir seit Jahren auf der Straße beobachten. In Phänomenen von der ausländerfeindlichen Pegida über Reichsbürger und Querdenker bis hin zum Aufkommen der AfD. Gemein ist diesen Gruppierungen ihre Anfeindung und Verächtlich-Machung staatlicher und demokratischer Institutionen. Wo Ungleichheit am unteren Ende der Wohlstandsskala in existenzielle Unsicherheit und Angst umschlägt, wo die Einstellung Platz greift »Die da oben tun ohnehin nichts für mich« und wo ganz objektiv die Zahl der Armen wächst, haben rechtsradikale Menschenfänger leichtes Spiel. Es liegt also im ureigenen staatlichen und Institutioneninteresse, den Ungleichheitstrend in dieser Gesellschaft nicht nur zu stoppen, sondern ihn umzukehren. Was dazu nötig wäre, ist bekannt, wissenschaftlich gut begründet und konzeptionell durchdrungen. Das Schlüsselwort heißt »Umverteilung«, nicht aus einer sozialistischen Laune heraus, sondern weil alle wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, jeglicher Zuwachs an Reichtum immer nur zu noch mehr Ungleichheit und Armut führten. Es ist ganz simpel: Wer Ressourcenungleichheit abbauen will, kommt nicht umhin, oben zu nehmen und unten zu geben. In einer Gesellschaft, die darüber hinaus ganz wesentlich über Märkte organisiert ist, gilt weiterhin: Gegen Armut hilft Geld.8 Wer Ungleichheit abbauen will, muss naheliegenderweise ganz unten beginnen. Es geht um soziale Transferzahlungen wie Altersgrundsicherung, Hartz IV, BAFöG oder Kinderzuschlag, die eigentlich bei aller Ungleichheit vor dem Sturz in die Einkommensarmut schützen müssten, es jedoch aufgrund ihrer geringen Höhe faktisch nicht tun.9 Der sogenannte Regelsatz der Mindestsicherung wäre umgehend von derzeit 502 Euro auf 725 Euro anzuheben, um wirklich armutsfest zu sein.10

Die stark gestiegene Armut bei Rentnern und Rentnerinnen (Armutsquote 17,9 Prozent) und die seit Jahren eklatant hohen Kinderarmutsquoten (20,8 Prozent) verweisen darüber hinaus auf einen grundlegenden Reformbedarf bei Renten über die Arbeits-

losenversicherung bis hin zum Familienlastenausgleich. Armutsfeste Mindestrente, armutsfestes Arbeitslosengeld und eine einkommens- und bedarfsorientierte Kindergrundsicherung sind in diesem Zusammenhang die Stichworte.11

Die Gegenfinanzierung liegt in einem derart reichen Land wie Deutschland mit einer derart breiten Einkommens- und Vermögensspreizung und mit 400 Milliarden Euro, die jedes Jahr so gut wie steuerfrei vererbt werden, auf der Hand: Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Kapitalertragssteuer, aber auch Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer heißen hier die Stichworte.1² Absolut nichts Neues. Die Konzepte liegen seit Langem auf dem Tisch. Neoliberale Schauermärchen wahlweise von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder von einem wirtschaftlichen Exodus, sind längst widerlegt.13 Es fehlt allein die politische Mehrheit mit dem entsprechenden politischen Willen und Mut!

11  vgl. ausführlich Schneider, Ulrich (2017 ): Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können. Frankfurt am Main, S. 157 ff.

12  vgl. ausführlich a.a.O., S. 199 ff.

13  vgl. a.a.O., S. 192 ff.

Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten

11 Nachhaltige Städte und Gemeinden

Zukunft ist eine Frage der Planung — Entwurf für eine Baukultur der Verantwortung

Dr. Tillman Prinz ist seit 2003 Bundesgeschäftsführer der Bundesarchitektenkammer; zuvor war von 1997 bis 2003 Geschäftsführer des Bund Deutscher Architekten und von 2002 bis 2003 Senior Policy Advisor, Architects Council of Europe, Brüssel; zuvor von 1995 bis 1997 Justitiar der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau und von 1990 bis 1994 bei der Architekten- und Ingenieurkammer Schleswig-Holstein tätig.

Unsere Welt wandelt sich in einer Geschwindigkeit, bei der viele alte Sicherheiten verloren gehen und neue Erkenntnisse nur durch radikale Perspektivwechsel zu gewinnen sind. Auch die Architektinnen und Architekten aller Disziplinen stehen vor einem Paradigmenwechsel. Die Digitalisierung von Wirtschaft, Kultur und Alltag, die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels sowie wachsende demographische und soziale Ungleichentwicklungen stellen Planerinnen und Planer vor neue Herausforderungen. Denn sie sind es, die mit Entwürfen für Städte, Häuser und Landschaften der gesamtgesellschaftlichen Transformation im Wortsinn die passenden Räume geben müssen. Die entscheidenden Weichen für die Zukunft unserer gebauten Umwelt werden aus unserer Perspektive auf den Handlungsfeldern bezahlbarer Wohnraum, ländlicher Raum, Umbau vor Neubau und Innenstadt gestellt. Doch wir betrachten diese nicht als Einzelposten, sondern als interdependenten Zusammenhang. Denn der Erfolg auf einem Handlungsfeld ist ohne die richtige Strategie auf dem anderen nicht zu haben. Unserem generalistischen Selbstverständnis entsprechend beschränkt sich der Blick freilich nicht auf die planerischen Notwendigkeiten. Es muss darum gehen, unsere Arbeit stets an den Maßgaben von Nachhaltigkeit, Beständigkeit und nicht zuletzt Schönheit zu messen und im Streben danach den Austausch mit allen Beteiligten — von den Bauherrschaften bis hin zu den Nutzerinnen und Nutzern — zu suchen.

Wir haben uns einer ehrgeizigen Aufgabe verschrieben. Aus der gründlichen Analyse des Ist-Zustands leiten wir die strategischen Optionen für die einzelnen, oben benannten Handlungsfelder ab und entwickeln konkrete Lösungsvorschläge. Wir adressieren dabei nicht zuletzt Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, sich diesen Herausforderungen mit Offenheit für neue Ideen zu stellen. Das verlangen wir auch von uns selbst.

Die planenden Disziplinen stehen vor einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel. Denn mit der fortschreitenden Digitalisierung von Wirtschaft, Kultur und Alltag, den ersten spürbaren Auswirkungen des Klimawandels und angesichts demographischer und sozialer Ungleichentwicklungen wandeln sich auch die Aufgabenstellungen unseres Berufsstandes.

Die weltweite Corona-Pandemie erweist sich im Zuge dieses Wandels sowohl als Zäsur wie auch als Katalysator: Ob sich nach ihrem Ende eine Rückkehr zu dem vollzieht, was davor Normalität war, oder ob die beschleunigte Digitalisierung in all ihren Konsequenzen ganz neue soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen hervorbringt, gehört zu den Ungewissheiten, mit denen sich gerade Planerinnen und Planer aller Fachrichtungen auseinandersetzen müssen. Denn ganz gleich, ob es dabei um die Schaffung bezahlbaren Wohnraums, die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, den Umgang mit Bestand, die dramatische Krise der Innenstädte oder eine generationengerechte Bodenpolitik geht — die großen Fragen der Gegenwart sind immer auch Herausforderungen an die gebaute Umwelt und die, die von Berufs wegen für ihre Gestaltung verantwortlich sind.

Wie umfassend, komplex und interdependent der Handlungsbedarf tatsächlich ist, trat spätestens mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zutage. Sie hat der Gesellschaft vor Augen geführt, an welchen Stellen sie besonders verwundbar und störanfällig ist und das Bewusstsein für überfällige Veränderungen geschärft. Zugleich zeigt sie auch ungeahnte Chancen für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung unserer Städte und Regionen auf. Die Pandemie und nunmehr auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Verwundbarkeit der globalisierten Produktions- und Lieferketten ebenso drastisch verdeutlicht wie auch die mit der Unterhaltung weltweit vernetzter Warenströme verbundenen hohen Umwelt- und Nachhaltigkeitskosten. Auf die fraglos

großen Herausforderungen hat die Europäische Kommission mit einem Green Deal sowie dem Vorschlag für ein Neues Europäisches Bauhaus reagiert. Damit unterstützt die EU den Wandel hin zu einer demokratischen, freien und inklusiven Gesellschaft, die Klimaziele und Nachhaltigkeit nicht allein als technische, sondern auch als kulturelle Aufgaben versteht. In diesem Transformationsprozess ist unser Berufsstand in besonderer Weise gefordert und erhält im gleichen Zuge die einmalige Chance, den Wert guter, gewissenhafter Planung sowie die Kompetenzen von Architektinnen und Architekten aller Fachrichtungen in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Die Baustellen eines verunsicherten Gemeinwesens kennt kaum ein Berufsstand besser als wir Planerinnen und Planer. Gerade die Verbindung von generalistischer Perspektive und hochspezialisierter Expertise befähigt uns, den sozialen, kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen mit Konzepten zu begegnen, die diese übergeordneten Entwicklungen in nachhaltige und gute Strukturen übersetzen. Anders formuliert: Wir sorgen in der Breite unserer Fachrichtungen dafür, dass die gebaute Umwelt dem gesellschaftlichen Wandel gerecht werden kann. Die drängenden Fragestellungen an unsere Disziplin lassen sich jedoch nicht länger als Einzelposten begreifen, sondern erfordern ein Denken in Zusammenhängen und über die Grenzen professioneller Spezialisierung hinaus. Wer sich mit dem klimagerechten Umbau unserer Städte und Gemeinden beschäftigt, muss zugleich die sichere Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum in den Blick nehmen, neue Konzepte für Zentren und den öffentlichen Raum entwickeln, alternative Mobilitätsformen sowie die Entwicklung im ländlichen Raum einbeziehen. Nachhaltige Strategien für die Zukunft der gebauten Umwelt setzen außerdem eine entsprechend angepasste Bodenpolitik voraus, mithin die Durchsetzung neuer politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen. Zukunftsfähige Lösungen erfordern zunächst eine analytische Perspektive auf die Ursache der gegenwärtigen Probleme. Eine der zweifellos größten Herausforderungen ist der anhaltende Mangel an guten und bezahlbaren Wohnungen für eine Gesellschaft, in der Zuwanderung, sich ändernde Lebens- und Haushaltsformen sowie demographische Entwicklungen einen großen Bedarf an entsprechend differenziertem Wohnraum nach sich ziehen. Doch diese Nachfrage lässt sich nicht nach dem Gießkannenprinzip bedienen. Denn die Kehrseite von explodierenden Immobilienpreisen und Wohnungsknappheit insbesondere in den großen Städten sind verödende, stark von kleinen und mittleren Kommunen geprägte Regionen, in denen sich Abwanderung, Leerstand und wirtschaftlicher Niedergang auf fatale Weise verstärken. Der teilweise dramatischen Situation in den Metropolen lässt sich deshalb nur mit Konzepten beikommen, die auch die von Attraktivitäts- und Bedeutungsverlust gebeutelten Städte und Gemeinden in der Fläche in den Blick nimmt.

Gerade die Digitalisierung eröffnet dem ländlichen Raum neue Perspektiven: So setzt die Rehabilitierung dörflicher Regionen als Wohn- und Arbeitsort neben der zeitgemäßen In-Wertsetzung gewachsener Strukturen, infrastrukturellen Verbesserungen und Versorgungssicherheit grundsätzlich eine flächendeckende Versorgung mit schnellem Internet voraus. Parallel dazu sind neue planungsrechtliche Rahmenbedingungen für den gelingenden Wandel ländlicher Einzugsgebiete erforderlich, damit die räumliche Verknüpfung von Wohnen, Landwirtschaft, touristischen und gewerblichen Funktionen über adäquate bauliche und gestalterisch ansprechende Strukturen gelingen kann. Gleichzeitig gilt es den Versuchungen zu widerstehen, den vielerorts akuten Wohnungsmangel mit den Rezepten von gestern zu lindern. Serieller Wohnungsbau kann nur dann für Abhilfe sorgen, wenn er nicht sozialer Segregation und Monostruk-

turen Vorschub leistet, sondern in bestehende Siedlungsgefüge integriert wird und sowohl städtebaulich als auch funktional und gestalterisch an das Bestehende Anschluss findet. Die fraglos notwendigen Anstrengungen zur Schaffung zukunftsfähigen Wohnraums stehen freilich unter dem Vorbehalt ihrer klimagerechten Ausgestaltung. Global betrachtet, ist die Baubranche für gut ein Viertel der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich; allein für die Zementherstellung fallen knapp 10 Prozent der jährlich ausgestoßenen Treibhausgase an. Es gilt deshalb, die Nutzung von Primärrohstoffen sowie den Energieverbrauch grundlegend einzuschränken.

Hier setzt z. B. das Konzept des »Gebäudetyp E« an, mit dem der dauernde Widerspruch zwischen nachhaltigem Planen und Bauen einerseits und der verpflichtenden Umsetzung aller anerkannten Regeln der Technik, selbst wenn sie technisch gar nicht notwendig sind, aufgelöst wird. In diesem Sinne ist auf breiter Basis der Umbau von Bestand dem Neubau möglichst vorzuziehen. Der nach wie vor auf Neubau ausgelegte Rechtsrahmen trägt dem längst vorhandenen Problembewusstsein innerhalb des Berufsstands nur bedingt Rechnung. Schon jetzt fließen zwei Drittel aller im Baubereich getätigten Investitionen in den Bestand; mit einer zukunftsweisenden baurechtlichen Ausgestaltung der Vorgaben zugunsten von Umbau und Weiternutzungskonzepten könnte perspektivisch noch mehr Bestand neu- und weiterentwickelt werden. Gleichzeitig ist neben den planerischen Disziplinen auch die Bauwirtschaft angehalten, das Prinzip der Kreislaufökonomie — ob in Form des »Cradle-to-Cradle«-Prinzips oder anderer Recycling-Modelle — als Grundlage allen Bauens zu implementieren. Sämtliche Materialien, die für Errichtung und Betrieb von Gebäuden, Anlagen oder Infrastruktureinrichtungen eingesetzt werden, müssen wiederverwertbar sein, sodass sie nach Ablauf ihrer Nutzungsdauer einem neuen Verwertungszyklus zugeführt werden können. Sowohl für eine Umkehr weg vom Neubau hin zur Umnutzung als auch für eine kreislaufökonomische Umgestaltung der Wertschöpfungsprozesse im Bau sind vor allem neue politische und regulatorische Weichenstellungen nötig. An Ideen mangelt es uns dafür nicht. Gerade in den Zentren kleiner und mittlerer Gemeinden sowie in Innenstädten generell werden solche innovativen Ansätze schon jetzt gebraucht. Mit der Krise des unsere Zentren prägenden Einzelhandels, die mit dem Aufkommen digitaler Shoppingformate begann und durch die Corona-Krise dramatisch verschärft wurde, droht die funktionale und soziale Verödung der Innenstadt — und damit der Verlust des öffentlichen Raums als konstituierender gesellschaftlicher Faktor. Eine nachhaltige Wiederbelebung dieser zentralen Lagen ist nur über eine Neuerfindung der Innenstädte als Orte möglich, in denen sich Wohnen, Arbeiten, Handel und Gewerbe, Freizeit sowie Kultur in Gestalt kleinteiliger Strukturen durchdringen und überlagern.

Die aufgezeigten Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Planungs- und Bauaufgaben lassen sich zwar nur mit der für unseren Berufsstand grundlegenden generalistischen Perspektive erfassen, doch am Ende liegt der Erfolg der jeweiligen Lösungen im Detail — wie immer, wenn es um gute Hochbau-, Innen- Landschaftsarchitektur und Stadtplanung geht.

Nachhaltige Städte und Gemeinden — eine gemeinsame

Reiner Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur; zuvor war er u. a. ab 1998 in der Geschäftsleitung der HafenCity Hamburg tätig; von 2005 bis 2013 war er Abteilungsleiter für die Bereiche Stadtentwicklung, Stadt- und Freiraumplanung der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt.

Aufgabe

Kultur ist die 4. Säule der Nachhaltigkeit. Dieser unverrückbare Sachverhalt wird bei dem häufig im Sinne eines Allgemeinplatzes zitierten Nachhaltigkeitsdreiecks regelmäßig vergessen. Selbst im »Inner Circle« der Nachhaltigkeitsdebatten ist immer wieder von der Trias der ökologischen Ziele, deren wirtschaftlicher Machbarkeit und der sozialen Verankerung die Rede. Die Bundesstiftung Baukultur geht einen Schritt weiter und hat einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbegriff formuliert, der auch die kulturelle Dimension mit einbezieht: »Räume prägen Menschen — Menschen prägen Räume«. Wir werden durch den genius loci unserer gebauten Umwelt geprägt — durch historische, ortsbildprägende oder alltäglich beschaffene Gebäude, Bauwerke und Freiräume — und gestalten an dieser mit. Letztlich zählt bei all unseren Aktivitäten zur Schaffung zukunftsfähiger Lebensbedingungen, das räumlich positiv auf uns wirkende Ergebnis und die Kulturtechniken einer ergebnisorientierten, guten Zusammenarbeit. Auf diese Weise sind über viele Jahrhunderte hinweg in Europa attraktive Städte und Ortschaften entstanden. Gleichzeitig wird unsere Lebensqualität maßgeblich durch die Leistungsfähigkeit der technischen und sozialen Infrastruktur bestimmt — von der Wasserversorgung über den freien Zugang zu öffentlichen Räumen bis zum Vorhandensein von Gebäuden der Daseinsvorsorge für Gesundheit, Bildung und Kultur. Weltweit wachsen Städte. Aber dem Flächenwachstum sind deutlich Grenzen gesetzt. Die Klimaanforderungen an offene Böden, die negativen Auswirkungen der Mobilität auf Umwelt und Gesundheit und das menschliche Grundbedürfnis nach lebendigen Quartieren und Nachbarschaften, sprechen gegen einseitiges Metropolenwachstum. Einige asiatische und arabische Stadtgründungen sind sogar eher dystopische Modelle, die für den menschlichen Maßstab in demokratischen Gesellschaftsordnungen keine Alternative darstellen. Zum Beispiel das im Bau befindliche saudi-arabische Megaprojekt »Neom« beziehungsweise »TheLine«, eine 170 Kilometer lange Bandstadt, 500 Meter hoch, 200 Meter breit, mit Spiegelglas abgekapselt und voll klimatisiert. Das Projekt ist sicher radikal, diktatorisch und rücksichtslos, aber nicht wie behauptet nachhaltig oder ein Beitrag für »die Revolution des städtischen Lebens«. Aus meiner Sicht eine echte Dystopie, ein gesellschaftliches »Klumpenrisiko« das weder technologisch, noch baulich oder sozial dauerhaft beherrschbar ist.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung ( WBGU) hat 2016 in seinem Hauptgutachten mit dem Thema »Der Umzug der Menschheit — die transformative Kraft der Städte« festgestellt, dass nicht das grenzenlose Größenwachstum von Städten nachhaltig ist, sondern die Stärkung und der Ausbau von Polyzentralität. Nur wo ein Gemeinwesen sich räumlich konsolidiert und Angebote der Daseinsvorsorge und soziale Orte gegeben sind, kann Teilhabe wirksam werden und mit ihr echte Nachhaltigkeit. Wir brauchen also attraktive Klein- und Mittelstädte und Großstädte mit vitalen Zentren, Stadtteilen und Quartieren. Da, wo der Bestand gewachsener Städte schrittweise weitergebaut wird, ist die Mitwirkung der Bevölkerung möglich und mit ihr ein funktionsfähiges Gemeinwesen in lebenswerten Räumen. Das raumordnerische Gegenstromprinzip, das in Deutschland seit Jahrzehnten gesetzlich verankert ist, ist bezogen auf die Nachhaltigkeitsziele moderner denn je. Es enthält ein Gebot zur wechselseitigen Rücksichtnahme von örtlicher und überörtlicher oder regionaler und überregionaler Planung. So gesehen, ist das Nahversorgungszentrum am Ortsrand nicht nachhaltig, weil es mit seinem Einzugsbereich die Lebensfähigkeit des Ortszentrums und die der benachbarten Ortskerne beschädigt, Individualverkehr produziert, Flächen verbraucht und Böden versiegelt. Nachhaltigkeit braucht ein Mitdenken im Sinne einer Abwägung aller Konsequenzen des eigenen Handelns.

Eine wichtige Voraussetzung für nachhaltige Städte und Gemeinden ist der Zugang aller in der Bevölkerung zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum. Das sagt sich leicht, findet allgemeine Zustimmung und ist doch in der Realität eine große Herausforderung. Auch in Europa und Deutschland, das klimatisch, wirtschaftlich und historisch bei Fragen der Wohnraumversorgung zweifelsfrei begünstigt ist. Zentral ist dabei die Bodenfrage, das heißt die spekulationspreisbereinigte Verfügbarkeit von Grundstücks- und Geschoßflächen. Ein weiteres Flächenwachstum in Baugebiete für Einfamilienhäuser ist ebenso wenig machbar wie eine unbegrenzte Verdichtung zentraler Lagen. Das Optimum nachhaltiger Siedlungsentwicklung liegt in einem Korridor, bei dem Nachverdichtung zu leistbaren Infrastrukturen der Ver- und Entsorgung und damit zur Mischung reiner Wohngebiete führt und bauliche Dichte nicht zu unzumutbarer Nähe und damit zu sozialen Konflikten und seelischen Belastungen. Auch die Klimafolgenanpassung an die nicht mehr abwendbare Erderwärmung, wird zunehmend zur Schlüsselfrage für die Lebensqualität in unseren Städten. Die grüne und die blaue Infrastruktur auszubauen, macht deshalb Sinn, auch um für Folgen extremer Wetterereignisse vorzubeugen. Es wird heißer werden und mehr Starkregen und Stürme geben. Wir brauchen also mehr kühlende Wasser- und Grünflächen mit klimaresilienteren Bäumen und eine gut vernetzte, robuste Infrastruktur. Der Erhalt oder die Rückgewinnung der biologischen Vielfalt von Flora und Fauna gehören ebenso zur Stadt der Zukunft wie eine bequeme Fortbewegung für Fußgänger und Radfahrer anstelle der autogerechten Stadt.

Mit jeder Baumaßnahme müssen Städte in ihrem Transformationsprozess deshalb auch menschlicher und schöner werden. Die Stadt der Zukunft ist sozial und funktional gemischt und vor allen Dingen grün! Menschen wünschen sich mehr Natur in der Stadt, aber auch gepflegte Grünanlagen, Wasserflächen und flexibel nutzbare öffentliche Freiräume. Aktuelle Umfragen der Bundesstiftung Baukultur zeigen, dass für 77 Prozent der Bevölkerung ein gut funktionierender öffentlicher Nahverkehr wichtig für die Zukunft der Mobilität in der Stadt ist. Ausreichend Parkplätze wünschen sich dagegen nur noch 34 Prozent. Das bedeutet für den Umbau unserer vielfach noch zu autogerechten Städte ein neues Vorzeichen. Wir sprechen deshalb beim nachhaltigem Stadtumbau inzwischen von der Notwendigkeit der doppelten oder dreifachen Innenentwicklung: dichter, grüner und vernetzter! Von der Stadt der Autos zu Städten für Menschen. Integrierte Planungs- und Bauverfahren sind dafür ebenso notwendig, wie die Ausrichtung an einem baukulturell hochwertigem Gestaltungsmaßstab. Baukultur als Handlungsebene betrachtet all diese Maßnahmen ganzheitlich und gestaltbezogen. Denn das Aussehen unserer Städte wirkt sich unmittelbar auf unsere Stimmung, unser Wohlbefinden und damit auf unsere Lebensqualität aus. Wer aber muss mitwirken, damit diese Erkenntnis bei der Entwicklung lebenswerter Städte und Gemeinden umgesetzt werden kann? Zunächst braucht es einen gesellschaftlichen und politischen Konsens über Entwicklungsziele, bei denen möglichst viele Bürgerinnen und Bürger mitgehen können. Die Meinungsbildung und Sprachfähigkeit hierzu beginnt schon in der Kindheit und Schule und wird gefestigt über Ausbildung und sozialraumorientiertes, lebenslanges Lernen. Deshalb braucht es schon frühzeitig baukulturelle Bildungsangebote in der Schule zur Vermittlung von Wissen und von Techniken zur Raumadaption und -gestaltung. Aber auch die Zahl derjenigen Menschen, die professionell an der Gestaltung unserer Lebensräume mitwirken, ist größer als gedacht. Es sind eben nicht nur die planenden Berufe der Architektur und des Ingenieurwesens, sondern auch die Bauwirtschaft, das Handwerk, die Bauherrschaft im Woh-

nungs- und Immobilienwesen, die Finanzierenden, die Politik bis hin zu den Nutzenden. Hier geht es mehr noch als um eine gute Zusammenarbeit darum, den gemeinsamen Projekterfolg über lebenszyklusbezogene Parameter und hochwertige, das heißt emotional positiv berührende Gestaltqualität zu definieren.

Für den Erhalt, den Umbau oder die Schaffung nachhaltiger Städte und Gemeinden brauchen wir einen Plan, vielleicht sogar eine Vision oder zumindest eine gemeinsame Vorstellung von einer lebenswerten Zukunft. Wo langfristige Leitbilder fehlen, geraten Transformationsprozesse ins Stocken oder beginnen erst gar nicht. Deshalb ist es erforderlich, gerade für das Ziel der Schaffung nachhaltiger Städte und Siedlungen, nicht sektoral, sondern ganzheitlich und vom erstrebenswerten Ergebnis her zu denken.

Hier ist das Nachhaltigkeitsziel SDG 11 — Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten — mit vielfältigen Querbezügen zu anderen Nachhaltigkeitszielen verbunden: Zum Beispiel zu »Gesundheit und Wohlergehen« (SDG 3), zu »hochwertige Bildung« (SDG 4), zur »Ver- und Entsorgung mit Wasser und Energie« (SDG 6 und 7 ), zur »Innovation und Infrastruktur« (SDG 9) und natürlich zur Maßnahmenebene beim Klimaschutz (SDG 13). Der letzte Punkt rückt derzeit immer stärker ins Bewusstsein, weil der Bausektor weltweit für mehr als 40 Prozent der klimaschädlichen Emissionen zuständig ist, in Deutschland sogar für etwa 50 Prozent. Kein Wunder also, wenn der inzwischen erkannte Elefant im Raum der Klimaauswirkungen zu konsequenten und radikalen Schritten herausfordert. Aber der teilweise geforderte Stopp jeglicher Bauaktivitäten ist nicht nur ökonomisch und sozial unrealistisch, sondern untergräbt unsere Kulturtechniken des Strebens nach Verbesserung. Entscheidend ist also, wie umfassend, reflektiert und zukunftsfähig unsere programmatischen Ansätze sind und wie handwerklich gut wir sie realisieren. Um Städte und Gemeinden nachhaltig und als offenen Räume zur Integration zu gestalten, hilft uns hier neben der Kulturtechnik der guten Zusammenarbeit aller betroffenen Akteure und Akteurinnen tatsächlich das Handwerk. Richard Sennet wird zitiert mit der Erkenntnis »die Trennung von Kopf und Hand schadet dem Kopf«. Und tatsächlich können wir durch den Werkbezug handwerklicher Arbeit baulich und kulturell im besten Sinne selbstwirksam werden für nachhaltige Städte und Gemeinden. 11

Keine Zukunftsmusik — die nachhaltige Stadt

Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags.

Nachhaltiges Handeln, nachhaltige Produkte oder nachhaltige Politik — Nachhaltigkeit ist ein Buzzword der schönsten Sorte: klingt adrett und bedeutungsvoll und passt immer. Wer kann denn schon etwas gegen Nachhaltigkeit sagen? Doch meinen wir alle dasselbe, wenn wir von nachhaltigen Zielen sprechen? Im Alltagssprachgebrauch verbinden wir den Begriff vor allem mit Ressourcenschutz, Langlebigkeit und Umweltschutz. Dabei ist die Vision viel weitreichender: die Agenda 2030. In diesem Jahr ist Halbzeit ihrer Umsetzung. Das Thema ist wichtiger denn je.

Im Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedet. Sie soll der Fahrplan für die Zukunft sein. Mit der Agenda 2030 will die Weltgemeinschaft weltweit ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und dabei die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft bewahren. Dies umfasst ökonomische, ökologische und soziale Aspekte.

Kommunale nachhaltige Entwicklung — ein vielseitiges Handlungsfeld

1  Generalversammlung der Vereinten Nationen. Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015. 70/1. Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

S. 23

2  Neue Leipzig Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl. Verabschiedet beim Informellen Ministertreffen Stadtentwicklung am 30. November 2020. S. 1

3  Ebd.: S. 4—7

Die Agenda kennt 17 Ziele, die Sustainable Development Goals, kurz SDGs. Die Unterziele des SDG 11, »Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten« zeigen die Spannweite des Themenfelds kommunaler Nachhaltigkeit. Es sind die zentralen Facetten des Zielbilds einer nachhaltigen Stadt. Es geht um sicheren und bezahlbaren Wohnraum, eine Grundversorgung, die Verkehrswende, Katastrophenvorsorge und Resilienz, die Verringerung von Umweltbelastungen und die Versorgung mit öffentlichen Grünflächen und Räumen für alle.1 Darüber hinaus wird die Förderung von Inklusion, Partizipation, eines integrierten Vorgehens und von Nachhaltigkeit als zentral für die Stadtplanung angesehen. Die Städte sind jedoch über das Ziel 11 hinaus gefordert, ihren Beitrag für die Agenda 2030 zu leisten. Dazu gehören die Themen Bildung, Gesundheit, Gleichstellung, das Reduzieren sozialer Ungleichheiten, nachhaltige und resiliente Infrastrukturen, nachhaltiger Konsum und Produktion, die Nutzung erneuerbarer Energien oder der Schutz von Ökosystemen. Auf europäischer Ebene wurde Ende des Jahres 2020 die Neue Leipzig Charta verabschiedet, die einen Rahmen zur Umsetzung der SDGs und weiterer internationaler politischer Zielsetzungen in Kommunen bildet.² In der Charta werden mit der gerechten, grünen und produktiven Stadt 3 Dimensionen nachhaltiger europäischer Städte betont. Diese konkretisieren die Aspekte sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher nachhaltiger Entwicklung für Städte und erfordern eine integrierte Betrachtung. In den Dimensionen sind Handlungsansätze unter anderem zu einer Vielzahl der oben genannten Themenfelder formuliert.3

Die nachhaltige Stadt lässt sich nur lokal und gemeinschaftlich umsetzen

Die Zielsetzungen und Themenfelder kommunaler nachhaltiger Entwicklung sind übergreifend formuliert und grundsätzlich für alle Städte relevant. Aber natürlich gibt es nicht nur die eine Zukunftsvision einer nachhaltigen Stadt. Welche Zukunft ist erstrebenswert? Die Antworten sind individuell und spiegeln subjektive Wertvorstellungen und gesellschaftliche Normen wider. Hier kommt die Partizipation ins Spiel. Die

Idee einer konkreten gemeinsamen und wünschenswerten Zukunftsvision muss ausgehandelt werden, vor Ort, gemeinschaftlich mit den Bürgerinnen und Bürgern der Wirtschaft und der Stadtgesellschaft. Diese Prozesse sind nie einfach, aber stets wertvoll. Sie tragen den Zielsetzungen von Partizipation und Koproduktion, die in der Neuen Leipzig Charta eines mehrerer »Prinzipien guter Stadtentwicklungspolitik« darstellen, Rechnung.4 Die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung ist ein Querschnittsthema und betrifft alle Bereiche städtischen Handelns von Verwaltung bis hin zu Verkehrs-, Stadt- und Grünplanung und sozialen Bereichen. Gleichzeitig sind die genannten Akteurinnen und Akteure zentral für eine Umsetzung nachhaltiger Entwicklung in Bereichen, die jenseits kommunaler Verantwortung liegen und gemeinschaftlich umgesetzt werden müssen.

Nachhaltigkeit verbessert die städtische Lebensqualität Wo lässt sich konkreter und anschaulicher als in den Städten erfahren, dass eine nachhaltige Gesellschaft trotz — und auch wegen — der damit einhergehenden Veränderungen ein positives, wünschenswertes Zukunftsszenario ist? Klar, auch Städte müssen auf dem Weg zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele vielfältige Herausforderungen und Konflikte bewältigen. Aber die Fortschritte sind dafür vor Ort für alle erlebbar, sei es durch eine verbesserte Luftqualität, zugunsten von Radfahrenden und Fußgängerinnen und Fußgängern umgestaltete öffentliche Räume oder wohnungsnahe Grünflächen und die damit verbesserte Aufenthalts- und Lebensqualität.

Kommunale Nachhaltigkeit — seit Langem auf der Agenda der Städte

Das Thema kommunaler nachhaltiger Entwicklung steht nicht erst seit Verabschiedung der Sustainable Development Goals im Jahr 2015 auf der Agenda der Städte. Bereits seit den 1990er Jahren wurde es im Rahmen der Lokalen Agenda 21 im kommunalen Handeln verankert. Mit den SDGs ist ein neuer politischer Rahmen formuliert worden, der als Orientierungsrahmen für die Nachhaltigkeitsaktivitäten vieler Städte dient. 224 Kommunen5 in Deutschland haben bisher die vom Deutschen Städtetag mit ins Leben gerufene Musterresolution »2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung: Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene gestalten«6 unterzeichnet. Das ist ein starkes Bekenntnis. Mit den »SDG-Indikatoren für Kommunen«7, einem vom Deutschen Städtetag initiierten Projekt, stehen eine Vielzahl von Indikatoren zur Verfügung, die kommunales Engagement für Nachhaltigkeit messbar, nachvollziehbar und vergleichbar machen.

4  Ebd.: S. 7—9

5  ↘ t1p.de/d75b

6  ↘ t1p.de/5y1i5

7  ↘ t1p.de/uvdtm

Beispiele aus den Städten So wie sich die Zukunftsbilder nachhaltiger Städte unterscheiden, so sind auch die Wege zum Erreichen kommunaler nachhaltiger Entwicklung von Ort zu Ort verschieden. Städte sind geprägt durch die Landschaft, die Wirtschaft, durch Traditionen und sozio-demographische und ökonomische Charakteristika. Auch die Herausforderungen unterscheiden sich von Stadt zu Stadt — wachsende Großstädte und schrumpfende Orte, Städte in Braunkohlerevieren und Transformationsgewinner. Die Entwicklung kommunalspezifischer Lösungsansätze hat daher einen hohen Stellenwert. Städte setzen daher auch eigene Schwerpunkte in ihrem Engagement für Nachhaltigkeit. Einige Beispiele zeigen das.

8  ↘ t1p.de/vflvu

9  ↘ t1p.de/o2ey8

Die Landeshauptstadt München widmet sich insbesondere dem Thema der Kreislaufwirtschaft. Sie ist Pilotstadt im Rahmen der Circular Cities and Regions Initiative (CCRI) der Europäischen Union. Ziel ist die Entwicklung einer Strategie für die zirkuläre Wirtschaft (Circular Munich).8 Das Thema Kreislaufwirtschaft ist auch in Kiel weit oben auf der Agenda. Die Landeshauptstadt Kiel möchte zur »Zero.Waste.City« werden. Zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern wurden über 100 Maßnahmen zur Abfallvermeidung erarbeitet und in einem Konzept zusammengestellt, das seit 2020 umgesetzt wird.9 Im Bereich der Stadtverwaltung selbst sollen beispielsweise Einwegverbote für alle städtischen Organisationseinheiten und die Bewirtung bei öffentlichen Veranstaltungen umgesetzt, die Digitalisierung verstärkt, mehr Trinkwasserspender im öffentlichen Raum aufgestellt und Informationskampagnen und Austauschformate durchgeführt werden.10

10  ↘ t1p.de/q08h1

11  ↘ t1p.de/9jb2u

12  ↘ t1p.de/uddet

13  ↘ t1p.de/efh4e

14  ↘ t1p.de/nyic3

15  ↘ t1p.de/8v8bo

16  ↘ t1p.de/eq64b

17  ↘ t1p.de/xsimy

18  ↘ t1p.de/c0xpu

19  ↘ t1p.de/k8dqk

Im Pilotgebiet »InnovationCity« in Bottrop wurden die CO₂-Emissionen innerhalb eines Jahrzehnts halbiert. Dabei wurden rund 36 Prozent des Gebäudebestands modernisiert und die Emissionen der Wohngebäude um fast die Hälfte reduziert, die der öffentlichen Gebäude um 40 Prozent. 11 Wesentlich hierfür war ein bundesweit einzigartiges Förderprogramm zur energetischen Gebäudesanierung.1² Vorreiter bei der Energieeffizienz ist auch die sächsische Stadt Delitzsch. Sie erzeugt erneuerbaren Strom aus Photovoltaik, Windkraft und Biomasse ebenso wie Wärme mit Geo- und Solarthermie und verfügt damit rechnerisch über eine autarke Stromerzeugung.13 Als viermal ausgezeichnete »Stadt der UN-Weltdekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)« ist die Stadt Gelsenkirchen im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung sehr aktiv. Mithilfe eines großen Netzwerks hat sie das Thema in allen Bildungsbereichen etabliert.14 Als eine von 8 Kommunen, die erfolgreich für die Umsetzung ihrer Konzepte im Rahmen des Wettbewerbs »Zukunftsstadt« ausgewählt wurden,15 stellt Gelsenkirchen auch mit dem Projekt »Lernende Stadt Gelsenkirchen — Bildung und Partizipation als Strategien sozialräumlicher Entwicklung« Bildung in den Reallaboren in den Vordergrund.16

Ebenfalls im Rahmen des Projekts »Zukunftsstadt« entwickelten Bürgerinnen und Bürger ein Zukunftsbild für die Landeshauptstadt Dresden. Auch bei der Umsetzung der Projekte spielen Bürgerinnen und Bürger die zentrale Rolle. Wurde mit der Umsetzung von zunächst 8 Bürgerprojekten im Rahmen der Projektförderung begonnen, werden inzwischen vielfältige weitere Projekte aus städtischen Haushaltsmitteln gefördert.17 Die Spannweite der Projekte reicht von der Umgestaltung öffentlichen Raums, Upcycling, der Verbesserung des Klimas auf Schulhöfen, Stadtteilfonds und -beiräten bis hin zum essbaren Stadtteil.18

In Freiburg begleitet und unterstützt der auf 5 Jahre gewählte Freiburger Nachhaltigkeitsrat, der sich aus Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik zusammensetzt, die Umsetzung der lokalen Nachhaltigkeitsziele.19 Wie gesagt, das sind lediglich Beispiele. In allen Regionen Deutschlands gibt es kreative Städte, die auf dem Weg zur Nachhaltigkeit unterwegs sind.

Über den Tellerrand hinausblicken — internationales Engagement von Kommunen Darüber hinaus ergreifen viele Städte nicht nur lokal Maßnahmen, sondern setzen sich auch auf internationaler Ebene etwa beim Klimaschutz ein. In einer Vielzahl von Städ-

tenetzwerken wie dem Klima-Bündnis²0, C40²1, ICLEI²², dem Resilient Cities Network²3 oder dem Global Covenant of Mayors for Climate and Energy²4 schließen sich Städte und andere Akteure zusammen, oft auf Grundlage freiwilliger Selbstverpflichtungen. Die Netzwerke dienen dem Erfahrungsaustausch, der Unterstützung von Kommunen bei der Umsetzung der Ziele und der Kommunikation gemeinsamer Visionen im Hinblick auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

Ausblick

20  ↘ klimabuendnis.org

21  ↘ c40.org

22  ↘ iclei.org

23  ↘ resilientcitiesnetwork.org

24  ↘ globalcovenantofmayors.org

Ob die Vision Agenda 2030 am Ende eine Erfolgsgeschichte sein wird, entscheidet sich in den Städten. Die Halbzeitbilanz kann sich sehen lassen. Gleichzeitig wissen wir, dass die aktuellen Krisen die Rahmenbedingungen verändern und uns sehr fordern werden. Da bleibt nur eins — engagieren wir uns.

Nachhaltige Konsumund Produktionsmuster sicherstellen

12 Nachhaltige / r Konsum und Produktion

Nachhaltigkeit — das Jahrhundert.Ziel in der Mode

Mara Michel ist Geschäftsführerin des VDMD, Netzwerk für Interior, Mode, Textil sowie Vizepräsidentin des Deutschen Designtags; sie gehört dem Präsidium des European Fashion Council an. Sie ist ferner CEO von futurize — trendforschung; Fachjournalistin und Dozentin für Design an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.

Wo bleibt die Umsetzung?

Es schmeckt bitter, die eigene Branche mit den Augen der Nachhaltigkeit und Kultur zu betrachten und zu beschreiben. Kultur bedeutet ethische Haltung und empathisches gegenseitiges Verhalten, alles einbeziehend, was uns ausmacht: wie wir wohnen, wie wir leben, wie wir mit uns, unseren Ressourcen, der Natur und unseren Tieren umgehen.

Nachhaltiges Handeln bedeutet Langlebigkeit, Dauerhaftigkeit, Authentizität, anhaltende positive Wirkung in Bezug auf Ökonomie, soziale Haltung, Ökologie und Kultur.Der Wille zum nachhaltigen Handeln in unserer Bekleidungsindustrie ist da, die große Umsetzung lässt auf sich warten.

Wo stehen wir in der Mode?

Mode ist Kultur.Gut. Die Industriefirmen haben Mode jedoch weltweit zu kurzlebiger Wegwerf.Bekleidung verkommen lassen. Bekleidung ist beliebiges Anziehen geworden. Unsere Bekleidungsindustrie ist mit rund 1.400 Unternehmen und 400.000 Beschäftigten im In- und Ausland die zweitgrößte Konsumgüterindustrie in Deutschland. Sie hat alle Chancen, Leader für nachhaltiges Handeln und für Umweltschutz zu sein. Stattdessen haben wir gerade mal 50 Firmen (3,57 Prozent), die im Ranking auf 4 oder 5 von 5 Bewertungspunkten kommen mit den Kriterien der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030. Darunter — international bekannt — Hess Natur, die schon seit 1976 nachhaltig produzieren, sowie Trigema seit der Übernahme durch Wolfgang Grupp 1969. Kleinere Labels, wie Michael Spitzbarths Bleed (seit 2008), Sophia SchneiderEslebens SSE — Slow · Smart · Eco (seit 2015) oder Susanne Dellings ONE-OFFsueJeans (seit 2019) sind dabei, sich im Markt durchzusetzen, haben es jedoch noch sehr schwer, sich neben der Fast Fashion zu behaupten.

Eine Industrie der furchteinflößenden Verschwendung Gehen wir zurück zur Industrie. Sie hat sich noch immer der Fast Fashion verschrieben. Schnell und kostengünstig bis billigst auf Kosten von Natur, der in die Herstellung einbezogenen Menschen und unserer Kultur. Konkret: Allein Asos entwickelt bis heute 4.500 neue Modelle pro Woche, Zara 1.250 im selben Zeitraum. Die Folge: Anfang 2021 hatte der deutsche Einzelhandel 500 Millionen Bekleidungseinzelteile unverkauft im Lager liegen, unterwegs zu den Läden waren weitere 300 Millionen Teile, nicht zu vergessen die in den Startlöchern stehenden weiteren 500 Millionen Einzelteile der nächsten Frühlingskollektionen. Weiterverkaufen in andere Länder klappt nicht mehr ohne Weiteres — über 52 Nationen haben inzwischen den Import von Altkleiderware verboten.

Diese Massen an Anfall- und Abfallware sind eine ungeheure Belastung für die Umwelt. Allein durch Herstellung, Transport und Gebrauch unserer Bekleidung emittieren pro Jahr 850 Millionen Tonnen CO₂. Der helle Wahnsinn. Das macht es dem positiven Denken schwer.

Die Gier nach mehr

Was macht die Firmen so gierig nach mehr, nach noch mehr Umsatz, nach noch mehr Konsum, nach noch mehr Gewinn auf Kosten der Verschwendung von Ressourcen und Arbeitsbedingungen, obwohl sie um die frevelhaften Zustände in den Billiglohnländern wissen. Was verdrängen die CEOs? Sie haben doch selbst Kinder, die spielen dürfen, statt arbeiten gehen zu müssen, die zur Schule gehen dürfen, Bildung und

Ausbildung genießen, im Wohlstand leben, statt hungern zu müssen. Warum werden nach wie vor Tonnen an Bekleidung überproduziert und dann in die ärmsten Länder, die sich nicht wehren können, und in die Wüste verschoben und/oder tonnenweise verbrannt?

Angst vor dem Wandel? Warum hat — bei allem Wissen um die Folgen der Nicht-Nachhaltigkeit — das »Immer noch mehr Gewinn machen wollen« Prioritätsstatus? Ist es Gewohnheit? Oder Angst vor Veränderung? Ich glaube, Letzteres. Erfolgsverwöhnte Menschen bei uns glauben nicht an ihre eigene Fähigkeit zum Wandel. Sie halten verbissen an ihrem bisherigen Status und ihren Strukturen fest. Es gibt ein wunderbares Sprichwort dazu: Das Leiden muss erst groß genug sein, damit wir uns bewegen. Da das Leiden nicht in der eigenen Erfolgs-Tasche beginnt, schauen die CEOs noch weg und machen die Milchmädchenrechnung ohne den Wirt. Das Leid des Klimaschadens trifft zuerst den Wirt, die Konsumenten, die — durch die Pandemie und zunehmende Hitze, Trockenheit, Kriege und Energieverknappung verstärkt — bei ihren Geldausgaben neue Prioritäten setzen und setzen müssen. Die ersten Auswirkungen erleben wir im stationären Mode-Einzelhandel — eben durch Nichtkauf. Die zweiten Betroffenen sind die Messen. Die Industrieaussteller bleiben weg, weil der einkaufende Handel nicht mehr da ist. Damit hat es auch die Dritten in der Kette, die Industrie erreicht, schleichend zwar, aber gründlich. Sie produzieren und produzieren — gekauft wird nicht. Jetzt muss sie reagieren und sich neu aufstellen.

Im Sinne der Nachhaltigkeit — eine große Herausforderung. Ressourcen und Geld verschlingende Shows

Vor der Wegbeschreibung zur nachhaltigen Modeindustrie gilt es zu formulieren, was getan werden muss in unserer Branche. Abgesehen vom endlich seit Januar 2023 verabschiedeten Lieferkettengesetz, das den Menschenrechten und Umweltstandards weltweit Geltung verschaffen soll, muss die Menge an Produktion verringert werden.

Von einer Kollektion pro Jahr noch in den 1950er Jahren sind wir heute — wie oben beschrieben — bei wöchentlichen oder gar täglichen neuen Kollektionen gelandet — ein unnötiger Irrsinn. Lernen können wir von der Home- und Möbelindustrie, die einmal im Jahr neue Vorschläge generiert.

Vergegenwärtigt werden muss dabei, dass ein riesiger Aufwand schon für die sogenannten Prototypen der Bekleidung notwendig ist: Entwurf, Stoff- und Farbauswahl, Zubehöreinkauf, Modellpass, Schnitt, Zuschnitt, Nähvorgang, Vertriebsvorstellung — schon ist mindestens die Hälfte im Abfallkorb. Ziel ist es, zurückzurudern auf maximal 2 Kollektionen pro Jahr, besser noch auf eine Kollektion, die für Frühling, Sommer, Herbst und Winter variiert werden kann.

Hilfe für diesen zeitlichen, finanziellen, personellen Aufwand ist die KI. Der Entwurf bleibt, gerne digital. Die Phasen bis zur Vertriebsabnahme fallen weg. Avatare werden angezogen mit Hilfe virtuell dargestellter Materialien, in virtuellen Modenschauen und Räumen präsentiert, die Modelle für die Kollektion auf virtueller Basis gewählt. Enorme Einsparungen im Sinne der Nachhaltigkeit und der Gewinnung neuer Arbeitsformen. Dennoch Angst vor Arbeitslosigkeit? Nicht, wenn unsere Politikerinnen und Politiker sich an die Finanztransaktionssteuer wagen. 0,1 Prozent würden eine Billion Euro an Steuereinnahmen bringen, womit ein Grundeinkommen der abgehängten Unter- und Mittelschicht möglich wäre. Warren Buffett machte den Anfang mit seiner

Aufforderung an die US-Regierung, ihn endlich höher zu besteuern, bekannte Denker, wie Maja Göpel, Richard David Precht und Ulrike Herrmann, schließen sich an.

Mut

zur neuen Faser

Der nächste Schritt: die Stoffe. Nicht Baumwolle, die mit Pestiziden und einer unverantwortlichen Menge Wasser großgezogen werden muss, sondern Materialien von neu gewonnenen Fasern aus Abfällen unserer Nahrungskette oder natürlich nachwachsenden Pflanzen, wie Brennnesseln, Bambus, Kork, Algen oder Bananenhanf.

Einige wenige Beispiele zur Verdeutlichung: Wir kennen alle Apfeltrester, die Maische, die aus Apfelsaft-Produktionsabfall entsteht. Frumat hat daraus einen lederanmutenden Stoff erfunden, der in den kompostierbaren Kreislauf zurückgeführt werden kann — großartig. Oder Stoffe aus Orangenschalen, die die Sizilianerin Enrica Arena zu seidenartigen Stoffen verarbeitet. Auch die Idee von Friseurmeisterin Janine Falke, aus gewaschenen und geschnittenen Haaren warme Mäntel herzustellen und Matten, die Fett und Schmutz aus Gewässern ziehen, gehört zu den neuen Erfindungen. Des Weiteren der Seidenhersteller Chandra Prakash Jha, der seine Seidenkokons aufschlitzen lässt, anstatt sie zu kochen. So schenkt er Schmetterlingen das Leben, die wiederum indische Felder bestäuben.

Zum Färben der Stoffe dürfen keine giftigen Chemikalien mehr verwendet werden. An ihre Stelle treten aus Pflanzen gewonnene Farbstoffe. Das Färbewasser wird anschließend gefiltert und wiederverwendet, wie es bei der großen Stofffirma Hesni Textile in Kairo schon lange üblich ist.

Kostet nachhaltiges Produzieren so viel mehr?

Wieder einen nächsten Schritt gehen: neue Produktionswege aufbauen. Weg von langen Wegen in Drittländern, hin zur Local.Production. Wiederaufbau von kleinen Produktionsstätten im eigenen Land und im europäischen Umfeld. Den CO₂-Fußabdruck dadurch minimieren. Der neue Preis für nachhaltigere Produktion: bei einem T-Shirt 50 Cent. Bei einem Kleid bis zu 20 Euro. Wo liegt das Problem? Trigema und Hess Natur beweisen, dass es genügend Kunden gibt für ein »Es geht uns gut« mit dem Verkauf von nachhaltiger Ware. Und noch einen Schritt gehen: Anstatt die Drittländer auszubeuten, ihnen Hilfe zu eigener Kollektionsarbeit bieten und anständige Löhne bezahlen, sodass sie sich die Produkte im eigenen Land auch kaufen können und damit dessen Wohlstand wachsen kann.

Verkaufen oder Service anbieten?

In den Läden ist die neue Ware angekommen. Wir stehen im Modegeschäft. Uns gegenüber eine schlecht gelaunte und schlecht bezahlte Verkäuferin, die uns nach Kaufkraft abschätzt und entsprechend den neuesten Trend anbietet. Wir gehen unverstanden wieder von dannen. Was haben wir erwartet?

Natürlich einen Menschen, der Freundlichkeit und eigene Zufriedenheit ausstrahlt und nicht selbstverständlich davon ausgeht, dass wir kaufen wollen. Wir wollten eigentlich unser dort erstandenes Samtkleid zur Reparatur bringen und einen passenden Schmuck dafür erstehen. Ja, wir erwarten ein Umdenken. Geschäfte, die fußläufig erreichbar sind, Modeläden, die reparieren, tauschen, Outfits leihen, die Designerinnen und Designer beschäftigen, die aus Altem Neues kreieren, die in Kontakt zu Maßschneidern stehen, die gesuchte Styles passgenau auf den Körper arbeiten. Die Ansätze sind da. Geht es schneller und flächendeckend?

Den Wandel schaffen — der Weg zu einer Slow-Fashion-MODE.KULTUR

Wo fängt der Weg an? Bei den Designerinnen und Designern. Nicht noch mehr TShirts, nicht noch mehr Jeans, nicht noch mehr vom »immer demselben« wiederholen. Neu denken bedeutet, mit den Endkunden sprechen. Diese fragen, wo sie stehen, was sie sich wünschen, nach was sie sich sehnen, wovon sie träumen. Wie können wir sie abholen, wie viel Nachhaltigkeit tragen sie mit. Mit diesem Wissen gilt es, den Umgestaltungsprozess in den Bekleidungsfirmen zu begleiten.

Das bedeutet: kleine Jahreskollektionen, die echten Bedarfen angepasst sind und virtuell an Avataren vorausgewählt werden. Bedeutet: kleine Manufakturen neben der Hauptproduktion, um auf individuelle Wünsche direkt eingehen zu können. Bedeutet: Rückführung der Produktion ins eigene Land, wie C&A es teilweise vormacht. Bedeutet: Baukastensysteme für Basic.Ware, um on demand maß- und geschmacksgerecht sein zu können. Bedeutet: angeschlossene Design.Werkstätten, die Lagerware neu durchgestalten und Abfallware zu neuen Produkten upcyceln.

Noch mehr umdenken

Bedeutet: Unterstützung der kleinen Labels in der Produktion, an der diese so oft scheitern. Warum unterstützen nicht mehr Konzerne die aufsteigenden, nachhaltigen Labels, wie es bei Wolfgang Joop, Karl Lagerfeld, Jil Sander und Doris Hartwich war für ihren internationalen Ruf. Warum denn nicht als Firmen.Agentur auftreten und am Gewinn beteiligt sein?

Gewiss, das ist nicht im traditionellen Denken unseres Sparlandes zu Hause — wäre jedoch gewinnträchtig, nachhaltig und modekulturell. Die kleinen Labels kreieren Mode, die den Namen verdient und zum Kaufen anregt. Und — wie ermutigend, dass unsere Design.Studies alle ohne Ausnahme für Nachhaltigkeit brennen und diese als Aufforderung und Anforderung in die Industriefirmen hineintragen werden.

Bedeutet: auch die berufsständischen Verbände zu unterstützen, wie den VDMD, der Designerinnen und Designer des Jahres für nachhaltige Kollektionen auszeichnet und sichtbar macht, wie Anja Gockel, Thomas Rath, Laura Krettek, Michael Spitzbarth, Anke Frese-Brammer und neu im Jahr 2023 im Rahmen der Messe Neonyt die Label Nix Design — Barbara Gebhardt, Mover — Nicolas Rochat, Akjumii — Anna Karsch und Michaela Wunderl-Strojny und Manomama — Sina Trinkwalder. Der den DIEN.STA.BILITY.DAY eingeführt hat, der nur Designerinnen und Designer aufnimmt, die seinen Ethikkodex unterschreiben, in dem Nachhaltigkeit verankert ist und das Gebot, keinen Pelz von gezüchteten Tieren zu verarbeiten.

DIEN.STA.BILITY.DAY

Alle Gedanken münden in der Erkenntnis, den ersten Schritt einfach zu tun. So der Appell an:

– unsere Endkundinnen und Kunden:

Jeden Dienstag nachhaltig einkaufen — ohne Preise zu vergleichen

– alle Geschäftsinhaberinnen und -inhaber:

Jeden Dienstag ein besonderes nachhaltiges Modeoutfit im Fenster sichtbar machen — ohne Rabatt

– unsere Industrie:

Jeden Dienstag online nachhaltige Mode sichtbar machen — zum ehrlichen Preis

Der Anfang vom Ende der Black Fridays. So können wir Schritt für Schritt die Transformation und den Wandel schaffen: Mutig, angstfrei, empathisch, hinterfragend, kommunikativ und eben nachhaltig. Nicht mehr, sondern genug.

Weniger, haltbarer, reparierbar

Frederike Kintscher-Schmidt ist Vizepräsidentin des Verband Deutscher Industrie Designer sowie Vorsitzende des Rates Europäische und Internationale Fragen des Deutschen Designtags.

Ein Unendlichkeitssymbol auf einem quadratischen braunen Untergrund, umgeben von 16 weiteren bunten Quadraten, zeigt eine der vielen globalen Herausforderungen, der wir als Weltengemeinschaft gemeinsam gegenüberstehen. Es ist das Nachhaltigkeitsziel 12: Nachhaltige/r Konsum und Produktion — mit der Aufgabenstellung: Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherzustellen. Das Ziel »Responsible consumption and production« verweist auf den verantwortungsvollen Konsum und das verantwortungsvolle Produzieren, um unsere Natur, unser kulturelles Leben, ja unsere Existenz auf dieser Erde zu schützen und zu erhalten. Die mit dem Nachhaltigkeitsziel 12 festgelegten Parameter umfassen verschiedene Aspekte der nachhaltigen Entwicklung:

– Die begrenzten natürlichen Ressourcen sollen geschont und effizient genutzt werden.

– Es sollen Abfälle vermieden werden, eine Recyclingkultur aufgebaut und keine umwelt- und gesundheitsschädlichen Stoffe in die Umwelt eingeführt, sondern sachgerecht entsorgt werden.

– Unternehmen sollen ihre sozialen und ökologischen Risiken kontrollieren und geringhalten.

– Die Gesellschaft soll über ihre Möglichkeiten des nachhaltigen Konsums aufgeklärt werden.

– Und, die öffentliche Beschaffung soll ökologisch vertretbar werden.1

Um Herausforderungen und Zielkonflikte in Gesellschaften westlicher Industrienationen zu verdeutlichen, reicht ein Blick, die gewünschte und reelle Wirkungsweise der 17 Nachhaltigkeitsziele zu betrachten.

1  vgl. United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Sustainable Development: Goal 12. Ensure sustainable consumption and production patterns. ↘ t1p.de/mj41u

2  vgl. Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Edition Suhrkamp 2735, 1. Aufl., Berlin, S. 32—33

Als soziale Wesen befriedigen wir unsere ureigenen Bedürfnisse nach Sicherheit, Individualität und Selbstverwirklichung zum großen Teil durch Konsum. Der Aufruf nach verantwortungsvollerem Konsum wirkt auf uns wie die Beschneidung unserer Freiheit. Das Ausleben von Wohlstandsbedürfnissen, das individuelle Streben nach symbolischen Werten wird durch unser Wirtschaftssystem mit einer Flut an Produktvielfalt beantwortet. Dieser dynamische Prozess der Wertezuschreibung unserer Produktentitäten ist nicht nur ein rein wirtschaftlicher Prozess, sondern hat sich mittlerweile zu einem kulturellen Akt der Wahrnehmung der Welt entwickelt. Durch wiederkehrende Interpretation, Bedeutungszumessung und Bewertung unserer natürlichen, technischen und sozialen Umwelt wird neben Kunst und Religion auch unsere alltägliche Dingwelt zur kulturellen Dimension.² Verantwortungsvoller Konsum und das verantwortungsvolle Produzieren wird so zu einer Aufgabe der kulturellen Identitätsstiftung, der Neujustierung des Zusammenlebens und entsprechender kulturelle Werteentwicklung, zu der auch das Produkt- und Industriedesign einen wichtigen Beitrag leisten kann und muss. In diesem Zusammenhang ist es positiv zu bewerten, dass ein noch nie dagewesenes Bewusstsein für die globalen Probleme und Zusammenhänge in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erreicht ist. Auch im Produkt- und Industriedesign hat der Nachhaltigkeitsdiskurs stark an Bedeutung gewonnen. Das Verständnis für die Komplexi -

tät und Dringlichkeit der Nachhaltigkeitsherausforderungen ist immer gegenwärtig und durchdringt unseren Alltag, insbesondere in Bezug auf Klimawandel, den CO₂Eintrag in die Welt und den damit einhergehenden Verlust der biologischen Vielfalt. Die nötigen Zukunftswenden3 — die Wohlstands- und Konsumwende, die Energiewende, die Ressourcenwende, die Mobilitätswende, die Ernährungswende, die Urbane Wende und die Industrielle Wende — deuten an, wie eng unser kulturelles Gesellschaftsgefüge mit wirtschaftlicher Prosperität verwoben ist. Die Gegenwärtigkeit des nötigen Wandels wird gleichfalls durch aktuelle nationale und internationale Wirtschaftsinitiativen offensichtlich. So spiegeln sich beispielsweise im europäischen Wirtschaftsprogramm »European Green Deal«4 diese notwendigen Wenden inhaltlich wider. Aufbauend auf der Agenda 2030 wurde 2019 der Europäische Green Deal von der Europäischen Kommission initiiert. Das Konzept, keine Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 mehr freizusetzen, mit dem Ziel, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, soll gepaart mit dem europäischen Finanz-Aufbauinstrument »NextGenerationEU«5 die Grundlage für ein grüneres und digitaleres Europa bilden. Auch hier ist das Produkt- und Industriedesign als wirtschaftsbezogene Dienstleistung gefordert, einen Beitrag zu leisten. In der Designphase werden maßgeblich Umweltauswirkungen festgelegt, die ein Produkt während seines Lebenszyklus verursacht. Die Umweltauswirkungen können durch das Anwenden von Nachhaltigkeitsgrundsätzen im Designprozess wesentlich verringert werden. Produkte können kreislauffähig, ressourcen- und energieeffizienter gestaltet werden.6

Eine weitere Initiative der Europäischen Kommission im Rahmen des Green Deals ist der »Circular Economy Action Plan«.7 Mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft soll die Möglichkeit geschaffen werden, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch nachhaltig zu entkoppeln. In diesem Zusammenhang wird zurzeit auch die europäische »Ökodesign-Richtlinie«8 aktualisiert. So zeigt sich, dass einerseits verantwortungsbewusster Konsum als Wertezuschreibung und kultureller Akt neu modelliert werden muss, und zeitgleich den Produzierenden die nachhaltige Verantwortung im Erhalt der Wirtschaftskraft zur Schaffung von sozialer Sicherheit durch Wohlstand zugeschrieben wird. Der politische Fokus auf die 3 Dimensionen der Nachhaltigkeit — sozial, ökologisch und ökonomisch — führt dabei nicht nur im Produkt- und Industriedesign zu Zielkonflikten. Produktqualität, Umweltverträglichkeit und eine verantwortungsvolle Produktion haben Einfluss auf wirtschaftliche Aspekte, die nicht grundsätzlich zum Wirtschaftswachstum in einem global agierenden Markt führen und somit wirtschaftliche Anforderungen teils konterkarieren.

Das Produkt- und Industriedesign muss entsprechend den dargestellten Wirtschaftsanforderungen für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster Produkte und Dienstleistungen nach den Ökodesignverfahren entwerfen und Systeme schaffen, die eine gesellschaftliche Partizipation ermöglichen.

3  vgl. Schneidewind, Uwe (2019): Die große Transformation: eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, S. Fischer Verlag, 4. Auflage, Frankfurt am Main

4  vgl. Hainsch, Karlo; Brauers, Hanna; Burandt, Thorsten; et al. (2020): Make the European Green Deal real: Combining climate neutrality and economic recovery. ↘ t1p.de/w2wp4

5  vgl. European Commission (2023): Directorate General for Communication: NextGenerationEU. ↘ t1p.de/b02p9

6  vgl. Europäische Kommission (2020): Ein neuer Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft. Für ein saubereres und wettbewerbsfähigeres Europa. Directorate General for Communication, LU: Publications Office, S. 6 ↘ t1p.de/j0if2

7  vgl. Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Ein neuer Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft. Für ein saubereres und wettbewerbsfähigeres Europa, 11.03.2020 ↘ t1p.de/c7a44

8  vgl. Europäischen Union: Richtlinie 2009/125/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, 21.10.2009 ↘ t1p.de/scplg

Im Design sind zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele beim Gestalten von Produkten und Dienstleistungen 2 Perspektiven zu beachten: die Perspektive auf das Produkt und die auf den Materialstrom. Neben der nachhaltigen Gestaltung mit festgelegten Ökodesign-Anforderungen, wie beispielsweise langlebig, reparierbar, arm an Problemstoffen, basierend auf nachwachsenden Rohstoffen, kreislauffähig, material- und energieeffizient, müssen Materialströme, die durch die Entwicklung eines Produktes ausgelöst werden, konsequent transparent dargelegt werden. Das heißt, dass im Produktplanungs-, Produktentwicklungs- und Produktgestaltungsprozess nicht nur die umweltgerechte Gestaltung des neuen Produktes im Fokus der Designerinnen und Designer sowie Auftraggeberinnen und Auftraggeber steht, sondern auch die Prozesse der Materialbeschaffung, der Produktherstellung, der Produktnutzung und der Produktentsorgung auf ihre Umwelteinwirkungen in Zukunft geprüft und als Gestaltungseckdaten in den Designprozess einfließen sollen. Um den Grundsatz der Kreislauffähigkeit zu erfüllen, müssen Produkte zukünftig in einzelne Materialwertstoffgruppen zerlegbar sein und getrennt in den Kreislauf der biologischen und/oder technologischen Prinzipien zurückgeführt werden. Betrachtet man heutige Produkte, findet man unzählige Materialien und Verbundwerkstoffe in einem Produkt, sodass die Rückführung nicht eindeutig ist. In einem digitalen Zwilling, dem sogenannten »Produktpass«9, soll in Zukunft transparent dargestellt werden, welche Materialien und Rohstoffe in Produkten verarbeitet sind und wie sie umweltgerecht innerhalb des Kreislaufes geführt und entsorgt werden können.

9  vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (2023): Auf einen Klick: Produktpass. Lückenloser Lebenslauf, Umweltpolitische Digitalagenda ↘ t1p.de/uxyu4

10  /  11  vgl. Boch, Ralph; Gallen, Jenny; Hempel, Nadja (2020): Wege zu einer Circular Society. Potenziale des Social Design für gesellschaftliche Transformation. Social Design Lab, Hans Sauer Stiftung, München ↘ t1p.de/pp3v3

Die Rückführung der Produkte nach der aktiven Nutzungsphase führt zur Gestaltung der Systeme für eine gesellschaftliche Partizipation. Denn genau an der Stelle der Rückführung von Produkten entsteht eine Kreislauflücke (Circular Gap). Verpackungen, Produkte und Industriegüter können noch so gut für eine fachgerechte Kreislaufführung gestaltet sein, wenn der Kreislauf der Rückführung nicht geschlossen ist. Nutzerinnen und Nutzer sowie Endverbraucherinnen und -verbraucher müssen eine Kultur des Lebenszyklusdenkens (Life Cycle Thinking) entwickeln. Die Hans Sauer Stiftung und das social design lab haben neben dem oben genannten biologischen und technologischen Kreislauf einen dritten für die zukünftige zirkuläre Gesellschaft (Circular Society) wichtigen Kreislauf nach den Prinzipien der Soziosphäre entwickelt.10 Auch dieser Teilkreislauf muss durch Designerinnen und Designer gestaltet werden. Wie kann Design gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteuren neue Praktiken der Partizipation zum Schutz der Natur nahebringen? Die Beantwortung dieser Frage sollte ein wesentlicher Teil des Nachhaltigkeitsdiskurses im Produkt- und Industriedesign werden. Produkt- und Industriedesignerinnen und -designer können einerseits funktionale Rückführsysteme entwickeln, gleichzeitig muss durch ansprechendes Design Wertschätzung, Wissenstransfer und Bewusstseinsbildung für die Bedeutung der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes aufgebaut werden.11 Diese Bewusstseinsbildung und Werteentwicklung müssen zentrale sozio-kulturelle Aufgaben des Designs werden. Dabei mag die praktische Funktion im Vordergrund stehen, aber ein Produkt-Service-System hat als sogenannter Aktant, eingebunden in unser gesellschaftliches Netzwerk, immer auch eine darstellende kommunikative Funktion und signalisiert eine kulturelle Dimension. Gute Ge-

staltung führt zu Wertschätzung und emotionaler Bindung. Lieblingsobjekte entwickeln Patina und stehen für positive Narrative. Durch eine solche Beziehung entsteht Langlebigkeit.

Ein weiterer wichtiger Schritt zu Bewusstseinsbildung für die Bedeutung der Nachhaltigkeit wäre die Umsetzung des »Rechts auf Reparatur«1², das im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die Legislaturperiode 2021—25 des Deutschen Bundestags vereinbart und am 22. März 2023 vorgestellt wurde. Es gibt den Produktbesitzerinnen und -besitzern die rechtliche Grundlage, ihre Produkte reparieren zu lassen bzw. sogar selbst zu reparieren. Für die Generation meines Großvaters würde diese kulturpolitische Entwicklung unserer Gesellschaft wohl Fragezeichen aufwerfen. In seiner alten Kornmühle hatte er ein anthropogenes Lager aus Ersatzteilen für seine Maschinen. Für ihn war die Reparatur seiner eigenen Maschinen ein Selbstverständnis. Das Recht auf Reparatur beschreibt genau diese Situation, die für Generationen vor uns nicht eingefordert werden musste. Hier sind Produkt- und Industriedesignerinnen und -designer sowie Auftraggeberinnen und Auftraggeber gefragt, Produkte von vorneherein so zu gestalten, dass sich eine Kultur des Reparierens, wie sie damals üblich war, wieder einstellt und weiterentwickelt werden kann. Mit dem Recht auf Reparatur bekommen Bürger nicht nur ein Recht, sondern auch die Möglichkeit zurück, sparsamer mit Rohstoffen umzugehen und weniger wegzuwerfen. Kreativität und Improvisation liegt in der Natur des Reparierens. Das Verbraucherrecht spricht somit indirekt allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu, sich selbstwirksam und partizipativ gegen Konsum auszusprechen und Selbstverantwortung zu übernehmen.

12  vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (2023): FAQ Recht auf Reparatur, Konsum und Produkte. ↘ t1p.de/lybrz

13  Schneidewind, Uwe (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. S. Fischer Verlag, S. 21

»Zukunftskunst bezeichnet die Fähigkeit von Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaft und allen Pionieren des Wandels, grundlegende Transformationsprozesse von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her zu denken und von dort institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln.« 13

Uwe Schneidewind macht mit seinem Statement deutlich, dass die Transformation zur Nachhaltigkeit partizipativ ist — wir können nicht nur am Nachhaltigkeitsdiskurs teilhaben, wir müssen Zukunft gemeinsam gestalten.

Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen

13 Maßnahmen zum Klimaschutz

Die Zeit läuft uns davon!

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde; von 1983 bis 2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an; er war umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und stellvertretender Fraktionsvorsitzender; von 2005 bis 2009 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt Naturschutz und Reaktorsicherheit.

I.

Wir leben in einem Jahrzehnt der Extreme, in dem die bisherigen Gewissheiten keinen Bestand mehr haben. Es ist die gefährlichste Dekade seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wir müssen heute alles tun, damit es nicht ähnlich dramatisch endet. Die Krisen und Herausforderungen häufen, verbinden und verstärken sich. Immer schneller steuert die Menschheit auf den verhängnisvollen Zeitpunkt zu, an dem die unbewältigten Krisen Synergien erzeugen werden, deren negative Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Damit stellt sich die Frage: Können wir noch zu einem grundlegenden Kurswechsel kommen, so wie er, wenn auch unzureichend, in den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen vorgegeben ist?

Die Zeit drängt, ja sie läuft uns davon. Die Zuspitzung der globalen Krisen beschleunigte sich 2020 mit der Corona-Pandemie, von der die Welt völlig unvorbereitet getroffen wurde und die auch unser Land monatelang mit einem Lockdown lähmte. Zwei Jahre später begann 2022 der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, aus dem längst ein Weltordnungskrieg geworden ist. Die Führung der russischen Atommacht wollte mit einer schnellen Einnahme Kiews einen »Enthauptungsschlag«, tatsächlich ist es zu einem blutigen Stellungskrieg im Osten und Süden der Ukraine gekommen. Bachmut wurde zum Verdun unserer Zeit. Der Krieg hat längst eine unberechenbare Eskalationsdynamik angenommen.

Die größte Herausforderung steht uns jedoch erst bevor und sie scheint, so die traurige Wahrheit, nicht mehr abwendbar zu sein: Die globale Klimakrise. Bereits im nächsten Jahr wird in der Troposphäre eine Konzentration von Kohlendioxid (CO₂) gemessen werden, die — unabänderlich, wenn auch durch die Anpassungsprozesse des Klimasystems mit einer zeitlichen Verzögerung — zu einer Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius führen wird. Die regionalen Unterschiede werden noch längere Zeit erheblich sein.

Dann wird es ernst mit den gefürchteten »Tipping Points« (Kipppunkte) im Erdsystem. Dazu gehören zum Beispiel das Absterben der Korallenriffe, das Austrocknen der brasilianischen Tropenwälder oder die Abschwächung der thermohalinen Windbänder über dem Atlantik. Die Rückwirkungen und Folgen werden sich mit zunehmender Wucht in radikalen und zumindest langanhaltenden Veränderungen im Erdsystem, auf dessen Stabilität menschliches Leben angewiesen ist, auswirken. Die Folgen der Erderwärmung treffen vor allem die armen Weltregionen und die Ungeborenen, die über nur einen geringen oder noch über gar keinen politischen Einfluss verfügen. Die Klimakrise vertieft die Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, zwischen Jung und Alt, wobei es auf Dauer auch für die privilegierten Bevölkerungsgruppen keine »Notausgang« geben wird. Aber heute sind sie weniger betroffen und können sich besser schützen. Doch noch immer ist nicht verstanden, dass Klimaschutz keine Ergänzung dessen ist, was besteht, sondern in Wirtschaft und Gesellschaft ein radikales Umdenken für eine soziale wie ökologisch geleitete Revolution im Denken und Handeln notwendig macht, in der die eigenen Interessen zugunsten einer aufgeklärten Solidarität mit Menschen und Natur zurückgestellt werden.

Tastsächlich hat sich zwar in der Öffentlichkeit die Debatte über die Klimakrise heute etabliert, aber ihre Dimension ist längst nicht verstanden. Zentrale Grundfragen für die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation werden noch immer tabuisiert. Zwar bezweifelt außer der AfD keine Partei diese Menschheitsherausforderung, auch die Medien berichten immer wieder über die Dramatik der Erderwärmung. Auch die Werbung hat sich des Themas angenommen. Doch die öffentliche Meinungsma-

che hat einen Deutungsrahmen geschaffen, in dem entscheidende Fakten verdrängt werden. Ein grüner Kapitalismus soll der Klimaschützer sein. Doch der eigentliche Kern der Klimakrise ist das Überschreiten ökologischer Grenzen des Wachstums, was für ein derartiges Wirtschaftssystem immanent ist. Die Klimakrise wird von daher vor allem verbal entschärft, obwohl sie sich real verschärft. Ein Beispiel: Der UN-Klimarahmenvertrag, der 1992 einstimmig auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro beschlossen wurde, forderte eine deutliche Verringerung der Treibhausgasemissionen. Tatsächlich hat sich seitdem der Kohlendioxid-Ausstoß jedoch verdoppelt.

Wie eine Gesellschaft, in diesem Fall sogar die Weltgemeinschaft, sich ihr Denken und daraus folgend ihre Politik einreden lässt, nennt man »politisches Framing«. Wie wir aus der modernen Neuro- und Kognitionsforschung wissen, interpretieren Frames die Wirklichkeit nach spezifischen Interessen, so auch die Klimakrise, wie wir sie wahrnehmen sollen und wahrscheinlich auch wahrnehmen wollen. Nicht als politischer Umbruch, sondern als grüne Ergänzung dessen, was wir haben und behalten wollen. Das erklärt, warum die Menschheit nicht in der Lage zu sein scheint, die Dimension und Tragweite der Klimakrise zu verstehen. Dagegen hat Immanuel Kant die grundlegende Urteilsfähigkeit des Menschen in der »Kritik der reinen Vernunft« als Frage exakter, bewusster und rationaler Erkenntnis beschrieben. Davon sind wir in der Bewertung der multiplen Krisen, die uns heute herausfordern, weit entfernt.

Politische Begriffe und Kategorien dürfen nicht verschleiern oder sogar die Menschen täuschen. Sie müssen Klarheit schaffen und befähigen, unter die Oberfläche zu schauen, Zusammenhänge zu verstehen und Interessen zu erkennen, um die Dimension der Herausforderung zu erfassen. Weil das bisher nicht geschehen ist, wurde auch die erste Schlacht gegen die Klimakrise bereits verloren, das unwürdige Gerangel um das Kyoto-Protokoll.

Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wird größer, denn seit den Studien des US-Forschungsrates von 1979 ist bekannt, dass ein Anstieg von CO₂ auf 420 ppm ( Teile auf eine Million Teile) in der Troposphäre zu einem globalen Temperaturanstieg um 1,5 Grad führen würde. Heute wird bereits 418 ppm gemessen mit einem jährlichen Anstieg von derzeit 2,23 ppm. Zudem hat Kohlenstoff eine Verweildauer in der unteren Lufthülle zwischen 30 und 120 Jahren. Das heißt: Die klimatischen Bedingungen der weiteren Zukunft sind in einem großen Umfang vorprogrammiert, also nicht mehr zu verhindern.

Zwar wurde auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris von der globalen Staatengemeinschaft feierlich versichert, dass sie die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad begrenzen wollen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Schon die in Paris vorgelegten nationalen Selbstverpflichtungen, deren Nichteinhaltung von der UNO nicht sanktioniert werden können, werden — je nach Annahmen und Rahmenbedingungen — zu einer Erwärmung um 2,8 bis 3,2 Grad führen. Tatsächlich bleiben jedoch viele Staaten auch noch hinter ihren eigenen Vorgaben zurück. Dadurch befindet sich die Welt derzeit auf einem Pfad von deutlich über 3,2 Grad Celsius. Die Selbstvernichtung der Menschheit ist zu einer realen Vision geworden.

II.

Handele so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. So formulierte Hans Jonas den ethischen Imperativ, den die Menschheit für ihr Überleben braucht. Die traditionellen Denk- und Handlungsweisen, aus einer Entwicklung erst zu lernen, wenn der Schaden eingetre-

ten ist und ihn mit den Möglichkeiten der modernen Technik einzuhegen, werden der Klimakrise nicht gerecht. Das Prinzip Verantwortung konzentriert sich deshalb auf die Frage: Handeln wir heute so, dass ein Klima-Gau verhindert wird?

Der Weltklimarat, der größte Wissenschaftskonvent der Welt, hat mit Hilfe der Paläoklimatologie, von über 29.000 Datenblättern aus der Wetterbeobachtung und von zahlreichen Computersimulationen eine düstere Zukunft aufgezeigt, wenn wir nicht schnell gegensteuern. Die Menschheit führt einen alltäglichen Krieg gegen die Natur, den globalen Süden und die Zukunft. Die globale Erwärmung kommt schneller, härter und einschneidender als noch vor wenigen Jahren erwartet wurde. Nie zuvor war die Menschheit so gefordert, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, also Rücksicht nehmen auf ein denkbares Morgen und zu einer nachhaltigen Entwicklung kommen. Denn heute wird die höchste Konzentration von Treibhausgasen seit 650.000 Jahren gemessen. Die Geschwindigkeit des Temperaturanstiegs übersteigt alles, was aus den letzten Jahrtausenden bekannt ist. Selbst bei einem sofortigen Stopp der Treibhausgase ist eine weitere Erwärmung von 0,1 ° C pro Dekade über lange Zeit nicht zu verhindern.

1  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung

Globale Umweltveränderungen (2008): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Heidelberg

Wenn nicht schnell und durchgreifend gehandelt wird, drohen die Folgen der Erderwärmung zur bedeutendsten Ursache politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Krisen und neuer Gewalt zu werden. Sie drehen sich um Wasser, Rohstoffe und Klima, um Lebensbedingungen, Migration und Frieden. Der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltfragen ( WBGU) der Bundesregierung machte das bereits in dem 2008 veröffentlichten Gutachten »Sicherheitsrisiko Klimawandel«1 deutlich. Die zentrale Botschaft lautet, dass die Klimakrise schon bald die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaften übersteigen wird. Die Folgen sind Gewalt, Verteilungskonflikte und Destabilisierung, die die Sicherheit in einem unbekannten Ausmaß bedrohen werden: Degradation von Süßwasserressourcen, Rückgang der Nahrungsmittelproduktion, Sturm- und Flutkatastrophen sowie umweltbedingte Armutswanderung, von denen arme und fragile Staaten besonders betroffen sein werden.

Brennpunkte der Klimakonflikte

Für das südliche und westliche Nordamerika wird ein Trinkwassermangel befürchtet. In vielen Regionen wird die Ernte stark zurückgehen. Starke Hurrikans werden zunehmen. Florida ist vom steigenden Meeresspiegel betroffen. In Lateinamerika schmelzen die Andengletscher. In der Folge drohen bis zu 77 Millionen Menschen von Wassermangel betroffen zu werden. Bereits rund 30 Prozent von der 2.042 km2 großen Gletscherfläche in den Kordilleren sind verloren gegangen. Vier Fünftel der peruanischen Energieversorgung hängt von Wasserkraftwerken ab. Besonders düster ist die Aussicht für Lima. Die Wasserversorgung der mehr als 7,5 Millionen Einwohner wird durch die Anden ermöglicht. Die Reserven gehen rapide zurück. Die Luftfeuchtigkeit nimmt ab, so dass die Biosphäre von der Hitze geschädigt wird, die trockene Savanne wird tropische Wälder verdrängen.

Große Teile Afrikas können künftig noch weniger als heute bewässert werden. Darunter werden künftig rund eine halbe Milliarde Menschen leiden. Bereits heute sind 46 Prozent der afrikanischen Landfläche mit 465 Millionen Menschen Wüste. Eine Versalzung landwirtschaftlicher Gebiete trifft besonders das bevölkerungsreiche Nildelta. Allein im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas sind 15 bis 20 Prozent der Men-

schen unterernährt. Durch die Erderwärmung drohen dem »Armenhaus der Erde« in einigen Regionen bis zu 50 Prozent Ernteausfälle. Schon bei einer globalen Erwärmung um 1,8 ° C können in einigen Ländern die Erträge um 20 Prozent zurückgehen. Am härtesten betroffen sein werden im Süden Mosambik, Malawi und Sambia, die zu den ärmsten Gesellschaften der Welt gehören, ebenso große Teile Ostafrikas — Nordkenia, Äthiopien, Eritrea und Dschibuti sowie Sudan und Somalia. In den Mündungsgebieten großer Flüsse sind Millionenstädte wie Lagos in Nigeria von Überschwemmungen gefährdet.

In Asien werden künftig zahlreiche Überschwemmungen vom Schmelzwasser der Gletscher des Himalayas verursacht. Sie sind die Wasserspeicher Asiens und machen 15 Prozent der globalen Eismasse aus, große Flüsse wie der Indus, Mekong oder Jangtse speisen sich daraus. Im Trend werden in 100 Jahren alle chinesischen Gletscher geschmolzen sein. China hat schon heute mit Wasserknappheit und Wasserverseuchung zu kämpfen hat. Bevölkerungsreiche Großstädte wie Mumbai oder Shanghai liegen im Mündungsbereich von Flüssen. Insgesamt leben 635 Millionen Menschen an Küsten, die nur bis zu 10 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Schon eine Erwärmung um 2 ° C kann für Millionen von Menschen in Bangladesh das Leben unmöglich machen. Geologisch ist das Land eine einzige Flussniederung. Sollte der Meeresspiegel um 45 cm ansteigen, müssten sich bis zu 5,5 Millionen Menschen eine neue Heimat suchen. Kleine Inseln im Pazifik, deren höchster Punkt nur fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt, werden vom Wasser abgetragen und überschwemmt. Die Regierung des Inselstaates Tuvalu versuchte bereits vorsorglich, für ihre Bevölkerung in Neuseeland oder Australien Asyl zu beantragen.

Auch für Europa gibt es alarmierende Befunde. Wissenschaftler befürchten, dass bei einem Abbrechen der arktischen Eisschilde die Niederlande nicht zu retten sein könnte.

Nach Angaben des Bundesamtes für Meereskunde wurde in der Nordsee seit 1993 ein kontinuierlicher Temperaturanstieg im Oberflächenwasser von rund 2° C registriert. Der pH-Wert nimmt ab. Seit Beginn der Industrialisierung ist er um ca. 0,11 Einheiten gesunken, ein weiteres Absinken bis zu 0,35 pH-Einheiten bis 2100 ist zu befürchten.

Das hat erhebliche Auswirkungen auf Muscheln, Schnecken und Korallen. Die Alpen verlieren in rasantem Tempo ihre Eiszonen und Gletscher. Starkregen, Überschwemmungen, Erosion und Gletscherschmelze nehmen zu, im Süden Europas sind Dürren und Ernteausfälle zu erwarten. Trockenheit wird das Hauptproblem sein. In Südspanien und Portugal, aber auch in Griechenland entstehen neue Wüstengebiete. Bedrohlich ist die Freisetzung von Methan aus der auftauenden Tiefkühltruhe Sibiriens, eine gewaltige Treibhausbombe. Die Permafrostgebiete liegen überwiegend in Russland, China und Kanada. Die Methan-Emissionen können für einen zusätzlichen Wärmeschub in der Atmosphäre sorgen, sie sind fast 30-mal wirksamer als Kohlendioxid. Die vom Menschen gemachte Klimakrise fordert unsere »überbevölkerte, verschmutzte, ungleiche und störanfällige Erde« (BrundtlandBericht²) tiefgreifend heraus. Es ist die Schlüsselfrage für Mensch und Natur.

2  Report of the World Commission on Environment and Development (1987 ): Our Common Future ↘ t1p.de/5atto

III.

Der Schutz der Natur, ein gerechtes Verhältnis zur sozialen und zur natürlichen Mitwelt und die schonende (Kreislauf-)Nutzung von Energie und Ressourcen werden zu Schlüsselfragen unseres Jahrhunderts. Bei einer Fortsetzung des bisherigen Wachstums gerät die Welt in eine für die Menschheit tödliche Sackgasse. Dann werden die

reichen Eliten der Welt versuchen, sich rigoros vom Rest der Menschheit abzuschotten, damit sie sich als »Erdbewohner erster Klasse« auch weiterhin ihren komfortablen Lebensstil zu Lasten von Mensch und Natur absichern können. Ihr Ziel wäre dann die Schaffung grünen, streng abgeschotteter Oasen des Wohlstands gegen eine unwirtlich werdende Welt. Das riecht nach Krieg.

Der Kurswechsel ist allerdings nicht mit wenigen Teilkorrekturen zu erreichen. Vielmehr geht es um 4 große Reformbereiche, die für eine friedliche und gute Zukunft entscheidend sein werden:

– die Neudefinition des technischen Fortschritts, der Innovationen auf die Naturverträglichkeit und die Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen legt;

– eine Wirtschaftsverfassung, die eine sozial-ökologisch regulierte Marktwirtschaft zulässt und nicht länger von der totalen Dominanz der Ökonomie ausgeht;

– eine gerechte Verteilung der Lasten und Kosten des ökologischen Umbaus — innerhalb der Gesellschaft, international und zwischen den Generationen;

– ein reflexives kulturelles Verständnis von Freiheit und Verantwortung, das den Begrenzungen der Erde und der Endlichkeit des Naturkapitals gerecht wird.

Die große Megamaschine des Industriezeitalters, die das Schneller, Höher und Weiter möglich gemacht hat, gerät ins Stocken. Der Glaube an Fortschritt durch wirtschaftliches Wachstum und immer neue technische Innovationen ist nicht zu halten. Wir brauchen eine neue Qualität des Fortschritts. Ein Fortschritt, der die ökologischen Grenzen unseres Erdsystems für ein dauerhaftes menschliches Leben einhält. Das geht nur, wenn die natürliche und soziale Mitwelt als Einheit gesehen wird. Ohne mehr Freiheit, ohne mehr soziale Gerechtigkeit, ohne eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird es den überfälligen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht geben. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen geben für die Weltgemeinschaft eine erste Richtung vor. Der Weg muss aber weiter und vor allem schnell gegangen werden. Dafür brauchen wir eine engagierte und kreative Kultur, die zum reflexiven Nährboden des neuen Fortschritts wird.

Beim Klimaschutz konsequent werden — denn jedes Zehntelgrad zählt

Olaf Bandt ist Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND); von 2008 bis 2019 war er Geschäftsführer des BUND, davor war er von 1992 bis 2008 Campaigner für Abfallvermeidung; zuvor war er als Berater und Gutachter tätig.

Von Nordspanien über Frankreich bis nach Brandenburg: Mit extremer Trockenheit und akutem Wassermangel erreichen die Auswirkungen der Klimakrise Europa in einem bislang nicht gekannten Ausmaß. Im globalen Süden gehören anhaltende Dürren und dramatische Überschwemmungen schon längere Zeit zur Realität. Dem Weltklimarat (IPCC) zufolge wird es immer wahrscheinlicher, dass wir die 1,5-Grad-Grenze in den nächsten Jahren reißen werden. Das ist jedoch kein Grund aufzugeben. Im Gegenteil: Es kommt auf jedes Zehntelgrad an. Studien zeigen, dass schon bei 2 Grad Erderhitzung die Schäden um ein Vielfaches größer sind als bei einer Erhitzung um 1,5 Grad.

Die Klimakrise ist nur eine unter vielen sozialen und ökologischen Krisen. Ungemindert schwindet die Artenvielfalt, werden Böden und Rohstoffe immer knapper und wächst die soziale Ungleichheit hier und weltweit. Umso wichtiger ist es, dass die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) Umwelt- und Entwicklungsziele miteinander verknüpfen. Am Beispiel von SDG 13 wird deutlich: Wir müssen der Klimakrise konsequente Maßnahmen entgegensetzen. Nur dann besteht eine Chance, auch die anderen Ziele zu erreichen, z. B. Hunger und Armut zu beenden, Zugang zu sauberem Wasser für alle Menschen zu schaffen oder den Artenverlust aufzuhalten.

Zusammenspiel aus politischer Regulierung und kulturellem Wandel

Viele der sozialen und ökologischen Krisen lassen sich auf eine nicht nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise zurückführen, die unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten anstrebt und umsetzt. Deshalb kann die Antwort auf die sozialen und ökologischen Krisen nur in einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation liegen. Es geht also darum, als Gesellschaft unsere Lebens- und Wirtschaftsweise so zu verändern, dass mehr soziale Gerechtigkeit entsteht und die Grundversorgung sowie ein verantwortungsvoller Umgang mit den Gemeingütern gesichert sind.

Der Politik kommt hierbei die wesentliche Aufgabe zu, den Rahmen zu setzen. Alle politischen Ebenen — von der internationalen über die europäische und nationale bis zur regionalen und lokalen Ebene — müssen sich mit hoher Priorität hierfür einsetzen. Für den Klimaschutz in Deutschland bedeutet ein solcher Rahmen einerseits ambitionierte Ziele für eine absolute Senkung des Energieverbrauchs. Er bedeutet andererseits ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz mit klaren Verantwortlichkeiten aller Bundesministerien vom Bau- bis zum Verkehrsministerium — und einer verbindlichen und zügigen Umsetzung. Doch es braucht noch mehr: Auch für einen kulturellen Wandel und gesellschaftliche Teilhabe müssen die verschiedenen Ebenen und insbesondere die Bundesregierung gute Rahmenbedingungen schaffen. Etwa für eine dezentrale Bürgerinnen- und Bürgerwende oder eine Verkehrswende, durch die umweltverträgliche Alternativen ausgebaut und zugleich ein verlässlicher Übergang für die Beschäftigten der Autoindustrie gestaltet wird.

Klimaschutz konkret auf nationaler Ebene

In Deutschland muss die Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen und Klimaschutz konsequent umsetzen, statt wie aktuell geplant, das Klimaschutzgesetz zu schleifen und damit den Lehrplan zu ändern. Nach Jahren des Reformstaus in der Großen Koalition macht die aktuelle Ampel-Koalition hier faule Kompromisse. Einerseits versucht die Ampel den Ausbau der erneuerbaren Energien durch schwerwiegende Eingriffe in das Naturschutzrecht voranzubringen. Andererseits werden wich13

tige Maßnahmen verschleppt, die einen naturverträglichen und sozial gerechten Ausbau ermöglichen würden. Die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Solardachpflicht ist weder in dem Entwurf der Solarstrategie des Wirtschaftsministeriums noch im Gebäudeenergiegesetz zu finden. Ebenso fehlen die nötigen Voraussetzungen, um »Energy Sharing«, das heißt das gemeinsame Produzieren, Verbrauchen und Teilen von Strom, zu ermöglichen. Beide Maßnahmen haben ein großes Potenzial, den Ausbau von Wind- und Solarenergie zu beschleunigen und den Druck auf die Fläche zu verringern.

Im Verkehrsbereich braucht es für konsequenten Klimaschutz zweierlei: Erstens eine Antriebswende hin zu den energieeffizientesten Lösungen, welche die meisten Ressourcen einsparen. Und zweitens eine Mobilitätswende, damit Menschen und Waren mit möglichst geringen Belastungen für Natur und Klima von A nach B kommen. Um die aktuell bestehende Abhängigkeit vom (eigenen) Auto zu verringern, ist ein gut ausgebauter, für alle nutzbarer und bezahlbarer öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV ) unabdingbar. Ergänzt werden sollte dieser durch Sharing-Systeme, die es Menschen ermöglichen, auch ohne eigenes Auto mobil zu sein. Auf absehbare Zeit wird jedoch auch das private Auto eine Rolle im Rahmen der Mobilitätswende spielen. Es ist deshalb wichtig, wie Fahrzeuge angetrieben werden und wie groß und schwer sie sind, da für die Herstellung und den Betrieb erhebliche Mengen an Rohstoffen benötigt werden. Nischentechnologien wie E-Fuels müssen auf Bereiche wie Schiffs- und Flugverkehr begrenzt und Flüge, wo möglich, durch klimagerechtere Verkehrsmittel ersetzt werden.

Neben dem Energiesystem und dem Verkehrsbereich müssen auch der Gebäudesektor und die Industrie grundlegend verändert werden, um konsequenten Klimaschutz umzusetzen. Der Gebäudebereich hat schon mehrfach seine Klimaziele überschritten. Hier zeigt sich, wie eng soziale und ökologische Fragen verflochten sind. Denn Menschen mit geringem Einkommen wohnen besonders häufig in Gebäuden, die schlecht oder gar nicht gedämmt sind und zahlen hohe Heizungskosten. Der aktuelle Vorstoß der Bundesregierung, für jede neu eingebaute Heizung vorzuschreiben, dass sie zu mindestens 65 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt werden muss, war überfällig. Nun muss die Regierung sicherstellen, dass durch den Ruf nach sogenannter Technologieoffenheit keine fossilen Sackgassen entstehen. Denn es besteht die Gefahr, dass durch eine weitere Zulassung von fossilen Gasheizungen und eine vermeintliche Umstellung auf Wasserstoff sowohl Gasheizungen als auch das Gasnetz viel länger als notwendig betrieben werden. Dabei ist die Wärmeversorgung mit Wasserstoff überhaupt nicht realistisch, da sie teuer und ineffizient wäre und grüner Wasserstoff gar nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen wird. Außerdem wird eines bisher vernachlässigt: Damit eine erneuerbare Wärmeversorgung bezahlbar, natur- und klimagerecht gelingt, muss der Energiebedarf von Gebäuden massiv sinken. Hierzu muss die Bundesregierung Mindeststandards für die Effizienz von Bestandsgebäuden einführen.

Für die klimagerechte Umstellung der Fertigungsprozesse in der Industrie wird zukünftig als Grundstoff Wasserstoff eine erhebliche Rolle spielen. Das trifft insbesondere auf die Stahl- und Chemieindustrie zu. Entscheidend ist aus Klimaschutzsicht, dass dabei sogenannter grüner Wasserstoff zum Einsatz kommt, der mit Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt wird. Die Regierung setzt allerdings auch auf den sogenannten blauen Wasserstoff. Dies ist fossiler Wasserstoff, bei dem das bei der Herstellung freiwerdende CO₂ teilweise abgeschieden werden soll. Dabei kann auch

kurzfristig auf blauen Wasserstoff verzichtet werden. Die Sektoren, in denen Wasserstoff zum Einsatz kommen soll, müssten dafür stark begrenzt und der Wärme- und Verkehrsbereich ausgeschlossen werden. Zugleich müsste der Aufbau einer erneuerbaren Wasserstofferzeugung stärker forciert werden. Die Gaswirtschaft versucht jedoch, eine Begrenzung zu verhindern: Denn sie möchte ihre Geschäftsmodelle aufrechterhalten und erweitern.

Konsequenter Klimaschutz auf internationaler Ebene

Der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats macht es erneut deutlich: Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ist essenziell, und auch jedes weitere Zehntel Grad vermiedene Erderwärmung zählt, um die Lebensgrundlagen vieler Milliarden Menschen sowie Flora und Fauna zu schützen. Eine erfolgreiche und konsequente internationale Klimapolitik darf kein Rechenspiel um Emissionen sein, sondern muss sich die Frage stellen, wie das globale Wirtschaftssystem sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger gestaltet werden kann. Die aktuelle Macht insbesondere der fossilen Industrien blockiert viele der notwendigen Veränderungen. Umso wichtiger ist eine ernsthafte Partizipation der Zivilgesellschaft, sowohl innerhalb der Gremien des UNFCCC (Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen) als auch in Prozessen auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene.

Insbesondere da die Zerstörung von Natur und Umwelt häufig mit der Einschränkung fundamentaler Menschenrechte einhergeht, kann eine globale Klimapolitik nicht ohne ihre Integration gelingen. So darf internationale Klimapolitik nicht diejenigen Fehler und Strukturen reproduzieren, durch die in den vergangenen Jahrhunderten globale Ungerechtigkeiten zementiert und der Wohlstand eines kleinen Teils der Weltbevölkerung auf Kosten insbesondere des globalen Südens erwirtschaftet wurde. Deshalb kommt Deutschland und anderen reichen Industrienationen aus der Perspektive globaler Gerechtigkeit eine besondere Verantwortung bei der Bekämpfung der Klimakrise zu: Seit der industriellen Revolution haben sie deutlich mehr Treibhausgasemissionen ausgestoßen als der Rest der Welt — und noch heute sind die Pro-Kopf-Emissionen in Deutschland etwa doppelt so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Eine grundlegende sozial-ökologische Transformation muss die Ambitionen im Hinblick auf die internationalen Klimaschutzvereinbarungen deutlich steigern. Zugleich sind weitere konkrete Maßnahmen notwendig: So muss der globale Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und Atom zügig und gerecht vorangebracht werden.

Auch die bereits eingetretenen Effekte der Klimakrise sind sehr ungleich verteilt. Oftmals haben jene Länder, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, mit den stärksten Schäden und bleibenden Verlusten zu kämpfen. Ihnen stehen allerdings häufig die geringsten Ressourcen für diese großen Aufgaben zur Verfügung. Ein wichtiger Zwischenerfolg ist 2022 erreicht worden: Zum ersten Mal haben die Staaten auf einer UN-Klimakonferenz das Thema »Loss and Damage« — also Schäden und Verluste aufgrund der Klimakrise — konkret durch die Einrichtung eines neuen Fonds behandelt. Wie hoch diese Zahlungen ausfallen und wer sich beteiligen wird, ist jedoch noch offen. Bisher blieben die Zusagen an die internationale Klimafinanzierung weit hinter den eigentlichen Bedürfnissen zurück. Die Bundesregierung muss hier zukünftig mit gutem Beispiel vorangehen und die Haushaltsmittel für die internationale Klimafinanzierung deutlich aufstocken — entsprechend ihrer Verantwortung und dem Ausmaß der Klimakrise.

Hürden der Transformation überwinden

2 weitere Herausforderungen müssen überwunden werden, um konsequenten und sozial gerechten Klimaschutz zu erreichen: Erstens setzen viele Unternehmen und Investoren weiterhin auf fossile Technologien und Geschäftsmodelle und erhöhen dadurch das fossile Kapital. Letztlich führt dies zu Scheinlösungen wie E-Fuels in Verbrennermotoren oder dem Einsatz von Wasserstoff in fossilen Heizungen, um so lange Zeit wie möglich Gewinne aus veralteten und klimaschädlichen Technologien und Infrastrukturen zu erwirtschaften. So entstehen jedoch einerseits Stranded Assets, also der Verlust von Vermögenswerten, wenn konsequenter Klimaschutz umgesetzt wird. Andererseits werden immense Gelder verschwendet, die anderweitig klimagerecht eingesetzt werden könnten. Eine zweite Hürde für die Transformation sind Klimaschutzmaßnahmen, die nicht konsequent sozial gerecht ausgestaltet sind. So verteilt die Regierung aktuell häufig Förderungen für Klimaschutztechnologien mit der Gießkanne, statt sie gezielt an diejenigen zu zahlen, die sie tatsächlich benötigen. Die Politik muss in beiden Fällen tätig werden und die Rahmenbedingungen für die Transformation festlegen. Auf diese Weise können sowohl konkrete Maßnahmen als auch der gesellschaftliche und kulturelle Wandel vorangebracht werden.

14 Leben unter Wasser

Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen

Eine zukunftsfähige Meerespolitik — Weichen stellen für Meer und Mensch

Nadja Ziebarth ist Leiterin des BUND-Meeresschutzbüros; sie ist seit 24 Jahren im nationalen und internationalen Meeresschutz tätig.

Gesunde Meere sind unverzichtbar. Keine der gewaltigen, globalen Herausforderungen ist ohne intakte Weltmeere zu bewältigen. Das gilt für die Klimakrise, den Verlust von Artenvielfalt und Lebensräumen, die Sicherung der Existenzgrundlage der Menschheit sowie insgesamt für eine nachhaltige Entwicklung. Sprich, das gilt für die erfolgreiche Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. 17 Umwelt- und Entwicklungsverbände haben sich daher auf ein »Kernforderungspapier für eine zukunftsfähige Meerespolitik«1 verständigt, das unter anderem Grundlage dieses Beitrags ist.

Weltweit sind viele Krisen zu meistern und wichtige Entscheidungen für eine lebenswerte Zukunft zu treffen. Dabei darf gerade der Meeresschutz als eine entscheidende Lösung zur Bewältigung der derzeitigen Krisen nicht vergessen werden. Unsere Meere sind unsere wichtigsten Verbündeten in der Klimakrise und deshalb ist es notwendig und die letzte Chance, die dringend benötigte sozial-ökologische Transformation jetzt einzuleiten.

1  Brot für die Welt; BUND; Deepwave; Deutsche Umwelthilfe; Deutscher Naturschutzring; Environmental Justice Foundation; Forum Umwelt & Entwicklung; Fair Oceans; Greenpeace; NABU; Misereor; Ozeanien Dialog; Sharkproject; WDC; World Future Council; WWF (2023): Kernforderungspapier für eine zukunftsfähige Meerespolitik ↘ t1p.de/r1l0x

Die stetig zunehmenden menschlichen Aktivitäten in unseren Meeren verstärken die Klima- und Biodiversitätskrise, mit enormen Auswirkungen auf die Meeresökosysteme. Die Meere sind in keinem guten Zustand. Ökosystemleistungen, Populationen von Fischen und anderen Meereslebewesen, intakte Lebensräume sowie die Produktivität in den Meeren nehmen derzeit in hohem Tempo und dramatischem Ausmaß ab. Die geplanten Industrialisierungsvorhaben in Nord- und Ostsee verschärfen diese Situation zusätzlich. Um eine nachhaltige Nutzung unserer Meere gewährleisten zu können, müssen diese Vorhaben ohne Ausnahme eine sparsame und umweltschonende Raumund Ressourcennutzung auf See beinhalten. In dem Nachhaltigkeitsziel 14 »Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen« spiegelt sich diese Notwendigkeiten wider.

Meeresschutz ist Klimaschutz

Intakte marine Ökosysteme sind essentiell zur Abmilderung der Klima- sowie der Biodiversitätskrise und steigern damit die Resilienz unseres Planeten. Um den Verlust mariner Artenvielfalt aufzuhalten und ihre zentralen Ökosystemfunktionen als Klimaregulator, Kohlenstoffsenke und Sauerstoffproduzent langfristig zu sichern, müssen die Meere besser geschützt werden. Blauer Planet, blaue Lunge, blauer Kohlenstoff. Diese Begriffe kommen nicht von ungefähr: Das Meer bedeckt 71 Prozent unseres Planeten, produziert mehr als die Hälfte unseres Sauerstoffes und speichert gigantische Mengen an Kohlenstoff. Aufgrund seiner Größe und der ständigen Wechselwirkung mit unserer Atmosphäre nimmt es eine Schlüsselfunktion im Klimageschehen ein.

Seit den 1970er Jahren hat das Meer über 90 Prozent der Wärme aus menschlichen Emissionen absorbiert. Gigantische Meeresströmungen verteilen die zusätzlich zur Sonneneinstrahlung aufgenommene Wärme über den gesamten Planeten. Damit regulieren sie die weltweiten Temperaturen und unser Wetter. Zusätzlich bindet das Meer riesige Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO₂) aus der Atmosphäre. Etwa 90 Milliarden Tonnen Kohlenstoff werden jährlich zwischen den Elementen ausgetauscht. Durch diese CO₂-Pufferwirkung verlangsamt das Meer die menschengemachte globale Erwärmung.

Doch die Aufnahmekapazität des Meeres ist begrenzt. Zerstörung und Verschmutzung durch menschliche Aktivitäten haben erhebliche Auswirkungen auf das Meer und seinen Lebensraum. Die Folgen des Klimawandels, wie Versauerung oder Erwärmung,

belasten die Ökosysteme zusätzlich. Dabei kann nur ein gesundes Meer mit einer großen Artenvielfalt und Biomasse die, für das Leben auf unserem Planeten so wichtigen, Klimafunktionen bereitstellen. Der Schutz des Meeres ist damit effektiv auch Klimaschutz. Zur Einhaltung der Klimaziele dürfen Klima- und Naturschutz nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müssen untrennbar miteinander verzahnt werden. Die klimarelevanten Funktionen der natürlichen, marinen Ökosysteme müssen in allen relevanten politischen Entscheidungen und gegenüber anthropogenen Nutzungsinteressen gleichberechtigt berücksichtigt werden. In natürlichen sedimentären und biologischen Habitaten mit hoher Kohlenstoffspeicherfähigkeit muss die grundberührende Schleppnetzfischerei konsequent ausgeschlossen werden. Es braucht darüber hinaus eine flächendeckende Umstellung auf nachhaltige Fischereimethoden, um intakte natürliche Kohlenstoffsenken und damit einen dauerhaften Beitrag zum Klimaschutz zu gewährleisten. Die Auswirkungen der Klimakrise auf die lokalen Küstengemeinschaften des globalen Südens und der dortigen Küstenökosysteme und Meere müssen dabei besonders berücksichtigt werden.

Meere effektiv schützen und wiederherstellen Nicht nur vor Australien, um Galapagos oder in der Karibik lassen sich die Schätze der Natur bestaunen. Auch direkt vor den deutschen Küsten liegen lebendige, bunte und bedrohte Ökosysteme. Verwunschene Riffe aus großen und kleinen Steinen in der Ostsee. Oder eine gigantische Sandbank, versteckt in Mitten der Nordsee. Für gesunde und vielfältige Meere müssen marine Lebensräume, Arten und ihre ökologischen Funktionen wirksam geschützt werden.

Dafür ist ein Netzwerk aus effektiv geschützten Schutzgebieten auf 30 Prozent der globalen Meeresfläche bis 2030 zu etablieren. Auch unter der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 ist Deutschland diesem Ziel in den nationalen Gewässern verpflichtet. Daher braucht es ein Management, wobei mindestens 50 Prozent der Schutzgebietsflächen aus der wirtschaftlichen Nutzung genommen werden müssen. Zur Wiederherstellung der Natur sollten mindestens 20 Prozent der europäischen Meere bis zum Jahr 2030 wieder in einen naturnahen und ungestörten Zustand versetzt werden. Dafür muss die eigenständige Erholung der Meere priorisiert werden, ergänzt durch aktive Maßnahmen zur Wiederherstellung, wo notwendig. Maßgeblich für den Erfolg der Verordnung in den Meeren ist das Zusammenspiel mit der Fischereipolitik, die die Erreichung der Ziele für die Wiederherstellung der Meeresumwelt nicht gefährden darf.

Kumulative Übernutzung der Meere drastisch reduzieren Unsere Meere verwandeln sich immer mehr zu Industriestandorten, in denen gesunde Lebensräume und die Artenvielfalt keinen Platz mehr haben. Durch die Übernutzung und Industrialisierung unserer Meere verlieren wir Tag für Tag die essentiellen Funktionen dieser wichtigen Ökosysteme. Die Nutzung unserer Meere sollte grundsätzlich sozial- und umweltverträglich gestaltet werden und vor allem muss das Vorsorgeprinzip bei der Planung und Durchführung aller Nutzungen greifen. Es bedarf auf nationaler und internationaler Ebene zum Beispiel der konsequenten Umsetzung eines wissenschaftsbasierten Fischereimanagements, welches sich verbindlich an ökologischen Kriterien ausrichtet, um die Auswirkungen der Fischerei auf die gesamten Ökosysteme zu minimieren. Dazu gehört insbesondere der Einsatz von selektiven Fangmethoden zur Vermeidung des Beifangs von geschützten und gefährdeten Meereslebewesen sowie von Nicht-Zielarten.

Ein sofortiges Verbot der grundberührenden schweren Schleppnetzfischerei muss in allen Meeresschutzgebieten sowie in Gebieten, die eine hohe Kohlenstoffspeicherfähigkeit aufweisen, eingeführt werden. Es braucht darüber hinaus einen Plan für einen sozialverträglichen Übergang hin zu einem kompletten Verbot dieser zerstörerischen Fangmethode bis 2030 in den EU-Gewässern. Das kann erreicht werden durch eine strenge Fischereikontrolle in Meeresgewässern sowie eine Null-Toleranz-Politik gegenüber illegaler, undokumentierter und unregulierter (IUU-)Fischerei und dem Abbau schädlicher Fischereisubventionen durch rasche Ratifizierung des WTO-Abkommens.

Offshore-Vorhaben und mögliche neue Nutzungen der Meere müssen an der ökologischen Belastungsgrenze der Meere ausgerichtet werden, mit einem vorausschauenden, auf einem stufenweise »lernenden System« beruhenden Herangehen, welches neue, wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder einbezieht. Technische Innovationen von der Gründung bis zu wirksamen Abschaltautomatiken bei Massen-Vogelzug müssen Teil der Standortwahl sein. Jeglicher Zubau von Windparks muss mit einer signifikanten Reduktion der kumulativen Belastung einhergehen.

Die vermeintliche einfache Lösung der Energiekrise liegt nicht im Meer. Damit die Energiewende sozial- und naturverträglich gelingen kann, setzt der BUND auf eine dezentrale, regionale Umsetzung der Energiewende in Bürgerinnen- und Bürgerhand. Für den BUND steht der Ausbau von Solarenergie sowie Wind an Land daher an erster Stelle. Um die Klimaziele zu erreichen bedarf es keines marinen Geo-Engineering. Denn dessen langfristige, mittelbare und unmittelbare Folgen bleiben insbesondere aufgrund der grenzüberschreitenden Auswirkungen unklar.

Weitere Störungen tragen ebenfalls zur Belastung bei. So bedarf es Maßnahmen zur sofortigen Reduktion von kontinuierlichem Unterwasserlärm, wie z. B. die Einrichtung von Ruhezonen sowie die Initiierung von Pilotprojekten zur Geschwindigkeitsreduktion von Schiffen. Hohe internationale Standards beim Schallschutz müssen so gestaltet sein, dass der Eintrag von Impulslärm aus Detonationen oder Rammungen vermieden bzw. eingedämmt wird, wobei die Suche nach Öl- und Gasreserven mittels Schallkanonen vollständig eingestellt werden muss. Auch der Eintrag von Nähr- und Schadstoffen sollte dringend um 50 Prozent reduziert werden. Zum einen betrifft dies die Nähr- und Schadstoffe aus der Landwirtschaft. Dazu müssen insbesondere Agrarsubventionen im Sinne des Schutzes von Land, Flüssen und Meeren umgelenkt werden. Zum anderen müssen die Schadstoffeinträge von Industrie und Verkehr in die Meere reduziert werden.

Schutz der Hohen See und der Tiefsee Auch außerhalb unser Küste, der Hohen See schreitet die Industrialisierung voran. Als »Hohe See« gelten 64 Prozent der Weltmeere, während eine Wassertiefe von 200 Metern die Grenze zur Tiefsee markiert. Die Hälfte der Erdoberfläche liegt in der Tiefsee und kann mit mehreren Kilometern Meerwasser überdeckt sein. Damit ist sie der größte zusammenhängende Lebensraum der Erde. Obwohl die Menschheit bislang lediglich 5 Prozent der Tiefsee erkundet hat, bestätigt ihr die Meeresforschung eine enorme Artenvielfalt und Diversität von Ökosystemen. Sie beheimatet einen unermesslichen Schatz an Biodiversität und ökologischen Wundern. Aber auch sie steht unter einem Nutzungsdruck. Das gefährdete Ökosysteme Tiefsee muss vor Zerstörung durch Tiefseebergbau sowie aller grundberührenden Fischereipraktiken geschützt werden.

Menschen und Meere ins Zentrum globaler nachhaltiger Entwicklung Vor allem im Globalen Süden sind die Existenz- und Ernährungsgrundlagen von Milliarden von Menschen abhängig von marinen Ressourcen und gesunden Meeren. Für die Armutsbekämpfung, eine faire Rohstoff- und Handelspolitik und nicht zuletzt den planetaren Umwelt- und Klimaschutz ist eine entwicklungspolitisch fundierte Meerespolitik auf Basis von Transparenz und Partizipation Hand in Hand mit den lokalen Küstengemeinschaften vor Ort unabdinglich. Entsprechende politische Prozesse müssen gerecht gestaltet und Menschenrechte gewahrt werden. In einer zukunftsfähigen Meerespolitik sollte sich die Bundesregierung und die Staatengemeinschaft kohärent für die Einbeziehung und Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen im Kontext des SDG 14 einsetzen. Es gilt Meeresschutz und nachhaltige Entwicklung gegenseitig zu verstärken.

In den Vereinbarungen der Bundesregierung sowie der internationalen Gemeinschaft zum Schutz der Meeresnatur und -umwelt sind erste wichtige Schritte gegangen worden. Es braucht aber eine zentrale Verankerung von Meeresumwelt- und Meeresnaturschutz in den politischen und fachlichen Entscheidungen aller politischen Ebenen. Der Zustand unserer Meere verlangt entschlossenes Handeln und politischen Willen aller Akteurinnen, Akteure und Entscheidungstragenden, sowohl innerhalb von Deutschland als auch aus Deutschland heraus. Dazu gehört die Umsetzung konkreter nationaler Maßnahmen ebenso, wie die von Beschlüssen aus international verhandelten Abkommen und Programmen.

Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen

15 Leben an Land

Naturschutz sichert unsere menschlichen Lebensgrundlagen

Prof. Dr. Hubert Weiger ist Präsident der Deutschen Naturschutzakademie und Ehrenvorsitzender des Bund für Naturschutz und Umwelt Deutschland (BUND), von 2007 bis 2019 war er Vorsitzender des BUND und von 2002 bis 2018 Vorsitzender des BUND Naturschutz Bayern, von 2013 bis 2022 gehörte er dem Rat für Nachhaltige Entwicklung an; seit 1994 Honorarprofessor an der Universität Kassel.

Die Natur, alles nicht direkt vom Menschen Gemachte, in ihrer Vielfalt an Lebensräumen, Arten und genetischer Vielfalt, ist Lebens- und Wirtschaftsgrundlage für den Menschen. Sie zu sichern, ist zentrale Zielsetzung des Naturschutzes. Funktionierende Ökosysteme mit ihren vielfältigen Ökosystemdienstleistungen sind das Fundament unserer Lebensqualität. Zu den wirtschaftlich bislang kaum berücksichtigten »kostenlosen« Dienstleistungen der Natur zählen zum Beispiel die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, intakten Böden, gesunden Nahrungsmitteln, erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne sowie von nachwachsenden Rohstoffen. Ebenso wichtig sind die klimaregulierenden Funktionen und der Erholungswert von Naturräumen. Nur ein funktionsfähiger Naturhaushalt gewährleistet eine ausreichende Anpassungsfähigkeit an den sich vollziehenden Klima- und Nutzungswandel, trägt zum Schutz vor Naturkatastrophen bei, stellt biogene Ressourcen bereit und sichert somit die Lebensqualität und -grundlagen künftiger Generationen.

Weltweit zählen intensive Landnutzung, die Zerstörung von natürlichen Lebensräumen, Ressourcenausbeutung, Umweltverschmutzung und fortschreitender Klimawandel zu den Hauptursachen des dramatischen Rückgangs der Biodiversität. Dies gilt auch für Deutschland.

1  Finck, Peter et al. (2017 ): Rote Liste der gefährdeten Biotoptypen Deutschlands.

NaBiV Heft 156

»Versagen durch intensive Landwirtschaft und verfehlte Agrarpolitik« — so lautet das Resümée der aktuellen Roten Liste der national gefährdeten Biotoptypen, die 2017 erstmals aktualisiert veröffentlicht wurde.1 Die Auswertung der aktuellen Einstufung zeigt, dass die Entwicklung von über 40 Prozent der Biotoptypen aktuell noch eine negative Tendenz aufweist. Nur für wenige der gefährdeten Biotoptypen (2,95 Prozent) ist eine klar positive Entwicklung festzustellen. Besonders kritisch ist die Situation bei den offenen terrestrischen Biotoptypen. Hier hat der bereits 2006 sehr hohe Anteil von Biotoptypen mit negativer Entwicklungstendenz noch einmal deutlich auf über 80 Prozent zugenommen. Diese Entwicklung kann nur als alarmierend bezeichnet werden und korreliert mit dem allgemein zu beobachtenden drastischen Verlust von Grünlandbiotopen aufgrund der Intensivierung der Wiesennutzung vor allem durch höhere Stickstoffdüngung und häufigere Mähtermine auf der einen Seite bzw. Nutzungsaufgabe mit anschließender Verbrachung und Wiederbewaldung auf der anderen Seite. Darüber hinaus werden vor allem die extensiveren Offenlandbiotope durch die anhaltende Belastung durch Nährstoffimmissionen aus der Luft — vor allem Stickstoff — in starkem Maße beeinträchtigt. Aber auch ursprünglich ungefährdete, intensivere Grünlandbiotoptypen müssen heute als gefährdet gelten und zeigen diese negative Entwicklung. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Wie gravierend die falschgeleitete Landnutzung im Detail wirkt, zeigte das 2017 zum ersten Mal in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Insektensterben. Die immer wieder punktuell beobachteten drastischen Bestandseinbrüche sind inzwischen real in der Fläche. Sie lassen sich über 27 Jahre mit Standardflugfallen für geflügelte Insekten klar nachweisen. Bei den Erhebungen in 63 deutschen Schutzgebieten zwischen 1989 und 2016 ist ein Rückgang von 76 Prozent (im Hochsommer bis zu 82 Prozent) der Fluginsekten-Biomasse festgestellt worden. Die Verluste betreffen offenbar die meisten Arten: Von Schmetterlingen, Bienen und Wespen bis zu Motten und anderen flugfähigen Arten, die praktisch ausnahmslos als Bestäuber von Wild- und Nutzpflanzen oder zumindest als Beutetiere für Vögel wichtig sind. Das Insektensterben ist auch nicht etwa ein deutsches Phänomen: Seriöse Studien an Bienenpopulationen haben schon früher deutliche Einbrüche in anderen Ländern dokumentiert.

So erlebten die Graslandschaften in Europa einen Rückgang der Schmetterlingszahlen um die Hälfte zwischen 1990 und 2011.² Auch der Klimawandel und damit die bisherige Temperaturerhöhung hat direkten Einfluss auf die Ökosysteme: Da Arten und Ökosysteme unterschiedlich schnell auf die Klimaveränderungen reagieren, kommen die Wechselbeziehungen zwischen ihnen unter Druck. So werden bei zahlreichen Tier- und Pflanzenarten Veränderungen ihres Wander- und Zugverhaltens oder ihrer Physiologie (z. B. zeitigeres Schlüpfen von Insekten, früherer Austrieb der Obstbaumblüten) festgestellt. Kühle Lebensräume in Gewässern, Mooren, Feuchtgebieten und Gebirgen sowie die daran gebundenen Arten drohen zu verschwinden. Viele Ökosysteme sind zudem bereits durch intensive Nutzung beeinträchtigt, so dass die in ihnen lebenden Tier- und Pflanzenarten zusätzlichen Veränderungen ihrer Lebensbedingungen kaum standhalten können. In Deutschland sind ca. 30 Prozent der bundesweit vorkommenden Arten bis zum Ende des Jahrhunderts vom Aussterben bedroht, wenn sich die Erwärmung ungebremst fortsetzt.3 Von dieser Klimakrise ist der Alpenraum als einer der Hotspots der nationalen Biodiversität schon heute besonders betroffen.

2  vgl. Hallmann, Caspar A.; et al. (2017 ): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. Plos One 12

3  Leuschner, Christoph; Schipka, Florian (2004): Vorstudie. Klimawandel und Naturschutz in Deutschland. In: BfN-Skripten 115, Bonn

Ein angemessener Umgang mit der Natur kann vor diesem Hintergrund nur einer sein, der die natürlichen Grenzen des Planeten wahrt und sie mit dem Blick auf den Naturschutz verteidigt. Und dabei scheitert es nicht an Zielen und Instrumenten:

1. Die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes, Nutzbarkeit der Natur durch Menschen, 2. die Erhaltung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft 3. und ihre Erhaltung aufgrund ihres Eigenwertes

sind Kernelemente, die das heutige Naturschutzrecht bereits seit Jahrzehnten klar formuliert. Und doch: in der Praxis kann die Erhaltung der Natur angesichts der vielfältigen Gefährdungsursachen nur dann gelingen, wenn wirkungsvolle Maßnahmen umgesetzt werden. Das von den EU-Mitgliedstaaten bereits 2001 beschlossene Ziel zum Stopp des Artenverlusts bis 2010 wurde vor allem deshalb verfehlt, weil dieser einfachen Erkenntnis nicht gefolgt wurde. So wurden existierende Naturschutzinstrumente nicht genutzt, Aufgaben wie der Aufbau und das Management des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 nicht ausreichend finanziert und gleichzeitig die Zahlung umweltschädlicher Subventionen fortgesetzt. Ein Fortsetzen des bisherigen Versagens ist nach wie vor Realität. Ein angemessener Umgang mit der Natur heißt letztlich die Sicherung der Nachhaltigkeit: Die langfristige Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen muss zur Basis für unsere soziale und wirtschaftliche Entwicklung werden. Dieses Verständnis einer nachhaltigen Entwicklung sollte besonders im Hinblick auf Zielkonflikte zwischen Natur- und Wirtschaftsinteressen handlungsleitend werden. Es kann nicht um ein scheinbar gleichberechtigtes Ausbalancieren gehen. Angemessener Umgang heißt dann auch Generationengerechtigkeit: Die Naturnutzung durch Menschen muss für Menschen dauerhaft möglich sein. Und der klassische Naturschutz hat seit seiner Erfindung 1888 durch Ernst Rudorff vorgelegt: Unzählige Modellprojekte haben gezeigt, dass mit Ordnungsrecht und ausreichenden Finanzmitteln, Flächenbereitstellung und

Personal Natur erhalten, negative Einflüsse minimiert und die Ziele für die Erhaltung der biologischen Vielfalt sehr wohl quantitativ wie qualitativ erreicht werden können. Nach der Modell- und Testphase in kleinen Teilen der Landschaft ist jetzt eine Übertragung und Umsetzung auf der gesamten Landesfläche überfällig!

4  Siehe dazu: Deutscher Naturschutzring e. V.; Rat für nachhaltige Entwicklung (2022): Verbesserungsgebot für die Artenvielfalt. Die Biodiversität in der Nachhaltigkeitstransformation stärken.

Es scheitert auch nicht an dem Fehlen von rechtlichen Regelungen und fehlenden Instrumenten für den Naturschutz. Mit der Eingriffsregelung, der kommunalen Bauleitplanung, dem Artenschutzrecht, der FFH- und Vogelschutzrichtlinie und dem Umweltschadensgesetz, um nur einige Beispiele zu nennen, liegt ein breites Portfolio an Werkzeugen für die Erhaltung der biologischen Vielfalt vor, dass nur der konsequenten und klugen Umsetzung bedarf, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten. Die Erfolge insbesondere im Artenschutz bei Biber, Wolf, Wildkatze und Co zeigen, dass Naturschutz wirkt. Er wirkt zurzeit jedoch nur in speziellen, meist für Menschen attraktiven Bereichen. Von einer flächendeckenden, hoch qualitativen Umsetzung sind wir noch weit entfernt. Bei der Vielfalt seiner Schutzgüter braucht Naturschutz vielfältige Methoden, breite gedankliche Ansätze und regionale, möglichst naturräumlich basierte Konzepte.4

Schwerpunkt der Forderungen ist der Aufbau einer Grünen Infrastruktur für die Erhaltung der Natur und ihrer vielfältigen Funktionen: ein nationales und europäisches Biotopverbundsystem mit breiten Korridoren in der Agrarlandschaft und im Wald sowie entlang der Flüsse und in Auen als zentralen Verbindungsachsen. Natura 2000 fungiert als Rückgrat des Systems. Weitere Bausteine für eine nachhaltige Erhaltung der Natur auf 100 Prozent der Fläche ergänzen dies:

Die Landnutzung selbst, also die land- und forstwirtschaftliche Nutzung der Flächen, und das sind über 80 Prozent des Bundesgebietes, muss naturschutzverträglich werden. Das heißt in der Landwirtschaft, dass die Grundsätze des ökologischen Landbaus — kein Einsatz von Pestiziden- und Stickstoffdüngern, vielfältige Fruchtfolgen, Humuspflege und Bodenschutz — generell zum Leitbild werden müssen. In der Forstwirtschaft bedeutet das die Abkehr vom Leitbild des Altersklassenwaldes mit den vorherrschenden Nadelbaumarten Fichte und Kiefer hin zum Leitbild der naturgemäßen Waldwirtschaft mit naturnaher, standortgemäßer Zusammensetzung der Waldbäume, das heißt in der Regel Laubmischwälder, Dauerwaldstruktur durch Einzelbaumnutzung und Anreichung mit Biotopbäumen und Totholz.

– Wildnisflächen sind bislang eines der größten Defizite des deutschen Naturschutzes. Neben neuen Nationalparken und ehemals militärisch genutzten Flächen bieten sich vor allem neue, sich selbst überlassene Bereiche in den Auen an. Hier sollten ungenutzte, dynamische Bereiche zur freien Gestaltung des Gewässerlaufes insgesamt in der zehnfachen Breite des jeweiligen Fließgewässers entstehen.

– Relikte historischer Kulturlandschaften mit ihrem Struktur- und Nutzungsreichtum zu erhalten, ist eine kulturelle Aufgabe ersten Ranges. Projekte mit Synergieeffekten, die für den Naturschutz und die Kulturlandschaft wichtige Strukturen ebenso erhalten wie die dazugehörigen landwirtschaftlichen Betriebe, sollen mit attraktiven und wettbewerbsfähigen Förderprogrammen viel stärker als bisher gefördert werden. Sie sollen als zentraler Bestandteil regionaler Wirtschaftskreisläufe verstanden werden.

Dies meint jedoch mitnichten einen ausschließlich segregativen Naturschutz. Der Zustand vieler Landschaften ist hinsichtlich ihrer Biodiversität und ihrer landschaftlichen Qualitäten lokal und regional dringend verbesserungsbedürftig.

Die reale Situation von Natur und Arten ist unbestritten dramatisch und die Wirksamkeit und Dominanz des Naturschutzes begrenzt: tatsächlich gehen in Deutschland noch immer täglich rund 60 Hektar durch Gewerbe-, Siedlungs- und Verkehrsbauten verloren. Der dauerhafte Verlust von Natur und Landschaft, von Lebensräumen, Agrarund Waldflächen durch Siedlungen und Infrastrukturmaßnahmen gehört im dicht besiedelten Deutschland zu den gravierendsten Umweltproblemen. Zum einen werden dadurch Landschaften zerschnitten und Lebensräume von Tieren und Pflanzen zerstört. Pro Jahr verliert unser Land über 30.000 Hektar Felder, Wiesen, Wälder, Biotope und damit die dort lebenden unersetzbaren Arten. Das erhöht den Druck auf die restliche Fläche, dort Natur und Arten nicht weiter zu gefährden und konsequent ihren Schutz zu verwirklichen, denn Fläche ist nicht vermehrbar. Die aktuellen Daten zur Natur des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) 2016 zeigen transparent auf, wieviel Fläche für den Naturschutz reserviert sein soll, wobei strenger, absoluter Vorrang des Naturschutzes nur für etwa 1 Prozent der Bundesfläche gilt. Alle anderen Schutzgebiete verbieten keine Nutzung oder Beanspruchung durch den Menschen, sondern versehen sie mit mehr oder minder strengen Regeln, fast alle dieser Regeln können durch Ausnahmegenehmigungen außer Kraft gesetzt werden, zumal im Zweifel das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Verwaltungsrechts überbordende staatliche Eingriffe de jure verhindert.

Wie raus aus der empfundenen und realen Krise?

Der mittelbare Weg zur Verbesserung der Situation liegt in der Auflösung der strukturellen Hindernisse:

– Ein Staat ohne finanzielle und strukturelle Handlungsfähigkeit sowie klaren, nachvollziehbaren Regeln führt zu Rechtsunsicherheit und verschärften Konflikten mit dem Naturschutz.

– Eine gut aufgestellte Naturschutzverwaltung ist essenziell für den erfolgreichen Naturschutz und die Konfliktminimierung mit Wirtschaftsinteressen.

– Zielorientierte Standards im Gutachterwesen, Erhebungs- und Evaluationsstandards für Artenschutzmaßnahmen und andere qualitätssichernde Maßnahmen sind erforderliche Rahmenbedingungen für die zukünftige Arbeit, insbesondere mit dem Blick auf die unvermeidbaren Eingriffe in Natur und Landschaft durch die Energiewende.

Die frühzeitige Einbindung und gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe mit dem lokalen Ehrenamt der Verbände, den Fachgruppen und Naturschutzstationen auch wie jenseits der formalen Notwendigkeiten von der Standortwahl bis hin zur Planung sind weitere Elemente, um zu konstruktiven Lösungen auch in schwierigen Fällen zu kommen. Transparenz schafft Vertrauen, ermöglicht reale Arbeitserfahrungen miteinander und klärt oftmals existierende Ressentiments. Verbands- und Bürgerbeteiligung sind einer der wesentlichen Schlüssel zur Konfliktvermeidung. Dabei sollte vermieden werden, Beteiligte vor fertige Konzepte zu stellen, sondern die Entscheidungsmöglichkeiten und Beteiligungschancen von Beginn an mitzudenken und zu kommunizieren.

Zu erfolgreicher Zusammenarbeit gehört auch das Akzeptieren der Blickwinkel der Partner: So lange Fläche und materielle Rohstoffe begrenzt sind, solange führt aus Sicht des BUND kein Weg um die Suffizienz, kein Weg um ein »weniger ist mehr« herum. Grenzen akzeptieren heißt auch: Begrenzungen der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit durch die Lebensraumbedürfnisse von Arten anerkennen und nach regionalen Lösungen suchen. Die neuen Konzepte des Bundeskonzepts Grüne Infrastruktur und der Biotopverbund geben hier räumliche Orientierung.

Zu den Grenzen gehört auch anzuerkennen: Die Komplexität von »Natur«, die unendliche Vielfalt von Naturerscheinungen und natürlich auch die Vielfalt der handelnden Menschen im Naturschutz haben zur Folge, dass es vielschichtige faktische — emotionale, ethische, ästhetische, ökonomische und ökologische — Naturschutz-Motivationen, Reaktionen und vielschichtige gute normative Naturschutz-Gründe gibt. Was sind der Gesang einer Nachtigall, das Schillern der Prachtlibelle oder die strahlenden Blüten des Fransenenzians wert? Nicht alles ist in der Welt ökonomisch und rechtlich fassbar. Der BUND verkennt dabei nicht, dass in liberalen Demokratien jeder Wert — in gewissen Grenzen — auch einer Abwägung mit anderen wichtigen Werten unterliegt. Doch kann diese Abwägung nicht im Sinne einer ökonomischen oder rein rechtlich-formalen Quantifizierung gelöst werden. Und sie kann auch nicht so gelöst werden, dass — wie bisher häufig — der Naturschutz insbesondere im Konflikt mit Großprojekten und der Landwirtschaft sehr oft weg gewogen wird.

Der Zugang zur Konfliktlösung und die Wurzel des Engagements vieler ehrenamtlich im Naturschutz tätiger Menschen liegt im emotionalen Bereich und weniger in der naturwissenschaftlich-ökonomischen Kenntnis etwa bestimmter Ökosystemdienstleistungen. Faktenorientierte Naturschutzbegründungen und wissenschaftliche Argumente gehören zum Handeln im Naturschutz. Sie sind aber eher selten Auslöser für das individuelle Naturschutzengagement und nur zum Teil Basis der Argumentation.

Erlebnisse wie der laut tönende Kranicheinflug im Herbstnebel an der Boddenlandschaft, ein nächtliches Laubfroschkonzert an einem Seeufer, frühmorgendliche Beobachtungen des Nebels in einem Moor, das Entdecken botanischer Raritäten, die Inspiration durch uralte Baumriesen in einem Nationalpark oder einfach Stille und Naturerscheinungen aller Art in der wenig beeinträchtigten Umgebung eines Naturschutzgebiets zu genießen, gehört zu den Grundbedürfnissen vieler Menschen gerade in einer hochtechnisierten und schnelllebigen Alltagswelt. Eine arten- und strukturreiche Landschaft dient unserem Wohlbefinden und unserer Erholung. Wir finden sie schöner — also ästhetischer —, wir fühlen uns darin wohler, verbinden damit Heimat — emotionale Motive —, fahren dorthin in Urlaub, erholen uns und schöpfen Kraft aus Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt. Natürliche Vielfalt und Naturnähe sind damit ein Stück Lebensqualität und Lebensfreude! Natur ist ein unverzichtbares Element der Lebensfreude und damit ist Naturschutz eine Kulturaufgabe ersten Ranges. Natur ist damit nicht nur die physische, sondern auch eine psychische Lebensgrundlage. Diese Motivation für Naturschutz ist damit subjektiv und hochemotional. Das ist aber kein Nachteil, sondern eine ganz besondere Motivation und Stärke. Auch im beständigen Ringen um die beste Lösung um die Anforderungen der Natur mit denen des Menschen in bestmöglichen Einklang zu bringen. Naturschutz wird damit im 21. Jahrhundert zur zentralen und unverzichtbaren gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Er ist zwingender Bestandteil und Leitlinie für die angestrebten ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweisen. Ohne die Bewahrung der Biodiversität ist dauerhafter gesellschaftlicher

Fortschritt und Lebensqualität im umfassenden Sinn nicht möglich. Maßnahmen für mehr Naturschutz sind immer auch Kernelemente einer tatsächlich nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft sowie marinen Wirtschaft. Sie sind Beiträge zum Klima- und Gesundheitsschutz ebenso wie zur Erhaltung natürlicher Ressourcen wie Boden und Wasser. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel, von einem immer mehr Ressourcenund Flächenverbrauchenden Wachstum, hin zu einem auf Nachhaltigkeit beruhenden Paradigma: von der grauen zu einer grünen Infrastruktur,5 für mehr naturnahe und nutzungsfreie Gebiete, eingebettet in eine flächendeckend naturverträgliche Landnutzung! Insbesondere die Sicherung der notwendigen Naturschutzflächen (5 Prozent Wildnisgebiete, ca. 15 Prozent historische Kulturlandschaften und Biotopverbund, 80 Prozent Nutzlandschaft mit naturverträglicher Bewirtschaftung)6 erfordern eine gesellschaftliche Wende zu einer zukunftsfähigen und tatsächlich nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise. Und das schlägt den Bogen zu den Handlungsfeldern jenseits des klassischen Naturschutzes:

5  vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hg. ) (2007 ): Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. Bonifatius GmbH, Paderborn

6  Siehe dazu: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (2012): BUNDposition 59: Naturschutz ↘ t1p.de/6x09s

– Die Energiesysteme (Stromerzeugung, Wärmebereitstellung für Haushalte und Industrie, Verkehr) müssen unabhängig von Atomstrom, Kohlestrom und anderen fossilen Energieformen werden: Die Energieversorgung ist komplett durch erneuerbare Energien zu gewährleisten, bei stark reduziertem Energieverbrauch und im Einklang mit den Grenzen der Funktionsfähigkeit der Biodiversität und Ökosysteme. Die Energiewende ist sozial und fair zu gestalten, Privilegien der Industrie oder einzelner Bevölkerungsgruppen müssen abgeschafft werden. Die Energiewende muss mit der Biodiversitätswende verknüpft werden. Die natürlichen Potenziale der Treibhausgasreduktion durch Moore, Feuchtgebiete, Humus erhaltenden und fördernden Ackerbau, alte naturnahe Wälder sind zu nutzen und zu reaktivieren. Das Aktionsprogramme Natürlicher Klimaschutz der Bundesregierung (2023) ist eine Chance zur flächendeckenden Umsetzung dieser Ziele. Die Verbesserung der Wasserrückhaltefähigkeit der Landschaft durch die Renaturierung und Revitalisierung von Fließgewässern und Feuchtgebieten fördert gleichzeitig die Biodiversität und den Klimaschutz und verringert die Folgen der Klimakrise, Sie muss deshalb vorrangig umgesetzt werden.

– Eine Transformation der Land- und Forstwirtschaft und des Umgangs mit den Umweltgütern: Die wachsende Nachfrage nach Agrarerzeugnissen (Lebensmittel, andere Produkte, Energieerzeugung) in Deutschland und der Welt ist in Übereinstimmung zu bringen mit den Anforderungen des Schutzes der Gewässer, der Böden, der Biodiversität und der Gesundheit von Mensch und Tier. Besonders sind dabei der Flächenverbrauch und der Bodenverlust zu stoppen und weltweit der Verlust und die Entwertung von Waldflächen, Grasland, Feuchtgebieten und fruchtbarem Ackerland aufzuhalten. Die Reform der europäischen Agrarpolitik ist dabei der drängendste Schritt. Naturverträgliche Landnutzung muss honoriert und die Milliarden-Subventionen für naturschädliche Landwirtschaft gestrichen und für die Förderung nachhaltiger Landnutzungssysteme genutzt werden.

– Die Begrenzung des deutschen Rohstoffverbrauchs: Bis 2050 muss eine maximale Kreislaufführung umgesetzt werden (besonders der Baustoffe und industriellen Mineralien, der Basis- und Sondermetalle), entsprechend den Konzepten des Nachhaltigkeitsrates.

– Ein Umbau des Wirtschaft- und Finanzsystems: Ziel des Wirtschaftens darf nicht Wachstum sein, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse innerhalb ökologischer Grenzen. Die Wirtschaft muss Mensch und Gesellschaft dienen und nicht umgekehrt.

Für die genannten Transformationsfelder sind Konzepte und Maßnahmen zu entwickeln, wie Produktion, Konsummuster und Lebensstile so zu verändern sind, dass die global noch akzeptablen Emissionen, Rohstoffverbräuche und Flächennutzungen auf ein zukunftsfähiges Maß sinken.

Und wir haben dabei einen starken Verbündeten: der Mensch braucht Natur, auch emotional. Er ist ein biophiles Lebewesen. Wir haben eine hervorragende Ausgangsbasis, denn unser Objekt, die Natur, genießt eine außerordentlich hohe Akzeptanz; Natur gehört zu einem guten Leben dazu. So haben sich 92 Prozent der für die »Naturbewusstseinsstudie« Befragten geäußert. 86 Prozent halten Naturschutz für eine wichtige politische Aufgabe. Und viele Bürger ärgern sich über den sorglosen Umgang mit der Natur, blicken angesichts der Entwicklungen mit Sorge in die Zukunft. Der Wunsch, Natur zu schützen, die positiven Gefühle, die mit Natur verbunden sind, sind eine, wenn nicht die wichtigste Motivation sein für eine Veränderung der Lebensstile hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Literatur

Bundesamt für Naturschutz (Hg. ) (2016): Daten zur Natur 2016. Görres-Druckerei und Verlag GmbH, Neuwied

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hg. ) (2023): Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz der Bundesregierung

Hallmann, Caspar A.; et al. (2017 ): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. Plos One 12 ↘ t1p.de/wcmcz

Das Kunming- Montreal-Abkommen von 2022

Prof. Dr. Josef Settele ist Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ ) und Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2020 ist er Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen; sein Spezialgebiet ist die biologische Vielfalt in Abhängigkeit von der Landnutzung.

Bezüglich des Nachkeitszieles 15 »Leben an Land«, aber auch für andere Ziele wie z. B. Leben unter Wasser, lässt das Kunming-Montreal-Abkommen der Konvention für Biologische Vielfalt (CBD) von Dezember 2022 (CBD 2022) hoffen, da dort für das Anliegen des SDG 15 alle Komponenten umfangreich mit erfasst sind — vom Schutz der Landökosysteme, deren Wiederherstellung und die Förderung der nachhaltigen Nutzung.

Beteiligung am Prozeß

Häufig werde ich gefragt, ob es nicht furstrierend wäre, dass wir als Wissenschaftler auf der UN-Weltbiodiversitätskonfernz COP15 in Montreal, an der ich eine Woche teilnehen durfte, nicht mitbestimmen könnten, was gegen die weltweite Naturzerstörung unternommen werden sollte. Eine solche Frage zeugt von einem gewissen Missverständnis der Rolle der Wissenschaft in solchen Prozessen, zumal wissenschaftliche Erkenntnisse von Anfang an in den Prozess mit eingeflossen sind und sie sind zudem sogar wahrscheinlich nirgendwo so bekannt wie hier. Da die Positionen der Länder meist schon im Vorfeld entwickelt wurden, gibt es auch wenig Veranlassung, die Verhandler direkt zu beeinflussen. Es ist allerdings sehr wichtig auch vor Ort bei den Verhandlungen als Resource-Person anwesend zu sein. Allenfalls wenn — wie in Montreal auch geschehen — eines der zentralen Dokumente, das die auf die COP hinarbeitete, nämlich der Globale Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES (IPBES 2019), den ich als Co-Chair mit leiten durfte, von Delegationen als »Meinungsmache« bezeichnet wird, muss man mitunter etwas massiver auf die Faktenlage hinweisen. Dieser globale Zustandsbericht des UN-Weltbiodiversitätsrats, der 2019 erschien und als zentrale fachliche Grundlage für die COP-Verhandlungen diente, wurde nämlich in enger Abstimmung zwischen Wissenschaft und den Mitgliedsregierungen des IPBES über 3 Jahre hinweg entwickelt und dessen Zusammenfassung für politische Entscheidungen (SPM — Summary for Policymakers) im Konsens zwischen den beteiligten Akteuren verabschiedet.

Der Bericht erläuterte im Wesentlichen, was eigentlich auf dem Spiel steht. Wir könnten es, vereinfacht zusammengefasst, verpassen, unsere Lebenssysteme zu erhalten, welche auf der genetischen Vielfalt, der Artenvielfalt und der Vielfalt von Ökosystemen basieren, also auf der Biodiversität, von der wir alle abhängig und der Natur mit der wir komplett verwoben sind. Eine Blumenwiese zum Beispiel ist nicht nur schön, sondern stellt uns ganz viele Leistungen bereit. Die bunten Blüten locken Bestäuber an, ohne die es viel weniger Samen und Früchte gäbe. Ohne all das könnten wir nicht leben, wir ernähren uns ja letztlich von Tieren und Pflanzen.

In unserem Bericht haben wir das aktuelle Tempo des weltweiten Artensterbens im Vergleich zum Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre auf das 10- bis 100-fache beziffert. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte könnten demnach eine Million Arten von insgesamt weltweit geschätzten 8 Millionen aussterben — und das ist sogar noch konservativ geschätzt. Solche Zahlen werden immer gern aufgegriffen, was einerseits gut ist: Sich auf das Verschwinden von Arten zu konzentrieren, meist auf charismatische Tiere, weckt Interesse. Die Gefahr ist aber, dass die Leute denken: Sei’s drum, es bleiben immer noch ein paar Millionen Arten. Es geht aber eher um die Zerstörung der natürlichen Systeme, die von den Arten getragen werden. Wenn sich zum Beispiel bestimmte Organismen und Lebensformen massenhaft vermehren — seien es Coronaviren oder Borkenkäfer im Harz —, zeigt das: Je geringer die Vielfalt im System, desto geringer ist auch dessen Widerstandsfähigkeit. Leider erkennt man das oft erst, wenn es zu spät ist.

Die Zerstörung der Natur geht vom Menschen aus. Das hat UN-Generalsekretär António Guterres bei der Eröffnung des Gipfels am 6. Dezember 2022 noch einmal betont, indem er uns als »Massenvernichtungswaffe« bezeichnete. Sind das auch drastische Worte, so stimme ich ihm zu. Wir haben in unserem Bericht herausgearbeitet, was die Treiber hinter dem Verlust von biologischer Vielfalt sind. Zuvorderst sind das Veränderungen in der Landnutzung, zum Beispiel intensive Landwirtschaft, dann Dinge wie Kahlschlag oder Überfischung, auf Platz drei und vier sind Klimawandel und Umweltverschmutzung, und der fünfte große Faktor sind invasive Arten. Hinter alledem steht der Mensch. Der Klimawandel wird übrigens alle anderen Faktoren überholen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte vermutlich die Goldmedaille der Naturzerstörung holen.

Biodiversität vs. Klima?

Wir dürfen nicht übersehen, dass der rasante Verlust von Biodiversität im Grunde mindestens genauso gefährlich ist wie die Klimakrise; und auch wenn er gesellschaftlich und politisch vergleichsweise noch viel weniger präsent erscheint, so holen wir doch auf.

Das Problem mit der Aufmerksamkeint für das Thema Biodiversität liegt u. a. auch daran, dass es sich schlechter vermitteln lässt. Der Klimawandel ist von den Indikatoren her ziemlich einfach; es geht um CO₂-Äquivalente. Biodiversität ist viel komplexer und lässt sich nicht so einfach messen. Allein beim Insektensterben muss man unterscheiden zwischen Biomasse und Artenvielfalt: Es ist wichtig, dass insgesamt genügend Insekten da sind, beispielsweise als Nahrung für Vögel. Handelt es sich aber nur um Individuen weniger Arten, ist das Ökosystem trotzdem instabil. Ich stelle in solchen Zusammenhängen gern Bezüge zur Heimat her. Menschen schätzen die Gegend, aus der sie kommen — sie sind dort kulturell-historisch eingebunden — ein klarer link zum Thema Kultur, um das in diesem Band geht. Der Erfolg des Bayerischen Bienen-Volksbegehrens beispielsweise ist klar auf solche Beziehungen, die wir im Bericht als »Heimatverbundenheit« bezeichnen, zurückzuführen. Wichtig ist auch, dass in letzter Zeit die direkten Zusammenhänge zwischen Klimakrise und Biodiversität immer mehr betont werden, auch in gemeinsamen Publikationen des Weltklimarates und des Weltbiodiversitätsrates (IPBES; IPCC 2021). Es ist überhaupt nicht zielführend Klima- und Naturschutz separat zu betrachten. Die meisten der nötigen Maßnahmen würden tatsächlich beidem nützen. Eine höhere Artenvielfalt von Bäumen im Wald geht zum Beispiel fast immer mit mehr Bindung von Kohlenstoff einher. Inhaltlich lassen sich Klima- und Artenschutz also nicht trennen, und es würde inhaltich sogar Sinn machen, die COPs von IPCC und IPBES zusammenzulegen.

Zentrale Ziele aus Montreal

Eines der prominentesten Ziele, um die es in Montreal ging, ist das »30 × 30«-Ziel: Bis 2030 sollen weltweit 30 Prozent der Flächen von Land, Binnegewässern und Meeren unter Naturschutz gestellt werden. Oft wird das als Entsprechung zum 1,5-Grad-Ziel von Paris dargestellt. Diese Zahl lässt sich wie auch die 1,5 Grad nicht direkt wissenschaftlich herleiten; es handelt sich um eine gesellschaftliche Einigung, unterstützt mit wissenschaftlichen Kriterien; manche Forschende sagen auch, dass es mehr sein müsste. Aber ich finde das Ziel schon gut — noch vor zehn Jahren hat keiner gedacht, dass man so etwas ernsthaft diskutieren würde! Knackpunkt wird aber sein, wie das genau definiert und dann umgesetzt wird. Werden die richtigen Flächen geschützt,

und was genau beinhaltet dieser Schutz? Was nicht passieren darf: sogenannte Paper Parks, also Naturschutz, der nur auf dem Papier existiert. Eine weitere Sorge ist, dass durch dieses Ziel Menschen aus ihren Gebieten verdrängt werden könnten. Hierbei ist aber festzustellen, dass unser Report klar zeigt: Wo Indigene Völker leben und lokale Gemeinschaften das Land bewirtschaften, geht es der Natur besonders gut. Sie machen zwar nur etwa sechs Prozent der Weltbevölkerung aus, aber in ihren Gebieten finden sich überproportional große Anteile der Artenvielfalt. Inzwischen ist das viel mehr Thema und kaum jemand bestreitet die Schlüsselrolle dieser Menschen im Naturschutz.

Für einen effektiven Schutz der Biodiversität reicht eine Fokussierung auf Schutzgebiete aber nicht aus. Das »30 × 30«-Ziel ist nur eines von 23 Zielen, die die UN-Biodiversitätskonvention in Montreal beschlossen hatte, um die Natur zu schützen. Weitere wesentliche Ziele sind z. B. das Target 10. Da geht es um nachhaltige Landwirtschaft und Nahrungssicherheit. Es wird entscheidend sein, dass wir unser Essen mit möglichst wenig Pestiziden, künstlichem Dünger und anderen schädlichen Eingriffen produzieren. Letztlich wirken all diese Ziele aber zusammen — sei es die Renaturierung degradierter Lebensräume, die Reduktion von Plastikmüll oder Maßnahmen gegen den Klimawandel. Sie wurden glücklicherweis am Ende alle im Paket beschlossen.

Ein optimistischer Ausblick Zusammenfassend muss ich sagen, dass ich vom Ausgang der Verhandlungen positiv überrascht wurde. Es wurden Zahlen für die Raumplanung und für die Schutzgebiete festgelegt: Das viel diskutierte »30 × 30«-Ziel ist erhalten geblieben und ist in Kombination mit der Berücksichtigung lokaler Bevölkerungen bei deren Gestaltung und Management einen guten Schritt in eine richtige Richtung gegangen. Auch insgesamt ist die stärkere Berücksichtigung der Menschen im Prozess des Erhalts der Natur wichtig. Ein Finanzierungsmechanismus wurde zumindest eingeleitet — auch wenn ein Betrag von 20 Milliarden pro Jahr erst mal noch als sehr gering einzustufen ist. Da muss mittelfristig mehr Ambition des globalen Nordens eingefordert werden, was aber wohl perspektivisch angegangen werden soll. Ergänzend hierzu ist auch zu sagen, dass die Vorstellung, dass es hier um viel Mittel ginge, sich sofort relativiert, wenn wir z. B. bedenken, dass die Flutkatastrophe im Ahrtal uns 30 Milliarden gekostet hat, und es sich hier lediglich um ein kleines Tal in einem kleinen Land wie Deutschland handelte. Da fehlt die Relation. Wir können die Menschen im globalen Süden nicht mit dem allein lassen, was wir historisch angerichtet haben. Wir müssen nur schauen, dass das Geld auch wirklich der Natur zugute kommt.

Zur Umsetzung der Ziele werden wir selbstverständlich auf die Nationalstaaten angewiesen sein. Mit der Notwendigkeit der Freiheit der nationalen Ausgestaltung; man kann keine hoch spezifischen Ziele auf globaler Basis festlegen, weil dazu die Bedingungen viel zu verschieden sind. Damit geht aber auch das Risiko einher, dass das nicht ernst genug genommen wird. Der Finanzierungsmechanismus sieht aber zum Beispiel auch vor, dass man die Fortschritte verfolgt — und das wird sich sicherlich auch darauf auswirken, wie stark das Engagement in Zukunft ausfällt.

Auf nationaler Ebene müssen wir dafür sorgen, dass unsere Schutzgebiete, wie auch die gesamte Landschaft, ihre Funktionen erfüllen können: den Erhalt der biologischen Ressourcen durch entsprechendes Management der Gebiete genauso wie eine agrarökologische Wende in der genutzten Landschaft insgesamt. Auch das ist eine Forderung der CBD-Vereinbarung.

Für mich hat die COP15 durchaus Züge eines Paris-Momentes für die Biodiversität angenommen und ich bin durchaus zuversichtlich, dass wir hier einen großen Schritt in die richtige Richtung getan haben.

Literatur

Convention on Biological Diversity (2022): COP15: Final text of Kunming-Montreal

Global Biodiversity Framework ↘ t1p.de/bshch

IPBES (2019): Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services. (SPM als Konsensdokument der Regierungen)

↘ t1p.de/fx2vq

IPBES; IPCC (2021): Workshop-Bericht.

↘ t1p.de/ihqvf

16 Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen

Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen

Recht für Nach haltigkeit — Recht auf Nachhaltigkeit

Dr. Günter Winands ist Staatssekretär a. D.; er war zuletzt Amtschef der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und ist Lehrbeauftragter für Kulturpolitik an der Universität Bonn.

Historischer Ursprung im Forstrecht — Substanzerhalt

1  Hans Carl von Carlowitz, ein Oberberghauptmann im sächsischen Freiberg, plädierte in seinem in Leipzig 1713 erstmals erschienenen Werk »Sylvicultura oeconomica« für eine »continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung« (S. 105) der Wälder. ↘ t1p.de/zlb99 Er gilt damit weithin als Begründer der nachhaltigen Forstwirtschaft und Schöpfer des Nachhaltigkeitsbegriffs in Deutschland. Auch in der englischsprachigen Forstliteratur ist seit dem 19. Jahrhundert »Sustained yield« (nachhaltiger Ertrag) bekannt, wahrscheinlich angeregt durch den Gebrauch im deutschsprachigen Raum. So: Huss, Jürgen; von Gadow, Friederike (2012): Einführung in das Faksimile der Erstausgabe der Sylvicultura oeconomica von H. C. von Carlowitz. Remagen, S. 48 ↘ t1p.de/wmvus

2  Schenck, Karl Friedrich (1825): Handbuch über Forstrecht und Forstpolizei. Gotha, S. 530

Das Prinzip der Nachhaltigkeit fand in Deutschland seine erste rechtliche Verankerung im Forstrecht. Im 18. Jahrhundert kam als Reaktion auf eine in Europa verbreitete Entwaldung bei gleichzeitig steigendem Holzbedarf für Industrie, Schiff- und Wohnungsbau die Idee einer damals schon so bezeichneten »nachhaltigen« Waldbewirtschaftung auf.1 Ein Grundprinzip ist dabei bis heute, immer nur so viel Holz einzuschlagen, wie wieder nachwachsen kann. Die planmäßige Aufforstung und langjährige Waldpflege soll auch nachfolgenden Generationen einen stetigen Holzertrag ermöglichen, ein zeitlos besonders anschauliches Beispiel für Nachhaltigkeit. Da an der Sicherstellung einer ausreichenden Holzerzeugung ein hohes Interesse des Staates und der Allgemeinheit bestand, wurden forstpolizeiliche Beschränkungen der Eigentümerrechte zur Einhaltung des Nachhaltigkeitsprinzips eingeführt. Es reifte die Erkenntnis, dass ansonsten die nachteiligen Folgen einer »verkehrten Wirtschaft erst in Jahrhunderten, ja oft gar nicht wieder abgewendet werden können«. ² In den meisten deutschen Ländern wurden Forstgesetze erlassen, für die staatlichen Forsten zudem Instruktionen erteilt und im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 eine Bestimmung aufgenommen, wonach eine »Holzverwüstung« durch Niederschlagung und Ruinierung eines Waldes oder die Zuwiderhandlung gegen Anweisungen zur Einschränkung des Holzeinschlags mit Geld- oder Gefängnisstrafe geahndet werden konnten.3

3  PrALR Teil 1 Tit. 8 § 87. Eine vergleichbare sanktionierte Verpflichtung bestand für landwirtschaftlich genutzte Flächen, PrALR Teil 2 Tit. 7 § 8 und 9. Danach oblag es jedem Bauer, die Kultur seines Grundstücks, auch zur Unterstützung der allgemeinen Bedürfnisse, wirtschaftlich zu betreiben. Er konnte dazu vom Staat »auch durch Zwangsmittel genötigt, und bei beharrlicher Vernachlässigung, sein Grundstück an einen Andern zu überlassen angehalten werden«.

4  Statt vieler: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 27.02.2018 — 15 N 16.2381 —, juris, Rn. 41; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 15.10.2013 — 5 A 50/11 —, juris

Ausweitungen im Umweltrecht — dauerhafte umweltgerechte Entwicklung

Der Nachhaltigkeitsgrundsatz prägt gleichermaßen das heutige Bundeswaldgesetz und die Landeswaldgesetze.4 Doch bezwecken diese die nachhaltige Sicherung intakter Waldbestände nicht nur wegen des forstwirtschaftlichen Nutzens, sondern auch wegen der hohen »Bedeutung für die Umwelt, insbesondere für die dauernde Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes, das Klima, den Wasserhaushalt, die Reinhaltung der Luft, die Bodenfruchtbarkeit, das Landschaftsbild, die Agrar- und Infrastruktur und für die Erholung der Bevölkerung« (§ 1 Ziff. 1 BWaldG). Damit korrespondiert die Verankerung und Ausgestaltung des Nachhaltigkeitsprinzips im Bundesnaturschutzgesetz: »Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen so zu schützen, dass die biologische Vielfalt, die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz

umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft« (§ 1 Abs. 1 BNatSchG). Das Nachhaltigkeitsprinzip durchzieht, in vielen ähnlichen Regelungen ausbuchstabiert, zwischenzeitlich das gesamte deutsche Umweltrecht.

Sektorübergreifendes Nachhaltigkeitsrecht — Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele

Mit dem Umweltschutz als Motor hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts auf nationaler, europäischer wie internationaler Ebene ein Konzept der Nachhaltigkeit herausgebildet und durchgesetzt, das einen noch umfassenderen Ansatz verfolgt. Danach zeichnet sich nachhaltiges Handeln zum einen durch einen schonenden, langfristig erhaltenden und wertschätzenden Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen aus, in Verantwortung für heutige sowie künftige Generationen, um allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Nachhaltigkeit erfordert zudem eine Harmonisierung ökologischer, ökonomischer und auch sozialer Ziele (»Dreieck der Nachhaltigkeit«).

Eine Verengung wie früher allein auf die wirtschaftliche Komponente oder auch nur auf ökologische Belange greift zu kurz. Alle 3 Säulen des Nachhaltigkeitsdreiecks sind vielmehr gleichzeitig miteinander in Einklang zu bringen. So sollen beispielweise Bauleitpläne (Flächennutzungspläne und Bebauungspläne) »eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Ortsund Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln« (§ 1 Abs. 5 BauGB). Und im Raumordnungsrecht gilt die Leitvorstellung einer »nachhaltigen Raumentwicklung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt« (§ 1 Abs. 2 ROG).

5  Dazu: Monien, Johanna (2014): Nachhaltige Entwicklung als Umweltrechtsprinzip. In: Härtel, Ines (Hg. ): Nachhaltigkeit, Energiewende, Klimawandel, Welternährung. Baden-Baden, S. 156 ff.

Europäisches und internationales Nachhaltigkeitsrecht Mit dem Reformvertrag von Lissabon 2007 wurde das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung mit ihren 3 Säulen in den Vertrag über die Europäische Union (Art. 3 Abs. 3) eingefügt und damit bindendes europäisches Verfassungsrecht: »Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.« Seitdem die nachhaltige Entwicklung primärrechtlich als Leitlinie vorgegeben ist, sind eine Vielzahl europäischer, die Mitgliedstaaten rechtlich bindender und dort auch teilweise unmittelbar geltender Verordnungen und Richtlinien erlassen sowie EU-Förderprogramme auf den Weg gebracht worden, die hierauf Bezug nehmen und diese umsetzen.5

6  Resolution der UN-GeneralVersammlung vom 25.09.2015, Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development, A/RES/70/1

7  Der Kultur ist bislang kein eigenständiges SDG gewidmet. Auch wenn kulturelle Bezüge in vielen SDGs bestehen, sollte bei einer Fortschreibung der UN-Agenda für die Zeit nach 2030 eine entsprechende Ergänzung angestrebt werden. Denn Kultur ist das, was bleibt. Nicht ökonomische Leistungen, nicht militärische Siege, sondern kulturelle Errungenschaften bleiben auch nach Jahrhunderten im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Kultur ist per se auf Nachhaltigkeit angelegt, Nachhaltigkeit ist ein Wesenszug kulturellen Schaffens. Auf nationaler Ebene gibt es seit 2020 ein durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien initiiertes und gefördertes Aktionsnetzwerk »Nachhaltigkeit in Kultur und Medien«. Siehe außerdem: Nachhaltigkeitsbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Berlin 2020 ↘ t1p.de/zy3v7

Auf internationaler Ebene haben sich die Vereinten Nationen — aufbauend auf dem 1987 veröffentlichten Bericht einer World Commission on Environment and Development (»Brundtland-Kommission«) — in der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 zum Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung bekannt und seinerzeit ein globales Aktionsprogramm »Agenda 21« beschlossen. Einen weiteren entscheidenden Durchbruch hat das Nachhaltigkeitsprinzip durch die im Jahre 2015 verabschiedete UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung erreicht.6 Die darin festgelegten 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, die Sustainable Development Goals (SDGs), bilden mit ihren dazugehörigen 169 Unterzielen im Einzelnen die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des Nachhaltigkeitsprinzips ab, von der Hunger- und Armutsbekämpfung über Bildung für alle, saubere Energie, Ressourcen- und Klimaschutz bis hin zu globaler Partnerschaft.7 Der Agenda-Prozess wird auf UN-Ebene sowie in vielen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen durch politische Foren und Beratungsgremien sowie durch ein regelmäßiges Berichtsmonitoring begleitet.

8  Dazu insgesamt: Nowrot, Karsten (2020): Das gesellschaftliche Transformationspotential der Sustainable Development Goals. Völkerrechtliche Rahmenbedingungen und außerrechtliche Nachhaltigkeitsvoraussetzungen. Hamburg, S. 7 ff. mit weiteren Nachweisen ↘ t1p.de/wnxmt

Die UN-Agenda 2030 ist als Resolution der UN-Generalversammlung zwar nur eine Empfehlung auf der Grundlage von Art. 10 der UN-Charta und damit so genanntes »Soft Law«, also eine — völkerrechtlich nicht verbindliche — Absichtserklärung der Mitgliedstaaten. Allerdings enthält sie zahlreiche Verweise auf völkerrechtlich verbindliche UN-Konventionen wie etwa den Menschenrechtspakten, den Frauen-, Behinderten- und Kinderrechtskonventionen oder der Biodiversitätskonvention (Übereinkommen über die biologische Vielfalt). Insoweit wird geltendes Völkerrecht teilweise operationalisiert und verstärkt, in dem im Wege einer politischen Selbstverpflichtung die entsprechenden Konventionen mit konkreten Zielerrichtungsschritten und -daten versehen sind. Zudem können die SDGs bei der inhaltlichen Auslegung zwingender völkerrechtlicher Konventionen herangezogen werden. Schließlich nehmen zwischenzeitlich eine Vielzahl zwischenstaatlicher Abkommen, aber auch Rechtsdokumente der Europäischen Union wie auch nationale Rechtsvorschriften ausdrücklich auf die Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda Bezug und vermitteln ihnen durch diese Inkorporation mittelbar eine rechtliche Verbindlichkeit. Diskutiert wird vereinzelt bereits, ob das Prinzip der Nachhaltigkeit durch die breite weltweite Akzeptanz und Übernahme der SDGs mittlerweile sogar als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht angesehen werden kann. Dies wird allerdings überwiegend wegen einer letztlich doch notwendigen normativen Konkretisierungsbedürftigkeit und damit inhaltlichen Unbestimmtheit des Prinzips abgelehnt.8

Rechtliche Umsetzung der »Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie«

In Deutschland wurde erstmals zum Weltgipfel der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, die 10 Jahre nach der Rio-Konferenz 2002 stattfand, durch die Bundesregierung eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorge-

legt. Diese wurde danach in regelmäßigen Abständen weiterentwickelt. Grundlegend geschah dies 2017 zur Umsetzung der UN-Agenda 2030. Die »Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie« richtet sich seitdem an den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen aus.9 Sie beinhaltet nicht nur ambitionierte Maßnahmen im Inland, sondern auch in der Entwicklungszusammenarbeit und Friedenssicherung. Deutschland nimmt nicht zuletzt hierüber auch international Einfluss auf die weltweite Umsetzung der Ziele. Allerdings stellt die Bundesregierung in der letzten, 2021 aktualisierten Fassung ihrer Nachhaltigkeitsstrategie selbstkritisch fest, dass die Verwirklichung der weltweit und national gesteckten Zukunftsziele angesichts von Klimawandel, Artensterben und steigenden Ressourcenverbrauch sowie Gerechtigkeitsfragen zwischen Generationen und Weltregionen in absehbarer Zeit höchst fraglich ist. Nur wenn die Staatengemeinschaft sowie jeder einzelne Staat die Geschwindigkeit und das Ambitionsniveau der Umsetzung der Agenda 2030 deutlich erhöhen würden, könnten die SDGs noch im Jahr 2030 erreicht werden. Darauf hatte im September 2019 auch bereits ein SDG-Gipfeltreffen in New York hingewiesen und deshalb eine »Decade of Action and Delivery for Sustainable Development« (Dekade für die Umsetzung der Agenda 2030) ausgerufen.10

9  Die Bundesregierung (Hg. ) (2021): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwicklung 2021. Rostock ↘ t1p.de/x452v

10  Siehe: ebenda, S. 11, 24 f., 27

Die »Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie« ist — wie die UN-Agenda 2030 — eine Absichtserklärung und damit kein rechtliches Instrument mit unmittelbarer Außenwirkung. Als vom Bundeskabinett beschlossene Leitlinie enthält sie allerdings konkrete inhaltliche Vorgaben für die ministerielle Willensbildung in den Bundesressorts sowie das Handeln der Bundesregierung insgesamt und entfaltet insoweit eine regierungsinterne Bindungswirkung. Ob über den Hebel des Art. 3 Abs. 1 GG, also des aus dem Gleichheitssatz folgenden Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung, einzelne inhaltliche Festlegungen der Nachhaltigkeitsstrategie durch ständige und gleichmäßige Anwendung seitens der Bundesbehörden eine rechtliche Bindungswirkung und damit Außenwirkung erlangen könnte, ist bislang — soweit ersichtlich — noch nicht untersucht worden. Angesichts des überwiegend Ziele beschreibenden und auf anderenorts getroffene Entscheidungen und Maßnahmen der Bundesregierung verweisenden Charakters der Strategie dürfte dies kaum der Fall sein, völlig ausgeschlossen erscheint es aber nicht.

Damit generell in der Rechtsetzung des Bundes das Nachhaltigkeitserfordernis hinreichend beachtet wird, besteht seit 2009 nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) eine Verpflichtung, bei jedem Gesetz- und Verordnungsvorschlag vor der Beschlussfassung der Bundesregierung eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen. In der Begründung des Gesetz- oder Verordnungsentwurfs hat das federführende Ressort, im Benehmen mit den anderen fachlich betroffenen Ministerien, als Teil der so genannten Gesetzesfolgenabschätzung »darzustellen, ob die Wirkungen des Vorhabens einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesondere welche langfristigen Wirkungen das Vorhaben hat«. (§ 44 Abs. 1 S. 4, § 43 Abs. 1 Nr. 5 GGO, für Rechtsverordnungen entsprechender Verweis in § 62 Abs. 2 GGO). Als internes Verfahrensrecht der Bundesregierung gilt diese Darlegungslast bislang nicht für Gesetzesentwürfe aus der Mitte des Deutschen Bundestages oder des Bundesrats; eine Ergänzung deren Geschäftsordnungen erscheint angeraten.

Durch die Aufnahme in der Gesetzesbegründung fließt das Ergebnis der ministeriellen Nachhaltigkeitsprüfung in die parlamentarischen Beratungen wie auch in den öffentlichen Diskurs über das Rechtsetzungsvorhaben ein. Für die spätere Auslegung des

Gesetzes insgesamt oder einzelner Bestimmungen, nicht zuletzt durch die Gerichte, kann die parlamentarische Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeitseinschätzung der Bundesregierung Bedeutung erlangen und damit materielle Wirkung entfalten. Maßstab für die Nachhaltigkeitsprüfung sind die an den 17 SDGs ausgerichteten Ziele und Indikatoren der »Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie«. Um die Qualität der Nachhaltigkeitsprüfung zu verbessern und gleichzeitig die Durchführung der Prüfung zu erleichtern, wurde 2018 innerhalb der Bundesregierung ein IT-gestütztes Prüftool eingeführt, die elektronische Nachhaltigkeitsprüfung (eNAP).11 2 Bundesländer, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, wenden das Instrument der Nachhaltigkeitsprüfung von Rechtssetzungsentwürfen ebenfalls bereits an.1² Zwar wird seitens der Bundesressorts die Prüfpflicht zwischenzeitlich formal weitgehend befolgt.13 Ob dieses Instrument allerdings tatsächlich in den letzten Jahren für eine bessere nachhaltige Rechtsetzung gesorgt hat, bedarf noch eingehenderen Untersuchungen.

11  vgl. ebenda, S. 106; Bundesministerium des Innern (2009): Arbeitshilfe zur Gesetzesfolgenabschätzung, Berlin, S. 11 f.; Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht über die Nachhaltigkeitsprüfung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung, BT-Drs. 19/32709 vom 20.10.2021

12  Siehe: Unterrichtung Bundesregierung a. a. O., S. 20 ff.; Merkelbach, Julia; Esken, Andrea (2020): Erste Erfahrungen mit der Nachhaltigkeitsprüfung für Gesetze und Verordnungen in NRW. Wuppertal, S. 24 ff.

13  Siehe: Unterrichtung Bundesregierung, a. a. O., S. 13 f.; Zur noch ausbaufähigen Situation in den beiden Bundesländern: Merkelbach/ Esken, a. a. O., S. 15 ff., 25 ff.

14  Ähnliches Ergebnis bei einer Volltextrecherche bei ↘ buzer.de, Gesetze und Verordnungen des deutschen Bundesrechts im Internet.

Immerhin hat der Begriff der Nachhaltigkeit auf breiter Front Einzug in das Bundesrecht gezogen. Eine Recherche im Juris-Informationssystem (März 2023) zu den Begriffen »Nachhaltigkeit« und »nachhaltig« in den Gesetzen und Verordnungen des Bundes seit 2000 ergibt rund 700 Treffer, wobei darin allerdings auch Dopplungen und nicht mehr geltende Normen enthalten sind. Eine parallele Recherche im Bundesportal »Gesetze im Internet«, das nahezu das gesamte aktuell geltende Bundesrecht (nicht nur Gesetze, sondern auch Verordnungen) abdeckt, bringt immerhin 434 Treffer hervor.14

Zentrale klassische Bereiche des Nachhaltigkeitsrechts sind das Umwelt-, Energie- und Planungsrecht, verstärkt auch das Subventions-, Investitions- und Vergaberecht, das Wirtschafts-, Gesellschafts- und Unternehmensrecht (»Corporate Social Reponsibilty«), das Haushalts- und Finanzmarktrecht (»Sustainable Finance«), das Steuer- und Abgabenrecht sowie das Recht der sozialen Absicherung. »Nachhaltigkeitsrecht« ist demzufolge kein eigenständiges Rechtsgebiet, sondern ein Oberbegriff für über viele Rechtsbereiche verstreute Nachhaltigkeitsbestimmungen in den jeweiligen rechtlichen Regelungswerken. Eine stichprobenhafte Sichtung jüngster Gesetz- und Verordnungsgebung des Bundes verdeutlicht die große Spannbreite betroffener Rechtsbereiche: § 1a Personenbeförderungsgesetz, § 4 GAP-Direktzahlungs-Gesetz, § 1 IHKGesetz, § 10 Stabilisierungsfondsgesetz, § 4 Investitionsgesetz Kohleregionen, § 59a Filmförderungsgesetz, § 33 Kreislaufwirtschaftsgesetz, § 45h Wasserhaushaltsgesetz, § 4 Pflanzenschutzgesetz bzw. § 15b Gefahrstoffverordnung, § 6 Heizkostenverordnung, § 3 Verordnung zur Rückführung des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes, § 12 Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung, § 14a Kapitalanlage-Prüfungsberichte-Verordnung, alle neueren Berufsausbildungsverordnungen, wie z. B. § 4 Verordnung über die Berufsausbildung zum Friseur/zur Friseurin, und bereits in der Verordnungsbezeichnung die Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung oder die Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung. Schon 2004 wurde im Übrigen ein Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz beschlossen.

Nachhaltigkeitsprinzip und Grundgesetz

Während in der Schweiz, Österreich und zunehmend weiteren ausländischen Staaten das Nachhaltigkeitsprinzip Verfassungsrang hat und es auch bereits in die Landesverfassungen von Schleswig-Holstein (Präambel) und Hessen (Art. 26c) aufgenommen ist,15 taucht im Grundgesetz der Begriff Nachhaltig (keit) expressis verbis bislang nicht auf. Ein erster überparteilicher Anlauf 2006, ein entsprechendes Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, hatte keinen Erfolg; die politische und wissenschaftliche Diskussion hierüber ist allerdings nicht verstummt.16

Ein Wesenszug der Nachhaltigkeit, die Generationengerechtigkeit, hat immerhin für den Bereich der Ökologie als Staatszielbestimmung schon 1994 Eingang ins Grundgesetz gefunden: nach Art. 20a GG hat der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen »auch in Verantwortung für die künftigen Generationen« zu schützen. Bei der Umsetzung dieses Schutzauftrages sieht das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber explizit dem Nachhaltigkeitsprinzip verpflichtet. So sei der Gesetzgeber »gerade in Bezug auf das Nachhaltigkeitsprinzip gehalten, weitere Reduktionen beim Treibhausgasausstoß zu erreichen«.17 In seiner jüngsten Grundsatzentscheidung zur Notwendigkeit eines stärkeren Klimaschutzes wird das Nachhaltigkeitsprinzip erstaunlicherweise nicht erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht rückt begrifflich die Verantwortung für künftige Generationen und damit — allerdings auch ohne dies so zu benennen — das Prinzip der Generationengerechtigkeit in den Mittelpunkt.18 Dabei geht es nicht nur um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern als Leitsatz auch darum, »sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten«.19 Art. 20a GG zielt somit auch auf eine faire Verteilung von Umweltschutzlasten. Im Grundgesetz kommt dieser Gedanke der Generationengerechtigkeit nochmals in den haushaltswirtschaftlichen Bestimmungen zur Schuldengrenze zum Ausdruck. Die 2009 in Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG eingeführte Verpflichtung, in den Haushalten von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszukommen (»Schuldenbremse«), soll vor dem Hintergrund der bereits bestehenden hohen Staatsverschuldung eine weitere ungebremste Schuldenanhäufung zu Lasten künftiger Generationen verhindern; die heutige Generation soll also nicht auf Kosten künftiger Generationen leben. Aus diesen beiden Stellen des Grundgesetzes ist ein umfassendes, der Verallgemeinerung zugängliches verfassungsrechtliches Nachhaltigkeitsprinzip, vergleichbar etwa dem Rechtsstaats-, Demokratie- und Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1, 3 GG, nicht ableitbar.²0 Das Nachhaltigkeitsprinzip hat zwar einen benennbaren Kerngehalt, Ressourcenschonung und Generationengerechtigkeit, ist aber nach heutigem Verständnis auf Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele angelegt. Diese Mehrdimensionalität führt zu einer inhaltlichen Unbestimmtheit; das Prinzip muss durch den Gesetz- und Verordnungsgeber im Wege eines Abwägungsvorgangs normativ konkretisiert werden. Es bildet damit keinen subsumtionsfähigen

15  Überblick: Kahl, Wolfgang (2021): Empfehlung für die Aufnahme der Nachhaltigkeit in die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen. Juristisches Fachgutachten, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Wuppertal, S. 7 f., 12 f.

16  Siehe: ebenda, S. 10 ff.

17  BVerfG, Beschluss vom 13.03.2007 — 1 BvF 1/05 -, BVerfGE 118, 79 (110); siehe auch: Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 23.08.2012 — Vf. 4-VII-12 -, juris, wonach Art. 3 Abs. 2 Bayerische Verfassung mit dem dortigen Schutzauftrag für die natürlichen Lebensgrundlagen das Nachhaltigkeitsprinzip enthält.

18  Siehe: BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021, — 1 BvR 2656/18 —, BVerfGE 157, 30

19  Ebenda, Leitsatz 4, Satz 2

20  Statt vieler: Kahl, a. a. O., S. 21 ff.; Wieland, Joachim (2016): Verfassungsauftrag für Nachhaltigkeit. In: Zeitschrift für Umweltrecht, S. 475 ff.; Che-Wei, Hsu (2022): Der Begriff der Nachhaltigkeit im deutschen Verfassungsrecht. Dissertation, Tübingen, S. 26 mit weiteren Nachweisen

Verfassungsrechtssatz, sondern — vergleichbar dem Prinzip der Gewaltenteilung oder dem Subsidiaritätsprinzip — in seinem Kerngehalt zwar durchaus ein Rechtsprinzip, aber »keine lex, sondern eine ratio legis«.²1 Der Sinnzusammenhang hinter Art. 20a GG und der grundgesetzlichen Verschuldungsgrenze wird erkennbar, zur Geltung als bindenden, vollziehbaren Rechtssatz bedarf das Leitprinzip der Nachhaltigkeit indes der rechtlichen Normierung. Doch kann der Kerngehalt — Ressourcenschonung und Generationengerechtigkeit — Relevanz bei der Gesetzesauslegung gewinnen wie zudem bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Maßnahmen, hier unter dem Gesichtspunkt des schonendsten Eingriffs auch unter der Berücksichtigung der Belange künftiger Generationen.

Gibt es ein Recht auf Nachhaltigkeit?

21  So für das Subsidiaritätsprinzip: Isensee, Josef (2001): Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. 2. Auflage, Berlin, S. 313

22  Siehe: §§ 2, 3 UmweltRechtsbehelfsgesetz; § 64 Bundesnaturschutzgesetz; Baden-Württemberg: Gesetz über Mitwirkungsrechte und das Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzorganisationen; § 3 Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen

23  BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021 — 1 BvR 2656/18 —, BVerfGE 157, S. 30 ff.

Die Einhaltung rechtlich normierter Nachhaltigkeitsanforderungen in der Praxis zu überwachen und durchzusetzen ist in erster Linie Aufgabe der dazu ermächtigten staatlichen Stellen. Der Bürger kann nachhaltiges Handeln des Staates oder privater Dritter rechtlich nur einfordern, sofern er anderenfalls in seinen Rechten beschwert ist. Wenn Filme nur bei einer ökologisch nachhaltigen Herstellung Förderhilfen erhalten können, bei Genehmigungen zur Personenbeförderung Nachhaltigkeitsziele zu berücksichtigen sind oder Waldbesitzer ihren Wald nachhaltig zu bewirtschaften haben, so fehlt es freilich, falls man nicht Adressat dieser Anforderungen ist, grundsätzlich an der eigenen individuellen rechtlichen Betroffenheit. Es besteht in unserer Rechtsordnung kein allgemeiner Anspruch des einzelnen Bürgers auf ein bestimmtes Handeln Dritter oder von Behörden — und damit auch kein allgemeines Individualrecht auf Nachhaltigkeit. Allerdings gibt es in einigen Rechtsgebieten, insbesondere im Umwelt- und Naturschutzrecht sowie auch im Tierschutz- oder Verbraucherschutzrecht²² die Möglichkeit einer Verbandsklage. Anerkannte Vereinigungen oder Verbände können hier, ohne in eigenen Rechten betroffen zu sein, gerichtlich die Interessen ihrer Mitglieder oder der Allgemeinheit geltend machen, wozu auch die Beachtung nachhaltigkeitsrechtlicher Vorgaben gehören kann.

Die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsziele im Interesse der Allgemeinheit einzufordern, besteht zudem für jedermann im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Bauleitplanung, den diversen Planfeststellungsverfahren etwa für Bundesfernstraßen, Eisenbahnverkehrsanlagen oder Hochspannungsleitungen sowie Anlagen-Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz.

Schließlich hat das Bundesverfassungsrecht in seiner Entscheidung zum Klimaschutzgesetz das rechtliche Instrumentarium, als Bürger eine stärkere ökologische Nachhaltigkeit einzufordern, deutlich erweitert.²3 Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge eine allgemeine Schutzpflicht des Staates, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Eine Verletzung dieser objektivrechtlichen Schutzpflicht stelle zugleich eine Verletzung dieses Grundrechts dar, gegen die sich Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen könnten. Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sei zudem die Vereinbarkeit mit grundlegenden Verfassungsbestimmungen. Dazu zählt das Bundesverfassungsgericht nunmehr die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG.

Diese begründet damit zwar für sich allein keine subjektiven Rechte, aber bildet künftig einen Maßstab für den grundrechtlich gebotenen staatlichen Schutz von Leben und Gesundheit. Diese Neujustierung des Bundesverfassungsgerichts eröffnet partiell ein Recht auf ökologische Nachhaltigkeit.

Das Alleskönner- Phlegma

Dr. Günther Bachmann ist Berater in Nachhaltigkeitsfragen; zuvor war er von 2001 bis 2020 beim Rat für Nachhaltige Entwicklung tätig, seit 2007 als Generalsekretär; zuvor war er u. a. von 1983 bis 2001 beim Umweltbundesamt tätig; von 2014 bis 2023 war er Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg; er ist im Vorstand des Deutschen Nachhaltigkeitspreises und gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Heinrich von Thünen-Institut an.

Das Wichtigste der 17 UN-Ziele zur Nachhaltigkeit, englisch SDG, ist zugleich aber auch etwas wie ein Aschenputtel. Kaum jemand spricht darüber. Die Frage nach Institutionen hört sich muffig an. Zumal SDG 16 selbst ideale Vorstellungen aufzählt, an die niemand wirklich glaubt: Institutionen sollen inklusiv und partizipativ agieren, wirkungsvoll sein und darüber allzeit Rechenschaft ablegen; sie sollen den Rechtsstaat sichern und leistungsfähig sein, der Öffentlichkeit sollen sie vollen Zugang zu alledem gewähren. Das klingt nach Bullerbü. Selbst pure Effizienz kann die beiden Pole von Kontrolle und Offenheit nicht vereinen. Die Staatsoberhäupter haben mit SDG 16 ein Alleskönner-Ideal beschlossen, das sie zu Hause kaum vorfinden und selbst kaum anstreben. Man könnte meinen, das sei halt ein politischer Lapsus, aber tatsächlich ist es ein Kern der politischen Kultur von Regierung und Zivilgesellschaft. Das macht SDG 16 so interessant.

Erstmals überhaupt machen die SDGs die Nachhaltigkeit zu einem universellen ethischen Grundwert. Und erstmals verbinden sie materielle Ziele — Kampf gegen Hunger, mehr Umweltschutz — mit systemischer Governance. Der Beschluss der SDGs macht das Jahr 2015 (zusammen mit dem Pariser Klimaabkommen) schon insgesamt zu einem Lichtblick an multilateraler Politik, der heute unmöglich erscheint. Aber fast wie ein Wunder greift SDG 16 die bis dato unantastbare Position an, die eine Einmischung in nationale Institutionsfragen als neokolonial, übergriffig oder moralisch unzulässig und als Angriff auf die Souveränität abwehrt. Das gelang, indem SDG 16 eine maximale Illusion starker Institutionen erhebt, die natürlich ungefährlich bleibt. Perfektion ist noch allemal eine wirksame Verhinderung wirklicher Transformation. In New York trifft sich nun jährlich das High Level Political Forum (HLPF ). Es führt die Mitgliedstaaten institutionell zusammen, hat aber kein Beschlussrecht. Das HLPF hat mehr aus sich gemacht, als zu Beginn vermutet. Aber es bleibt institutionell unvollendet. Deshalb ist das HLPF auch kaum bekannt. Zu den Klimakonferenzen reisen bis zu 45.000 Menschen an — und man mag durchaus zweifeln, ob das institutionell gerechtfertigt ist —, während die Zahl der Teilnehmenden beim HLPF im Vergleich gerade einmal auf 5 Prozent kommt. Im ersten Fall berichten die deutschen Hauptmedien aufgebauscht, in zweiten gar nicht — ein markanter Hinweis auf institutionelle Stärke. SDG 16 stellt auf Vorstellungen institutioneller Stärke ab, die seit Max Weber gleich geblieben sind, während sich alles andere geändert hat. Mittlerweile durchdringt neue Kommunikation die Welt mit einer Inflation von Wissen und von unkontrollierten Falschmeldungen. Mittlerweile haben wir harte Ziele zum Schutz der Natur, und es gibt operative Aufgaben zur Dekarbonisierung und zur Verantwortung entlang von Lieferketten. Mittlerweile liegen auch neue Ideen zum Institutionalismus vor, wie jene zur Metagovernance des niederländischen UN-Beraters und Public-Affairs-Experten Louis Meuleman. Generell spielt neben dem formalen, institutionellen Verwaltungshandeln der menschliche Faktor eine immer größere Rolle. Immer mehr ist in immer kürzerer Zeit mit immer größeren Konsequenzen zu entscheiden; und das in Abstufung auf allen Ebenen.

Bei der Implementation der SDG ist integriertes, ganzheitliches Denken in Netzwerken und Regelkreisen gefragt, auch dann, wenn das zunächst nicht zur Silo-Hoheit von linearen Hierarchien passt. Die persönliche ethische Verantwortung für das Erreichen von SDGs wird honoriert; im öffentlichen Bereich mit Anerkennung und sozialem Status, in Unternehmen zunehmend auch per Gratifikation. Ermutigung und Gebote erweisen sich oft als wirkmächtiger als Verbote und Strafen. Das lernt zwar jede Generation aufs Neue in Kindheit und Elternschaft. In der politischen Re-

alität wird es meist schnell vergessen. Die Leistung von Politik wird in Gesetzen und Vorschriften gemessen; entsprechend akzeptiert die Zivilgesellschaft nur Gesetze und Gerichtsurteile. Die Härte von Maßnahmen auf dieses Verständnis zu verkürzen ist die politische Tiefenkultur.

Einen so weichen Faktor wie die Empathie — mit kommenden Generationen, mit Natur, mit globalen Gemeingütern — in ein Regierungssystem zu bringen ist daher keine ganz leichte Aufgabe. Sie wurde bisher auch nicht wirklich angegangen. So wichtig die völkerrechtlichen Verträge (Kyoto, Paris) und die Beschlüsse der UN-Generalversammlung (SDG, Agenda 2030) sind: Sie verpflichten zur Mitarbeit in bestimmten Prozessen, nicht aber zum Ergreifen institutioneller Konsequenzen. Die Staaten bestimmen ihre materiellen Verpflichtungen selbst (Emissionen, CO₂-Budget, Umsetzung der SDG-Vorgaben). Mangelnde institutionelle Kraft gleicht man aus durch hohe Ziele und detaillierte Berichterstattung. Das ist an sich nicht schlecht, verbirgt aber oft die geringe Ambition bei der realen Umsetzung. Der Merksatz gilt nicht immer, aber leider zu häufig: Moralischer Höhenflug kompensiert institutionellen Kriechgang. Um allerdings gerecht zu sein: Mit diesem Problem schlagen sich alle herum, bis hin zu den UN-Organisationen.

Deutschlands Plankton-Impuls 2001 hat die Bundesregierung die erste, ausschließlich für Zwecke der Nachhaltigkeit zuständige Institution geschaffen, den Rat für Nachhaltige Entwicklung. Als unabhängig arbeitendes Gremium von Stakeholdern berät er die Regierung und führt eigene Projekte durch. Seit 2004 kontrolliert der Deutsche Bundestag mit einem parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung die Politik der Regierung, wiewohl das Upgrade zu einem vollwertigen Ausschuss noch aussteht. Den Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung lenkt die Nachhaltigkeitsstrategie. Das Statistische Bundesamt überwacht deren Indikatoren. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex ist ein institutionelles Rahmenwerk zur Berichterstattung über Nachhaltigkeit, das Unternehmen, Kommunen und Hochschulen nutzen. Für die Bildung für Nachhaltige Entwicklung, BNE, gibt es eine föderale Plattform. Ähnliche Institutionen sind u. a. zu »Sustainable Finance«, zum nachhaltigen Konsum, zur Forschung eingerichtet. Unternehmensbezogene Interessen zur Nachhaltigkeit organisieren sich in mehrere Institutionen. Ein Testballon für moderne Netzwerk-Institutionen sind die 4 Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategie (RENN). Völlig freie Institutionen sind auf Grund von privatem Engagement entstanden, wie zum Beispiel der Deutsche Nachhaltigkeitspreis. Die Bundesregierung stellt die Funktionalität der politischen Institutionen im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung in einer stattlichen Übersicht dar. Teils wird sie als hilfreich, teils als überkonstruiert wahrgenommen. Die Übersicht besagt ganz einfach, dass Nachhaltigkeit alle angeht und dass sich alle normalen Einrichtungen der Spitzenpolitik auch um Nachhaltigkeitsziele kümmern. Als Gatekeeper wirken die beiden Sonderinstitutionen, der Nachhaltigkeitsrat und der parlamentarische Beirat.

Das Netz von Impulsen und Beteiligungen erinnert an das Nahrungsnetz eines Ökosystems. Im Mittelpunkt des Geschehens verwertet das Bundeskanzleramt diese Impulse. Seine Position ähnelt der eines Endgliedes in der Nahrungskette, wie Haie und Wale im Ozean. Wie deren Nahrungsnetz letztlich auf Plankton angewiesen ist, so beruht die Nachhaltigkeitspolitik auf vielen kleinen Impulsen, Ergebnissen von Forschung und auf dem Ehrenamt von vielen Menschen. Wie das Nachhaltigkeits-Plankton entsteht und wie man es mehrt, ist so wichtig, wie die Endstufe der Nahrungskette. Man

darf es nicht als gegeben hinnehmen. Dieses Plankton entsteht nicht aus Zielen, Indikatoren und Zuständigkeiten, sondern anhand von Narrativen, Emotionen, Sorge und Pioniergeist, Vorbildern und Achtsamkeit. Welche Rolle Institutionen dabei spielen (können), ist eine offene Frage.

Die Institutionen-Lücke

Der Rechtsstaat organisiert sich im Allgemeinen durch Institutionen der Gesetzgebung (Legislative), der Rechtsprechung (Judikative) und der exekutiven Tätigkeiten (Gubernative, in Deutschland einschließlich der föderalen und kommunalen Einrichtungen). Erstmalig seit 2002 hat diese institutionelle Landschaft umfassende, quantifizierte Ziele mit Legislatur-übergreifender Dauer.

Mittlerweile ist es politisch gelernt, dass Nachhaltigkeitsziele aufgestellt werden. Für das Verfolgen der Ziele hat der politische Jargon das Codewort »Zuständigkeit« und meint damit, dass Ziele und institutionelle Kapazitäten zusammengehören. Automatisiert ist der Zusammenhang allerdings noch nicht. So kann es passieren, dass das Ziel »klimaneutral bis xy« zwar ubiquitär ist und weit in die private Wirtschaft reicht, ohne dass Details zur Zählweise festgelegt sind, ohne Qualitätssicherung und ohne »Zuständigkeit«.

Institutionen sind auch Parteien, Vereine oder Verbände, NGOs, öffentlich-rechtliche Medien und Forschungseinrichtungen. Unternehmen in öffentlichem Besitz und Stadtwerke sind ein Zwitter. Institutionsgleiche Vereinbarungen sind auch die mentalen Infrastrukturen wie die politische Kultur, das Konsensprinzip, die Streitkultur, die intergenerative Erinnerungskultur.

Dass hierbei überall mehr Nachhaltigkeit nötig wäre, ist bis in höchste Ämter demokratischer Staaten unbestritten. Das »Wie« bleibt indessen (mitunter wohl auch: gezielt) unklar. Die dem Anthropozän angemessene Institutionalisierung von Pflichten, Risiken und Prozessen steht noch aus. Vielfach fehlen solche Zuschnitte von Institutionen. Ihr Fehlen fällt nicht besonders auf. Das muss, dank SDG 16, aber nicht so bleiben. 3 Beispiele:

1. Klimakompensation: Der Markt für freiwillige Kompensationsmaßnahmen versagt, während eine glaubwürdige und effektive Kompensation mit dem globalen Süden nötiger denn je ist. Die Politik ist gefragt, den Markt zu ordnen. Sie müsste dafür einen Treuhand-Mechanismus Klima schaffen, der Unternehmen und Kommunen solche Klima-Zertifikate zur Verfügung stellt, die auf Qualität geprüft sind.

2. Gemeinschaft: Nachhaltigkeit erfordert gemeinschaftliches Handeln und Kooperation, aber hier fehlt die institutionelle Konsequenz auf allen Ebenen. Eine staatliche Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zur grünen Infrastruktur und zur nachhaltigen Beschaffung müsste den notwendigen institutionellen Rahmen setzen.

3. Kultur: Das Rollenfach, das der Kulturpolitik im Rahmen von SDG 16 zukommt, ist weitgehend unbesetzt. Es wird Zeit für eine BioMenta als neue Form der documenta, die den Trilog zwischen Mensch, Technik und Natur künstlerisch institutionalisiert.

SDG 16 meint zwar nur die Institutionen des öffentlichen Raums, aber nichtsdestoweniger sind die analogen Fragen auch bei Konzernen aktuell, weil Nachhaltigkeit jetzt

für viele von ihnen verbindlich wird: Wird der CEO oder der CFO (Chief Financial Officer) zuständig oder wählt man eine andere Federführung? Soll die Zuständigkeit zentral oder dezentral organisiert werden? Wie dynamisch muss die Transformation organisiert werden?

Dabei gilt es immer im Auge zu behalten, gegen was und wen es eigentlich geht. Wenn irgendetwas in den letzten 30 Jahren dynamisch institutionalisiert wurde, dann die Umweltzerstörung und die fürsorgliche Vernachlässigung von Milliarden junger und alter Menschen. Korruption, Bestechung, Diebstahl und Steuerhinterziehung sowie illegale Finanz- und Waffenströme erreichen Multi-Milliarden Höhe. Ganze Staatsregierungen legalisieren das organisierte Verbrechen und sammeln obendrein von harmlosen Geldgebern noch Entwicklungsetats für die Armen ein, während sie Atombomben und Mega-Rüstung finanzieren. Demgegenüber sind Don Corleone und Al Capone nicht mehr als ein schummrig beleuchteter Bolzplatz im Vergleich zur Champions League. Dennoch hilft das SDG 16. Man muss es als Steilvorlage für neues Denken sehen und als Instrument zur Veränderung von Institutionen nutzen.

Verantwortung — zwischen L’art pour l’art und Pflicht

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur; er ist Sprecher der Initiative kulturelle Integration, Mitherausgeber von Zeitzeichen — Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft sowie Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Kulturstiftung des Bundes.

»Demokratie braucht Inklusion« — unter dieser Überschrift hat der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, seine Amtszeit in der 19. und 20. Legislaturperiode gestellt, und ich würde ergänzen »Nachhaltigkeit braucht Inklusion«. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 umfassen alle Bereiche des Lebens, angefangen von der Bekämpfung von Armut (Ziel 1) über den Einsatz gegen Hunger (Ziel 2), über Gesundheit und Wohlergehen (Ziel 3), Zugang zu Bildung (Ziel 4), Erreichen von Geschlechtergleichheit (Ziel 5), Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen (Ziel 6), bezahlbarer und sauberer Energie (Ziel 7 ), menschenwürdiger Arbeit und Wirtschaftswachstum (Ziel 8), Industrie, Innovation und Infrastruktur (Ziel 9), weniger Ungleichheiten (Ziel 10), nachhaltigen Städten und Gemeinden (Ziel 11), nachhaltigem Konsum und Produktion (Ziel 12), Maßnahmen zum Klimaschutz (Ziel 13), dem Leben unter Wasser (Ziel 14) sowie dem Leben an Land (Ziel 15) zum Ziel 16 »Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen. Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.« Abgeschlossen wird die UN-Agenda 2030 mit Ziel 17, in dem es um Partnerschaften zur Erreichung der Ziele geht.

Die Nachhaltigkeitsziele 16 und 17 sind jene, in denen es um die Operationalisierung der in den vorherigen Zielen postulierten Grundsätze geht. Insbesondere Ziel 16 zielt darauf ab, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, die nachhaltig ist. Es ist eine Gesellschaft, die im Frieden lebt, Gerechtigkeit verwirklicht und starke Institutionen hat. Eine Gesellschaft, die die nachhaltige Entwicklung fördert, mithin den vorherigen 15 Zielen verpflichtet ist. Nachhaltigkeitsziel 16 ist meines Erachtens eines der anspruchsvollsten Ziele der UN-Agenda 2030. Es ist ein Ziel, das wenig mit Glanz, dafür sehr viel mit strategischer Planung und Pflicht1 zu tun hat.

1  Wie wichtig für mich der Begriff »Pflicht« in der politischen Arbeit ist, habe ich im Buch »Mein kulturpolitisches Pflichtenheft« (Zimmermann 2023) dargelegt.

Die wesentliche Aufgabe im Nachhaltigkeitsziel 16 besteht in meinen Augen darin, die zuvor genannten Ziele zusammenzuführen und -denken. Wissenschaft, Politik, Verwaltung, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen denken und arbeiten sehr oft in Zuständigkeiten oder »Silos«. Die einen sind für Ökologie, die anderen für Bildung, die nächsten für Geschlechtergerechtigkeit und die übernächsten für Kultur zuständig. Dieses »Silodenken« gilt es mit Blick auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu überwinden. Vielmehr müssen die Verbindungen zwischen einzelnen Zielen geschaffen und verdeutlicht werden, dass Nachhaltigkeit umfassend zu verstehen ist. Das erfordert in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein Umdenken, denn nach wir vor assoziieren viele mit Nachhaltigkeit vor allem ökologische Nachhaltigkeit oder im Kulturbereich, die nachhaltige — sprich vor allem dauerhafte — Förderung von Projekten und Institutionen. Ein solcher Nachhaltigkeitsbegriff greift zu kurz. Ich will dies an einigen Beispielen verdeutlichen.

Behinderung

Die Mehrzahl der Menschen, die eine Behinderung haben, erwerben diese im Laufe ihres Lebens. Fast 90 Prozent der schwerbehinderten Erwerbstätigen haben ihre Behinderung im Laufe ihres Berufslebens erfahren. Dennoch konzentriert sich die Diskussion um die Inklusion von Menschen mit Behinderung vor allem auf jene Gruppe, die von Geburt an behindert sind. Das soll nicht heißen, diese Gruppe zu vernachlässigen — im Gegenteil, es gilt hier die Teilhabe an Bildung so zu ermögli-

chen, dass möglichst eine Berufsausbildung und -tätigkeit an die Schullaufbahn angeschlossen werden kann. Es bedeutet aber ebenso, sich viel stärker mit jener großen Gruppe auseinanderzusetzen, die ihre Behinderung im Laufe ihres Lebens erwirbt. Sie müssen weiter im Arbeitsmarkt bleiben oder neu integriert werden.² Bestehende Hilfsmaßnahmen gilt es stärker bekannt zu machen und sie ggf. auszuweiten. Gerade im Kulturbereich besteht noch viel Nachholbedarf. Menschen mit Behinderungen wurden in den letzten Jahren zwar zunehmend als Publikum entdeckt, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind sie aber noch nicht so präsent, wie es von einer inklusiven Gesellschaft zu erwarten ist. Durchgängig angekommen ist das Thema noch nicht, und vor allem mangelt es an der beruflichen Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Bundesagentur für Arbeit berichtet regelmäßig anhand der gesetzlichen Vorgaben über die berufliche Integration von Schwerbehinderten. Der Anteil der Erwerbstätigen mit Schwerbehinderung an der Gesamtbevölkerung beträgt 4,5 Prozent. Die Initiative kulturelle Integration3 hat in einer Befragung von vom Bund geförderten Kulturinstitutionen zur Diversität, die im Jahr 2021 erschienen ist, unter anderem auch danach gefragt, wie viele Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen in diesen Einrichtungen arbeiten. Im Durchschnitt beschäftigten die vom Bund geförderten Kulturinstitutionen 4 Prozent Mitarbeitende mit Behinderungen. Damit erreichen sie fast den oben genannten Durchschnittswert der schwerbehinderten Berufstätigen. Die Werte unterscheiden sich allerdings je nach Größe der Kulturinstitutionen beträchtlich. Während Kulturinstitutionen mit einem kleineren Mitarbeiterstab oft keine Behinderten beschäftigten, liegt der Wert bei den größeren Kultureinrichtungen mit mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit 6 bis 10 Prozent über dem Durchschnittswert, was sehr positiv ist. Von den befragten Kulturinstitutionen haben 27 Prozent einen Behindertenbeauftragten. Darüber hinaus haben 47 Prozent angegeben, dass sie eine ungleiche Verteilung mit Blick auf die Diversität von Menschen mit Behinderungen in der Mitarbeiterschaft sehen (Priller, Schrader, Schulz 2021). Hier besteht offenbar ein Bewusstsein dafür, dass noch Luft nach oben ist. Eine nachhaltige Gesellschaft wird der Inklusion von Menschen mit Behinderungen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Arbeitskräfte

2  Siehe hierzu auch mein Beitrag »Kulturarbeit zwischen Traumjob und Prekariat« in diesem Band.

3  Die Initiative kulturelle Integration wurde auf Initiative des Deutschen Kulturrates, des Bundesministeriums des Innern, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Kulturstaatsministerin und der Integrationsbeauftragten im Jahr 2016 ins Leben gerufen. Ihr gehören 28 Institutionen und Organisationen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen an.

4  United Nations High Commissioner for Refugees (2022): Mid-Year Trends 2022 ↘ t1p.de/2p0xg

Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) weist im Halbjahresbericht 20224 103 Millionen weltweit gewaltsam vertriebene Menschen aus. Verglichen mit dem Jahresendstand 2021 bedeutet diese Zahl einen Anstieg um 13,6 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht befinden, Asyl suchen, Binnenvertriebene oder anderweitig schutzbedürftig sind. Die Zahl der gewaltsam Vertriebenen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Grund sind Kriege, Bürgerkriege, aber auch mangelnde Perspektiven und die Flucht vor Auswirkungen der Klimakrise. Wenn es der Weltgemeinschaft nicht gelingt, die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, steht zu befürchten, dass Flucht und Vertreibung weiter zunehmen werden. Neben der traumatischen Situation für die aktuell von Flucht und Vertreibung Betroffenen sind die Folgen für die nachwachsende Generation dramatisch. Es bedeutet, dass Kinder und Jugendliche wenig Chancen auf ausreichende Ernährung, Unterkunft, Schulbildung und damit Perspektiven für ihre Zukunft haben.

5  Die Türkei hat 3,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, Kolumbien 2,5 Millionen, Deutschland 2,2 Millionen, Pakistan und Uganda je 1,5 Millionen.

6  Initiative kulturelle Integration (2017 ): Zusammenhalt in Vielfalt. These 7, Berlin ↘ t1p.de/4g0k7

Deutschland gehörte laut UNHCR im Jahr 2021 zu den 5 größten Aufnahmeländern für Flüchtlinge. Nur die Türkei und Kolumbien haben mehr Flüchtlinge aufgenommen. Auf Deutschland folgen Pakistan und Uganda.5 Kolumbien liegt nach Syrien an zweiter Stelle der Länder, die die höchste Zahl an Binnenflüchtlingen aufweisen. Die meisten Flüchtlinge weltweit stammen aus Syrien (6,8 Millionen), Venezuela (5,6 Millionen), Ukraine (5,4 Millionen), Afghanistan (2,8 Millionen) und dem Sudan (2,4 Millionen). Unter den 5 Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, ist Deutschland eine gefestigte Demokratie, die zu den weltweit führenden Industrienationen zählt. Deutschland hat — trotz mancher Probleme im Einzelnen — die Ankunft einer großen Anzahl von Flüchtlingen in den Jahren 2015 und insbesondere 2016, insbesondere aus Syrien, sehr gut gemeistert. Auch wenn der Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise holprig war, ist das Diktum der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel »Wir schaffen das« eingetreten. Es wurde geschafft dank der Mitwirkung vieler, insbesondere der Kommunen, der Religionsgemeinschaften, den Schulen, aber auch vieler Vereine und bürgerschaftlich Engagierter vor Ort. Gerade dieses breit gefächerte, bürgerschaftliche Engagement von der Hausaufgabenhilfe, der Unterstützung bei Behördengängen, beim Sport, in der Kultur usw. beweist die große Solidarität der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger.

Dies ließ in breiten Kreisen der Gesellschaft die Gewissheit wachsen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dies auch selbstbewusst vertreten kann. Die in der Initiative kulturelle Integration zusammengeschlossenen 28 Organisationen formulierten hierzu bereits 2017 als These 7 »Einwanderung und Integration gehören zu unserer Gesellschaft« der 15 Thesen »Zusammenhalt in Vielfalt«.6 Zugleich ist Deutschland, wie andere Industrienationen auch, dringend auf Einwanderung angewiesen. Unser Land steht in Konkurrenz zu anderen Ländern um die besten Talente. Diese werden aber nur dann nach Deutschland kommen, wenn sie hier Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten für sich und ihre Familien sehen.

Eine inklusive Gesellschaft ist nur dann nachhaltig, wenn sie die Ankommenden integriert. Das gilt für Asylsuchende und Flüchtlinge ebenso wie für Arbeitskräfte, die im Ausland angeworben werden sollen. Es kommen Menschen in unser Land. Nachhaltigkeitsziel 16 bedeutet überdies, nicht nachzulassen mit den Bemühungen, Frieden in der Welt zu stiften, und mit der Beendigung von Kriegen eine der wesentlichen Ursachen für Flucht und Vertreibung einzudämmen. Das heißt auch, die Gesprächsfäden zu »Unrechtsstaaten«, auch wenn es schwerfällt, nicht abreißen zu lassen.

Demografische Veränderung

Bereits seit vielen Jahren verändert sich die demografische Zusammensetzung in Deutschland. Der Anteil der jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt ab, und dafür wächst der Anteil der Älteren. Die »Boomer«, also die geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland zwischen 1955 und 1964, sind die ausgemachte Problemgruppe. Als Kinder schon waren sie zu viele, die Schulklassen und Hochschulen waren überfüllt, Ausbildungsplätze Mangelware. Als sie auf den Arbeitsmarkt drängten, war der Stellenmarkt leer gefegt. Bei vielen »Boomern«, und ich will mich da nicht ausnehmen, hat sich eine Ellenbogenmentalität festgesetzt. Sie wurden notgedrungen zu Kämpfern, zum Ersten, weil sie in der großen Masse von Mitboomern sichtbar sein wollten, und zum Zweiten, weil sie ihren Platz im Berufsleben nur fanden, wenn

sie sich gegen die vielen Mitbewerber durchsetzten.7 Jetzt droht die nächste Gefahr durch die »Boomer«, ihr Renteneintritt. Die Erzählung lautet, dass die »Boomer« den Jungen den Wohlstand rauben, weil sie, die Jungen, die Rente der »Boomer« zahlen müssen. Vergessen wird dabei, dass das Rentensystem auf einem Generationenvertrag beruht und auch die »Boomer« ihren Beitrag durch Zahlung in die Rentenversicherung geleistet haben.

7  Siehe hierzu mein Beitrag »#OKBoomer« vom 31.08.2022 ↘ t1p.de/ydvkc

Doch abseits von Polemik oder Larmoyanz verändert sich eine Gesellschaft, wenn ein erheblicher Teil eher zurückblickt als nach vorne, weil ihre Lebenszeit sich dem Ende zuneigt. Selbstverständlich wird es Auswirkungen haben, wenn ein großer Teil der Gesellschaft Unterstützung benötigt oder einfach häufiger das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen muss, als es bei jungen Menschen der Fall ist.

Ich bin dennoch fest davon überzeugt, dass eine inklusive, nachhaltige Gesellschaft sich auch daran messen lassen muss, wie die verschiedenen Generationen zusammenleben. Dazu gehört ohne Zweifel, auch im fortgeschrittenen Alter den eigenen Lebensstil infrage zu stellen.

Demokratie

Demokratische Gesellschaften leben von Auseinandersetzungen, vom Streit um den besten Weg, vom Aushalten von Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen. Demokratie ist eine anstrengende Staatsform, weil sie immer wieder verlangt, dass Mehrheiten sich bilden und zugleich die Rechte von Minderheiten respektiert werden.

Zur Demokratie gehört, dass alle Menschen Zugang zu demokratischen Entscheidungsprozessen haben, dass sie mitreden, mitbestimmen können, dass eine Gesellschaft inklusiv ist und niemanden ausgrenzt, sondern vielmehr die gesamte Gemeinschaft in den Blick nimmt. Demokratie braucht auch starke staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen, die wie in Nachhaltigkeitsziel 16 gefordert, rechenschaftspflichtig und inklusiv sein müssen.

Kulturverantwortung

L’art pour l’art gilt in der Kunst, nicht aber die gesellschaftliche Verantwortung von Künstlerinnen und Künstlern, nicht für Kulturmanagerinnen und -manager und vielen anderen Kulturschaffenden. Wir alle stehen gemeinsam in der Pflicht, eine nachhaltige und inklusive Gesellschaft zu befördern.

Literatur

Priller, Eckhard; Schrader, Malte; Schulz, Gabriele; et al. (2021): Bericht zur Diversität in Kulturinstitutionen — eine Analyse in bundesgeförderten Einrichtungen. In: Diversität in Kulturinstitutionen 2018—2020. Herausgegeben von Olaf Zimmermann für die Initiative kulturelle Integration, Berlin, S. 18—101 Zimmermann, Olaf (2023): Mein kulturpolitisches Pflichtenheft. Berlin

Kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit

Prof. Christian Höppner ist Präsident des Deutschen Kulturrates; er ist Cellist und Dirigent sowie Hochschullehrer für Cello an der Universität der Künste Berlin; er ist Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Mitglied im Rundfunkrat der Deutschen Welle und Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission.

Als im Jahr 2005 die »UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« (kurz Konvention Kulturelle Vielfalt) in Paris verabschiedet wurde, wurde ein Meilenstein internationaler Kulturpolitik erreicht. Die Konvention Kulturelle Vielfalt war innerhalb eines kurzen Zeitraums erarbeitet worden. Erst 2003 hatte die UNESCO-Vollversammlung einer Expertinnen- und Expertengruppe unter Federführung der deutschen Völkerrechtlerin Sabine von Schorlemmer den Auftrag erteilt, eine Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt zu erarbeiten. Hintergrund war die angestrebte weitere Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen und Gütern im Rahmen des GATS (Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Viele Akteure des Kulturbereiches befürchteten, dass die öffentliche Kulturförderung eingeschränkt, die indirekte Kulturförderung wie die Buchpreisbindung infrage gestellt oder aber ausländische private Kulturunternehmen Anspruch auf öffentliche Kulturförderung in Deutschland erheben könnten. Insbesondere hinsichtlich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bestand die Sorge, dass er in seinen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden könnte. Beabsichtigt war eigentlich, ein Instrument zu schaffen, dass die gleiche Wirkkraft wie Handelsabkommen entfalten kann. Diese Zielrichtung musste bereits während des Erarbeitungsprozesses aufgegeben werden.

1  Nach dem Amtsantritt von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurden die Verhandlungen von Seiten der EUKommission auf Eis gelegt und bislang nicht wieder aufgegriffen.

2  Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. ↘ t1p.de/qke3e

Dennoch ist die 2005 verabschiedete und im Jahr 2007 in Kraft gesetzte Konvention Kulturelle Vielfalt im kulturpolitischen Kontext von hoher Bedeutung. Allein die Ratifikationsgeschwindigkeit von 2 Jahren war enorm. Sowohl die Europäische Union als auch die Bundesrepublik haben die Konvention Kulturelle Vielfalt ratifiziert. Woraus folgt, dass sie sowohl mit Blick auf die Handelspolitik als auch die Kulturpolitik an die Grundsätze der Konvention Kulturelle Vielfalt gebunden sind. Besonders wichtig war diese Bindung bei den Verhandlungen um das Handels- und Dienstleistungsabkommen TTIP zwischen der EU-Kommission und den USA in den Jahren 2013 bis 2016.1 Verhandlungsführerin für die EU-Mitgliedsstaaten ist wie bei allen internationalen Handelsabkommen die EU-Kommission. Erst der massive Druck, insbesondere von Seiten des Deutschen Kulturrates und seiner Mitglieder, führte dazu, dass die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD gegenüber der EU-Kommission rote Linie bei den Verhandlungen erreichte, um die kulturelle Vielfalt zu schützen.

Eine der Kernaussagen der Konvention Kulturelle Vielfalt ist der Doppelcharakter von Kultur oder wie es in der Konvention Kulturelle Vielfalt heißt: »dass kulturelle Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen sowohl eine wirtschaftliche als auch eine kulturelle Natur haben, da sie Träger von Identitäten, Werten und Sinn sind, und daher nicht so behandelt werden dürfen, als hätten sie nur einen kommerziellen Wert«.²

Der Konvention Kulturelle Vielfalt liegen 8 leitende Grundsätze zugrunde und zwar:

– Grundsatz der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten

– Grundsatz der Souveränität

– Grundsatz der gleichen Würde und der Achtung aller Kulturen

– Grundsatz der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit

– Grundsatz der Komplementarität der wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte der Entwicklung

Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung

– Grundsatz des gleichberechtigten Zugangs

– Grundsatz der Offenheit und Ausgewogenheit

Kulturelle Vielfalt im Inland

Mit Blick auf den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung ist in der Konvention Kulturelle Vielfalt formuliert: »Die kulturelle Vielfalt stellt einen großen Reichtum für Einzelpersonen und Gesellschaften dar. Der Schutz, die Förderung und der Erhalt der kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen.«3

Mit diesem Grundsatz wird eine Verbindung zu der 10 Jahre später verabschiedeten UNAgenda für nachhaltige Entwicklung geschlagen, und es wird bereits hier verdeutlicht, dass kulturelle Vielfalt und nachhaltige Entwicklung Hand in Hand gehen. Daraus folgt beispielsweise, dass hinsichtlich des Schutzes der kulturellen Vielfalt zumindest Vorsorge vor Naturkatastrophen getroffen werden muss, um das materielle Erbe zu erhalten. Der Schutzgedanke der Konvention Kulturelle Vielfalt reicht allerdings noch weiter. Er schließt das immaterielle Kulturerbe und die Kulturorte ein. Das bedeutet konkret, dass Kulturorte und Kulturgüter vor Katastrophen so geschützt werden müssen, dass sie keinen Schaden nehmen und ihre Entwicklung gesichert wird.

Über den Katastrophenschutz hinaus gebietet die Konvention Kulturelle Vielfalt, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Vielfalt von Kultur in Deutschland zu sichern. Die Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2023 hat gezeigt, wie verletzlich die Kultur ist. Dank diverser Unterstützungsprogramme der Länder und des Bundes — hier ist besonders »Neustart Kultur« zu erwähnen — konnte die kulturelle Infrastruktur gesichert werden. Stipendienprogramme für Künstlerinnen und Künstler sicherten die wirtschaftliche Basis dieser am meisten vulnerablen Gruppe aus dem Kultursektor.

3  s. o.

4  Der Deutsche Museumsbund widmet z. B. 2023 seine Jahrestagung dem Thema Klimaschutz in Museen und hat hierzu einen Leitfaden Klimaschutz im Museum veröffentlicht. ↘ t1p.de/63vth

5  Die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft stellt in einem Green Book zusammen, wie Theater nachhaltig arbeiten können und gibt zahlreiche praxisnahe, technische Hinweise für mehr Nachhaltigkeit im Betrieb. ↘ t1p.de/yiwrv

6  /  7  s. o.

Zum Themenspektrum der Nachhaltigkeit gehören aber genauso die Fragen, wie Kultureinrichtungen nachhaltig arbeiten können, wie sie den Klimaschutz in ihre Arbeit selbstverständlich implementieren4, wie die Gebäude den Anforderungen an Klimaschutz und sparsamen Energieverbrauch5 gerecht werden können und wie die 17 Nachhaltigkeitsziele zu einem selbstverständlichen Arbeitsinstrument in den Kulturbetrieben werden. Zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen gehört elementar, die Kulturorte klimafest zu machen, sie gegebenenfalls energetisch zu sanieren und insgesamt den Betrieb unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten auf den Prüfstand zu stellen.

Kulturelle Vielfalt international Vielfach unbeachtet in den Debatten um die Konvention kulturelle Vielfalt ist der Grundsatz der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit. Dort steht: »Die internationale Zusammenarbeit und Solidarität sollen darauf abzielen, alle Länder, insbesondere die Entwicklungsländer, in die Lage zu versetzen, ihre Mittel des kulturellen Ausdrucks auf lokaler, nationaler Ebene zu schaffen und zu stärken; dies umfasst ihre Kulturwirtschaft, unabhängig davon, ob diese gerade entsteht oder bereits länger besteht.«6

Diese entwicklungspolitische Komponente der Konvention Kulturelle Vielfalt wird meines Erachtens viel zu wenig beachtet. Viel zu sehr wird die Konvention Kulturelle Vielfalt als Instrument gesehen, die bestehende — zumeist öffentlich unterstützte — kulturelle Infrastruktur im Inland zu sichern. Viel zu wenig wird beachtet, dass es darum geht, die kulturelle Vielfalt weltweit zu schützen und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu fördern. Hierzu zählt unter anderem, den Zugang kulturwirtschaftlicher Akteure aus dem globalen Süden zu den Kulturmärkten des Nordens zu verbessern. Ihnen Chancen zu eröffnen, Kultur, das heißt insbesondere auch Kulturgüter und -dienstleistungen zu exportieren. Handelsabkommen, die die Märkte abschotten, sind einem solchen Austausch abträglich und verhindern geradezu die nachhaltige Entwicklung in den Ländern des globalen Südens. In der Konvention Kulturelle Vielfalt heißt es im Grundsatz der Offenheit und Ausgewogenheit: »Beschließen Staaten Maßnahmen, um die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu unterstützen, so sollen sie danach streben, in geeigneter Weise die Offenheit gegenüber anderen Kulturen der Welt zu fördern und sicherzustellen, dass diese Maßnahmen im Einklang mit den durch dieses Übereinkommen verfolgten Zielen stehen.«7 Dieser Grundsatz unterstreicht, dass der Schutz der kulturellen Vielfalt in einem globalen Kontext gesehen werden muss. Damit wird einmal mehr deutlich, dass die Konvention Kulturelle Vielfalt wie auch UN-Agenda 2030 eine weltweite Bedeutung und Dimension haben. Jeder Staat, jeder Akteur und letztlich auch jeder Einzelne ist gefordert, seinen Beitrag zur Umsetzung dieser weltweit geltenden Vereinbarungen zu leisten. Zugleich gilt es bei der Umsetzung darauf zu achten, dass diese nicht zu Lasten Dritter geschieht.

Dieses veränderte Denken, das über den eigenen Tellerrand hinausreicht, Expertise aus anderen Disziplinen einbezieht, ist die wirkliche Herausforderung und Chance der Konvention Kulturelle Vielfalt und der UN-Agenda 2030. Zusammen arbeiten, zusammen denken und zusammen handeln sollte die Umsetzungsdevise sein.

17 Partnerschaften  zur Erreichung der Ziele

Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben

Wie kann Ungleichheit zwischen den Ländern, insbesondere NordSüd, verringert werden?

Bernd Bornhorst ist Mitglied der Geschäftsführung von Misereor; er ist Vorstandsmitglied der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Mitglied in der Sachverständigengruppe »Weltwirtschaft und Sozialethik« der Deutschen Bischofskonferenz, im Kuratorium des Bremer Solidaritätspreises und der Kommission »Justitia et Pax«; von 2013 bis 2021 war er Vorsitzender des »Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen« ( VENRO).

Das Jahr 2023 markiert die Halbzeit bei der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs). Im September soll der SDG-Gipfel der Vereinten Nationen in New York einen Aufbruch in eine neue Phase der beschleunigten Umsetzung der Globalen Nachhaltigkeitsziele einläuten. Ein wesentlicher Teil der Umsetzung bildet dabei das SDG 17 zu Globalen Partnerschaften für Nachhaltige Entwicklung. Doch angesichts einer »Kaskade von Krisen« (UN-Generalsekretär António Guterres) rückt die Verwirklichung der Agenda 2030 und ihrer Ziele für nachhaltige Entwicklung für viele Staaten im Globalen Süden in noch weitere Ferne. Denn die Welt befindet sich weiterhin in einer Art Dauerkrisenmodus. Die Auswirkungen der mehrfachen Klima-, Energie-, Ernährungs- und Coronakrise treffen insbesondere die Armen und Marginalisierten in den Partnerländern von Misereor besonders hart. Derzeit leiden 345 Millionen Menschen akut Hunger, bis zu 828 Millionen sind laut der UN-Welternährungsorganisation (FAO) von Ernährungsunsicherheit betroffen. Auch aufgrund der durch den Krieg in der Ukraine gestiegenen Energiepreise haben Millionen armer Menschen weltweit nicht genügend Energie für ein würdevolles und nachhaltiges Leben zur Verfügung.

Dramatische Zunahme von Ungleichheit weltweit Besonders schwer wiegt allerdings die dramatische Zunahme globaler Ungleichheiten. Fast die Hälfte der Menschheit — 3,2 Milliarden Menschen — lebt in Armut, das heißt von weniger als 5,50 US-Dollar am Tag. Auf der anderen Seite nimmt die Konzentration von Reichtum und Vermögen in den Händen einer privilegierten Elite immer weiter zu: In den letzten 10 Jahren haben die Milliardärinnen und Milliardäre ihr Vermögen verdoppelt, und es ist damit sechsmal so schnell gewachsen wie das der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammen.

Die multiplen Krisen haben auch die Schuldenlast im Globalen Süden weiter erhöht: 136 von 152 im Schuldenreport 2023 untersuchten Staaten im Globalen Süden sind kritisch verschuldet, 40 von ihnen sehr kritisch. 90 Prozent der extrem armen Menschen weltweit leben in kritisch oder sehr kritisch verschuldeten Ländern. Finanzielle Mittel, die in den Schuldendienst fließen, stehen nicht zur Verfügung, um die immer weiterwachsende Armut, die Klimakrise und den fortschreitenden Hunger zu bekämpfen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen zur Entwicklungsfinanzierung sind 2021 weltweit 77 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut gefallen, und eine ganze Reihe von Ländern konnte ihr Wohlstandsniveau von 2019 noch nicht wieder erreichen. Zudem lasten die weltweit steigenden Zinsen schwer auf den Staatshaushalten der Länder des Globalen Südens und absorbieren knappe Ressourcen, die für nachhaltige Entwicklung, die Überwindung von Armut und die Sicherung öffentlicher Güter fehlen. Die Zinswende ist gewissermaßen die Zeitenwende der Entwicklungsfinanzierung. Schließlich tragen Kapitalflucht und mangelnde Liquidität auf den globalen Finanzmärkten dazu bei, dass Entwicklungsländer schwerer neue Finanzmittel für Investitionen in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Umbau und die sozialökologische Transformation investieren können. Auch unsere Art zu leben trägt zu mehr Ungleichheit bei. Nach wie vor leben wir im Globalen Norden weit über unsere Verhältnisse und verbrauchen einen Großteil der globalen Ressourcen. Ein weiterhin ungebremster Ressourcenkonsum trägt zur Verletzung von Menschenrechten in der Landwirtschaft und im Bergbau und der Zerstörung der Schöpfung weltweit bei. Papst Franziskus ruft uns angesichts dieser Not zu einer ökologischen Umkehr auf, weil das bestehende Wirtschaftssystem bankrott

ist. Ihm geht es aber nicht um eine kleine Veränderung. Es geht um eine grundsätzliche Abkehr von bisherigen Modellen. Es ist jetzt an der Zeit, neue nachhaltige Wege des Wirtschaftens einzuschlagen, die sich nicht an der Maximierung von Produktion, Konsum und Gewinn orientieren, sondern am Weltgemeinwohl und der Bewahrung der Schöpfung. Eine sozial und ökologisch gerechte Wirtschaftspolitik muss zum Abbau sozialer Ungleichheiten beitragen, anstatt diese zu vertiefen, und gleichzeitig die ökologischen Fragen, den Planeten und seine Grenzen, im Blick behalten. Die Menschheit sieht sich derzeit einer Reihe schwerwiegender politischer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen gegenüber. Misereor ist überzeugt, dass ohne ein verantwortliches internationales Handeln und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel diese nicht zu bestehen sein werden. Misereor betrachtet die Herausforderungen des Klimawandels, der Welternährung, von Krieg und Gewalt und die zunehmende Macht von Wirtschafts- und Finanzakteuren vor allem aus der Perspektive der Armen und Rechtlosen heraus. Globale Lösungsansätze können nicht einfach auf der Basis eines »Weiter so!« formuliert werden. Wandel oder Transformation heißt aus Sicht der katholischen Soziallehre vor allem, die Menschenrechte für alle Menschen weltweit zu achten und zu schützen. Dieser gesellschaftliche Wandel kann mit dem Begriff des »Weltgemeinwohls« beschrieben werden. Papst Franziskus hat in seiner Umwelt- und Gerechtigkeitsenzyklika »Laudato Si« klar gemacht, dass Freiheit, Verantwortung und Teilhabe ungerecht verteilt sind. Franziskus fordert verbindliche Schritte hin zu einer Transformation zu zukunftsfähigen Gesellschaften und den damit verbundenen politischen Weichenstellungen — hin zu einer nachhaltigen und gerechteren Gesellschaft und zu einem globalen solidarischen Miteinander.

Renaissance der nachhaltigen Entwicklungsfinanzierung

Im Kampf gegen globale Ungleichheiten müssen wir aber auch die Umsetzung der Agenda 2030 beschleunigen und mehr Mittel für die Finanzierung globaler Nachhaltigkeitspolitiken mobilisieren. Die Finanzierungslücke für die verbliebene Dekade der SDGs wird noch weiter anwachsen, laut Schätzungen der OECD auf 4,2 Billionen USDollar pro Jahr. Der ungedeckte Finanzierungsbedarf der SDGs im Globalen Süden wurde bereits vor der Coronakrise vonseiten der UN auf 2,5 Billionen US-Dollar jährlich geschätzt. Weltweit brauchen wir jetzt einen erneuerten globalen Konsens für eine starke Entwicklungsfinanzierung. Denn in Zeiten hoher Zinsen gewinnt nicht nur die einheimische Finanzierung nachhaltiger Entwicklung über gesteigerte Steuereinnahmen an Bedeutung, sondern auch die externe Finanzierung durch Zuschüsse aus der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung (ODA). Wir brauchen im Halbzeitjahr 2023 einen neuen globalen Konsens für die Finanzierung nachhaltiger Entwicklung und die Erreichung der Agenda 2030.

Mehr internationale Steuergerechtigkeit

Eine progressive Steuerpolitik ist — national wie international — dabei eine der wichtigsten Stellschrauben, um Ungleichheit und Armut wirksam abzubauen. Politische Entscheidungen der letzten Jahrzehnte haben zu massiven Steuerentlastungen von Unternehmen und Vermögenden geführt, während Steuern und Abgaben für Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich gestiegen sind. Die neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik ging davon aus, dass Wohlstandseffekte automatisch auch zu den ärmeren Bevölkerungsschichten durchsickern würden. Das Gegenteil war der Fall. Mitt-

lerweile räumt sogar der Internationale Währungsfonds ein, dass Steuersenkungen für Reiche keine positiven Effekte für den Rest einer Gesellschaft haben. Und die Weltbank geht davon aus, dass ohne konzertierte Maßnahmen zur Verringerung globaler Ungleichheiten die SDGs bis 2030 nicht zu erreichen sein werden.

Vorrangig müssen jetzt Maßnahmen gegen die internationale Steuerhinterziehung und den schädlichen Steuerwettbewerb zwischen Staaten vorangetrieben werden. Dazu zählen global koordinierte Schritte zur Förderung von progressiven Steuersystemen durch die Nutzung von Vermögens- und Erbschaftssteuern, gerechten Digitalsteuern, wirksamen Mindestsätzen für Unternehmenssteuern, innovative steuerpolitische Instrumente wie die Finanztransaktionssteuern und schließlich die Abschöpfung von Krisengewinnen durch Finanztransaktionssteuern und andere Instrumente.

Berechnungen des Netzwerks Steuergerechtigkeit zufolge klafft alleine im deutschen Steuersystem eine Gerechtigkeitslücke von mindestens 75 bis 100 Milliarden Euro jährlich. Ein Vergleich zwischen 1998 und 2015 zeigt: Vor allem durch sinkende Steuersätze für Unternehmensgewinne und hohe Einkommen auf der einen Seite und die Finanzierung durch eine höhere Umsatzsteuer auf der anderen Seite ist das deutsche Steuersystem um die Jahrtausendwende noch einmal deutlich ungerechter geworden. Für die Trendwende zur Verringerung von Ungleichheit in Deutschland bedarf es eines entschieden politischen Umsteuerns. Der Abbau ungerechter Steuerprivilegien für Reiche und umweltschädlicher Steuervorteile muss ebenso wie der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche ins Zentrum einer fortschrittlichen gerechtigkeitsorientierten Politik rücken. Das Fehlen einer Vision für eine sozial und ökologisch gerechte Steuerreform ist derzeit eine der größten Leerstellen in der Politik der gegenwärtigen Bundesregierung.

Doch auch international bedarf es einer umfassenden Transformation der internationalen Steuer- und Finanzarchitektur, um ein weiteres Auseinanderdriften reicher und ärmerer Staaten zu vermeiden. Um die institutionellen Voraussetzungen für mehr Steuergerechtigkeit global zu stärken, sollte die Bundesregierung sich für die Schaffung einer internationalen Steuerorganisation und eine umfassende Konvention für die Zusammenarbeit in der Steuerpolitik unter dem Dach der Vereinten Nationen einsetzen. Dies würde die Vereinten Nationen befähigen, wirksame internationale Regeln gegen Steuerflucht und schädlichen Steuerwettbewerb zugunsten von Entwicklungsländern zu treffen. Konkret geht es um eine ausreichende Besteuerung grenzüberschreitender Gewinne transnationaler Konzerne durch faire internationale Doppelbesteuerungsund Informationsabkommen, eine wirksame globale Mindestbesteuerung auch von Digitalkonzernen, innovative steuerpolitische Instrumente, wie die Finanztransaktionssteuer oder Steuern auf den Verbrauch natürlicher Ressourcen, und die Stärkung schlagkräftiger Steuerverwaltungen in Ländern des Globalen Südens.

Stärkung öffentlicher Haushalte im Globalen Süden Im Gegensatz zu Steuern besteht die besondere Bedeutung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) darin, durch direkte Finanztransfers aus dem wohlhabenderen Globalen Norden in den Globalen Süden unmittelbar für den Abbau von Ungleichheiten, die Überwindung von Armut und den Schutz öffentlicher Güter wirksam zu werden. Deutschland hat zwar das international bestehende Ziel, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungsfinanzierung zur Verfügung zu stellen, in den letzten Jahren viermal erreicht. Faktisch ist dieser Wert als Indikator für die tatsächlichen Finanzzuschüsse für Länder im Globalen Süden

aber nur begrenzt aussagekräftig, da neben Schuldenerlassen weiterhin Ausgaben für Studierende aus Entwicklungsländern in Deutschland oder für Geflüchtete — auch aus der Ukraine — im ersten Jahr ihres Aufenthalts die Entwicklungszusammenarbeit aufblähen. Zudem droht in den kommenden Jahren ein dramatischer Einbruch der deutschen Entwicklungsfinanzierung auf 0,66 Prozent des BNE oder weniger. Nach Berechnungen des Verbands Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe ( VENRO) muss Deutschland in den kommenden Jahren dagegen rund 7 Milliarden Euro mehr für die Entwicklungszusammenarbeit und die Humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen, um einen Strohfeuereffekt zu vermeiden und seinen internationalen Verpflichtungen aus der Agenda 2030 auch langfristig nachzukommen.

Drückende Schuldenlast verschärft Ungleichheiten

Auch ein politischer Ausweg aus der Globalen Schuldenkrise ist 2023 dringender denn je, um Ungleichheiten zu verringern. Die fällig werdenden Schuldendienstzahlungen an ausländische Gläubiger befinden sich auf dem höchsten Stand seit Ende der 1990er Jahre. Besonders betroffen sind sehr kritisch verschuldete Staaten. In drei Vierteln dieser Länder übersteigen die Schuldendienstverpflichtungen die Gesundheitsausgaben. Notwendig ist jetzt ein neuer Schuldenmanagementkonsens, der die Staatshaushalte hochverschuldeter Länder rasch entlasten und so öffentliche Mittel für die Finanzierung der SDGs und die Verringerung von Ungleichheit freisetzen kann. Neben der Schaffung eines international längst überfälligen Staateninsolvenzverfahrens für hochverschuldete Staaten im Globalen Süden zählen dazu außerdem Schuldenmoratorien und -erlasse für von den Folgen des Klimawandels besonders betroffene Staaten oder der Aufbau eines transparenten Schuldenregisters als Voraussetzung für eine nachhaltige Schuldentragfähigkeit. Die Hauptverantwortung für die Lösung der Schuldenkrise liegt dabei bei den G7- und EU-Staaten, da ein großer Teil der Forderungen gegenüber hochverschuldeten Niedrig- und Mitteleinkommensländern von privaten und multilateralen Gläubigern in ebendiesen Staaten gehalten werden.

Neuer Konsens im Kampf gegen globale Ungleichheit

Die kommenden Jahre sind entscheidend dafür, ob es der internationalen Staatengemeinschaft gelingen kann, einen Kurswechsel für einen neuen Konsens für die Überwindung globaler Ungleichheit zu beschließen. Dazu muss der bevorstehende Gipfelmarathon beitragen: Im September 2023 soll der zweite SDG-Gipfel der Vereinten Nationen Maßnahmen zur Beschleunigung der SDG-Erreichung beschließen, im September 2024 dann der sogenannte »Zukunftsgipfel« die multilaterale Zusammenarbeit zur Lösung globaler Krisen und die Verwirklichung der Agenda 2030 vorantreiben. Der Schlüssel für die politische Lösung der gegenwärtigen Krise der Entwicklungsfinanzierung — und damit der Test für den politischen Willen zur Überwindung der globalen Ungleichheit — liegt aber bei der vierten internationalen Entwicklungsfinanzierungskonferenz im Jahr 2025. Denn dann kann die hier vorgeschlagene Reformagenda zur Mobilisierung zusätzlicher Mittel für nachhaltige Entwicklung und für eine strukturpolitische Transformation der internationalen Finanzarchitektur für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe Realität werden. Den politischen Willen dazu vorausgesetzt.

Ohne Kultur

keine Nachhaltigkeit

Herausgegeben von Olaf Zimmermann und Hubert Weiger

1. Auflage 2023

Redaktionsschluss: Mai 2023

Deutscher Kulturrat e. V. Chausseestraße 10 10115 Berlin

post@kulturrat.de kulturrat.de

Redaktion

Gabriele Schulz

Gestaltung

4S, Berlin

Illustration

Jan Stöwe, München

Schrift

GT Walsheim

Druck

Offizin Scheufele, Stuttgart

Bindung

Idupa Schübelin, Owen

Papier

Enviro Nature, 115 g/m2

Twin Kraft, 300 g/m2

ISBN 978-3-947308-40-8

Gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind über dnb.de abrufbar.

Diese Buch wurde auf Recyclingpapier gedruckt (Cradle to Cradle Certified® Silver, FSC® Recycled, EU Ecolabel, Blauer Engel). Der Einband besteht aus ungebleichtem Sulfatzellstoff und Altpapier (FSC® Mix). Bei Format und Umfang wurde auf möglichst wenig Verschnitt geachtet. Die Produktion erfolgte in Deutschland.

Olaf Zimmermann

Zweiter Bildungsweg, anschließend Volontariat zum Kunsthändler. Danach arbeitete er als Kunsthändler und als Geschäftsführer verschiedener Galerien. 1987 gründete er eine Galerie für zeitgenössische Kunst in Köln und Mönchengladbach. Seit März 1997 ist Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Zudem ist er Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates und Publizist. Er ist Vorsitzender des Beirates der Stiftung Digitale Spielekultur und Vorsitzender des Stiftungsbeirates der Kulturstiftung des Bundes, Sprecher der Initiative kulturelle Integration und Mitherausgeber von Zeitzeichen — Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft.

Hubert Weiger

Studium der Forstwirtschaft, Promotion an der Universität München. Seit 1994 Honorarprofessor an der Universität Kassel, Gründungsmitglied des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), von 1975 bis 2008 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des BUND, von 2007 bis 2019 Vorsitzender des BUND, seither Ehrenvorsitzender. Von 2013 bis 2022 Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung, von Juni 2018 bis Februar 2019 Mitglied der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung der Bundesregierung (Kohlekommission), seit 2019 Präsident der Deutschen Naturschutzakademie auf der Burg Lenzen.

2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. In 17 Nachhaltigkeitszielen hat sie konkrete Zielvereinbarungen getroffen.

Wo stehen wir heute? Wie können die Nachhaltigkeitsziele erreicht werden? Wie kann Armut und Hunger beendet werden? Wie kann Gesundheit und Wohlergehen für alle gewährleistet werden? Wie kann hochwertige Bildung für alle zugänglich gemacht werden? Was ist zu tun für Geschlechtergleichheit? Wie kann der Zugang zu Wasser, zu Sanitäreinrichtungen, zu sauberer Energie ermöglicht werden? Wie können menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum Hand in Hand gehen und Ungleichheiten entgegengewirkt werden? Wie werden Städte nachhaltiger, was bedeutet nachhaltiger Konsum und welche Maßnahmen müssen zum Klimaschutz ergriffen werden? Wie kann der Schutz der Ozeane und der Landökosysteme gelingen? Mit diesen und weiteren Fragen befassen sich ausgewiesene Expertinnen und Experten aus Kultur, Umwelt- und Naturschutz, Gewerkschaften, Wirtschaft und Wissenschaft unter der Überschrift »Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit«.

Das Buch kann über den QR-Code als barrierefreie PDF geladen werden.

978-3-947308-40-8

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