![](https://static.isu.pub/fe/default-story-images/news.jpg?width=720&quality=85%2C50)
10 minute read
Schlußfolgerung
»Umsichtige Vorsorge oder Quelle des Terrors?«, fragte die internationale Presse pointiert, als die geheimen Stay-behind-Armeen der NATO nach den Enthüllungen über Gladio Ende des Jahres 1990 in ganz Westeuropa entdeckt wurden.1 Nach langjährigen Recherchen ist für mich als Historiker die Antwort eindeutig: Die Geheimarmeen waren beides. Die geheimen Stay-behind-Armeen der Nato waren eine kluge Vorsichtsmaßnahme, wie die verfügbaren Dokumente und Aussagen belegen. Auf der Grundlage der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und der schnellen und traumatischen Besetzung der meisten europäischen Länder durch deutsche und italienische Truppen fürchteten militärische Experten die Sowjetunion und waren überzeugt, daß eine Stay-behind-Armee von strategischem Wert sein könnte, wenn besetztes Gebiet befreit werden sollte. Hinter den feindlichen Linien hätte die Geheimarmee den Widerstandwillen der Bevölkerung stärken können, bei einem bewaffneten nationalen Widerstand hätte sie bei der Führung und der Organisation helfen können. Sie hätte Sabotageakte durchgeführt, die Besatzungstruppen beunruhigt, abgeschossene befreundete Piloten ausgeschleust und für die Regierung im Exil geheimdienstliche Informationen gesammelt. Aus der Furcht vor einer möglichen Invasion nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden deshalb hochrangige Beamte der europäischen Regierungen der europäischen militärischen Geheimdienste, in der NATO ebenso wie in der CIA und dem MI6, daß ein geheimes Widerstandsnetzwerk schon in Zeiten des Friedens aufgebaut werden müsse. Auf einer unteren Ebene der Hierarchie teilten Bürger und militärische Offiziere in vielen Ländern Westeuropas diese Einschätzung, traten dem geheimen Netzwerk bei und trainierten heimlich für den Notfall. Diese Vorbereitungen waren nicht auf die 19 NATO-Staaten beschränkt, sondern auch die vier neutralen Staaten in Westeuropa, nämlich Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz, gehörten dazu. Rückblickend wurde offensichtlich, daß diese Furcht unbegründet war und die Ausbildung und das Training sinnlos waren, weil die Invasion der Roten Armee niemals stattfand. Doch damals gab es diese Sicherheit nicht. Verblüffend ist, daß die Tarnung des Netzwerks während des gesamten Kalten Krieges funktionierte, trotz wiederholter Versuche zur Enttarnung in vielen Ländern, und daß das Netzwerk erst in dem Augenblick ganz aufflog, als der Kalte Krieg beendet wurde und die Sowjetunion zusammenbrach. Die geheimen Stay-behind-Armeen der NATO waren jedoch auch eine Quelle des Terrors, was die nun verfügbaren Beweise ebenfalls zeigen. Es ist dieses zweite Charakteristikum der Geheimarmeen, welches auch ich als Wissenschaftler scharf kritisieren muß und das auch in der Zukunft noch weiter untersucht und recherchiert werden muß. Bis heute weisen die Quellen darauf hin, daß die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens nach dem Krieg nicht nur eine sowjetische Invasion befürchteten, sondern auch Angst vor kommunistischen und sozialistischen Parteien hatten. Das Weiße Haus und Downing Street befürchteten, daß in mehreren Staaten Westeuropas, vor allem aber in Italien, Frankreich, Belgien, Finnland und Griechenland, die Kommunisten in einflußreiche Positionen in der Exekutive kommen und die militärische Allianz NATO von innen her zerstören könnten, indem sie militärische Geheimnisse an die Sowjetunion verraten würden. In diesem Sinn trat das Pentagon zusammen mit der CIA, dem MI6 und der NATO in einen geheimen Krieg ein und benutzte die Stay-behind-Armeen als Instrument, um die Demokratien Westeuropas von innen her zu manipulieren und zu kontrollieren, was aber weder die europäische Bevölkerung noch die Regierungen wissen durften. Diese Strategie führte zu Terror und Angst, ebenso zur »Erniedrigung und Mißhandlung demokratischer Institutionen«, wie die europäische Presse ganz richtig kritisierte.2
Experten des Kalten Krieges werden bemerken, daß die Operation Gladio und die Staybehind-Armeen der NATO ein ganz neues Licht auf die Frage der Souveränität in Westeuropa werfen. Nun ist es eindeutig, daß damals, als der Kalte Krieg Europa teilte, Brutalität und Terror zur Kontrolle der Bevölkerung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs angewendet wurden. Soweit es Osteuropa anbelangt, war diese Tatsache schon lange bekannt, lange bevor sie auch von Moskau eingestanden wurde. Nachdem die Rote Armee 1968 gnadenlos die sozialen Reformen in Prag zerschlagen hatte, erklärte der sowjetische Präsident Leonid Breschnew in Moskau in seiner berüchtigten »Breschnew-Doktrin«, daß den Ländern Osteuropas nur eine »begrenzte Souveränität« zugestanden wird. Soweit es Westeuropa anbelangt, wurde die Illusion von Souveränität und Unabhängigkeit erst später erschüttert, ja vielen ist bis heute nicht klar, wie stark auch die europäischen Länder manipuliert wurden. Die Fakten über die Operation Gladio und die Stay-behind-Armeen der NATO zeigen eine subtilere und verdecktere Strategie zur Manipulation und zur Eingrenzung der Souveränität, die von Land zu Land sehr unterschiedlich war. Dennoch war es eine Einschränkung der Souveränität. Die Stay-behindArmeen funktionierten, weil es keine sowjetische Invasion gab, als »Zwangsjacke« für Demokratien in Westeuropa, ja, man könnte sie daher auch als die Breschnew-Doktrin Washingtons bezeichnen. Die strategische Begründung, die NATO von innen her zu schützen, kann nicht so leicht beiseite gewischt werden. Doch die Manipulation durch Washington und London, deren Umfang für viele in der Europäischen Union auch heute noch schwer zu glauben ist, hat eindeutig die gesetzlichen Regeln verletzt. In einigen Operationen der Stay-behind-Soldaten wurden zusammen mit den Geheimdiensten linksgerichtete Politiker beobachtet und Akten über sie angelegt, ebenso wurde antikommunistische Propaganda betrieben. Bei anderen Operationen kam es zu Blutvergießen. Tragisch war es, daß sich die geheimen Krieger mit rechtsextremen Terroristen zusammentaten, eine Kombination, die – in verschiedenen Ländern, zumindest in Belgien, Italien, Frankreich, Portugal, Spanien, Griechenland und der Türkei – zu Terroranschlägen, Folterungen, Staatsstreichen und anderen Gewalttaten führte. Die meisten dieser staatlich gesponserten Operationen erfreuten sich, wie die darauf folgenden Vertuschungen zeigten, der Ermutigung und des Schutzes ausgewählter hochrangiger Regierungsbeamter und militärischer Offiziere in Europa und den Vereinigten Staaten. Angehörige des Sicherheitsapparates und der Regierung auf beiden Seiten des Atlantiks, die es selbst verschmähen, mit Rechtsterrorismus in Verbindung gebracht zu werden, müssen in der Zukunft mehr Klarheit und Verständnis in diese tragischen Dimensionen des geheimen Kalten Krieges in Westeuropa bringen. Es kann nicht hingenommen werden, daß Steuergelder dafür verwendet werden, Bürger zu töten, welche selber diese Steuern einbezahlt hatten, im Vertrauen, der Staat werde ihnen Sicherheit bieten und Verbrechen aufklären. Die Fakten über Gladio zeigen, daß die Legislative nicht in der Lage war, die versteckteren Zweige der Exekutive zu kontrollieren, und es in den Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks keine parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste gibt oder, wenn es sie gibt, sie nicht funktioniert. Schon lange ist bekannt, daß totalitäre Staaten eine ganze Reihe unterschiedlicher, weitgehend unkontrollierter Geheimdienste und Geheimarmeen unterhielten. Doch solche ernsthaften Fehlfunktionen auch in zahlreichen Demokratien zu entdecken ist zumindest überraschend. In der Debatte um die demokratische Kontrolle von Geheimarmeen argumentieren militärische Beamte nach der Aufdeckung der Operation Gladio und des Stay-behind-Netzwerks der NATO zu Recht, daß es niemals so etwas wie eine »transparente Stay-behindArmee« geben kann, denn eine solche würde im Fall einer Invasion sofort aufgedeckt und deren Angehörige würden nach einer Invasion von den Eindringlingen sofort getötet. Parlamentarier und Verfassungsjuristen hatten indes ebenfalls Recht, wenn sie betonten, daß bewaffnete Truppen und die Geheimdienste in einer Demokratie jederzeit transparent, verantwortlich, kontrolliert und durch zivile Repräsentanten des Volkes überwacht sein müssen, da sie die mächtigsten Instrumente eines Staates darstellen.
Advertisement
Der unlösbare Konflikt zwischen zwingender Transparenz und zwingender Geheimhaltung, der genau am Kern des Gladio-Phänomens liegt, weist direkt auf die umfassende Frage, wie viel Geheimhaltung der Exekutive in einer Demokratie gewährt werden sollte. Urteilt man nach den Belegen zu Gladio, wo fehlende Transparenz und Verantwortlichkeit zu Korruption, zu Mißbrauch und Terror führte, dann ist die Antwort eindeutig. Der Exekutive sollte keine Verschwiegenheit gewährt werden, und sie sollte jederzeit von der Legislative kontrolliert werden. Denn eine geheime Regierung, wie sie sich in den Vereinigten Staaten und in Teilen Westeuropas manifestiert hat, kann zu Mißbrauch und sogar zu Staatsterrorismus führen. »Das Anwachsen der Vorgehen unserer Geheimdienste deutet auf ein fundamentales Versagen unserer Institutionen hin«, hatte der amerikanische Senator Frank Church bereits in den 70er Jahren sehr klug nach eingehenden Untersuchungen verdeckter Aktionen der CIA notiert. Gladio wiederholt diese Warnung mit aller Macht. Es kann kaum überbetont werden, daß die Gründung einer Geheimarmee und eines Geheimdienstes, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, ein ernsthaftes Risiko darstellt, das jede Demokratie zu vermeiden versuchen sollte. Zu den Risiken zählt nicht nur unkontrollierte Gewalt gegen gesellschaftliche Gruppen, sondern auch die Massenmanipulation ganzer Länder oder Kontinente. Zu den weitestreichenden Ergebnissen der Untersuchungen über den geheimen Krieg zählt die Tatsache, daß das Stay-behindNetzwerk, da es zu keiner Invasion kam, zur Verbreitung von Angst und Schrecken unter der Bevölkerung instrumentalisiert wurde. Die Geheimarmeen fungierten in einigen Fällen als fast perfekte Manipulationssysteme, welche die Ängste hochrangiger Offiziere des Militärs im Pentagon und in der NATO auf die Bevölkerung Westeuropas übertrugen. Europäische Bürger waren, wie die Strategen im Pentagon es sahen, wegen ihres eingeschränkten Vorstellungsvermögens nicht in der Lage, die reale und allgegenwärtige Gefahr des Kommunismus wahrzunehmen, und mußten deshalb manipuliert werden. Indem die Geheimarmeen zusammen mit überzeugten rechtsradikalen Terroristen unschuldige Bürger auf Marktplätzen oder in Supermärkten töteten und die Verbrechen dann den Kommunisten in die Schuhe schoben, machten sie die Ängste der Strategen des Pentagons zu den Ängsten der europäischen Bürger. Die destruktive Spirale von Manipulation, Angst und Gewalt endete nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Entdeckung der Geheimarmeen im Jahr 1990, sondern gewann ganz im Gegenteil an Eigendynamik. Seit den teuflischen terroristischen Angriffen auf die Bevölkerung der Vereinigten Staaten am 11. September 2001 und dem Beginn des so genannten »Krieges gegen den Terrorismus« dominieren Furcht und Gewalt nicht nur die Schlagzeilen auf der ganzen Welt, sondern auch das Bewußtsein von Millionen. Im Westen wurde der »schlimme Kommunist« des Kalten Krieges schnell durch den »schlimmen Islamisten« ersetzt. Fast 3000 Zivilisten wurden am 11. September getötet, und mehrere Tausend wurden bisher in den von den USA angeführten Kriegen in Irak und Afghanistan getötet, wobei ein Ende noch nicht abzusehen ist. Ein solches Umfeld der Furcht ist, wie Gladio belegt, ideal geeignet, um die Massen auf beiden Seiten zu radikalisieren. Da Terroranschläge in der Regel fast alle Spuren verwischen, eignen sie sich ideal für die Manipulation. Osama bin Laden und sein Al-KaidaNetzwerk manipulierte Millionen von Moslems, vor allem junge männliche Erwachsene, eine radikale Position einzunehmen und der Gewalt zu vertrauen. Auf der anderen Seite haben das Weiße Haus und die Regierung von George Bush junior die Spirale der Gewalt und Furcht immer weiter gedreht und ließen Millionen von Christen und Atheisten glauben, daß es notwendig und gerecht sei, andere Menschen zu töten, um die eigene Sicherheit zu erhöhen. Doch die Sicherheit der Menschen wird nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil –sie nimmt ab, wenn die Atmosphäre voller Manipulation, Terror und Furcht ist. Wo die Manipulationen und die Gewalt ihren Ursprung haben und wohin dies noch führen soll, ist derzeit schwierig zu analysieren. Hitler und die Nazis profitierten nach dem mysteriösen Berliner Reichstagsbrand im Jahr 1933 außerordentlich von der Manipulation und der Furcht, worauf das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg folgten. Der Krieg gegen
den Terrorismus begann im Jahr 2001, und wiederum haben radikale Kritiker argumentiert, daß das Weiße Haus das Attentat vom 11. September, den größten terroristischen Anschlag der Geschichte, aus geostrategischen Gründen manipuliert habe.3 Ob dies so war, kann heute nicht abschließend beurteilt werden. Da viele Menschen auf der ganzen Welt das vage Gefühl haben, daß es so nicht weitergehen kann, suchen sie nach einer Strategie, um aus der Spirale der Gewalt, der Furcht und der Manipulation auszusteigen. In Europa bildet sich die übereinstimmende Überzeugung heraus, daß der Terrorismus nicht durch einen Krieg besiegt werden kann, da dieser die Gewaltspirale nur weiter dreht. Deshalb ist der Krieg auch nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Außerdem scheinen auch immer raffiniertere hochtechnische Instrumente – vom Retina-Scanner bis hin zum Smart Container – nicht in der Lage zu sein, potenzielle Ziele vor Terroranschlägen zu schützen. Noch mehr Technik könnte sogar die künftigen Herausforderungen vergrößern, wenn sie für terroristische Zwecke und asymmetrische Kriegsführung genutzt wird. Dies ist eine Entwicklung, die seit der Erfindung von Dynamit im 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Noch mehr Technik und noch mehr Gewalt werden wahrscheinlich die vor uns liegenden Herausforderungen nicht lösen können. Eine mögliche Ausstiegsstrategie aus der Spirale von Furcht, Manipulation und Gewalt könnte sich auf den einzelnen Menschen und dessen Bewußtsein selbst konzentrieren. Da jeder einen freien Willen hat, kann man sich auf die gewaltlose Lösung bestimmter Konflikte konzentrieren und einen Dialog der Verständigung und Vergebung fördern, um extremistische Einstellungen zu mindern. Der Einzelne kann sich von Furcht und Manipulation befreien, indem er sich ganz bewußt auf die eigenen Gefühle konzentriert, auf seine Gedanken, seine Worte und Handlungen achtet und dabei immer friedliche Lösungen anstrebt. Da es unwahrscheinlich ist, daß mehr Geheimnisse und mehr Blutvergießen die vor uns liegenden Probleme lösen können, scheint das neue Jahrtausend die richtige Zeit zu sein, mit solch einer Bewußtseinsveränderung zu beginnen, die sowohl auf die Welt als auch für den einzelnen Menschen nur positive Auswirkungen haben kann.