Schlußfolgerung »Umsichtige Vorsorge oder Quelle des Terrors?«, fragte die internationale Presse poin tiert, als die geheimen Stay-behind-Armeen der NATO nach den Enthüllungen über Gladio Ende des Jahres 1990 in ganz Westeuropa entdeckt wurden.1 Nach langjährigen Recherchen ist für mich als Historiker die Antwort eindeutig: Die Geheimarmeen waren beides. Die geheimen Stay-behind-Armeen der Nato waren eine kluge Vorsichtsmaßnahme, wie die verfügbaren Dokumente und Aussagen belegen. Auf der Grundlage der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und der schnellen und traumatischen Besetzung der meisten europäischen Länder durch deutsche und italienische Truppen fürchteten militärische Experten die Sowjetunion und waren überzeugt, daß eine Stay-behind-Armee von stra tegischem Wert sein könnte, wenn besetztes Gebiet befreit werden sollte. Hinter den feindlichen Linien hätte die Geheimarmee den Widerstandwillen der Bevölkerung stär ken können, bei einem bewaffneten nationalen Widerstand hätte sie bei der Führung und der Organisation helfen können. Sie hätte Sabotageakte durchgeführt, die Besat zungstruppen beunruhigt, abgeschossene befreundete Piloten ausgeschleust und für die Regierung im Exil geheimdienstliche Informationen gesammelt. Aus der Furcht vor einer möglichen Invasion nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden deshalb hochrangige Beamte der europäischen Regierungen der europäischen militäri schen Geheimdienste, in der NATO ebenso wie in der CIA und dem MI6, daß ein ge heimes Widerstandsnetzwerk schon in Zeiten des Friedens aufgebaut werden müsse. Auf einer unteren Ebene der Hierarchie teilten Bürger und militärische Offiziere in vie len Ländern Westeuropas diese Einschätzung, traten dem geheimen Netzwerk bei und trainierten heimlich für den Notfall. Diese Vorbereitungen waren nicht auf die 19 NA TO-Staaten beschränkt, sondern auch die vier neutralen Staaten in Westeuropa, nämlich Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz, gehörten dazu. Rückblickend wurde offensichtlich, daß diese Furcht unbegründet war und die Ausbildung und das Training sinnlos waren, weil die Invasion der Roten Armee niemals stattfand. Doch damals gab es diese Sicherheit nicht. Verblüffend ist, daß die Tarnung des Netzwerks während des gesamten Kalten Krieges funktionierte, trotz wiederholter Versuche zur Enttarnung in vielen Ländern, und daß das Netzwerk erst in dem Augenblick ganz aufflog, als der Kalte Krieg beendet wurde und die Sowjetunion zusammenbrach. Die geheimen Stay-behind-Armeen der NATO waren jedoch auch eine Quelle des Ter rors, was die nun verfügbaren Beweise ebenfalls zeigen. Es ist dieses zweite Charakte ristikum der Geheimarmeen, welches auch ich als Wissenschaftler scharf kritisieren muß und das auch in der Zukunft noch weiter untersucht und recherchiert werden muß. Bis heute weisen die Quellen darauf hin, daß die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens nach dem Krieg nicht nur eine sowjetische Invasion befürchteten, sondern auch Angst vor kommunistischen und sozialistischen Parteien hatten. Das Wei ße Haus und Downing Street befürchteten, daß in mehreren Staaten Westeuropas, vor allem aber in Italien, Frankreich, Belgien, Finnland und Griechenland, die Kommunis ten in einflußreiche Positionen in der Exekutive kommen und die militärische Allianz NATO von innen her zerstören könnten, indem sie militärische Geheimnisse an die So wjetunion verraten würden. In diesem Sinn trat das Pentagon zusammen mit der CIA, dem MI6 und der NATO in einen geheimen Krieg ein und benutzte die Stay-behind-Ar meen als Instrument, um die Demokratien Westeuropas von innen her zu manipulieren und zu kontrollieren, was aber weder die europäische Bevölkerung noch die Regierun gen wissen durften. Diese Strategie führte zu Terror und Angst, ebenso zur »Erniedri gung und Mißhandlung demokratischer Institutionen«, wie die europäische Presse ganz richtig kritisierte.2
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