Der junge Helmut Kohl als Wiesenmarkt-Bauer 2023?
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Birgit ReutherDie traditionelle Werbefigur ähnele diesmal dem früheren Bundeskanzler in jungen Jahren, findet der leidenschaftliche Erbacher Horst Spatz. Er hat dazu viel zu erzählen.
9. Juni 2023 – 11:32 Uhr
Birgit ReutherErbach. Die Erbacher und ihr „Odenwälder Bauer“ auf den Werbeplakaten zu ihrem Fest aller Feste, das ist so eine Sache. So hatte es im vergangenen Jahr reichlich Kritik am Wiesenmarkt-Plakat 2022 gegeben. Von einem „griesgrämig dreinblickenden“, sogar an Graf Dracula erinnernden Motiv
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war die Rede gewesen. Ein Jahr später schaut es da ganz anders aus: Die nun neu gestaltete Figur mit dem typischen Dreispitz auf dem Kopf dürfte weitaus besser ankommen. So sieht das auch Horst Spatz (60), ein waschechter Erbacher und damit auch leidenschaftlicher Wiesenmarkt-Gänger. Und Spatz kennt sich aus, auch was das Thema Helmut Kohl und Erbach betrifft. Aber der Reihe nach.
Es war am 24. Mai, als der Sechzigjährige über eine WhatsApp-Gruppe seines Abschlussjahrgangs 1977/78 an der ehemaligen Mittelpunktschule Erbach (heute: Schule am Sportpark) ein Foto zugeschickt bekam, das den Wiesenmarkt-Bauern für die Plakate 2023 zeigte. Sein alter Schulkamerad Harald Emig, wie Spatz Mitglied des „harten Kerns“ jenes Schulabgänger-Jahrgangs, hatte ihm das Foto weitergeleitet, das eine Kollegin Emigs auf dem FacebookAccount der Stadt Erbach entdeckt hatte. „Das ist ja der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl in jungen Jahren!“, war Horst Spatz’ erste spontane Reaktion. Dabei blieb es auch, als der Erbacher die ersten dieser Wiesenmarkt-Plakate auf dem Bienenmarkt im benachbarten Michelstadt (!) sah.
“ Der 14-jährige Helmut Kohl kam 1944 über die Kinderlandverschickung in die Erbacher Schlosswache. ”
Horst Spatz, eingefleischter Erbacher
„In Erbach ist bekannt, dass der 1930 in Ludwigshafen geborene Helmut Kohl schon als 14-jähriger Bub in unserer Stadt gewesen ist. Im Dezember 1944 war er im Zuge der in den späten Kriegsjahren praktizierten Kinderlandverschickung für ein paar Tage in der Erbacher Schlosswache untergebracht“, erzählt Spatz. Der Mann weiß das, weil damals in der Wache des früheren Grafenschlosses Anton
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Edelmann als Kastellan angestellt war, welcher in dieser Funktion ab 1961 von Horst Spatz’ Vater Willy abgelöst wurde.
„Nachdem die Edelmanns aus ihrer Dienstwohnung dort ausgezogen waren, zogen meine Eltern da ein, und die alten Geschichten wurden immer wieder gern erzählt“, so der damalige Junior.
Die Geschichte vom 14-jährigen Helmut Kohl in der Erbacher Schlosswache ist auf einer Internet-Publikation der KonradAdenauer-Stiftung über den ehemaligen Bundeskanzler belegt. Im Wortlaut heißt es dort: „Helmut Kohl war der letzte Bundeskanzler, der den Terror des Nationalsozialismus und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs bewusst miterlebte.
Diese Zeit prägte ihn und beeinflusste seine politische Entwicklung. [...] Im Spätherbst 1944 musste Kohl Ludwigshafen verlassen und mit der Kinderlandverschickung zunächst nach Erbach im Odenwald, dann nach Berchtesgaden ausweichen. Neben dem Schulunterricht stand nun eine vormilitärische Ausbildung auf dem Programm. Das Kriegsende ersparte ihm den Dienst als Flakhelfer.“
Als der ganze Marktplatz tobte
Die nächste Anekdote, die Horst Spatz aus den Erzählungen seiner Eltern und teilweise auch aus eigenem Erleben kennt, stammt aus Mitte der 1970er-Jahre: „Es muss so um 1976 gewesen sein, bei einer Wahlkampf-Veranstaltung auf dem Erbacher Marktplatz, Kohl war damals noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz.“ Irgendwann in seiner Rede habe der prominente Gast den Erbachern gesagt, dass er früher mal untergebracht gewesen sei „in der Schlosswache beim alten Edelmann“. Gefolgt von dem Satz: „Und jetzt schaut uns
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dessen Nachfolger von seinem Fenster dort zu.“ Gemeint war Horst Spatz’ Vater Willy, der Kohls Rede tatsächlich von dort aus verfolgte.
„Da tobte der ganze Marktplatz. ‘Dein Vater hat mehr Applaus gekriegt als der Kohl’, hat mir der Hausmeister unserer Schule einen Tag später gesagt“, erinnert sich Horst Spatz, der damals 14 Jahre jung war. Es sind bestimmt viele ältere Erbacher, die sich gut vorstellen können, warum „der Marktplatz da tobte“: Willy Spatz war ohne Zweifel eine Art Tausendsassa und Hans-Dampf-in-allen-Gassen für die Odenwälder Kreisstadt. „Als Schlossführer führte mein Vater ungezählte Besucher durchs Schloss, darunter etliche Schauspieler und fast alle Bundespräsidenten“, weiß der Sohn und nennt dabei etwa die Namen von Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Walter Scheel oder Karl Carstens, die von 1945 bis 1984 Deutschland repräsentierten. Zudem machte
Willy Spatz 40 Jahre lang Tanzmusik bei der Tanzschule Jeckel in Michelstadt, spielte auf Kirchweihfesten, leitete die Laienspielgruppe „Erbacher Lorbser“ (nicht: Loabser) und war – ganz wichtig – eine der stärksten Stützen bei den Fastnachtern des CV Ulk.
Auch in späteren Jahren der Siebziger und darüber hinaus sei Helmut Kohl noch öfter in der Odenwälder Kreisstadt zu Gast gewesen, weiß Horst Spatz. Wie ihm sein Vater berichtet habe, auch noch, als der Pfälzer bereits Bundeskanzler (von 1982 bis 1998) war. „Da hat auch mal die Security an der Haustür meines Vaters geklingelt“, sagt der heute 60-Jährige. Auch den erst spät, in seinen Neunzigern, verstorbenen ehemaligen Schlosskastellan Anton Edelmann habe Kohl noch besucht, als dieser schon Jahre nicht mehr in seiner Dienstwohnung im Schlosshof, sondern bereits an der Erbacher Mozartstraße gewohnt habe.
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Das neue Wiesenmarkt-Plakat: Nachdem es 2022 teilweise harsche Kritik am damaligen Konterfei des „Odenwälder Bauern“ gegeben hatte, schaut der nun freundlich drein. Egal ob das neue Gesicht an den jungen Helmut Kohl erinnert oder nicht. Modell gestanden hat übrigens ein Erbacher Original: Heiko Lade, Protokoller bei den Fastnachtern des CV Ulk. (© Stadt Erbach)
Heiko Lade ist das echte Modell 2023
Horst Spatz – und bestimmt auch etliche seiner ehemaligen Schulkameraden – ist also rundum zufrieden mit dem neuen Wiesenmarkt-Bauern. Ganz egal, ob sich noch viele andere bei dessen Anblick an den jungen Helmut Kohl erinnert fühlen mögen oder nicht. Andere könnten sich beim zweiten oder dritten Blick aufs Plakat an einen wahrhaft leibhaftigen
Erbacher erinnert fühlen, und das ist kein Wunder: Denn für
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den Mann in Tracht und mit Dreispitz auf dem Kopf stand
Heiko Lade, der bei den Fastnachtern des CV Ulk als Protokoller in der Bütt steht, Modell.
Wie es dazu gekommen ist? „Schuld“ ist der Bürgermeister, wie der selbst einräumt. Dr. Peter Traub: „Bei der Rosenmontagssitzung im Februar hat Heiko Lade über das Wiesenmarkt-Plakat 2022 gelästert und zum Schluss auf sich selbst gezeigt – nachdem er gesagt hatte: ‘Wenn ihr also mal einen richtigen Odenwälder Bauern sehen wollt.’“ Traub fackelte nicht lang, sprach das Erbacher Original an, und nachdem Lade erst spontan zugesagt und dies dann ein paar Tage später bestätigt hatte, kam die Sache ins Rollen. Eine Agentur fertigte Fotos des Odenwälders an, und die dienen, künstlerisch überarbeitet, nun als Grundlage für das neue Konterfei des Wiesenmarkt-Bauern.
Die ersten Reaktionen auf das neue Plakat, dessen große Exemplare erst ab Ende Juni in der gesamten Region aufgehängt werden, sind laut Aussage Traubs jedenfalls „sehr positiv“. „Im vergangenen Jahr gab es ja massive Kritik. Wir hoffen, dass das nun gut ankommt. Und wenn sich das neue Gesicht bewährt, soll es dabei bis auf Weiteres auch bleiben“, erklärt der Verwaltungschef.
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War für manche echt gruselig: der „Odenwälder Bauer“ auf dem Wiesenmarkt-Plakat von 2022. (© Stadt Erbach)
Man kann es auch so sagen: Egal, ob sich die WiesenmarktGänger 2023 beim Anblick des neuen „Odenwälder Bauern“ an den jungen Helmut Kohl oder an einen ihrer aktuellen Fastnachts-Macher oder aber an keinen der beiden erinnert fühlen mögen – der griesgrämig dreinblickende Odenwälder Bauer von anno 2022 ist ausgemustert, es darf wieder fröhlich gefeiert werden. Über die Bühne gehen wird Südhessens
größtes Volksfest, 1802 als Eulbacher Markt erstmals ausgerichtet, diesmal vom 21. bis 30. Juli.
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