Ostschweiz und Zürich
5. Juni 2020
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Begegnung in der Abgeschiedenheit Buchbesprechung / «Die Silberne» ist der erste Roman der Bündner Bergbäuerin Regula Caviezel. WINTERTHUR Sine ist eine ältere Frau, die allein in einem Maien säss in den Bergen lebt. Sie sam melt Kräuter, kennt sich mit de ren Heilkräften aus und ist vertraut mit den wild lebenden Tieren in der Umgebung. Mit an deren Menschen hingegen hat Sine wenig Kontakt, ausser bei
den seltenen Gängen ins Dorf, um Vorräte einzukaufen.
Die Aussenseiterin Aber das war nicht immer so. Sine Lebensgeschichte hat ganz woan ders begonnen, in einer Sippe von Jenischen, in die sie hineingebo ren war. Als kleines Mädchen
Regula Caviezel Regula Caviezel (*1951) wuchs auf einem Bauernhof im Kanton Thurgau auf. Bereits in ihrer Kindheit besuchte sie Konzerte, Vernissagen von Künstlern und las unter ande-
Autorin und Bergbäuerin Regula Caviezel (Bild zVg)
rem Puschkin und Tolstoi. Nach dem Kindergartenseminar verheiratete sie sich nach Urmein am Heinzenberg GR, wo sie mit ihrem Mann bis heute als Bergbäuerin lebt und drei Kinder grossgezogen hat. Nebst dem Schreiben beschäftigt sie sich mit Bildweben, Malerei, dem Querflötenspiel. Weitere Interessen gelten den Heilkräutern und der Lehre des Paracelsus. Bisherige Publikationen: Erzählband «Gletscherströme» im Südostschweiz-Verlag, 2013; Bilderbuch «Lina und das Geheimnis der HopiIndianer» im Verlag Linard Bardill, 2013. pd
wurde sie von den Behörden aus ihrer Familie herausgerissen. Glück im Unglück war, dass sie eine Pflegemutter erhielt, die sie wie eine eigene Tochter umsorg te. Nach der Lehre in einem Al tersheim kam Sine in das Berg dorf, wo sie einen jungen Bauern heiratete. Als die gewünschten Kinder ausblieben und die Bezie hung zerbrach, zog sie sich sie in ein Maiensäss zurück. Einmal mehr übernahm sie die Rolle der Aussenseiterin. Inzwischen sind Jahre vergan gen. Während einer Blutmond nacht spürt Sine, dass bald etwas Grundlegendes passieren wird. Kurz darauf erspäht sie draussen bei Schnee und Dunkelheit eine Gestalt. Sine nimmt den er schöpften Mann mit ins Haus. Dieser heisst Nils und ist von sei ner gescheiterten Ehe und dem Leben als Banker davongelaufen. Die Begegnung mit dem Gast, der nirgends hingehört, rüttelt Sines eigene Geschichte auf und stösst eine neue Dynamik an.
Dynamische Entwicklung Temporeich und in kurzen, dich ten Episoden führt Autorin Regu
la Caviezel durch die Erzählung. Dabei wechselt sie rhythmisch zwischen Vergangenheit, Erin nerung, Traumgeschehen und Gegenwart, auch bringt sie da zwischen mystische Elemente ein, bei denen die Abgrenzung zwischen Realität und Traum un klar bleiben. So taucht immer wieder «Die Silberne» auf, eine Blindschleiche, mit welcher Sine als eine Art Krafttier besonders verbunden ist. Durch die verwo bene Erzählweise erhält der Le ser nach und nach Einblick in die Zusammenhänge. Im Wechsel zwischen Nähe und Distanz, Begehren und Ab scheu, Spannung und Lösung verläuft die Geschichte, die in mitten rauer Natur in einer ab geschiedenen Bergwelt spielt, nicht immer linear. Die 128 Sei ten sind dicht beschrieben, kom men ohne überflüssige Worte aus und bieten ein kurzweiliges Le severgnügen. Alexandra Stückelberger
Regula Caviezel: Die Silberne. Antium Verlag, 2020. Taschenbuch, 128 Seiten. Fr. 21.50.
Im Roman «Die Silberne» erzählt Regula Caviezel die Geschichte einer Frau, die sich in die Berge zurückgezogen hat. (Bild zVg)
Gute Luft und schöne Aussicht Jubiläum / Margrit und Eugen Hug-Gutknecht aus Hinterhomburg wurden kürzlich am selben Tag 85 Jahre alt. HINTERHOMBURG «Dass wir am selben Tag Geburtstag haben und dazu noch denselben Jahr gang haben, das ist reiner Zufall», erzählen Margrit und Eugen Hug-Gutknecht aus Hinterhom burg TG, die am 20. Mai ihren 85. Geburtstag feiern konnten. Zudem können die beiden im Sommer auf 50 gemeinsame Ehejahre zurückblicken.
Aus dem Rheintal Die in Balgach auf einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb aufge wachsene Margrit wohnte und arbeitete von Januar 1958 bis Mai 1962 in Kalifornien. Wieder daheim, fand sie Arbeit im Büro
Doppelter Geburtstag: Das Ehepaar Hug-Gutknecht. (Bild spr)
der Firma Jakob Rohner in Reb stein, Stickerei mit Export. Dank einer Hausbesichtigung in Frauenfeld machte sie Be kanntschaft mit ihrem späteren Mann Eugen. Es funkte zwi schen den beiden, dann wurde am 29. August 1970 kirchlich ge heiratet und Margrit zog auf den Landwirtschaftsbetrieb ihres Mannes nach Hinterhomburg. Margrit Hug-Gutknecht erinnert sich: «Am Anfang war es schon sehr ruhig für mich. Balgach hat te damals etwa 4000 Einwohner, Hinterhomburg dagegen be stand nur aus ein paar Häusern. Keine Läden, die Leute haben mir gefehlt und es lief nichts.»
Anstatt zu Hause zu versauern, ergriff Margrit die Flucht nach vorn und war ab 1971 als Grün dungsmitglied des Damenturn vereins Hörhausen viele Jahre im Turnverein aktiv. Und so kam sie automatisch mit Leuten aus dem Dorf in Kontakt. Jahrelang züchteten die Hugs Schweizer Sennenhunde und konnten somit Kontakt mit aller Welt knüpfen. Einmal ging sogar ein Welpe nach Kanada.
Spezialität Kirschtorten Familie Hug betrieb in Hinter homburg einen Landwirt schaftsbetrieb mit Milchkühen und Schweinen, der Betrieb ge
hört heute ihrem Sohn Peter. Im Pensionsalter entdeckten sie das Reisen und unternahmen viele Flussreisen im Osten, zum Beispiel von Odessa nach Kiew oder von St. Petersburg nach Moskau. Auf die Frage, wie man sich mit 85 Jahren so fit hält, antwor tet Eugen: «Wir halten uns viel im Garten auf und die ‹Früh schoppen› sind mir wichtig, so bleibe ich immer gut informiert, was in der Umgebung so pas siert.» Was schätzt Margrit an ihrem Mann? «Er ist zuverlässig und kann alles reparieren.» Die selbe Frage an Eugen gerichtet, sagt dieser zufrieden und mit
einem Schmunzeln: «Margrit kann gut kochen, darum wächst mein Bauch auch immer mehr.» Margrits Spezialität sind Kirsch torten. Auf die Corona-Zeit angespro chen, antwortet Eugen Hug-Gut knecht schlicht und mit aller Ruhe: «Wir nehmen es, wie es kommt und hoffen, dass es dann wieder mal vorbei geht.» Ob mit oder ohne Corona – Eugen und Margrit Hug-Gutknecht genies sen ihr Haus, sind mobil und pflegen ihr Beziehungsnetz, «und vor allem geniessen wir hier die gute Luft und die schö ne Aussicht auf die Alpen». Salome Preiswerk
persönlich kennt und weiss, wie und womit sie arbeiten. Feines Verteilnetz: Wenn die individuelle Mobilität eingeschränkt ist, sind lokale Ladengeschäfte Ausgangspunkt für die Versorgung, nicht zuletzt auch für die PäckliAbholung (Pick-up Point) für Online-Lieferungen. Regionale Wertschöpfung: Eine Region verfügt nur dann über eine krisenfeste Infrastruktur, wenn sie ausreichend Arbeitsplätze und Lebensunterhalt bietet.
Eines ist die aktuelle Culinarium-Königin Carina Rohner aus Balgach. Mit ihrer Gmüasbox, einem Hauslieferdienst für Gemüse und Obst, trifft sie den Nerv der Zeit. Die Zahl ihrer Kunden hat sich seit Anfang März fast verdoppelt. Auch ihr Hofladen wird rege besucht. Culinarium-Mitglieder berichten von einem Boom des Direktverkaufs. Nicht nur Hofläden, auch Metzgereien, Bäckereien, Molkis und Getränkehändler.
ARENA
Eine Ode an die Nahversorgung
Das Anliegen, für das sich der Trägerverein Culinarium und
andere Regionalorganisationen seit Jahren einsetzen, ist jetzt Thema am Küchentisch. In dieser Extremsituation werden die Vorteile einer funktionierenden Nahversorgung ganz konkret erlebbar. Das Bewusstsein und die Wertschätzung für Dinge und Dienstleistungen, auf die man sich in der Schweiz trotz weltweiter Krise verlassen darf, hat deutlich zugenommen. Der Trägerverein Culinarium setzt sich ein für die drei Pfeiler der Nahversorgung. Landwirtschaftsbetriebe: Sie produzieren in der Region genügend Rohstoffe. Zum Beispiel Getreide, Gemüse, Milch oder Fleisch. Verarbeitungsbetriebe: Sie veredeln die Rohprodukte der regionalen Landwirtschaft zu
diensten ermöglicht die lokale Versorgung auch bei starken Einschränkungen des Verkehrs.
ZUR PERSON
D
ie Risiken der Wachstumsmaschine Globalisierung wurden uns in dieser aussergewöhnlichen Zeit deutlich wie nie zuvor vor Augen geführt. Wenn Grenzen zugehen, der Flug- und Schiffsverkehr blockiert ist, Lieferanten ausfallen oder auch bloss Lieferketten unterbrochen werden, sind wirtschaftliche Selbstverständlichkeiten plötzlich gar nicht mehr selbstverständlich. Von einem Tag auf den anderen ist das Kartoffelregal leer. Viele Menschen haben zum ersten Mal eine ungewohnte Erleichterung gespürt, als es im Hofladen des Nachbarsdorfs doch noch einen Sack «Härdöpfel» zu kaufen gab …
Urs Bolliger Urs Bolliger ist Geschäftsführer des Trägervereins Culinarium und lebt in Grabs SG.
hochwertigen Lebensmitteln. Zum Beispiel Käsereien, Metzgereien oder Bäckereien. Verkaufsnetz: Ein ausreichend dichtes Netz von Ladengeschäften und Liefer-
In der Corona-Krise nahm man die Vorteile einer intakten Nahversorgung klarer wahr. Verfügbarkeit: Sobald der internationale oder auch nur der überregionale Warenverkehr stockt, wird es wichtig, dass man auf regionale Lebensmittel zurückgreifen kann. Erreichbarkeit: Der Hof-, Dorfoder Quartierladen ist zur Not auch ohne Auto oder öffentlichen Verkehr in Reichweite. Vertrauen: In einer Notlage wächst das Bedürfnis nach sicheren, gesundheitlich unbedenklichen Lebensmitteln. Das Vertrauen wird verstärkt, wenn man die Produzenten
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise sind schmerzhaft. Auch für unsere Mitglieder und Partner. Umso mehr freuen wir uns über starke Beispiele von regionalen Betrieben, die jetzt Chancen nutzen und kreative Lösungen finden.
Ihre neuen Kunden staunen oft über das vielfältige Sortiment und die attraktiven Spezialitäten aus der Region. Die Hoffnung ist berechtigt, dass sie die neu entdeckten Möglichkeiten für das Einkaufen in der Region auch in Zukunft nutzen.