Stuart Pigott - Weinwunder Deutschland

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W e i nw u n d e r D e u t sch l a n d vo n St ua rt p ig ot t Herausgeber

Ralf Frenzel © 2010 –  Tre Torri Verlag GmbH,  Wiesbaden www.tretorri.de © 2010 –  Bayerischer Rundfunk (BR), Lizenz durch TELEPOOL Idee, Konzeption und Umsetzung: CPA ! Communications- und Projektagentur GmbH, Wiesbaden Die CPA ! ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik und fördert Slow Food Deutschland e.V. www.cpagmbh.de

Autor der Kapitel 13, 14, 15: Manfred Lüer, Rheingau Fotografie:  Andreas Durst, Bockenheim an der  Weinstraße Fotos Titel und Seite 6: Florian Bolk, Berlin Fotos aus Fine Das Weinmagazin: Guido Bittner,  Johannes Grau,  Alex Habermehl und Christof Herdt Fotos Kapitel 13 : Stockfood GmbH, München Fotos Seite 67 : Weingut Dr. Bürklin-Wolf, Wachenheim a. d. W. Fotos Seite 172 : Weingut Robert Weil, Kiedrich Gestaltung: Gaby Bittner, Wiesbaden Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. A. Printed in Germany ISBN 978-3-941641-37-2

H a f t u ng s auss ch luss Die Inhalte dieses Buchs wurden von Herausgeber und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Herausgebers bzw. des Verlags für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.


Stuart Pigott

Weinwunder Deutschland



Inh alt

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inhalt Kapitel 1 Riesling Renaissance: Deutschland und die Welt

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Kapitel 2 Mein Jahr als Jungwinzer

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Kapitel 3 Rotwein Revolution: deutsch rot und richtig toll

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Kapitel 4 Der Ökowahnsinn: Ökowein ist modern und cool

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Kapitel 5 Big is Beautiful: viel und gut

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Kapitel 6 SüSSwein: richtig gut und richtig kitschig 93 Kapitel 7 Die Quereinsteiger: gute Weine fast aus dem Nichts

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Kapitel 8 Aufbau Wein-Ost: neue Bundesländer, neue Geschmackswelten

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Kapitel 9 Gestern out, heute in

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Kapitel 10 Die verborgenen Schätze: Rückkehr der vergessenen Traubensorten und verlorene Weinberge

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Kapitel 11 Stichwort „Marketing“: Wandel und Wahnsinn im Weinhandel

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Kapitel 12 Der Wein und die Klimaveränderung

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Kapitel 13 Traubensorten

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Kapitel 14 Weinregionen

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Kapitel 15 Das Glas in einer Welt

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Vorwort

Stuart Pigott

Wenn Wein erw채hnt wird, schaltet jeder dritte Deutsche sofort ab und denkt an sein n채chstes Bier. Daf체r habe ich volles Verst채ndnis.


Vorwort

Vorwort Mein Name ist Stuart Pigott. Seit fast 20 Jahren reise ich nun schon von meiner Wahl­ heimat Berlin aus immer wieder in die deutschen Weinbaugebiete, auf der Suche nach der „Wahrheit im Wein“ und nach den besten deutschen Weinerzeugnissen. Als Brite habe ich es immer noch schwer mit den tückischen Details der deutschen Sprache. Ich bin nicht Jörg Pilawa, aber Sie verstehen mich, oder? Meist bin ich mit dem Zug unterwegs, sodass der Großraumwagen des ICEs mein zweites Büro ist. Es kann gut sein, dass wir uns da bereits begegnet sind, weil ich kreuz und quer durch die Republik reise. Oder aber Sie haben mich schon im Fernsehen oder im Internet in der BR-Sendung „Weinwunder Deutschland“ gesehen. Ja, ich bin der Typ im großkarierten Sakko mit dem Akzent, der weder bayerisch noch berlinerisch spricht. Wenn Wein erwähnt wird, schaltet jeder dritte Deutsche sofort ab und denkt an sein nächstes Bier. Dafür habe ich volles Verständnis. Auch Stuart Pigott trinkt gern mal ein Helles. Die Menschen, die noch übrig bleiben, haben entweder Angst, dass es gleich kom­ pliziert wird, oder sie befürchten, es ginge nur um eitle Typen, die ihre superteuren fran­ zösischen und italienischen Flaschen feiern. Aber diesen Blödsinn lehne ich konsequent ab! Gute und großartige deutsche Weine gibt es auch für wenige Euro die Flasche, und die stehen bei mir im Mittelpunkt. Sie haben wahrscheinlich schon irgendwann gehört, dass der deutsche Wein inzwi­ schen deutlich besser geworden ist als sein Ruf. Das stimmt alles. Er hat eine wahrhaft wundersame Verwandlung durchlaufen, und ich hatte das große Glück, dies ­hautnah zu verfolgen. Möglicherweise ist das für Sie nichts Neues, und Sie trinken die neuen deut­ schen Weine mit einer ähnlichen Begeisterung wie ich. Doch egal, ob Sie schon einiges oder noch gar nichts darüber wissen, ich lade Sie ein, mit mir auf Reisen zu gehen. Sie werden nicht nur tolle und oft auch erstaunlich unbekannte Weinland­schaften er­ leben, sondern auch die Urheber dieser Geschmacksrevolution kennenlernen. In Deutsch­ land gibt es mittlerweile viele erstaunliche Winzer-Persönlichkeiten und darunter sind ­einige echte Superstars, die manch anderes Sternchen aus Film und Fernsehen ziemlich langweilig aussehen lassen. Sehr bunt und vielseitig sind diese Männer und Frauen im Alter von 20 Jahren aufwärts. Insgesamt hat sich die hiesige Winzergemeinschaft stark verjüngt und sich der Welt enorm geöffnet. Auch die Kluft zwischen Fachleuten und „normalen“ Weintrinkern hat sich weitgehend geschlossen. Ihre, ja Ihre Meinung zum Wein zählt. Vertrauen Sie Ihrer

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Vorwort

Zunge! Das lohnt sich, weil es so viele gute deutsche Weine zu entdecken gibt. Auch nach 20 Jahren Arbeit stoße ich immer wieder auf etwas Neues. Und wenn Sie mitkommen, ­warten viele tolle Überraschungen auf Sie. Die deutschen Weine sind dank Klima und Boden, kreativen Winzern und lebendi­ gen Traditionen sehr, sehr vielfältig. Mich würde es sehr überraschen, wenn keiner da­ runter ist, der Ihnen schmeckt. Für Weine von ganz blass mit Grünschimmer bis fast so dunkel wie schwarzer Rubin, von staubtrocken bis honigsüß, federleicht bis tonnenschwer, ganz unkompliziert oder tiefgründig wachsen in diesem Land Trauben, die fast jeden Ab­ schnitt des Geschmacksspektrums abdecken. Seit ich mich mit dem deutschen Wein be­ schäftige, habe ich mich daher noch nie länger als einen kurzen Moment gelangweilt. Und keine Angst, wir werden uns nicht ein Weinbaugebiet nach dem anderen vor­ nehmen, dies hier ist kein Geografieunterricht, und ich möchte Sie keinesfalls zurück auf die Schulbank setzen. Stattdessen werden wir uns verschiedene Aspekte des deutschen Weins vornehmen, also immer wieder den Blickwinkel wechseln. Wir fangen ganz einfach an, mit der wunderbaren Rieslingtraube und ihren genialen Weinen, dann reisen wir zu­ sammen zu den Jungwinzern, zum Rotwein und von da aus immer weiter. In diesem Buch erzähle ich zwar die Storys aus der gleichnamigen BR-Sendung, aber sie stimmen nicht ganz mit dem überein, was Sie dem Bildschirm entnehmen ­können. Nach­ dem Regisseur Alexander Saran „Schnitt!“ rief, Kameramann Sorin Dragoi und ­Tonmann Peter Wuchterl ihre Geräte und Assistent Florian Bschorr die Lichter ausschalteten, lief meine Unterhaltung mit dem jeweiligen Winzer oft weiter, manchmal wurde es dann noch spannender. Außerdem wurde das Gedrehte natürlich geschnitten, und die Sendezeit reichte bei Weitem nicht aus für die echt tollen Sachen, die wir aufgezeichnet haben. Es ist eben Fernsehen, wenn auch ganz besonderes Fernsehen. Jede richtig gute Geschichte lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise wiedergeben. Hier im Buch kommen noch andere Figuren und Gedanken hinzu. 30 Minuten sind leider schnell um, ­sodass Sie jetzt die Chance haben, noch mehr über das erstaunliche Weinwunder Deutschland zu erfahren. Dabei unterstützt mich mein Freund und Kollege Manfred Lüer, der aus Hamburg stammt und im Rheingau westlich von Wiesbaden lebt. Wir teilen die große Begeiste­ rung für die neuen Winzer und Weine des Landes. Nach Regionen und Traubensorten geordnet, stellt er Ihnen diesen reichen Schatz an Innovationen und wiederbelebten Tra­ ditionen vor. Wir sind überzeugt, dass die „neuen Weinkonsumenten“ der Republik im selben Maße zur erstaunlichen Verwandlung des deutschen Weins entscheidend beige­ tragen ­haben. Und genau diese bislang kaum beachtete Seite des Weinwunders Deutsch­ land ­beschreibt er in dem Kapitel „Das Glas in einer Welt“.


Riesling Renaissance

Riesling Renaissance: Deutschland und die Welt Es ist einer der ersten warmen, sonnigen Tage des Jahres. Überall blüht es, und die ers­ ten grünen Blättchen sind zu sehen. Ein paar Freunde sind vorbeigekommen, und wir sit­ zen auf dem Balkon. Ich hole eine Flasche Weißwein und schenke ein. Alle kosten, dann strahlen sie – ein Volltreffer! „Pfirsich“, ruft einer von ihnen, „Zitrus“, platzt es aus dem Mund eines anderen her­ aus, „Und diese herrliche Frische!“, fügt der Dritte hinzu. Der Wein ist nicht nur weiß, sondern er schmeckt auch wie der Inbegriff von erfri­ schendem trockenen Weißwein. Auf dem Designer-Etikett steht Riesling, der Name eines hochmodernen deutschen Zaubertranks. Er ist gerade ein halbes Jahr alt, er vibriert vor jugendlicher Heiterkeit, und seine Energie schlägt funkenartig über. Tolle Frühlingsge­ fühle mit Moselwein zu Hause! Junge Frauen in schwarzen, rückenfreien Kleidern und noch jüngere Frauen in haut­ engen Hosen und in Schuhen mit stratosphärisch hohen Absätzen drehen und winden sich auf der Tanzfläche zum Discobeat. Pailletten und Glitzer-Make-up funkeln kaleidos­ kopisch in dem pulsierenden Licht. Um sie herum hüpfen coole junge Typen in bunt ge­ streiften Hemden und distressed Denim, und irgendwo dazwischen bin ich in Lederho­ se und einem schrillen T-Shirt. Welche Partydroge ist nur im Spiel? Bei dieser Weinparty hat jeder mehr oder weni­ ger von einer gefährlichen, aber legalen und in Deutschland überraschend leicht zu be­ schaffenden Substanz genommen: Alle sind „Riesling-high“, und dadurch scheinen die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt. Auf einen Schlag haben wir eine geostationä­ re Umlaufbahn der Erde erreicht und schweben eine Handbreit über dem Boden. Wahn­ sinn, die Wein-in-den-Mai-Party der rheinhessischen Jungwinzergruppe Message in a Bottle! Ich sitze an einer langen Tafel in einem prunkvollen Saal, der schon alt gewesen ist, als Bismarck ihn betrat. Vor mir steht eine Reihe eleganter Weingläser mit hohem Stiel, darin jeweils ein anderer Wein. Das ist jetzt Arbeit für mich – ich muss eine Beschreibung von jedem Wein aufs Papier bringen –, aber natürlich ist Weinverkosten nicht der unan­ genehmste Job. Auf der Liste sehe ich, dass es links mit einem Wein des Jahrgangs ’09 beginnt, dann mit jedem Glas weiter nach rechts der Wein älter wird, bis ich das Glas ganz außen er­ reicht habe und beim 92er bin. Gut sind sie alle, aber der 99er, der nach getrockneten

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Riesling R enaissance

Aprikosen duftet und enorm viel Power hat, schmeckt mir am besten. Ich bin begeistert von einem längst vergangenen Jahr, erhalten in flüssiger Form. Historisch bewegen wir uns aber in einer ganz anderen Dimension, als Sie vielleicht annehmen. Der jüngste Wein, der gerade vor mir steht, stammt aus dem Jahr 1909, und der älteste von 1892. Alle kommen aus der legendären Schatzkammer der Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach im Rheingau. Meine Oma feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag – all diese Weine sind älter als sie! Und diese wahren Weinwunder heißen auch Riesling! Riesling ist eine Traubensorte, von der es noch mehr als Apfel- oder Rosensorten gibt. Mehr dazu später. Jetzt müssen Sie nur wissen, dass eine Traubensorte in den Hän­ den eines guten Winzers sich wie ein Instrument in den Händen eines Musikers verhält, auf dem dieser verschiedene Töne erzeugen kann. Bei manchen Traubensorten ist die Bandbreite der möglichen Töne eher schmal, beim Riesling  jedoch nahezu endlos. Man­ che sind so sanft und dezent wie spanische Klassik auf der Akustikgitarre, während andere so wild anmuten wie ein E-Gitarrensolo von Jimi Hendrix. Erstaunlich viele dieser Töne sind aus Deutschland, und darunter gibt es alles, von Bach bis Rammstein. Riesling reift in allen 13 deutschen Weinbaugebieten, also entlang des Rheins vom Bodensee bis kurz vor Bonn. Auch in den geschwungenen Tälern von Ahr, Main, Mosel, Nahe, Neckar und anderen Nebenflüssen des Rheins wachsen an vielen Stellen Rieslingre­ ben. Hinzu kommen bedeutende „Rieslinginseln“ bei Dresden entlang der Elbe und an Saale und Unstrut bei Naumburg in Sachsen-Anhalt. Obwohl Riesling vor fast 600 Jahren in Deutschland zum ersten Mal schriftlich er­ wähnt wurde – in der heutigen Opel-Stadt Rüsselsheim, wo es noch einen kleinen Ries­ ling-Weinberg gibt –, ist aus der Traubensorte längst ein Weltenbummler geworden. Schon vor über 150 Jahren wuchs die Traube in Australien, im Süden Afrikas und in Nordame­ rika. Und vor knapp 100 Jahren gewann ein chinesischer Winzer für seinen Riesling eine Goldmedaille auf einer Weltausstellung in San Francisco. Die Globalisierung von Wein läuft also schon seit Langem, und Riesling war schon frühzeitig dabei. Heute wird er von den Weinbergen der weiten Tälern Chiles bis zu den Hängen des Ätnas in Sizilien gele­ sen, die unterschiedlichen Tropfen in zahlreichen Ländern von Planet-Wine gelobt und geliebt; ein bedeutender deutscher Botschafter für die Welt! Riesling ist aber sehr viel mehr als nur eine Traubensorte, er erzeugt auch eine groß­ artige Stimmung und einen weltumspannenden Zeitgeist. Immer öfter treffen sich Win­ zer mit Köchen, Weinfreunden, Sommeliers und Journalisten in Sydney und Seattle, im Rheingau und in Berlin, um das Riesling-Phänomen gemeinsam zu erforschen und zu


Riesling Renaissance

zelebrieren. Das Thema Riesling ist endlos und endlos faszinierend, weil er alle nur er­ denklichen Geschmacksschattierungen von knochentrocken bis honigsüß bietet und er im Körper von federleicht bis tonnenschwer ausfallen kann. Ständig erfinden kreative Winzer überraschende neue Riesling-Stile, und jeder Jahrgang schmeckt etwas anders als die vor­ herigen. Trotz aller Gemeinsamkeiten handelt es sich bei Riesling um eine weitverzweigte Weinfamilie mit jeder Menge Temperament. Deswegen lässt sich die Traube auch nicht auf eine Schlagzeile reduzieren, sondern bleibt ebenso spannend wie unwiderstehlich. Und so ziehe ich immer wieder los, auf der Suche nach neuen Riesling-Tönen. Meist liegt mein Reiseziel in Deutschland, nicht nur, weil das Land mit fast 22.500 Hektar die mit Abstand größte Rieslinganbaufläche der Welt bietet, sondern weil der Riesling seit der Jahrhundertwende quasi der Dynamo der neuen Weinkultur der Republik ist. Die „neuen deutschen Weine“ werden natürlich nicht nur aus der Rieslingtraube erzeugt, aber ohne sie gäbe es das deutsche Weinwunder nicht. Auch mein Leben hat der Riesling verändert. Ich bin der Sohn zweier Beamter und in einem spießigen, grünen Vorort von London aufgewachsen. Ich war schüchtern, intro­ vertiert und hatte Angst vor dem Fremden, Unbekannten. Wein kam nur auf den Tisch, wenn Gäste zu Besuch waren – und das war bei uns leider nicht sehr oft. Um ehrlich zu sein, es war ziemlich langweilig. Jetzt lebe ich mitten im Zentrum von Berlin am Hacke­ schen Markt und reise in Sachen Wein um die ganze Erdkugel. Alles dank dieser Trauben­ sorte, die mir seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Themen für meine Artikel liefert. Oft werde ich nach meinem Lieblingswein gefragt, und obwohl mich das immer wie­ der frustriert, antworte ich doch stets ganz ehrlich, dass es meine nächste Entdeckung ist. Denn nichts ist aufregender als ein guter Riesling, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Und das war in den letzten Jahren sehr häufig der Fall. Manche von ihnen sind in­ zwischen sehr begehrt und daher nicht ganz günstig, aber eine ganze Reihe von ihnen ist erstaunlich preiswert angesichts der Qualität. Viele dieser Weine stehen (noch) nicht im nächsten Discounter oder Supermarkt, denn das hat manchmal ganz einfach mit der knappen Menge zu tun. Ein anderer Grund ist die Einkaufspolitik mancher Lebensmittelhandelsriesen. Aber das ändert sich jetzt lang­ sam, weil immer mehr Menschen gute deutsche Weine verlangen, vor allem guten Riesling. Viele Deutsche glauben, ein halbleeres statt ein halbvolles Glas deutschen Weins vor sich zu haben. Aber wenn man die hiesigen Weine so genau unter die Lupe nimmt, wie ich es seit Langem tue, dann stellt man fest, dass das Glas fast voll ist! Sicher läuft manches in die­ sem Land falsch, ist doof oder enttäuschend – aber was die Weine betrifft, leben wir in sehr glücklichen Zeiten! Und mein Bauch sagt mir, dass noch bessere Rieslingzeiten kommen …

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Riesling R enaissance

Eh epaar Heymann- Löwenstein

Als Autor von Zeitungsartikeln und Büchern ist er für mich eine ernsthafte Konkurrenz. Glücklicherweise ist er ein Einzelfall, sonst müsste ich Schuhe verkaufen … Heute war der erste Schritt aus der Haustür recht schwierig. Viel zu früh bin ich auf­ gestanden und zum Berliner Hauptbahnhof gerannt, um den ICE nach Köln zu erwi­ schen, wo ich umgestiegen und weiter nach Koblenz gereist bin. Von da dann mit einem Regionalzug den kurzen Sprung nach Winningen an der Mosel. Dort angekommen muss ich mit meinem vollgestopften Rollkoffer nur wenige Meter die Bahnhofstraße entlang bis zum Haus Nr. 10, einem imposanten wilhelminischen Anwesen, in dem das Weingut Heymann-Löwenstein residiert. Die Fassade des Hauses sieht ziemlich herrschaftlich aus, aber das Weingut wurde vor nur 30 Jahren von Reinhard Löwenstein und Cornelia Heymann mit minimalem Eigen­ kapital gegründet und hat dort seit 1983 seinen Sitz. Als ich die beiden vor gut 20 ­Jahren kennenlernte, war Löwenstein noch dabei, seinen heutigen Weg zu finden. Damals fiel er der Allgemeinheit vor allem durch PR-Aktionen auf. Als etwa im Dezember 1993 ein Jahrhunderthochwasser viele Moselweinorte verwüstete – stellen Sie sich Hochwasser bis ins erste Obergeschoss vor! –, setzte er sich im Nadelstreifenanzug und mit Zigarre in sei­ nem überfluteten Keller ins Schlauchboot und ließ sich fotografieren. Zur selben Zeit wa­ ren viele seiner Kollegen völlig außer sich vor Angst und in Panik. Es war ein ziemlich guter Witz. Der groß gewachsene Löwenstein ist ein Selbstdarstel­ ler-Naturtalent, der bereits im Alltag sehr präsent ist, dessen Persönlichkeit aber bei öf­ fentlichen Veranstaltungen zur raumfüllenden Höchstform aufläuft. Manchmal beharrt


Riesling Renaissance

Die Verbindung von Rockmusik und Wein macht in unserer Welt einfach Sinn. Tesch würde bescheiden sagen, er sei halt der erste Winzer, der beides erfolgreich miteinander verbindet.

Dr. Martin Tesch

er beinahe störrisch auf seiner Position – stets aus Überzeugung, nicht aus egoistischen Gründen. Meist ist er extrem offen, und die Begeisterung für seine „gute Sache“ funkelt in den Augen hinter der metallenen Brille hervor. Dieser Mensch hat nie etwas Kaltes oder Distanziertes, sondern er sendet ständig seine starke Botschaft in die Welt. Und wie der Winzer, so der Wein. Sicherlich hätte Löwenstein ein bedeutender Schauspieler werden können, aber diese Zunft spuckt eigentlich nur die Worte anderer aus, was ihm vielleicht nicht gereicht hätte. Als Autor von Zeitungsartikeln und Büchern ist er für mich eine ernsthafte Konkurrenz. Glücklicherweise ist er ein Einzelfall, sonst müsste ich Schuhe verkaufen … Als mir Löwenstein zum ersten Mal begegnete, war er damit beschäftigt, seinen ers­ ten Beruf (Winzer) neu zu erfinden und sein Lebensthema Terroir zu erforschen. Eigent­ lich gehören diese zwei Sachen für ihn untrennbar zusammen. Terroir ist französisch und steht für den Geschmack eines Ortes. Seit Jahrhunderten sind kultivierte Franzosen da­ von überzeugt, die Herkunft von Käse, Dörrfrüchten, Hühnern und Wein in ihrem Ge­ schmack zu spüren. Und es stimmt, ein original Camembert, die Pruneaux d’Agen, ein Bresse-Huhn oder ein gelungener Chambertin-Rotwein haben alle einen ganz besonde­ ren Geschmack. Die Namen der Herkunftsorte stehen also für den jeweiligen besonderen Geschmack. Und das ist die Idee hinter den neuen deutschen Terroir-Weinen. Inzwischen ist die Be­-

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Mein Jah r als Jungwinzer

stuart pigott im weinberg

Als ich erstmals zwischen den Rebzeilen den Berg hinaufstieg, merkte ich erst einmal, was 68 Prozent Steigung f端r die Beine und alles andere bedeutet.


Mein Jah r als Jungwinzer

Mein Jahr als Jungwinzer „Get on up!“ – James Browns „Sex Machine“ hallte mächtig durch die Ruine des Engli­ schen Baus vom Heidelberger Schloss. Vor einer tobenden Menge befanden sich drei ­Pfälzer Jungwinzer namens Thomas Hensel, Karsten Peter – beide aus Bad Dürkheim – und ­Markus Schneider aus Ellerstadt auf der Bühne. Ich stand neben ihnen und kam nicht mehr aus dem Staunen heraus. Hunderte von Armen mit einem Weinglas in der Hand streckten sich uns entgegen, und so gut wir konnten, gossen wir aus riesigen Fla­ schen ­kleine Kostproben des pechschwarzen Weins in jedes Glas. Einige Wein-Groupies schafften es bis ganz nach vorn und drängten uns per Handzeichen, ihnen direkt in den Mund einzuschenken, und warum auch nicht? Endlich stürmte eine Horde junger Frauen die Bühne – all das wurde von einem Fernsehteam aufgezeichnet. Der nackte Wahnsinn! Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fragte ich mich, was zum Teufel passiert war. Wie hat der deutsche Wein diese überraschende Anziehungskraft entwickeln ­können? Wie haben Wein und Popkultur ausgerechnet im sauberen, ordentlichen Deutschland zueinandergefunden? Die Antwort auf diese Frage lautet, dass eine neue Generation von Winzern die ­alten Spielregeln des Winzerdaseins völlig ignoriert und einfach loslegt – in der Überzeugung, Wein sei Teil der Popkultur. Diese „Bewegung“ fing um die Jahrtausendwende zögerlich an, gewann aber schnell mächtigen Schwung, bis im Sommer 2005 das Mannheimer Stadt­magazin Meiers davon überzeugt war, zusammen mit „Pfalz Hoch Drei“ – so nann­ ten ­Hensel, Peter und Schneider damals ihre Jungwinzergruppe – und meiner Wenig­keit eine ­große Weinparty im Heidelberger Schloss zu veranstalten. Für den Anlass wurde die ganze ­Gegend mit Hinweisen darauf zuplakatiert. Mir rutschte der Unterkiefer ganz weit nach unten, nachdem ich das Poster von uns neben denen von Mariah Carey, Anastacia und Lenny Kravitz gesehen hatte. Noch erstaunlicher war, dass das Ganze anscheinend einen Nerv traf und unser Auftritt in null Komma nichts ausverkauft war. Höhepunkt des Abends bildete „Sex Machine“, der pechschwarze, sehr gewagte JointVenture-Wein des Trios, den sie nach der gleichen Methode wie einen portugiesischen Vintage Port erzeugten. Das heißt, die Trauben werden während der Gärung von Füßen gestampft und der Wein mit Branntwein aufgesprittet, um die Gärung zu stoppen, bevor die Hefe die komplette Traubensüße in Alkohol umwandelt. So entstand im Herbst 2003 ein pechschwarzer Wein mit 20 Prozent Alkohol, enorm viel Gerbstoffen und ebenso viel Süße – exakt das Gegenteil des Klischees vom leichten, beschwingten deutschen Wein!

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Rotwein Revolution

Meike Näkel

ah rw eiler

„Ich stamme aus einer Ebene und lebe in einer Ebene, aber die Berge ziehen mich seit meiner Kindheit an …“ Zitat Meike Näkel


Rotwein Revolution

Qualität erhalten zu können. Trauben lange vor der Lese wegzuschneiden erschien fast allen völlig hirnrissig. Das Klima war damals deutlich kühler als jetzt und ein mittelmäßiger Sommer keine Seltenheit. Kombiniert mit einem Überfluss an Trauben und dem damals vorherrschen­ den technokratischen Geist war es für deutschen Rotwein ein schweres Handicap. Die bis­ herige Rotweintradition wurde so gebrochen und der Wein selbst zu einer internationa­ len Lachnummer degradiert. Schlimmstenfalls hatten sie eine blasse Farbe, waren dünn und süßsauer. Genauso war auch mein erster deutscher Rotwein aus der Traubensorte Portugieser, Mitte der 1970er in Ludwigshafen, einfach unvergesslich im negativen Sinn! Aber deutsche Rotweintradition? Ja, die hatte es vorher gegeben, und wenn man sehr viel Glück hat, kann man das Ergebnis auch noch trinken. Zum Beispiel den Lemberger Rotwein der Grafen Neipperg in Schwaigern/Württemberg von 1959 und den Spätbur­ gunder der Staatsdomäne in Assmannshausen/Rheingau aus dem Jahr 1947, beides kräf­ tige und üppige Rotweine, die als junge Weine mit Sicherheit ziemlich gerbstoffbetont geschmeckt haben werden. Ab den frühen 1960er-Jahren wurden diese Bollwerke der da­ maligen deutschen Rotweinkultur jedoch gründlich „modernisiert“, was zur Demontage dieser Tradition führte. Offensichtlich war die Nachfrage aber auch nicht mehr da. Wir Konsumenten sind sozusagen die Koproduzenten des Weins. Denn das, was wir trinken, beeinflusst die Art der Traubensorte, die auf den Weinbergen von Planet-Wine steht, und was in den Kel­ lern passiert genauso wie die Visionen der Winzer! Im Laufe der 1960er-Jahre begannen die Deutschen, auf der Suche nach Sonne und Strand nach Italien und in andere Mittel­ meerländer zu pilgern. Anschließend wollten sie ihren Urlaubswein auch zu Hause trin­ ken. Die rasante Ausbreitung von Pizzerien in deutschen Städten trieb diese „O-sole-mioSehnsucht“ nach südeuropäischem Rotwein weiter voran, Supermärkte und Weinhändler zogen daraufhin nach. Die Toskana ist wirklich schön, um das berühmteste Weinbaugebiet Italiens als Bei­ spiel zu nehmen. Lange bevor die deutschen Winzer sich um die Erzeugung guter Rot­ weine ernsthaft kümmerten, hatten sich ihre toskanischen Kollegen in den eigenen Wein­ bergen und Kellern bereits damit beschäftigt. Damals kosteten diese Weine nur einen Bruchteil der heutigen Preise, und viele deutsche Touristen konnten es sich leisten, den Kofferraum vollzuladen und die Weine nach Hause zu fahren. Die Motorisierung der Wein­ konsumenten hatte nicht weniger radikale Folgen als die Motorisierung der Weinbauern. Erst ab den späten 1980er-Jahren wurde in Deutschland in vielen kleinen mühsa­ men Schritten eine neue Rotweinkultur aufgebaut. Zuerst lernte ein kleiner Kreis von

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Der Ö kowa hnsinn

Der Ökowahnsinn: Ökowein ist modern und cool Manche Märchen müssen mit einer Beschreibung des Orts des Geschehens beginnen, wie zum Beispiel die Geschichte vom Aufstieg des ökologischen deutschen Weins. Ein großes Anwesen ohne Schnickschnack ist manchmal viel beeindruckender als ein Schloss oder eine Burg mit einem mittelalterlichen Turm oder einer strahlenden Barockfassade, weil bei dessen Betrachtung nicht der Vergleich mit dem Karlsruher Schloss, der Wartburg oder der persönlichen Vorstellung eines Traumschlosses ablenkt. Solch ein Anwesen ist das Weingut Dr. Bürklin-Wolf in Wachenheim in der Pfalz, aber eigentlich ist es noch viel mehr als das, weil es sich um ein Anwesen mit verschiedenen Funktionen handelt. Wenn man von Süden in den Ort kommt, stößt man rechter Hand direkt im An­ schluss an die letzten Rebzeilen auf Bürklins Gärten, die aus einem Englischen Garten, Gewächshäusern, einem Krocketfeld, einem Tennisplatz und einem Park bestehen. Au­ ßerdem gehören dazu noch der Opernplatz und die Kulturscheune, wo seit 1993 ein viel­ seitiges Kulturprogramm stattfindet. Weder das ehemalige Kelterhaus noch der alte Stall sind als klein zu bezeichnen, aber sie wirken rustikal im Vergleich zum Gutshof, den die heutige Besitzerin bewohnt, Bettina Bürklin-von Guradze. Alles in allem eine noble Heim­ statt für eine noble Frau. Für mich ist sie das, weil sie den Medien nie hinterhergelaufen ist und ihre Ziele immer aufrichtig verfolgt. Sie führt seit 1992 den Betrieb, der nach ihrem Großvater benannt ist, Geheimrat Dr. Albert Bürklin, der ihn auch berühmt gemacht hat. Sein Sohn Ökonomierat Dr. ­Albert Bürklin steigerte den Erfolg noch. Unter seiner Führung von 1924 bis zu seinem Tod 1979 wurde das Gut zu einer weltweit bekannten Weinlegende. Getreu diesen Vorbildern hat Bettina Bürklin-von Guradze das Weingut nach einem Durchhänger von gut einem Jahr­ zehnt zurück an die nationale Spitze geführt. Heute kostet der teuerste trockene Ries­ ling des Guts, der „Kirchenstück G.C.“ – die zwei Buchstaben gehen zurück auf das fran­ zösische Grand Cru, die Bezeichnung für Wein aus den edelsten Weinberglagen –, stolze 70 Euro die Flasche. Er ist allerdings meistens ausverkauft, doch für ganze 9 Euro gibt es den „einfachen“ trockenen Riesling des Hauses. Die Weinerzeugung spielt sich an anderer Stelle ab, und zwar mitten im Ort. Man muss sehr aufpassen, um die recht schmale Einfahrt in den entsprechenden Teil des Guts, den Kolbschen Hof, nicht zu verpassen. Belohnt wird man mit einer für die Pfalz selte­ nen Weitläufigkeit. An der hinteren Seite des Hofs liegt die Vinothek, in der man die


Der Ökowahnsinn

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imposanten und zugleich edlen Weine des Hauses verkosten kann. Ziemlich versteckt lie­ gen die Produktionsstätten Kelterhaus und Keller, aber so muss es bei einem noblen Wein­ gut auch sein. Das Erstaunliche ist, dass Bettina Bürklin-von Guradze die insgesamt 86 Hektar Anbaufläche 2005 komplett auf ökologischen Wein umgestellt hat, und zwar auf die extremste Variante: biodynamischen Wein. Das traditionsreiche und gediegene Wein­ gut Dr. Bürklin-Wolf ist heute die Speerspitze des ökologischen Weinbaus in Deutschland. Sie finden, das klingt etwas absurd? Mit dem Begriff Ökowinzer verbindet man in Deutschland immer noch ein wenig den langhaarigen Freak, der gewöhnungsbedürfti­ ge Säuerlinge erzeugt. Und zu den ökologisch arbeitenden deutschen Winzern, die ich Mitte der 1980er-Jahre an der Mosel traf, passt das Bild durchaus. Vor einem Vierteljahr­ hundert entsprachen diese Vertreter dem typischen „Alternativen“, dessen Hauptanlie­ gen im Kampf gegen den materialistischen Zeitgeist bestand. Trotz Gorbatschow war der Kalte Krieg noch nicht vorbei, und das dynamische Duo Ronald Reagan und Margaret Thatcher predigte Hardcore-Kapitalismus, als sei „Sub-Prime“ undenkbar. Die Haltung der deutschen Ökowinzer äußerte sich in der radikalen Ablehnung jeg­ licher chemischer Dünge- oder Schädlingsbekämpfungsmittel. Zwischen den Rebzeilen durfte Unkraut wachsen, manchmal zu einem richtigen Dschungel, und im Keller wurde am Wein nichts „gemacht“, auch wenn er dadurch richtig sauer geriet. „Wir hatten Mitleid mit der Erde“, beschreibt Rudolf Trossen vom biodynamischen Weingut Rita und Rudolf Trossen in Kinheim-Kindel/Mosel die damalige Einstellung der ökologischen Moselwinzergruppe, der er als ihr Philosoph immer noch angehört. Ihre dem Konventionellen verhafteten Kollegen nahmen ihnen dies sehr übel, weil der technokratische Glaube an moderne Chemie und Technik im Weinbau damals auf seinem Höhepunkt war. Aber zur selben Zeit begann allmählich ein großes Umdenken. Einer der Auslöser dafür waren die Probleme in Deutschland und Frankreich mit einem Insektizid, das vom Hersteller als großer Fortschritt angepriesen worden war. Winzige, gesundheitlich

Das traditionsreiche und ­gediegene Weingut Dr. BürklinWolf ist heute die ­Speerspitze des ökologischen Weinbaus in Deutschland. Bettina Bürklin-von Guradze


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Big is Beautiful

Bei der Bahn oder in der Economy Class einer Fluggesellschaft sind die Mengen ­etwas kleiner, aber von einem Wein darf es kaum unter 20.000 kleinen Flaschen sein. Hier ist der Preis vielleicht nicht ganz so kritisch wie im Supermarkt oder Discounter, aber viel höher darf er auch nicht liegen. Lange Jahre hat ein kleiner Kreis von Betrieben diese Großkunden beliefert. Diese „üblichen Verdächtigen“ waren weitestgehend verschiedene „Großkellereien“, also Groß­ betriebe, die lose Ware im Fass von zahlreichen kleinen Winzern kauften oder größere Chargen importierten, diese in riesigen Tanks verschnitten, anschließend – ganz legal – mithilfe von „Schönungsmitteln“ von etwaigen geschmacklichen Beeinträchtigungen befreiten und dann abfüllten – wahre „Weinfabriken“. Dazu kamen die großen Winzer­ genossenschaften mit jeweils Tausenden von Mitgliedern, verstreut über ein großes Wein­ baugebiet, die ihre Trauben für die zentralisierte Verarbeitung und Vermarktung ablie­ ferten, ebenfalls Branchenriesen. All das ist heute nach wie vor so, aber die Großkellereien kaufen zumindest für die nicht ganz so billigen Produkte Trauben statt Fasswein, um die Erzeugung und somit die Qualität des Endprodukts besser steuern zu können. Den Führungsriegen der großen Win­ zergenossenschaften ist klar, dass man als Lieferant von Ware für 1,99-Euro-Weine ohne eine gewisse Qualität austauschbar ist. Daran verdienen die Mitglieder nicht. Aber es gibt auch ein paar neuere Betriebe mit eigenen Weinbergen und zugekauf­ ten Trauben, die die Weinlandschaft Deutschlands mächtig verändern. Zu ihnen gehört das Weingut Schneider in Ellerstadt/Pfalz, dessen Weine Air Berlin und Hapag-Lloyd auf seinen Kreuzfahrtschiffen anbieten. Supermärkte hat Markus Schneider noch nicht be­ liefert, was aber nicht daran liegt, dass er damit ein moralisches Problem hätte, sondern weil sein Wein trotz einer Jahresproduktion von etwa 400.000 Flaschen in den letzten Jahren immer zu knapp ist. Das Erstaunliche ist, dass Schneider 1975 geboren ist und der Betrieb in seiner heu­ tigen Form erst seit 1994 existiert. Vorher baute sein Vater Klaus zwar Trauben an, lie­ ferte diese aber an eine Winzergenossenschaft, erzeugte also gar keinen Wein. Damit be­ gann erst sein Sohn, als dieser noch keine 20 Jahre alt war, wobei er schnell Fortschritte machte. Ich habe mich also heute in der Früh mit meinem Rollkoffer in Berlin auf den Weg gemacht, um das Phänomen Markus Schneider zu erforschen. Er erzeugte bereits 1996 einen neuen Rotwein, den er einfach „Rotwein“ nannte. Den Namen der Traubensorte, Portugieser, ließ er weg, weil deren Ruf nicht der beste war, eher ein Verkaufshindernis. Auch das beträchtliche Alter der Reben aus den 1920erJahren erwähnte er anfangs nicht auf dem Etikett. Unterschlagungen wie diese scheinen


Big is Beautiful

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Bei einem begabten Winzer wie Markus Schneider ist ein Edelstahltank wie das Netz eines Schmetterlingssammlers.

Markus Schneider

Über zwei Drittel aller Weineinkäufe in Deutschland werden in Supermärkten und Discountern getätigt.

horst Kolesch Weing ut Juliusspital

Schwein berger

Schw einberger GWF


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Der Besuch eines legendären Weinguts kann manchmal ziemlich ernüchternd oder gar enttäuschend sein. So ist Château Pétrus in Pomerol/Bordeaux ein nicht besonders attraktives zweistöckiges Bauernhaus und der Eingang zur Domaine de la Romanée-Con­ ti in Vosne-Romanée/Burgund schwierig zu finden, weil das Tor so unscheinbar ist. Da­ gegen ist das Weingut Egon Müller-Scharzhofberg ein imposantes und gediegenes Anwe­ sen aus dem 18. Jahrhundert, dessen Erscheinungsbild durch die Lage am Fuß des steilen rebenbedeckten Scharzhofbergs noch gewinnt. Aus der einen oder anderen Perspektive, je nach Jahreszeit, wirkt der Berg wie eine gigantische grüne Wand hinter dem Weingut. Ich stehe an einem Herbsttag mit meinem Rollkoffer vor der Tür des Guts Scharz­ hof und klingele. Man macht mir auf, und vor mir steht der groß gewachsene, kahlköp­ fige Egon Müller IV in Maßanzug und Krawatte. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen der optische Eindruck – des Menschen nicht weniger als der des Hauses – bestens zum Geschmack des Weins passt. Bei Egon Müller gibt es keinen Verkauf ab Hof, eine alte Familientradition, die kon­ sequent fortgeführt wird. Ist man vom Fach, wird man nach Absprache empfangen, gele­ gentlich heißt man auch Gruppen von Weinfreunden willkommen, wenn rechtzeitig ein Termin vereinbart wurde. Doch Weintourismus findet hier nicht statt, dafür haben Egon Müller IV, seine Frau Valeska und das kleine Team um Kellermeister Stefan Fobian ein­ fach keine Zeit. Die Erzeugung hochwertiger Süßweine verlangt einen hohen Grad an Perfektion, wenn sie regelmäßig gelingen sollen. Nach einer kurzen Begrüßung betrete ich die kühle Eingangshalle, in der sich seit meinem ersten Besuch vor einem Vierteljahrhundert, bis auf wenige bunte Gemälde von Tochter Isabelle, so gut wie nichts verändert hat. Damals wurde ich von Egon Müller III (1919 bis 2001) empfangen. Der Vater des heutigen Besitzers, der das Gut nach dem Zwei­ ten Weltkrieg erfolgreich an die Weltspitze zurückführte, erzielte auf den jährlichen Wein­ versteigerungen im nahe gelegenen Trier einen Rekordpreis nach dem anderen. Der gute Ruf geht aber eigentlich zurück auf Egon Müller I (1852 bis 1936). Das Flaschenetikett im Jugendstil dokumentiert, wie das Gut mit der 1895er „Scharzhofber­ ger Riesling Auslese“ im Jahr 1900 auf der Exposition Internationale in Paris den ers­ ten Preis gewann. Auch drei Generationen später werden heute edle Riesling Auslesen aus dem Scharzhofberg erzeugt, die zwischen 150 und etwa 500 Euro die Flasche kosten. Die ­Müllers waren bereits vor 100 Jahren für Süßweine berühmt, und die Preise waren ­damals im Verhältnis mindestens so hoch wie heute. Es handelt sich um eine wahre Süß­ wein-Dynastie – der junge Egon Müller V wächst schon heran und ist bereits von Wein­ bergen begeistert.


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Egon M üller

Rheinhessen

A lex Gysler

Auf einem runden Marmortisch links von der Eingangstür bilden Probeflaschen ei­ nen Kreis. Vor jeder steht ein Verkostungsglas. Gleich werde ich den Geschmack der neu­ esten Inkarnation der Müllerschen Süßweintradition erforschen. Vor allem interessieren mich die Flaschen am Ende der Reihe, in denen die Spitzenweine des Hauses schlum­ mern. Es sind die hellgoldene Auslese, die tiefgoldene Auslese mit „Goldkapsel“ und die bernsteinfarbene Beerenauslese sowie die Trockenbeerenauslese. Diese natürlichen Es­ senzen der Rieslingtraube sind auf dem Tisch nach steigender geschmacklicher Intensi­ tät und Preis angeordnet. Schritt für Schritt nähert man sich dem Süßwein-Himmel und kommt einfach nicht aus dem Staunen heraus, weil es so viel mehr als nur Süße im Glas zu entdecken gibt. Das Besondere dieser Weine ist, dass sie nie schwer oder plump wirken, egal wie überirdisch konzentriert sie auch sind. Nein, sie behalten stets ihre geniale Harmonie und Feinheit bei. Bei den Beerenauslesen und Trockenbeerenauslesen handelt es sich eher um eine Art Honigsüße, also um eine intensive, würzige Süße, die an Honig erinnert, statt banale und eindimensionale Zuckersüße. Es gibt so viele andere Inhaltsstoffe neben

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Die ver borgenen Schätze

zu roden und stattdessen Reben zu pflanzen, ging es ihm bereits darum, einen „verbor­ genen Schatz“ aus den dunklen Tiefen der Vergangenheit wieder ans Tageslicht zu hie­ ven. Bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war der Gräfenhäuser ein Kult-Wein. Dann woll­ te niemand mehr so viel Geld für einen deutschen Rotwein ausgeben, und die teuer zu bewirtschaftenden Weinberge verwilderten nach und nach zu Brachflächen. Anfang un­ seres Jahrhunderts stand der Gräfenhäuser Weinberg dann kurz vor dem endgültigen Aus. Nach der gewagten Pflanzaktion hatten die fünf Jungwinzer Glück und konnten 2003 einige Zeilen alte Reben neben ihrem Jungfeld von einem alten Winzer überneh­ men. Statt also noch Jahre auf die ersten Trauben ihrer jungen Reben warten zu müssen, konnten sie gleich mit der Produktion loslegen. Der erste Jahrgang wurde komplett von der MS Europa gekauft, Deutschlands Luxustraumschiff. Damit wurde auch eine Tradi­ tion wieder ins Leben gerufen, denn 1929 war der Gräfenhäuser Rotwein der teuerste deutsche Wein auf der Karte der damaligen MS Europa.

Süd pfalz ConneXion


Die verborgenen Sch ätze

Aber wir sind noch nicht am Ende der Geschichte vom zurückeroberten Weinpa­ radies! Klaus Scheu aus Schweigen, Peter Siener und Volker Gies aus Birkweiler sowie Boris Kranz und Sven Leiner aus Ilbesheim ging es nicht nur um die Rettung des Weinbergs, sie haben sich auch um den besonderen Charakter des Gräfenhäuser Rotweins bemüht. „Als wir den Weinberg angelegt haben, haben wir ein paar ältere Leute im Dorf ge­ fragt, wie die berühmten Weine damals gemacht wurden“, erklärt mir der sehr coole, drah­ tige Sven Leiner. Dann beschreibt er einen ziemlich abenteuerlich klingenden Herstel­ lungsprozess, an dessen Anfang eine konventionelle Rotwein-Maischegärung steht. Saft, Fruchtfleisch und Beerenhäute bilden eine purpurfarbene Masse (die Maische), in der die alkoholische Gärung zahlreiche Stoffe aus den Beerenhäuten löst, die dem in sei­ ner Entstehung befindlichen Rotwein Farbe und Kraft verleihen. Wer als Kind gern mit Schlamm spielte, könnte viel Freude bei der Arbeit im Rotweinkeller haben!

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Der Wein und die Klimaveränderung

Weingut Robert WeiL

Wilhelm Weil

Gewissermaßen steht der Wiederaufstieg dieses Hauses für das Weinwunder Deutschland insgesamt.

Für jede 100 Meter, die man einen Berg hinaufsteigt, fällt die Temperatur um etwa 0,65° Celsius. Wenn ich also vom Meeresspiegel aus auf 1.150 Meter NN klettere, fällt die Temperatur um volle 7,5° Celsius. Der höchste Weinberg Europas liegt in Vispertermi­ nen im Wallis/Schweiz, dort steigen die Terrassen auf ziemlich genau 1.150 Meter NN. Es mag ein extremes Beispiel sein, aber es veranschaulicht die Bedeutung der Höhe für den Weinbau. Die Klimaerwärmung verschiebt die Grenze der Weinbaugebiete nicht nur nach Norden bzw. Süden, sondern auch in die Höhe. Das klingt sehr theoretisch, weswe­ gen ich nach meinem Besuch in Mecklenburg wie schon gesagt in den Rheingau fahre,


Der Wein und die Klimaveränderung

um diesen Aspekt der Klimaerwärmung konkreter zu beleuchten. Ich suche also eines der führenden Weingüter Deutschlands auf, das Weingut Robert Weil in Kiedrich/Rhein­ gau, das sich damit intensiv auseinandersetzt. Natürlich bin ich am Ende meiner bislang verrücktesten Weinreise ein wenig ge­ schafft, aber die Neugier vergeht mir trotzdem nicht. Und im großen Fachwerkanwesen des traditionsreichen Weinguts Weil habe ich während der letzten 25 Jahre viele spannen­ de Verkostungen erlebt. Gewissermaßen steht der Wiederaufstieg dieses Hauses für das Weinwunder Deutschland insgesamt. Selbst zur dunkelsten Zeit während der Neuzeit, An­ fang der 1980er-Jahre, als ein Weinskandal nach dem anderen den schon heruntergekom­ menen Ruf der BRD-Weine immer weiter in den Schlamm zog, erzeugten einige Puris­ ten weiterhin geniale deutsche Weine, aber es waren wenige. Der Aufschwung, der Ende der 1980er zögerlich begann, gewann langsam, aber stetig im Laufe der 1990er-Jahre an Schwung, und seit der Jahrtausendwende ist Volldampf angesagt. Analog dazu verlief der Aufschwung dieses Weinguts unter der Leitung von Wilhelm Weil. Dort ist man stolz darauf, seit dem Jahrgang 1989 jedes Jahr Weine aller gesetzlichen Qualitätsstufen bis hin zur Trockenbeerenauslese erzeugt zu haben. Heute geht es mir je­ doch primär um drei Weine, alle trockener Riesling, die auf sehr ähnliche Weise erzeugt wurden, aber aus Lagen stammen, die unterschiedlich hoch liegen. Als Wilhelm Weil mich begrüßt und mich anschließend in den Verkostungsraum begleitet, ist mir schon klar, dass es die drei Weine sind, die uns dort auf dem Tisch erwarten. Hier ist alles im­ mer perfekt vorbereitet. Ich erkläre ihm, dass ich von Glas zu Glas „bergsteigen“ möch­ te, also mit dem Wein aus der niedrigsten Lage anfangen und mich dann langsam nach oben begeben möchte. „Wie du möchtest, Stuart“, sagt er mit einem Lächeln. Der erste Wein ist der trockene „Gräfenberg“, seit Jahren der Klassiker unter den trockenen Weinen des Guts. Der Duft nach Orange und Papaya ist ziemlich üppig, und der Wein schmeckt sehr saftig und geschmeidig. Es ist ein richtiger Gaumenschmeichler mit einem ganz starken Finale. Als einzige mögliche Kritik fällt mir ein, dass es vielleicht ein wenig „zu viel des Guten“ ist. „Dank der Klimaerwärmung ist er über die Jahre immer ausladender geworden“, gibt Weil zu, „aber wir lieben ihn so, wie er ist, und wollen nichts unternehmen, um ihn zu verschlanken. Dank der höher liegenden Lagen haben wir auch Alternativen, die deut­ lich schlanker schmecken.“ Dabei deutet er auf den nächsten Wein, den trockenen Ries­ ling aus dem Turmberg. Er hat eine exotische Note, ich glaube, es ist Maracuja, aber ich rieche auch ganz deutlich weißen Pfirsich – mein Lieblingsobst. Im Geschmack ist auch er sehr saftig, aber

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Trau bensorten

WeiSSburgunder Burgunder-Wunder In deutschen Anbaugebieten duftet es aufregend nach Wiesenblumen, Kräutern, Linden­ blüten und Sommer. An den Bäumen hängen Birnen und Äpfel, auch Quitten oder mit­ unter gar Zitrusfrüchte. Für viele Konsumenten sind oft Weine, die danach schmecken und duften, die wunderbarsten: Es handelt sich um die vermeintlich kleinen Schmacko­ fatz-Weißburgunder, die wie Samt die Kehle hinuntergleiten, oft nur wenige Euro kosten und schmecken, als befände sich die besagte Landschaft im Glas. Es reicht ihm, denn als Weinfreund will er mit einem guten Tropfen einfach Spaß haben, gesellig sein, Freunde dazu einladen, für sie kochen oder einfach mal zwischen­ durch etwas Leckeres trinken, das man sich auch bei knapperem Budget durchaus leis­ ten kann. Und da gibt es hierzulande nun einmal nichts Besseres als den süffigen, pfiffi­ gen Weißburgunder mit cremigem Körper, feiner Frucht und sanfter Säure. Die Chardonnay-Testphase ist großflächig mehr oder weniger gescheitert, weil diese­ Sorte hierzulande nur selten zu Hochform aufläuft. Genau das war die Chance für den subtilen Weißburgunder, der zwar als eine der feinsten Rebsorten der Welt gilt – und Er­ folge in Norditalien, im Elsass und Österreich feiert –, aber lange ein „unterbelichtetes“ Dasein führte. Seine angestammte Hochburg ist die Pfalz, wo er in den kalkreichen südli­ chen Lagen wie dem Birkweiler Mandelberg von Dr. Wehrheim und dem Kirrweiler Man­ delberg von Bergdolt in der Tat ein formidabler Klassiker ist: mineralisch, nussig, faszinie­ rend und spannend, irgendwo zwischen nördlicher Frische und südlicher Wärme. Auch die Weine von Hansjörg Rebholz aus Siebeldingen öffnen eine ganz neue Welt. Im Son­ nenschein heißt die Lage, die dem geradezu berückend subtilen Weißburgunder ein solch strahlendes Lächeln zeigt, dass sich dieses beim Genießen sofort auf den Trinker über­ trägt. Riesling-Hype hin, vielbeschworene Riesling-Renaissance her, diese für Weißburgun­ der typische Kombination von Zartheit und Fülle ist unnachahmlich.


Traubensorten

Richtung 30,- Euro die Flasche kosten diese Spitzengewächse, aber die Pfalz wäre nicht die Pfalz, wenn es nicht ein ganzes Füllhorn an herrlich saftigen Weißburgundern für unter 10,- Euro die Flasche gäbe: originell komponiert, souverän delikat und womög­ lich Auslöser für Dauerdepressionen bei eingefleischten Bordeaux- oder Burgunder-Trin­ kern. Bei Faubel in Maikammer steht die Sorte für Leichtigkeit und Charme, auf dem Wil­ helmshof in Siebeldingen für cremig eingehüllte Mineralität, während der junge Volker Gies die Fruchtigkeit in einen höheren Energiezustand versetzt. Auch in Baden hat man bei den besten Weißburgundern etwa von Salwey, Huber und Seeger das Gefühl, die wunderbare deutsche Landschaft mit all ihren Facetten im Glas zu haben. Auch hier gibt es Ausnahmeweine wie die trockene Auslese mit drei Sternen von Reinhold und Cornelia Schneider aus Endingen, die immens kalibriert, gebündelt und geradezu muskulös ist: Hier darf der Weißburgunder zeigen, wie sehr er vom Holzausbau, in dem Fall sogar neues Barrique, profitiert. Ein Riese von Wein, der langjährige Versu­ che, aus dem Weißburgunder einen Pseudo-Chardonnay zu machen, geradezu konterka­ riert: durch kleines Eichenholzfass und Aufrühren der Hefe gelingt ein Wein mit buttri­ gem Schmelz, der trotz immenser Kraft noch laufen kann. Damit und indem Reinhold Schneider das mangelnde Bemühen um noch hochwer­ tiges Pflanzmaterial kritisiert, legt er den Finger in die Wunde. Keine Frage, der Weißbur­ gunder stellt hohe Ansprüche an die Lage, sodass die Ergebnisse von durchschnittlichen Standorten fast immer enttäuschen. An warmen Plätzen und auf tiefgründigen Böden pro­ fitiert die Mutation des Spätburgunders (Pinot Noir) ungemein von akribischer Weinbergs­ arbeit, wodurch die Trauben sehr süß und reich an Aromastoffen werden. Selbst bei spä­ ter Lese hochreifer Trauben schmeckt der daraus gewonnene Wein noch lebendig. Wie beim Grauburgunder sind die Trauben eher klein und kompakt, was grundsätzlich die Gefahr von Fäulnis und bei trockenen Weinen meist die unerwünschte Edelfäule (Botry­ tis Cinerea) erhöht. Nur beim Chardonnay, einer Zufallskreuzung zwischen Spätburgun­ der (Pinot Noir) und Heunisch (Gouais Blanc), ist alles anders. Die Chardonnay-Rebe ist viel winterfester und von stärkerem Wuchs, und ihre Trau­ ben sind reicher an Weinsäure. Sie ist das weiße Pendant zum Global Player Cabernet Sauvignon und hat, wie schon gesagt, auch in Deutschland Zwischenstation gemacht. Die Spitzenweine aus ihrer burgundischen Heimat, die Montrachet Grands Crus, tragen oft dreistellige Europreise, sind häufig überteuert, aber bestenfalls Weine von großartigem Aromareichtum und geschmeidiger Eleganz. Die Hitze- und Trockenresistenz des Char­ donnays verleihen der Rebe eine enorme Anpassungsfähigkeit, was den Anbau dieser Sorte in zahlreichen Ländern auf Planet-Wine ermöglicht, was wiederum zu Unmengen

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Weinregionen

Pfalz Alla hopp,  Ärmel hoch ! „Broschd“ heißt es allenthalben im „Mignon-Land“, wo die Zitronenbäume blühen, wo Orangen, Feigen und Zypressen gedeihen, wo aus den Winzerhöfen bis spät in die Nacht das Klingen der Gläser zu hören ist – und wo die Reben in solch paradiesisch-verheißungs­ vollen Lagen wie Kirschgarten, Im Großen Garten, Hohenmorgen, Siebeldinger im Son­ nenschein oder Mandelberg wachsen. 1.800 Sonnenstunden im Jahr verwöhnen die Gegend, wo „Schoppe-Gläser“ mitun­ ter gar einen halben Liter fassen. „Die Zeit vergeht, wie schnell is nix getrunke …“, lau­ tet ein Pfälzer Sprichwort. Das milde, fast mediterrane Klima und der gute Wein wirken eben positiv auf das Gemüt. Und ein sonniges Gemüt braucht man auch, wenn man sich als Winzer abseits der berühmten Weinorte der Mittelhaardt wie Forst, Deidesheim oder Wachenheim profilieren will und aufregende Visionen vom neuen Pfälzer Wein hat. Denn seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genossen gerade diese drei Weinbaugemein­ den – sie reihten sich traditionell ein in die Phalanx des Rheinweins – das wohl höchs­ te Ansehen in der Region, wozu insbesondere die außergewöhnlichen Rieslinge der drei großen „Bs“ – die Weingüter Geheimer Rat Dr. von Bassermann-Jordan, Dr. Bürklin-Wolf und Reichsrat von Buhl – beigetragen haben. Winzer im Norden blickten von der Ebene hinauf, und die im Süden orientierten sich vor allem an sich selbst. Sie krempelten einfach die Ärmel hoch! Sie waren es auch, die als Erste die Mittelhaardt so richtig in die Zange nahmen: mit begeisternden Weinen, die das ganze Spektrum umfassen, das in Deutschland möglich ist. Denn gerade als die be­ rühmten Güter bis zum Ende des letzten Jahrhunderts eine Schwächephase durchliefen, starteten Hansjörg Rebholz und Hans Günter Schwarz so richtig durch. Schwarz, der bei­ nahe legendäre Ex-Kellermeister von Müller Catoir und die Pfälzer Winzer-Ikone schlecht­ hin, avancierte zum Vorbild und als Inspirationsquelle für zahllose Winzer – etwa für die


Weinregionen

Südpfalz Connexion, die auf Schwarz’ Hinweis den einst berühmten Gräfenhausener Spät­ burgunder wieder aktivierte. Doch nicht nur durch die Südpfälzer ist in die Region viel Bewegung gekommen. Auch in der nördlichen Pfalz gab es Vorreiter, Pioniere und Idole zugleich. Die Brüder Werner und Volker Knipser begannen vor nunmehr über 30 Jahren, das Gebiet aufzu­ möbeln und brillante Rotweine quasi aus dem Nichts zu zaubern. Heute steht eine neue Kelterhalle hinter dem Gut, in dem 1.040 Barriques lagern – eine richtige Weinkathedra­ le. Vinologische Intelligenz heißt hier auch Offenheit, und so haben nicht nur die Roten aus internationalen Sorten und Spätburgunder echte Identität und Würde, sondern auch Riesling und Sauvignon Blanc! Dabei ist nämlich Kalk das Zauberwort im nördlichen Teil der Pfalz. An der Abbruchkante zum Rheingraben, einst ein riesiges Meer, kommt Kalk­ stein zum Vorschein, auf den während den Eiszeiten Löss geweht ist. An alten Hohlwegen in und um Laumersheim entdeckt man beim Wandern mitun­ ter Lösswände von bis zu 12 Metern – ein eindrucksvolles Profil. Unter der lehmigen Erd­ oberfläche verbergen sich tiefgründige, facettenreiche geologische Formationen, die so manchem unscheinbaren Weinberg Spitzenstatus verleihen. So bekommen die Weine mi­ neralische Frische und knackige, klare Aromen, aber auch tiefgründigen Charakter. Sie reichen aber nicht an die zuweilen überbordende Fruchtigkeit oder exotische Opulenz der Weine aus Mittelhaardt und Südpfalz heran, wo sich die Klimaerwärmung in den letz­ ten Jahren in Form von Trockenstress und übermäßigem Alkoholgehalt teilweise nega­ tiv ausgewirkt hat. Flüssig gewordene Albträume für Hersteller von Designer-Weinchen und Tutti-Frut­ ti-Tröpfchen im Zeitalter der Weichei-Weine keltert Bernd Philippi von Koehler-Ruprecht. Er hat den Holzfassausbau zu einer Zeit verfeinert, als einige Direktoren von MittelhaardtGütern befürchten mussten, auf der Strecke zu bleiben. Philippis trockene Auslesen Ries­ linge „R“ aus dem Kallstadter Saumagen sind grandiose Meisterwerke. Vor allem lassen sie sich nicht in ein x-beliebiges Schema pressen und verkörpern so etwas wie flüssige Zeit. Ihr Reifehorizont ist atemberaubend weit. Neue Namen sind inzwischen an die Stelle derer von Ikonen wie Knipser und ­Philippi getreten: Philipp Kuhn mit seinen extraterrestrischen Roten und mineralisch-würzigen Weißen, Axel Neiss mit kühleren, filigranen Rieslingen und herrlich samtigen Frühbur­ gundern oder Karl-Heinz Gaul, der mit seinen Töchtern Karoline und Dorothee genau die Art von Rieslingen für unter 10,- Euro die Flasche keltert, die wir alle mögen. Denn aseptische Fruchtzwerge werden hier gnadenlos abgelehnt, stattdessen leistet eine kulti­ vierte Reife der Infantilisierung des Geschmacks hartnäckig Widerstand.

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Über den Autor

Stuart Pigott Ohne die zufällige Begegnung mit Wein vor 30 Jahren wäre aus Stuart Pigott viel­ leicht „ein langweiliger Schuhverkäufer in einem langweiligen Londoner Vorort“ geworden. Stattdessen wanderte er nach Deutschland aus und wurde ­Weinkolumnist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und des Weinmagazins FINE. Dank seiner Fernsehsendung Weinwunder Deutschland im Bayerischen Rundfunk hat das Thema Wein einen bisher unbekannten Unterhaltungsgrad auf dem Bildschirm er­ reicht. Damit hat sich gewissermaßen auch ein Jugendtraum des Engländers erfüllt: Er wollte ursprünglich Schauspieler werden, aber: „Damals war ich zu feige.“ Heute traut sich Stuart Pigott das Tragen großkarierter Sakkos von Vivienne Westwood im Alltag zu. Berlin ist seit fast 20 Jahren seine Wahlheimat. Dort geht er gern ins Kino und in unterschied­ lichste Weinkneipen, manchmal trinkt er auch ein Helles. Mehr Informationen unter www.stuartpigott.de

manfred lÜer Seit 2003 lebt der Buchautor, Journalist und Weinkritiker Manfred Lüer im Rheingau, wo er „den Dosenpfirsich in der Dose lässt“. Denn zwischen diesem und dem edlen Wein­ bergspfirsich-Aroma eines tollen Rieslings liegt mehr als eine Welt! Lüers Meinung nach gibt es nur vier Arten von Wein: weiß, rot, schmeckt – und schmeckt nicht. Doch man schmeckt nur das, was man auch weiß. Und das hat nun wiederum etwas mit Kultur zu tun, wobei es auf das Lebensgefühl, die Landschaft sowie Leute und Lebensfreude ­ankommt: „Was das Terroir wirklich sein soll, habe ich bis heute nicht verstanden“, so Manfred Lüer. Kann ein Wein für 5,- Euro die Flasche genauso gut schmecken wie einer, der um ein Viel­ faches teurer ist? Davon ist der Autor überzeugt, solange die Voraussetzungen stimmen. Früher hockte der Kunsthistoriker und Journalist in tristen Redaktionsräumen, heute trinkt er lieber Wein.


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