Die Macht der Geste

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DIE MACHT DER GESTE

Timo Wischmeier



“Personality is an unbroken series of successful gestures” 1

1 F. Scott Fitzgerald. The Great Gatsby. 1925


Einleitung Mit Gesten teilen wir unserer Umgebung etwas mit – und zwar ständig. Dabei ist es irrelevant, ob wir unsere Hände bewegen oder nicht, ob wir reden oder einfach nur zuhören. Gesten sind essentieller Bestandteil unserer Kommunikation und kaum wegzudenken, da wir oftmals auf sie angewiesen sind. Wenn wir uns verbal nicht richtig ausdrücken können oder einfach nur einen Begriff betonen und verdeutlichen möchten, bedienen wir uns fast selbstverständlich der Geste. Auch lässt sich diese immer noch als wirkungsvolles Kommunikationsmittel verwenden, wenn uns die Sprache gänzlich fehlt, diese nicht beherrschen oder eine Artikulation mit Unterstützung der Lautsprache schlicht nicht möglich ist. Körpersprache besitzt darüber hinaus grundsätzlich einen höheren Kommunikationsgehalt als das gesprochene Wort. Jede Bewegung ist bereits Ausdruck unserer Kultur, Tradition und Herkunft zugleich. Auch wenn Körperbewegungen keine Kommunikationsabsicht verfolgen, bleiben sie dennoch Ausdrucksform unserer individuellen Persönlichkeit. Sowohl die natürliche Anlage als auch äußere Umstände spielen bei der Entwicklung des Menschen eine wesentliche Rolle, denn sie formen den Charakter und nehmen Einfluss auf die Persönlichkeit des Menschen. Was zu Beginn des Lebens als (banaler) Nachahmungsprozess beginnt und sich im fortschreitendem Alter zu eigenen Gewohnheiten ausbildet, entwickelt sich bis hin zu einem individuellen Verhaltensmuster. Dieses ist zwangsläufig geprägt von der Umgebung, Erziehung sowie den eigenen Erfahrungen, welche somit in jeder spezifischen Körperbewegung des Individuums Ausdruck findet. Scheinbar verfügt der Körper und im Besonderen die Geste über eine Eigenschaft, die ein wesentliches Kriterium für die nachhaltige Wirkung von Identität darstellt: Glaubwürdigkeit.


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Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere die These von Paul Watzlawick, der eine Geste als sehr viel aussagekräftiger beziehungsweise vertrauenswürdiger beschreibt, verglichen mit Worten.

“Eine Geste [...] sagt uns mehr darüber, wie ein anderer über uns denkt, als hundert Worte. Auf dieser These baut die vorliegende Arbeit auf. So soll herausgestellt werden, was die Geste über den Menschen und seine Persönlichkeit verrät, ob sich ein Mensch nur an seiner Gestik erkennen beziehungsweise identifizieren lässt und ob ein Mensch eine individuelle Gestik ähnlich der Handschrift besitzt? Basierend auf diesen Erkenntnissen lässt sich die Relevanz der Geste noch sehr viel weiter denken. Eine sinnvolle und gewichtige Verbindung entsteht, wenn man das Zitat weiterverfolgt.

Ihr werdet es vielleicht jemandem ansehen, dass er lügt, obwohl er euch beteuert, dass er die Wahrheit sagt.” 2 Die Erkennung der (authentischen) Persönlichkeit ist insbesondere in Situationen relevant, in denen Authentizität und Vertrauen eine wesentliche Rolle spielt – also Nachrichten, Werbung, Informationsdesign etc. Ziel dieser Arbeit ist daher auch einen kurzen Ausblick zu geben, inwieweit die Fähigkeiten der Geste in Sekundärsituationen eingesetzt werden können.

2 Watzlawick (2003) S.64



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Geste per Definition Ges | te, die (feminin)

Bedeutung

1. spontane oder bewusst eingesetzte Bewegung des Körpers, besonders der Hände und des Kopfes, die jemandes Worte begleitet oder ersetzt [und eine bestimmte innere Haltung ausdrückt] 2. Handlung oder Mitteilung, die etwas indirekt ausdrücken soll 3

Herkunft

Der Begriff „Geste“ ist abgeleitet von dem lateinischen „gestus“, welches „im allgemeinen Sinn eine Bewegung oder Haltung des Körpers und im besonderen Sinn eine Bewegung eines Körperteils und vor allem der Hand“ 4 bezeichnet. „Gestus“ wiederum ist das Partizip Perfekt von „gerere“, mit der Bedeutung: „Machen“ oder „sich verhalten“. Ursprünglich beschreibt der Begriff einen in der Welt bewegten Körper, Tätigkeiten der Hand, menschliche Handlungen, Gefühle ausdrückende und darstellende Bewegungen einzelner Körperteile, die Performität des Körpers und soziale Handlungen. 5

3 Duden Online (www.duden.de/rechtschreibung/Geste) 4 Christoph Wulf (2011) S.7 5 vgl. Christoph Wulf (2011) S.7f


Der Begriff Kommunikation 6 wird fälschlicherweise häufig mit dem Gebrauch von Sprache als Grundlage der Interaktion gleichgesetzt. Doch wie Paul Watzlawick feststellt, ist bereits jegliche Form menschlichen Verhaltens auch eine Form der Kommunikation. Da jede Verhaltensweise für einen Beobachter eine Information enthält, kommt Watzlawick zu der Schlussfolgerung, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren – selbst wenn wir nichts sagen („Man kann nicht nicht kommunizieren“). Auch unbewusst beziehungsweise absichtslose Ausdrücke, wie das Schweigen oder Wegsehen, spiegeln demnach ebenso informative Handlungen wider. Dies macht einerseits deutlich, dass Gesten zweifelsfrei Formen der Kommunikation sind, andererseits aber auch eine genauere Differenzierung der Begrifflichkeit notwendig. Der Mensch besitzt ein vielseitiges Repertoire an Kommunikationsmöglichkeiten, welche den Einsatz von verbaler Sprache nicht zwingend erforderlich machen. Dementsprechend wird zwischen verbaler Kommunikation und nonverbaler Kommunikation unterschieden. Während verbale Kommunikation die sprachliche Informationsvermittlung umfasst, definiert die nonverbale Kommunikation die

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6 Der vorliegenden Arbeit liegt ein allgemeiner Kommunikationsbegriff zugrunde, wie er auch von Köck und Ott verwendet wird: “Kommunikation bezeichnet den Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehr Personen” (vgl. Köck und Ott. Wörterbuch für Erziehung und Unterricht. Donauwörth, Verlag Ludwig Auer, 1994, S.213)

Begriffliche Abgrenzung


7 Nach Helfrich und Wallbott beinhaltet die nonverbale Kommunikation Mimik, Gestik, Körperbewegung/-haltung und Objektkommunikation, also auch beispielsweise Körperbau, Gesichtsform oder Hautfarbe (vgl. Helfrich und Wallbott,1980 in Bekmeier, 1989)

„Gesamtheit der im Interaktionskontext auftretenden nicht-sprachlichen Phänomene, unabhängig davon, ob ein geteilter Kode und Internationalität des Senders gegeben ist“, 7 was beispielsweise auch menschliche Ausdrucksformen, die gar nicht bewusst geschehen – also nicht wissentlich mit einer inhaltlichen Botschaft vom Sender kodiert werden – in die Kategorie der nonverbalen Kommunikation einschliesst. Gehen wir gleichzeitig von der Beschreibung des Duden aus, der Gesten als „spontane oder bewusst eingesetzte Bewegung des Körpers, besonders der Hände und des Kopfes, die jemandes Worte begleitet oder ersetzt“ umschreibt, sind Gesten eindeutig von verbaler Kommunikation abzugrenzen und der nonverbalen Kommunikation zuzuordnen. Basierend auf dieser Erkenntnis soll im folgenden die Frage geklärt werden, wie nonverbale Kommunikation funktioniert und welche Möglichkeiten sie der Interaktion eröffnet.

Abb. 03 Du bist dran


DU BIST DRAN


Nonverbales Kommunikationsverhalten

Zur Beschreibung des nonverbalen Kommunikationsverhaltens in Gesprächssituationen hat Klaus Scherer die verschiedenen Funktionen im Vergleich zur gesprochenen Sprache untersucht und folgende Möglichkeiten herausgestellt. Demnach kann sich nonverbale Kommunikation auf verbale Äußerungen beziehen – diese also unterstützen, abschwächen, ersetzen oder sogar widersprechen. Es dient des weiteren der Koordination sowie Synchronisation der verschiedenen Kommunikationskanäle, reguliert den Gesprächsablauf und dient letztendlich auch als Bekundung von Persönlichkeitszügen und emotionalen Befindlichkeiten. 8 Innerhalb einer Gesprächssituation verhalten sich die einzelnen Kommunikationskanäle dabei häufig redundant, d.h. die jeweils beabsichtigte Information wird gleich mehrfach ausgesendet. Dieses Bestreben ist insbesondere auf die Absicht zurückzuführen, jegliche Verständigungsprobleme zu vermeiden und eventuelle Übertragungsfehler auszuschliessen. Mimik, 9 Gestik und Körperhaltung 10 sowie gegebenenfalls „Objektkommunikation“ 11 treten also häufig gemeinsam auf. Dies ermöglicht dem Sprecher, sich und die beabsichtigte Information viel umfassender zu ar-

tikulieren – einschließlich der Kommunikation von Persönlichkeitszügen oder der Beziehung zu anderen Menschen. In den meisten Situationen liefert die redundante Kommunikation zwar keine zusätzliche Information, verstärkt jedoch ihre Wirkung und senkt die Wahrscheinlichkeit eines Missverständnisses. Das Zusammenspiel der Kommunikationskanäle kann jedoch ebenso der Betonung von Sachverhalten gelten, wie z.B. ausdrucksstarke Handbewegungen, welche die verbale Aussage bestärken sollen. Auch Veränderungen der Schnelligkeit, Lautstärke, Deutlichkeit oder das Einlegen von künstlichen Pausen dienen der gezielten Hervorhebung der gesprochenen Sprache. In seinen Untersuchungen geht Scherer ebenfalls davon aus, dass das nonverbale Kommunikationsverhalten ebenso die Aufgabe der Koordination des Gesprochenen übernimmt. So wird beispielsweise der Sprechrhythmus durch nonverbale Elemente wie das Einlegen von Pausen bestimmt. Diese ermöglichen gleichzeitig die Synchronität respektive zeitliche Parallelität zwischen nonverbalem und verbalem Verhalten, wie das etwa bei verbaler Verneinung und gleichzeitigem „Kopfschütteln“ der Fall ist.


8 vgl. Scherer (1984) in Bekmeier (1989). Anzumerken ist, dass sich Scherer bei seiner Klassifikation auf Morris (1938) bezieht. 9 Nach Schüle definiert Mimik die motorische Ausdrucksveränderungen des Gesichts (vgl. Schüle, 1976, in Bekmeier, 1989, S. 23). Der Gesichtssprache werden vergleichsweise vielfältige kommunikative Einsatzbereiche zugesprochen, da die äußerst differenzierte und komplexe Muskulatur des Gesichts eine große Anzahl von unterschiedlichen Mimiken erlaubt. Das Gesicht wird auch als primärer Ort der Darstellung von Emotionen angesehen. Ekman und Friesen erkannten, dass die nach Ihnen definierten sieben Basisemotionen – Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung – interkulturell gleich und somit genetisch bedingt sind (vgl. Ekman und Friesen, in Argyle, 1975). Gleichzeitig werden im sozialen Lernprozess vom Individuum jedoch ebenso Darbietungsregeln erworben, die den Gesichtsausdruck kontrollieren und steuern. So verweist Argyle darauf, dass mittels Gesichtausdruck Emotionen abgeschwächt, verstärkt neutralisiert oder auch maskiert werden können (vgl. Argyle, 1985, in Bekmeier, 1989, S.24). 10 Nach Argyle bezeichnen die Begriffe Körperhaltung und Körperorientierung nonverbale Verhaltensweisen des gesamten Körpers. Sie beziehen sich auf die Anordnung der einzelnen Körperteile zueinander und ermöglichen die drei Grundhaltungen „sitzen“, „stehen“ und „liegen“ (vgl. Argyle, 1985, in Bekmeier, 1989, S.27). Eine Interpretation der Körperhaltung und -orientierung ist insofern problematisch, da sie von der jeweiligen Kommunikationssituation abhängig ist. Ellsworth und Carlsmith zeigen beispielsweise auf, dass „eine vorgebeugte Körperhaltung in einer angespannten, konkurrenzträchtigen Atmosphäre als Einschüchterungsversuch oder Dominanzverhalten fungiert, während in einer entspannten, lockeren Umgebung dasselbe Verhalten jedoch als freundliche und entgegenkommende Geste gewertet wird“ (Bekmeier, 1989, S.28). 11 Die Objektkommunikation beschreibt das äußere, von materiellen Reizen geprägte Erscheinungsbild einer Person. In der Literatur wird zwischen einer engen bzw. einer weiten Definition unterschieden. Die enge Sichtweise umfasst nur solche Elemente, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zum Körper der Person stehen. Hierzu wird die äußere Erscheinungen gezählt, wie Kleidung, Haare, Barttracht, Schmuck, Schminke und Tätowierung. Dem Gegenüber steht die weite Begriffsdefinition, welche Bereiche des persönlichen Lebensraums miteinbezieht. Dementsprechend wird nicht nur das unmittelbare körperbezogene Erscheinungsbild der Person berücksichtigt, sondern auch materielle Produkte, wie z.B. das Auto oder Eigenheim (vgl. Kroeber-Riel, 1984, in Bekmeier, 1989, S.11).

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SO........ LANG

Nonverbale Kommunikation koordiniert jedoch nicht nur den Sprachfluss des Sprechers, auch kann diese (alternativ zur verbalen Sprache) ein Gespräch regulieren, d.h. steuern, wann jemand im Gespräch zuhört und wann jemand spricht. Dies kann etwa eine sich vorneigende oder zurücklehnend gelangweilte Körperhaltung sein. Ist der Einsatz von Körpersprache nicht möglich, müssen die Beteiligten immer durch Sprache darauf hinweisen, wann sie ihren Teil beendet haben. Exemplarisch für eine solch (umständlichere) Situation ist die Kommunikation bei Militärs, wo zur Regulierung von Funksprüchen stets das Wort „Over“ stellvertretend für die Beendigung eines kurzen beziehungsweise „Over and Out“ für die Beendigung eines kompletten Funkspruchs zugefügt werden muss.

Abb. 04 So Lang


Wirkungsfeld der Geste in Abgrenzung zur verbalen Sprache

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Die Hände waren vermutlich nicht nur das erste Kommunikationsmittel, sondern lange Zeit auch das wichtigste. Bevor Menschen anfingen zu sprechen nutzten sie zur Artikulation ihre Hände. Dementsprechend waren sie vermutlich nicht nur das erste Kommunikationsmittel, sondern lange Zeit auch das wichtigste. Erst als die Menschen anfingen sich aufzurichten und sich ihr Kehlkopf ausformte, kam auch der verbale Ausdruck hinzu. Trotz dieser Entwicklung werden Worte nach wie vor von Hand-, Körper- und Gesichtsbewegungen begleitet. Gesten sind vielmehr sogar zwingend notwendig und an etlichen Stellen der Kommunikation vorgesehen, zum Beispiel bei Größen oder Formen – wenn also jemand sagt etwas ist „so“ groß oder „so“ lang. Eine genaue Vorstellung vom beschriebenen Maß erhält man nur durch die zugehörige Geste. Dementsprechend kann eine Sprache erst durch die Ergänzung von Körpersprache (insbesondere Gesten) ihr Potenzial vollkommen ausschöpfen. Dies geschieht üblicherweise immer dann, wenn jemand nicht in der Lage ist einen Sachverhalt mit Wörtern auszudrücken, sich also kein ausreichend differenzierter Wortschatz findet und der Sprecher überfordert ist. Für Formen beispielsweise gibt es nur sehr wenige Umschreibungen. Auch für die Zuweisung von Personen oder Gegenständen, das Anzeigen von räumlichen Beziehungen und Bewegungen, der Vorgabe von Tempo und Rhythmen oder dem Nachzeichnen von Bildern werden oftmals Gesten als Ergänzung von verbaler Sprache genutzt. 12 Diese finden in den seltensten Fällen wirklich bewusst statt. Vielmehr ist sie ein fester Bestandteil jeder analogen Kommunikation und erfolgt daher zumeist automatisch. 13

12 vgl. Adam Kendon (2012) in Deutschlandfunk 13 vgl. Ekman und Friesen (1969) in Argyle (2002), S.220


ICH PEACE SCHWÖRE / VICTORY


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Nicht zufällig sind Gesten ähnlich aufgebaut wie Worte. Während Worte aus einzelnen Buchstaben bestehen, basieren die meisten Gesten aus einer Kombination von einzelnen Stellungen oder Bewegungen von Körperteilen. Wird eine Komponente verändert, ergibt sich ein völlig neuer Sinn, wie etwa die Handhaltung beim Schwören verdeutlicht: Zeigefinger und Mittelfinger zeigen senkrecht und parallel positioniert nach oben. Gleichzeitig berühren sich Daumen und Ringfinger. Würden Zeigefinger und Mittelfinger nicht parallel verlaufen, sondern sich voneinander abspreizen, wird aus der Geste des Schwörens die Geste des Sieges beziehungsweise ein „V“, welches in vielen Kulturen stellvertretend für „Victory“ steht. Genauso verhalten sich Worte. Jedes beliebige Wort setzt sich aus zuvor definierten Buchstaben in einer festgelegen Reihenfolge zusammen. Nur so ist es eindeutig und behält seinen Sinn. 14 Während sich die Gestik in ihrer grammatikalischen Struktur den Wörtern ähnelt, ist der zeitliche Zusammenhang überaus flexibel. So kann eine Geste dem gesprochenen Wort folgen, zeitlich übereinstimmen oder sogar vorausgehen. Dies wird beispielsweise bei Ablehnung besonders deutlich. Bereits bevor man seinem Gegenüber sagt „dem kann ich nicht zustimmen“, wird dieser in der Regel eine entsprechende Haltung mit eventuell überkreuzten Armen und kritischem Gesichtsausdruck wahrnehmen.

Abb. 05 Ich schwöre Abb. 06 Frieden / Sieg 14 vgl. Ellen Fricke (2012) in Die Grammatik der Gesten


15 Gebärden ersetzen die Lautsprache dauerhaft und bilden ein eigenes grammatisches System. Gesten hingegen besitzen ein eigenständiges Vokabular, integrieren sich jedoch in die grammatischen Strukturen verbaler Sprache – sie bilden daher kein eigenständiges System. Die Zeichensprache orientiert sich demnach an der Lautsprache der Sprecher (vgl. Claudia Müller in Innovations Report, 2012).

Vielseitige Möglichkeiten bestehen ebenso im inhaltlichen Zusammenhang zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation. Als Begleiter der gesprochenen Sprache spiegeln Gesten dabei das Wort nicht nur in ihrer eigenen Form wieder, vielmehr werden Wörter ergänzt und zusätzliche Botschaften transportiert. Wie bereits aus der Beschreibung des nonverbalen Kommunikationsverhalten ersichtlich wird, können sie beispielsweise als Wiederholung, Ergänzung, Abschwächung oder Betonung des Gesprochenen dienen. Dem entgegengesetzt können Gesten Worte zudem ersetzen. Die von Gehörlosen genutzte Gebärdensprache 15 kann die verbale Sprache sogar gänzlich ablösen und entsprechend alle bekannten grammatikalischen Formen bilden – inklusive Fälle und Zeiten. Solche Signale drücken sich zum Beispiel auch in Trauer, Resignation und Aggression aus. So werden Worte oftmals durch gewaltsame Handlungen oder stark emotionale Verhaltensweisen ersetzt. Gestik muss Sprache jedoch nicht zwingend unterstützen oder ersetzen, denn darüber hinaus können Gesten dem verbalen Ausdruck auch widersprechen. Sieht man einmal von Situationen ab, in denen Gestik zwingend erforderlich ist, vermag die verbale Sprache ohne Unterstützung ein Anliegen durchaus präzise zu formulieren. Die gesprochene Sprache lässt sich jedoch in Struktur und Inhalt leicht kontrollieren. Bei der Geste ist dies hingegen nicht so einfach. Dies zeigt sich zum Beispiel häufig in emotionalen Situationen wie der Trauer. Ein Widerspruch wird schnell offensichtlich wenn jemand unter Tränen beteuert, es sei alles in bester Ordnung. Während die Wortsprache die Möglichkeit besitzt die Kommunikation von Befindlichkeiten und Emotionen zu beeinflussen oder auch ganz auszublenden, ist die Gestik direkt mit den


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C

Gefühlen des Sprechenden verbunden. Demnach vermittelt die Wortsprache, im Gegensatz zur Gestik, nur bedingt Aufschluss über die tatsächliche Gefühlslage des Sprechers. Wie der deutsche Anthropologe Christoph Wulf anmerkt gelten Gesten daher

„als zuverlässigerer Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen als die stärker vom Bewusstsein gesteuerten Worte“. 16 Nach Wulf vermag die Geste daher gegenüber der Sprache verbale Aussagen gegebenenfalls zu enttarnen beziehungsweise zu widerlegen. Widersprüchliche Aussagen können sich bewusst oder unbewusst ausdrücken. Bewusst widersprechende Aussagen werden häufig getätigt, um unangenehme Situationen oder Offenbarungen zu umgehen oder sind mit Sarkasmus und Ironie verbunden. Unbewusst widersprüchliche Kommunikation ist häufig mit Unsicherheit verbunden. Vermag jemand beispielsweise etwas verbal nicht klar auszudrücken, erzeugt dies in Kombination mit den automatisch einsetzenden Körpersignalen einen uneinheitlichen Ausdruck.

Abb. 07 Gebärdensprache

16 Christoph Wulf (2011) S.7


Formen der Geste Aufgrund der bisher gesammelten Erkenntnisse kann man nicht mehr von nur einer – also der Geste – sprechen, sondern muss diese in Erscheinungsform und Verwendungszweck unterscheiden.

Einen solchen Ansatz liefern die Psychologen Paul Ekman und Wallace Friesen, indem sie das gestische Verhalten in fünf Kategorien unterteilen. 17 Dabei berücksichtigen sie insbesondere die Funktion der Geste, Konvention sowie Beziehung zur verbalen Kommunikation. Davon ausgehend, dass eine Fülle an Körperbewegungen, wie das „Kratzen“ und „Husten“, nicht bewusst erfolgen, wird das Verhalten zusätzlich in bewusste und unbewusste Ausdrucksformen gegliedert beziehungsweise die Absicht einer Kommunikation für die Klassifizierung berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wird in der jüngeren Literatur zwischen primären (Gesten, die allein der Kommunikation dienen) und sekundären Gesten (beiläufige Handlungen, die eine andere Funktion haben, jedoch beiläufig eine Information übermitteln). Sekundäre Gesten können aber auch die Funktion einer primären Geste übernehmen, wenn beispielsweise innerhalb eines Gesprächs demonstrativ gegähnt wird. Weiterhin unterscheiden Ekman und Friesen zwischen informativer, kommunikativer und interaktiver Ausrichtung als Beschreibung für die jeweils unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung des nonverbalen Verhaltens. 18 Die Verhaltensweise ist in diesem Sinne informativ, wenn sie dem Empfänger eine Information liefert, welche über die Erkenntnis der bloßen Existenz hinaus geht.


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Sofern eine Absicht des Senders vorliegt, wird dies als kommunikative Verhaltensweise beziehungsweise Ausrichtung betrachtet. Löst die Kommunikation wiederum eine Reaktion auf das Verhalten des Empfängers beziehungsweise Interaktionspartners aus, wird dies als interaktives Verhalten bezeichnet. Dies kann kann eine „winkende Hand“ als Antwort auf einen Gruß sein und dementsprechend auch als „Antwortverhalten“ betrachtet werden. Eine weitere wichtige Komponente ihres Differenzierungsmodells sehen die Psychologen im Kontext des Kommunikationsprozesses beziehungsweise in der jeweiligen Situation. Unterschieden wird in diesem Fall zwischen Ausdrucksformen, die vor allem in Gesprächssituationen geäußert werden und menschlichen Verhaltensweisen, welche auf die Persönlichkeit des Senders zurückzuführen sind (beispielsweise ein fröhlicher Gesichtsausdruck in Verbindung mit der Emotion „Freude“).

17 Klassifizierung nach Ekman und Friesen (1969) in Bekmeier (1989) 18 vgl. Ekman und Friesen (1981) in Bekmeier (1989), S.19


Fünf Kategorien gestischen Verhaltens Aufbauend auf den zuvor beschriebenen Klassifizierungsmerkmalen werden Gesten wie folgt unterschieden: Embleme Primäre Geste

Illustratoren Primäre Geste

Bei Emblemen handelt es sich um standardisierte Handlungen, die eine direkte verbale Übersetzung besitzen. Die Kategorie der Embleme beinhaltet auch die Gebärden. Wichtig für eine erfolgreiche Verständigung ist, dass der Empfänger ihre Bedeutung kennt, da die Zeichen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Bedeutung stehen müssen. Embleme werden vor allem dort eingesetzt, wo eine verbale Kommunikation nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Embleme sind konventionalisierte, sprachersetzende Gesten. Illustratoren beschreiben informative, kommunikative Handlungen, die eng mit der Sprache zusammenhängen. Sie werden vom Sender bewusst verwendet und vom Empfänger als kommunikative Signale beachtet. Ihre Kodierung erfolgt in der Regel ikonisch oder auch intrinsisch, 19 die Signale stehen also in einem unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Bedeutung. Zu den Illustratoren zählen beispielsweise Zeigegesten oder Bewegungen, die eine räumliche Dimension abbilden. Beim Einsatz dieser Zeichen sollte sich der Sender allerdings darüber im klaren sein, dass Illustratoren eine kulturspezifische Bedeutung haben. So besitzt z.B. das „Kopfschütteln als Verneinung“ in verschiedenen Kulturen eine gänzlich andere Bedeutung. Illustratoren sind nicht konventionalisierte, sprachbegleitende Gesten

19 Intrinsisch meint, dass die Geste unmittelbarer Bestandteil der Kommunikation ist, d.h. sie hat eine direkte Verbindung zum Bezeichneten. Beispielsweise wenn in einem Streitgespräch eine Person eine andere schlägt (vgl. Ekman und Friesen, 1984 in Bekmeier, 1989, S.20).


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Regulatoren Primäre Geste

Adaptoren Sekundäre Geste

Affektdarstellugen Sekundäre Geste

Die Regulatoren beziehen sich auf erlernte Verhaltensweisen, die im Interaktionsfluss als unterstützendes gestisches Feedback auftreten und dort die Steuerung des Ablaufs übernehmen können. Von dem Zuhörer ausgeführt, geben sie dem Sprecher an, ob er verstanden wird, ob er seine Äußerungen erklären oder sich beeilen soll. Auch können sie auf die Bereitschaft verweisen, die Sprecherrolle zu übernehmen. Regulatoren besitzen eine unbewusste Kommunikationsabsicht Als Adaptoren bezeichnet man Gewohnheiten, die dazu dienen, selbstbezogene oder körperbezogene Bedürfnisse zu befriedigen und über personenbezogene Zustände informieren. Sie werden zumeist unbewusst durchgeführt und treten im Rahmen einer Interaktion auf – haben aber inhaltlich keinen Bezug. Zu den beispielhaften Verhaltensweisen dieser Art zählen „Reiben“ bzw. „Kratzen“ des Körpers. Adaptoren besitzen keine Kommunikationsabsicht. Affektdarstellungen (Affect Displays) sind Ausdrucksformen, die auf emotionale Zustände zurückzuführen sind. Die Mimik des Menschen wird als vorrangiger Träger der Affektdarstellungen betrachtet, wobei auch die Gestik Emotionen signalisiert und insbesondere die Intensität widerspiegelt. Ein typisches Beispiel hierfür ist das „Zittern der Hände“ bei Aufregung. Es besteht kein notwendiger, aber ein möglicher Bezug zur Rede. Affektdarstellungen besitzen keine Kommunikationsabsicht.


Zwischenfazit Wie zuvor festgestellt, existieren Gesten, welche die Identität des Menschen mitteilen – und dies auf authentischere Weise, als dies beispielsweise die verbale Kommunikation vermag. Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, welche Form der Geste Informationen bezüglich der Identität kommuniziert. Anschließend wird in Kapitel 3 erörtert, wie vertrauenswürdig der jeweilige Ausdruck ist. Da sich sekundäre Gesten direkt auf den Körper beziehen und ohne Kommunikationsabsicht auftreten entziehen sie sich einer bewussten Kontrolle des Senders. Ihnen kommt daher eine wesenetliche Bedeutung zu. Dem entgegengesetzt scheinen primäre Gesten hingegen, sehr viel anfälliger für eine bewusste Einflussnahme, da sie bewusst zur Kommunikation eingesetzt werden. Die zuvor erstellte Klassifizierung dient nun als Grundlage, um die jeweiligen Einflussfaktoren der Geste in Bezug auf Ausdruck und Wahrnehmung der Identität zu untersuchen.


2


Die Geste als Ausdruck der Identität Die Wahrnehmung der Identität ist eine Schnittmenge von unterschiedlichen Merkmalen

Nonverbale Signale übermitteln alle möglichen Informationen über den Sender. Eine Dekodierung respektive Interpretation der Identität ist entsprechend eine Schnittmenge von Faktoren, wie Stimme, Verhalten und persönlichen Eigenschaften. In diesem Zusammenhang beschreibt Argyle die Identität einer Person durch die Differenzierung der folgenden Faktoren: 1. Körperliche Merkmale wie Größe, Hautfarbe, Haartracht, etc. 2. Körperliche Attraktivität wie Alter, Geschlecht, Rasse, Beruf, Religion, etc. 3. Persönlichkeit wie Extraversion-Intraversion, Dominanz, etc. 20 Insbesondere die Wirkung der körperlichen Attraktivität gewinnt im öffentlichen Leben immer mehr an Bedeutung. Wir werden zunehmend gezwungen unsere Identität als Marke zu verkaufen. In diesen Situationen schlüpfen wir mehr oder weniger bewusst in eine „zweite Haut“ und passen uns den Anforderungen und Gegebenheiten, wie beispielsweise gesellschaftlichen Regeln, sowie unserem Gegenüber an. Das selbe Individuum legt demnach entsprechend der Situation unterschiedliche Verhaltensstile 21 an den Tag. In diesem Zusammenhang kann die körperliche Attraktivität betrachtet werden als die

“Schnittmenge verschiedener sozialer Rollen.” 22

20 vgl. Argyle (2005) S.13 21 Verhalten entsteht in dem Zusammenwirken persönlicher Eigenschaften mit den jeweiligen Situationsmerkmalen (vgl. Argyle. 2005. S.133) 22 Simmel (1890) 23 vgl. Argyle (2005) S.341


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Merkmale der Identität

Beeinflussung durch Selbstdarstellung

Wahrnehmung der Identität als Schnittmenge Körperliche Merkmale

Körperliche Attraktivität

Persönlichkeit

Identität

Beeinflussung durch Selbstdarstellung der sozialen Rollen

Soziale Rollen

Körperliche Attraktivität

Der Parameter “Körperliche Attraktivität” hängt von der jeweiligen sozialen Rolle ab und muss daher als Variable betrachtet werden. Durch die Anpassung an eine sozialen Rolle nimmt diese auch Einfluss auf die anderen Parameter der Identität indem diese bewusst inszeniert beziehungsweise manipuliert werden.


Die Ausführung von Gesten in gesellschaftlichen Situationen ändert sich in Abhängigkeit von äußeren Gegebenheiten. Unterschiede lassen sich schon im Vergleich von Geschlecht und Klasse in Bezug zu sozialen Situationen feststellen, beispielsweise in der Art wie Männer und Frauen sitzen, d.h. welchen Raum sie dabei einnehmen und wie sie ihre Beine beim Sitzen arrangieren. Auch unterscheidet sich unser Kommunikationsverhalten unter Freunden von dem mit Vorgesetzten. Ein Arbeitnehmer wird beispielsweise wesentlich angespannter vor seinem Arbeitgeber sitzen, als umgekehrt. Nach Argyle wirkt Fröhlichkeit beispielsweise fördernd auf die Beweglichkeit, Angst hingegen verkrampfend. 23 Gesten sind demnach kontextspezifisch. Um die von uns in der jeweiligen Situation erwartete Rolle einzunehmen, wird der Körper beziehungsweise die Körpersprache dann als bewusstes Ausdrucksmittel eingesetzt. Bei der

ENTSPANNT

Gestik ist dann nicht entscheidend, welche Signale wir übermitteln wollen, sondern welche Signale andere empfangen. Persönlichkeitsmerkmale erzeugen unmittelbar und unwillkürlich und ohne jede Mitteilungsabsicht nonverbale Signale. Ein nervöser Mensch zittert und schwitzt, Leute aus verschiedenen Regionen oder Gesellschaftsschichten sprechen mit einem jeweils spezifischen Akzent. Manche Leute können jedoch Signale gezielt einsetzen, um bestimmte Merkmale hervorzuheben beziehungsweise eine andere Version der Persönlichkeit zu präsentieren. Um den Einfluss der Geste auf Identität evaluieren zu können, müssen wir daher untersuchen was genau wir unserem Gegenüber mittels Gestik über die eigene Persönlichkeit authentisch verraten und anschließend mit den Faktoren abgleichen, die diese Darstellung beeinflussen beziehungsweise manipulieren können. Zuvor soll jedoch untersucht werden, wie Identität überhaupt entsteht.

VERKRAMPFT

Abb. 08 Entspannung Abb. 09 Verkrampfung


Die Entstehung der Identität

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Laut US-amerikanischer Psychologen George Herbert Mead entwickelt sich die Identität des Menschen in Folge der Ausführung von Sprache, Spiel und Wettkampf. Sprache

siehe auch: Die Geste als soziale Handlung

siehe auch: Die Geste im kulturellen Gebrauch Spiel

Zunächst differenziert er die Sprache der Worte, der Gesten und der Mimik. Mit jeder dieser Kommunikationskanäle löst eine Person durch sprachliche Hinweise (beispielsweise durch einen bestimmten Gesichtsausdruck oder ein gesprochenes Wort) bestimmte Reaktionen, sowohl bei anderen wie auch bei sich selbst, aus. In den überwiegenden Fällen, wird die Reaktion bei den Interaktionspartnern gleich ausfallen. In Ausnahmefällen unterscheidet sich diese jedoch – zum Beispiel, wenn man jemanden erschreckt. Dieser Mechanismus – also das gegenseitige Verständnis beziehungsweise die Entstehung der selben Wirkung auf den gleichen, gesellschaftlich konventionierten Reiz – ist essentiell und Bedingung für das Zustandekommen eines Gesprächs. Der Sinn von Sprache im Allgemeinen und Gesten im speziellen ist demnach, dass eine zweite Geste auf die vorausgegangene erste Geste angemessen reagiert. Der zugrunde liegende Kommunikationsprozess findet dabei grundsätzlich in Form von Zeichen statt, d.h. Objekte werden mit Zeichen respektive Symbolen besetzt. Damit die Kommunikation gelingt, müssen die Zeichen sowohl beim Sender, wie auch beim Empfänger, die gleiche Bedeutung hervorrufen. Dies bedingt, das Zeichen Allgemeinbegriffe sind. (siehe auch Die Geste als Zeichen) Oftmals ist diese Vorraussetzung jedoch nicht gegeben und kann zu Missverständnissen führen (siehe auch die Geste kulturellen Gebrauch). Nach Mead ist die zweite Form, welche die Entwicklung der Identität beeinflusst, das Spiel. Er bezeichnet dies als die einfachste Form der Identitätsbildung und differenziert dabei das Rollenspiel vom nachahmenden sowie vom Wettspiel.


Am Beispiel spielender Kinder zeigt er auf, dass Menschen sich beim Rollenspiel – also in ihrer Phantasie – in unterschiedliche Persönlichkeiten respektive Rollen versetzen und auf diese Weise unterschiedliche Reaktionen kennenlernen. Dies gilt ebenso für die Kategorie des nachahmenden Spiels, wie es beispielsweise das Cowboy-Indianer-Spiel darstellt. Auch innerhalb diesem setzen sich Kinder mit unterschiedlichen Reiz-Reaktionen auseinander. Dem entgegengesetzt beschreibt Mead das Wettspiel, bei dem die Person vielen Reizen ausgesetzt ist. Diese lösen zwar die gleichen Reaktionen wie bei den Mitstreitern aus, jedoch muss er sich in alle anderen Mitspieler gleichzeitig hineinversetzen, während dieser beim einfachen Spiel nur eine Rolle übernimmt. Wettkampf

siehe auch: Die Geste als Ritual

Die dritte Form zur Entstehung der Identität ist der Wettkampf – in Anlehnung an das Wettspiel. Hier macht Mead darauf aufmerksam, dass jede eigene Handlung auch von den Annahmen über die voraussichtlichen Handlungen der anderen Spieler bestimmt wird. In diesem Sinn, muss jeder Spieler auch jeder andere Spieler sein. Verbunden sind diese durch das gemeinsame Ziel. Die Gruppe (Mead beschreibt dies am Beispiel einer BallsportMannschaft) überträgt dem Einzelnen dann eine „generalisierte“ Identität. Damit eine Gemeinschaft beziehungsweise gemeinsame Identität bestehen kann, muss bei allen Mitgliedern die gleiche Haltung vorhanden sein. Eine solche „organisierte Reaktionsgruppe“ ermöglicht dann, das gemeinsame Ziel zu verfolgen – ermöglicht also eine Abstimmung, beispielsweise einem Mitspieler nicht den Ball zu entreissen oder zu foulen. Durch diese „Generalisierung“ übt die Gemeinschaft Kontrolle über das Verhalten des Individuums aus und formt somit auch seine Identität. Eine Persönlichkeit wird daher auch immer durch die Anpassung beziehungsweise Zugehörigkeit(en) zu Gemeinschaften geprägt.


Die Geste als soziale Handlung

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Die Bedeutung der Gestik für soziale Interaktionen, zeigt sich bereits im „nicht vorhanden sein“ einer nonverbalen Handlung während der Kommunikation. So wird durch das Fehlen einer solchen, wie etwa die Weigerung jemanden die Hand zu schütteln, eine wichtige Information vermittelt und verstanden. Auch sind in diesem Zusammenhang die während einer Interaktion ausgestrahlten nonverbalen Signale den verbalen sehr ähnlich. Denn bereits geringe Unterschiede in der Blickrichtung können die Bedeutung, ähnlich der Veränderung von Buchstabenreihenfolgen bei Wörtern, essentiell verändern. Gesten erfüllen die Funktion „Reaktionen der anderen hervorzurufen, die selbst wiederum Reize für eine neuerliche Anpassung werden, bis schließlich die endgültige gesellschaftliche Handlung zustande kommt.“ 24 Nimmt eine Geste Bezug auf andere Menschen, kann sie demnach als „sozial“ beziehungsweise als soziale Handlung bezeichnet werden. Das Verhalten einer Person, beispielsweise die Bewegung der Hand, stellt einen Reiz dar, welcher beim Interaktionspartner eine Reaktion auslöst. Der Reiz signalisiert den Beteiligten im Grunde, was die Person tun will beziehungsweise empfindet.

„Wir registrieren die Ausdrucksformen zwar nicht bewusst, jedenfalls in der Regel nicht, es wäre keine Zeit, jeden Zug gedanklich festzuhalten, aber wir nehmen unbewusst alles auf, was wir [...] beobachten.“ 25

24 vgl. Mead (1968) 25 Leonhard (1976) S.259f


Gesten schaffen Vertrautheit mit dem Menschen

Persönlichkeitszüge und emotionale Befindlichkeiten werden in diesen Situationen jedoch unbewusst artikuliert, wahrgenommen sowie auf sie reagiert. Dennoch, auch wenn wir Botschaften eher unbewusst wahrnehmen und auf sie reagieren, als das sie zu bewusstem Aktionen und Wissen über andere werden, ist ihre Bedeutung äußerst groß. Der Mensch ist geprägt von Eindrücken und Erfahrungswerten des sozialen Miteinanders innerhalb einer Gesellschaft. Aus diesen Erfahrungen bildet sich das sogenannte soziale Wissen, an dem er sich orientiert und welches ihn in seinen Entscheidungen und in seinem Verhalten beeinflusst. Der Mensch lässt sich demnach selbst durch persönliche Erfahrungen sowie gesellschaftliche Erwartungen und Strukturen, in seinem freien und unabhängigen (sozialen) Verhalten einschränken und kontrollieren.

„Gesten sind mimetische Bewegungen des Körpers, mit denen sich der Mensch der Welt ähnlich macht und sie sich aneignet und in denen er sich zur Darstellung bringt und ausdrückt.“ 26 Nach Wulf und Gebauer ist die Geste daher ein Ausdrucksmittel von etwas bereits Bekanntem beziehungsweise von persönlichen Eindrücken und Erfahrungen. Durch Gesten äußert sich die Person und erfährt über die Reaktionen anderer Menschen, wer er ist beziehungsweise wie seine Identität von anderen wahrgenommen wird.

26 Gebauer und Wulf (1998) S.85


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Der Wunsch nach Ähnlichkeit sollte dabei jedoch nicht mit Imitation, also einer exakten Nachahmung verwechselt werden. Vielmehr wird das vorhandene soziale Wissen an unterschiedliche Gegebenheiten und Situationen angepasst. Dennoch lässt die Nachahmung beziehungsweise die Wiederholung einer bereits gemachten Handlung die jeweilige Geste vertraut wirken und menschliches Verhalten kalkulierbar erscheinen, da trotz der Anpassung ein Wiedererkennungseffekt bestehen bleibt.

„Über die Vertrautheit mit bestimmten Gesten stellt sich Vertrautheit mit einzelnen Menschen und Gruppen ein.“ 27 Die Geste ist somit nicht nur Ausdruck und Darstellung von Persönlichkeitszügen und Stimmungen, sondern vielmehr auch Ausdruck von körperbezogenem praktischen Wissen – dem sogenannten sozialen Wissen – welches durch mimetische (nachahmende) Prozesse erlangt wird. Dieses Wissen ermöglicht dem Menschen Gesten einzusetzen, zu verändern und Neue zu entwerfen. Es sichert dementsprechend die Fähigkeit sich bzw. die Gesten an unterschiedliche soziale Situationen anzupassen und zu kontrollieren. 28 So kann die Geste eingesetzt werden, um zu signalisieren, was die Person zu tun gedenkt beziehungsweise um dem Interaktionspartner verstehen zu geben, was dieser tun soll.

27 Wulf (2010) S.289 28 vgl. Wulf (2010) S.289f


Die Geste als Zeichen Ein Kommunikationsprozess ist immer auch ein Zeichenprozess.

Roland Burkart macht darauf aufmerksam, dass allein durch die Bedeutung eines Zeichens, dieses auf etwas hindeutet. Es deutet dabei nicht auf sich selbst, sondern stets auf etwas, dass sich von dem Zeichen selbst unterscheidet und sinnlich erfahrbar ist. Das Zeichen ist somit Stellvertreter oder Repräsentant für etwas (das nicht gegenwärtig ist). Das können beispielsweise materielle Gegenstände sein, aber auch Körperbewegungen. 29 Demzufolge ist auch die Geste ein Zeichen. In diesem Zusammenhang wird üblicherweise zwischen natürlichen (Primäre Geste) und künstlichen Zeichen (Sekundäre Geste) sowie den Typen Index, Ikon und Symbol differenziert. Erstere werden als natürliche Zeichen beschrieben, da diese von dem (Referenz-)Objekt verursacht werden. Sie entstehen demnach ohne eigene Kommunikationsabsicht. Zum Beispiel wird Rauch im Allgemeinen als Anzeichen für Feuer gewertet, ohne das uns das Feuer selbst seine Existenz mitteilen möchte. Vielmehr besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Objekt und Zeichen. So sind sie die Folge oder natürliche Begleiterscheinung eines Phänomens, das auch technischer Ursache sein kann. Zum Beispiel kann ein Ölfleck Anzeichen für einen Motorschaden oder eine gerissene Ölwanne sein. Das Zeichen übernimmt während des Prozesses die Eigenschaften des Objektes auf das verwiesen wird und geht daher eine natürliche Verbindung mit diesem ein. 30 Natürliche Zeichen sind nicht konventionalisiert, sondern vielmehr ein spontan erfundenes Anzeichen beziehungsweise Index. 31 Wegen ihres pantomim-

29 vgl. Burkart (2002) S.46


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ischen Charakters sind sie aber in der Regel jederzeit verständlich. Selbst wenn eine Geste aus einem individuellen Zusammenhang heraus entsteht und keine allgemein vorherrschende Übereinkunft der Bedeutung getroffen ist, wird sie üblicherweise problemlos verstanden. Dem entgegengesetzt ergeben sich künstliche Zeichen oftmals nur aufgrund einer Konvention, da sie explizit mit der Absicht der Kommunikation geschaffen werden. Damit sind sie das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen Menschen, welche in der Regel bereits vor der eigentlichen Interaktion getroffen wurde. Künstliche Zeichen können als Ikon oder Symbol auftreten. Ikone sind bildhafte beziehungsweise ikonische Zeichen, d.h. sie bilden ab, was sie repräsentieren. Das Ikon ermöglicht demnach einen Bedeutungsinhalt zu vergegenwärtigen ohne das dieser anwesend ist. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit sind ikonische Zeichen in der Regel auch verständlich, ohne das es einer zuvor getroffenen Übereinkunft der Bedeutung bedarf. Symbolische Zeichen hingegen sind wesentlich abstrakter und bedingen zwangsläufig einer zuvor getroffenen Konvention. Diese Konvention ist das Ergebnis einer Wahl und Bestandteil einer sozialen Übereinkunft. Um Symbole verstehen und nutzen zu können, muss gegebenenfalls zuvor ein aufwendiger Konventionalisierungs- und/oder Lernprozess 32 durchlaufen werden, da zwischen Referent und Zeichen keine bildhafte Übereinstimmung mehr besteht. In diese Kategorie fallen zum Beispiel auch Wörter. So kann das Wort „Auto“ als konventionalisiertes Zeichen für das Fortbewegungsmittel genutzt werden, 30 vgl. Beck (2010) S.22ff 31 vgl. Beck (2010) S.22ff


Beim Erlernen der Gestik tastet sich der Mensch Schritt für Schritt vorwärts. So übt sich der Mensch schon früh im Gestikulieren beziehungsweise in der Interaktion mittels Gesten. Bereits als Kleinkind wird eine Reaktion auf Zeichensprache mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft. Während des Lernprozesses wird uns bewusst, dass Abwandlungen der Ausführung zu veränderten Reaktionen führen kann und das eine gleich ausgeführte Geste zu identischen Reaktionen bei unterschiedlichen Gesprächspartnern führt d.h. eine gewisse Konvention in Ausführung und Wirkung entsteht.

32 Vorraussetzung für das Verständnis und Erlernen von symbolischen Zeichen ist die Konvention. Konvention für die verbale Sprache sind Lexika, welche somit gleichzeitig als Vorlage für jeglichen Gebrauch und das Erlernen von Sprache dienen – ob direkt oder indirekt vermittelt durch den Sprachgebrauch unseres Umfelds. Anders verhält es sich mit der Gestik, da hier weder Lexika noch Alphabet existieren, an denen man sich orientieren kann (abgesehen von den sprachersetzenden Gesten beziehungsweise Systemen).

ohne das die Zusammenstellung der Buchstaben A-U-T-O eine (bildhafte) Ähnlichkeit mit dem beschriebenen Objekt aufweist. Symbolische Zeichen können ebenso der Fantasie entsprungene Begriffe (wie Drachen oder Einhörner) oder abstrakte Ideen (wie Gott oder Freiheit) beschreiben. Auf die gleiche Weise können ebenfalls Gesten eingesetzt werden, wie am Beispiel der Gebärdensprache exemplarisch aufgezeigt werden kann – unter der Vorraussetzung, dass alle an der Kommunikation beteiligten Personen dieser Sprache mächtig sind. 33

Demnach können Gesten sowohl konventionalisiert wie auch nicht-konventionalisiert in Erscheinung treten. Deutlich wird jedoch auch, dass die Funktion innerhalb eines Kommunikationsprozesses unterschiedlich sein kann. In diesem Zusammenhang kann das Zeichen respektive die Geste – unerheblich, ob dieses künstlich oder natürlich ist – eine Signalfunktion oder eine Symbolfunktion einnehmen.


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Die Symbolfunktion beschreibt das Zeichen als Repräsentant. Wie am Beispiel des Wortes „Auto“ als Zeichen exemplarisch aufgezeigt wurde, ist zu erkennen, dass Zeichen an die Stelle von etwas anderem treten. Das kann beispielsweise ein Gegenstand, ein Zustand oder auch ein Ereignis sein. Sie dienen dabei dem Zweck, im Bewusstsein der Person eine Assoziation hervorzurufen, welche üblicherweise nur das Bezeichnete selbst beschreibt. Das Zeichen hat eine Signalfunktion inne, wenn es sich unmittelbar auf das Verhalten eines Menschen auswirkt. Signale verleiten demnach zu einer Aktivität und lösen folglich eine Reaktion aus. Künstlich geschaffene Signale sind exemplarisch im Straßenverkehr (Verkehrsschilder) oder Eisenbahnbetrieb (Ampelanlagen) zu finden. Diese vom Menschen geschaffenen (technischen) Signale müssen jedoch individuell erlernt werden. Auch können Signale natürlicher Herkunft sein, welche fürs Überleben oftmals essentiell wichtig sind. Ihre Bedeutung ergibt sich dann meistens intuitiv.

33 vgl. Beck (2010) S.22ff


ALLES OKAY!


Exkurs Die Geste im kulturellen Gebrauch

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Gesten besitzen einen höheren Verständigungsgrad als die verbale Sprache und eignen sich somit für eine kulturell und sprachlich übergreifende Nutzung. Gesten sind vielseitig einsetzbar. Sie dienen als direkte verbale Übersetzung und sind zudem in der Lage eine nicht in Sprache übersetzbare Bedeutung zu transportieren. Dementsprechend haben sie einen höheren Verständigungsgrad als die verbale Sprache und eignen sich somit für eine kulturell und sprachlich übergreifende Nutzung. Im Ausland beispielsweise stellen Gesten oft einen geeigneten Ersatz dar, wenn die eigenen Kenntnisse der Landessprache zur Verständigung nicht ausreichen. Jedoch bestehen auch für diese Art der Unterhaltung kulturelle Unterschiede, welche die Verständigung erschweren können. Gesten sind „Kulturprodukte“. 34 Die Kommunikation von Grundabsichten lässt sich zwar meist durch universell gültige Gesten deuten, viele Gesten sind in ihrer Geltung aber regional beschränkt, d.h. sie können in anderen Ländern entweder gar nicht oder schlimmstenfalls falsch gedeutet werden. Zudem unterscheiden sich Gesten oftmals nicht nur in Bedeutung, sondern zusätzlich in ihrer Ausführung. So gibt es Kulturräume, in denen die Gestenausführung weniger augenfällig ist als in anderen. In Nordeuropa beispielsweise werden Gesten vorwiegend aus dem Handgelenk ausgeführt, während sie in Südeuropa aus der Schulter heraus gemacht werden. 35 Die Unterschiedlichkeit von Ausführung sowie der Bedeutung von Gesten zeigt sich oft bereits in Gesten des täglichen Gebrauchs. Um das Wort “ich” zu signalisieren, zeigen Europäer beispielsweise mit dem Zeigefinger auf den eigenen Bauch oder die eigene Brust. Japaner, die sich selbst meinen, hingegen deuten mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger auf die Nase.

Abb. 10 Alles okay!

34 Claudia Müller (2012) in Innovations Report 35 vgl. Claudia Müller (2012) in Innovations Report


Die meisten Gesten haben ihren Ursprung in einer Handlung

Wer früher das Visier des eigenen Helms hochklappte, machte deutlich, dass er kein Feind ist und nicht kämpfen will. Aus diesen Handlungen mit festen Bedeutungen sind im Laufe der Zeit Alltagsgesten geworden, wie in diesem Fall das Lupfen des Hutes oder das Erheben der Hand heutzutage als freundschaftlicher Gruß gilt. 36 Die Spurensuche nach dem Ursprung einer Geste liefert gleichzeitig auch Hinweise auf die jeweilige Kultur, in der sie angewendet werden. Ein Deutscher der beispielsweise das Wort „Essen“ andeuten möchte, wird vermutlich mit der angedeuteten Bewegung, eine Gabel zum Mund führen. Ein Japaner würde mit der nach oben geöffneten linken Hand eine Suppen- respektive Reisschale andeuten, die er vor den Mund hält und mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger zwei Essstäbchen mimen, die er von der Schale zum Mund führt. 37 Gesten, welche eine Handlung nachahmen, können sich je nach kultureller Entwicklung jedoch auch schnell verändern bzw. ihren Sinn verlieren, wie das Beispiel des Telefonierens als Geste aufzeigt. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde das Drehen einer Wählscheibe des Telefons nachgeahmt, während sich heutzutage lediglich Daumen und Zeigefinger gespreizt an das Ohr gehalten werden – stellvertretend für ein Mobiltelefon. Bei der Entwicklung neuer Gesten beziehungsweise der Aktualisierung von Gesten, werden in der Regel die gestischen Elemente einer Handlung herausgefiltert und den Ansprüchen der Verständigung angepasst (wie zum Beispiel bei der Geste des Telefonierens), oder alternativ neue Formen und Kombinationen entwickelt. 38

36 vgl. Claudia Müller (2012) Innovations Report 37 vgl. Kathrin Dorscheid (2012) in Geo 38 vgl. Wulf (2010)

Abb. 11 Peace / Victory


PEACE / VICTORY


F*CK YOU


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KOMM HER / GEH WEG Wie schnell Gesten zu missverständlichen Situationen führen können, zeigt das folgende Beispiel: „Nein“ wird in der westlichen Welt durch ein Kopfschütteln angedeutet. Dieselbe Bedeutung vermittelt der Japaner, indem er mit der geöffneten rechten Hand vor seinem Gesicht hin und her fächelt. Diese Geste wiederum gilt hierzu Lande als starke Beleidigung. Umgekehrt wird das Kopfschütteln in manchen asiatischen Ländern als „Ja“ aufgefasst. 39 Auch verwirrend ist das japanische „Herwinken“. Dabei wird die Hand vor dem Körper mit den Fingern unten gehalten und vor und zurück geschwenkt. Diese wirkt auf Europäer meist missverständlich, da es der üblichen Geste für „Geh weg!“ ähnlich ist. 40 Wie stark Gesten von Kultur und Bildung geprägt sein können, wird bereits innerhalb Deutschlands deutlich. Während Ostdeutsche mit dem Zeigefinger gegen die Kehle schnipsen, um damit „Wodka trinken“ zu kommunizieren, ist diese Geste im Rest des Landes überwiegend unbekannt. 41

Abb. 12 F*ck you Abb. 13 Komm her / Geh weg

39 vgl. Kathrin Dorscheid (2012) in Geo 40 vgl. Deutsche Industrie- und Handelskammer in Japan 41 vgl. Schreiber in Eddiks (2004)


TELEFON TELEFON NEU ALT


Die Geste als Ritual

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Mit Ausführung der Geste wird eine Identifikation mit der Gemeinschaft beziehungsweise Institution hergestellt.

Per Definition sind Rituale eine Abfolge symbolischer Handlungen, bei denen ein geistiger Wandel stattfindet. In diesem Zusammenhang werden Regelsätze und Glaube als Voraussetzung für Rituale angeführt. 42 Glaube meint dabei nicht zwangsläufig eine religiöse Gottgläubigkeit, sondern kann vielmehr auch meinen, gemeinschaftliche Werte und Vorstellungen zu akzeptieren beziehungsweise sich an diesen zu orientieren. Mit der Ausführung der Geste wird demnach auch eine Identifikation mit der Institution sowie den Werten und Traditionen hergestellt. Diese spezifische Gesten sind oft lexikalisiert und werden somit zu Emblemen der Institution, welche eine Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften bewirkt. In diesem Zusammenhang beschreibt Foucault in „Überwachen und Strafen“ die Ausdrucks- und Darstellungsform des Menschen wie folgt:

„Körpergesten dienen somit dazu, soziale und kulturelle Differenzen herzustellen, auszudrücken und zu erhalten. Sie vollziehen sich in einem historisch-kulturellen machtstrukturierten Kontext, aus dem heraus sich erst ihre Bedeutung erschliesst.“ 43 Insbesondere in Bereichen in denen Repräsentation ein wesentliches Element darstellt, wie in religiösen Institutionen und der Politik, kommt der Inszenierung und der Performance spezifischer Gesten erhebliche Bedeutung zu. Die Aufmerksamkeit der Mitglieder wird auf den repräsentierenden Menschen und seinen persönlichen Ausdruck gelegt, welcher somit zu einem Abb. 14 Telefonieren (Neu) Abb. 15 Telefonieren (Alt)

42 vgl. Duden Online (www.duden.de/rechtschreibung/Ritual) 43 Foucault (1993) S.290


BETEN


BETEN


Kommunikationsinstrument der institutionellen Botschaft beziehungsweise Vermittler der gemeinschaftlichen Identität wird. Die Bedeutung der dabei verwendeten nonverbalen Signale unterscheidet sich wesentlich von verbalen Mitteilungen. Sie enthalten enorme Macht, da Sie im Stande sind, metaphorische Bilder und Gefühle hervorzubringen. Waschen wird dann beispielsweise zur Metapher für die Reinigung der gesamten Gemeinschaft. Lautsprache hingegen eignet sich weniger gut, um subjektive emotionale Erfahrungen beziehungsweise zwischenmenschliche Beziehungen zu beschreiben. Rituale sind Ergebnis kultureller Entwicklung, welche durch Tradition und Erlernen weitergegeben werden. Ist man dem jeweiligen Kulturraum fremd, fällt es oftmals schwer bestimmte rituelle Gesten zu verstehen, da diese in ihrer Bewegung beziehungsweise Haltung frei erfunden sein können oder sich auf eigene theoretische und mystische Vorstellungen beziehen können. Die Mitglieder einer Gemeinschaft müssen daher zwingend über das Wesen der Institution sowie über die Rolle der anderen Mitglieder im klaren sein. Die Übernahme der Verhaltensmuster und Gesten beziehungsweise der jeweiligen sozialen Rolle ist notwendig, um die Aktivitäten der Interaktionspartner aufeinander abstimmen zu können und gemeinsame Identität entstehen zu lassen. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Lesbarkeit und das Verständnis der institutionellen Geste, um die Nachahmung (Mimesis) durch Vertreter und Adressaten zu ermöglichen. Durch den Gebrauch von Symbolen wird also die Identität einer Person und letztendlich einer Gemeinschaft gegenwärtig. 44

44 vgl. Burkart (2002) S.164


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FREUNDLICHER GRUSS

MILITÄRISCHER GRUSS

Gestische Formen des Grüßens besitzen ein außerordentliches Spektrum an Vielseitigkeit. An ihnen lassen sich nicht nur kulturelle Unterschiede aufzeigen, vielmehr werden sie auch zur Identifizierung instrumentalisiert. Der Raum für Untersuchungen reicht von individueller Freiheit bis hin zu extremer Regelbindung, vom Spielerischen bis hin zu Bedrohlichem, beispielsweise im Militär. Dort gilt beispielsweise jede Abweichung oder Vernachlässigung von einem spezifischen gestischen Gruß als Sakrileg und wird entsprechend sanktioniert. So konnte etwa die Nicht-Ausführung des Hitler-Grußes lebensbedrohliche Folgen haben. Auch in diesem Fall ist die Geste Teil eines Rituals beziehungsweise einer gemeinschaftlichen Identität, dem sich der Mensch unterzuordnen hat. Daher muss sie eingeübt, gedrillt werden. Der jeweilige Freiraum variiert stets in Abhängigkeit von den gemeinschaftlichen Regeln.

Abb. 16 Beten Abb. 17 Trauer Abb. 18 Segen

Abb. 19 Beten Abb. 20 Freundlicher Gruß Abb. 21 Militärischer Gruß


Zwischenfazit Entsprechend den Anforderungen einer gesellschaftlichen Situation wird vom Individuum verlangt sich an Situationen anzupassen beziehungsweise eine bestimmte Rolle einzunehmen. Eine solche Rollenübernahme und Verhaltensanpassung muss mitunter inszeniert werden, um den Erwartungen der Gruppe gerecht zu werden. Deutlich wurde, dass Gemeinschaften über eigene (ritualisierte) Gesten verfügen und durch die Ausführung ihre Identifikation ausgedrückt und auf das Individuum übertragen wird. Entsprechend passen sich unsere Gesten an die spezifische Rolle an. Zu unterscheiden sind daher natürliche Gesten, welche Informationen über das Individuum mitteilen und inszenierte Gesten, welche die soziale Rolle kommunizieren. Im Folgenden soll nun geklärt werden, welche Gesten und wie intensiv sich diese in ihrem Ausdruck beeinflussen lassen und folglich auf die natürliche Identität einwirken.


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Die Authentizität der Geste Sparsam eingesetzte Gesten ermöglichen den Eindruck einer „natürlichen“ Haltung des Redners beziehungsweise eine Haltung der Ungezwungenheit. Versuchen wir im Alltag einer bestimmten Rolle gerecht zu werden, müssen wir diese mitunter inszenieren. Politiker beispielsweise, sind gezwungen die Vorstellung und Idee einer ganzen Partei zu personifizieren und ihren Reden gleichzeitig einen vertrauensvollen und starken Ausdruck zu verleihen. Oftmals weist die politische Inszenierung daher deutliche Ähnlichkeiten mit dem Gebrauch der Gesten in der Darstellungskunst auf. Bereits 55 v. Chr. hat Cicero die Bedeutung des Körpers beim Vortrag erkannt und in seiner an politische Redner gerichtete Unterweisung „Über den Redner“ darauf hingewiesen. Demnach hat der Redner nicht nur die Aufgabe, seine Zuhörerschaft zu informieren, sondern vielmehr von seinen Argumenten und Ansichten zu überzeugen beziehungsweise zur Anteilnahme zu bewegen.

„Die Redner, die für die Wahrheit selbst eintreten, dieses ganze Feld geräumt, dagegen die Schauspieler, die die Wirklichkeit doch nur nachahmen, es in Besitz genommen haben. Und ohne jeden Zweifel übertrifft die Wirklichkeit die Nachahmung in jedem Punkt. Doch wenn sie sich von selbst im Vortrag zur Genüge verkörpern würde, so bräuchten wir wahrhaftig keine Kunst.“ 45


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Der Redner muss, will er überzeugen, die erwünschten Gefühle zunächst jedoch selbst glaubwürdig darbieten können. Dies wiederum kann nur gelingen, so Cicero, sofern er während des Vortrags, die Gesten und Gebärden zurückhaltend beziehungsweise authentisch einsetzt.

„All diese Regungen muss aber die entsprechende Gebärdensprache unterstreichen; sie soll die Worte nicht wie auf der Bühne pantomimisch wiedergeben, sondern den gesamten Inhalt der Gedanken andeutend, nicht darstellend, mit energischer, [...] Körperhaltung zum Ausdruck bringen.“ 46 Sparsam eingesetzte Gesten ermöglichen, so Cicero, den Eindruck einer „natürlichen“ Haltung des Redners beziehungsweise eine Haltung der Ungezwungenheit zu erzeugen, welche wiederum das wesentliche Ziel des politischen Redners ermöglicht: Glaubwürdigkeit.

„Willy Brandts Kniefall in Warschau, das war so ein Moment, bewegend im wahrsten Sinne des Wortes: mit dieser Geste hat Brandt polarisiert, mobilisiert, Bewegung ausgelöst. Die Welt war eine andere nach diesem Signal. Man hätte dieselbe Message vielleicht auch in einer Rede ausdrücken können, aber Worte werden leicht überhört. Sprache produziert Missverständnisse. Die Geste dagegen ist Argumentation in ihrer knappsten, effizientesten Form: sie wird auf Anhieb verstanden.“ 47

45 Cicero (2006) in Wulf (2011) S.267 46 Cicero (2006) in Wulf (2011) S.267 47 vgl. Littmann (1995) in Eddiks (2004)


Eine natürliche Haltung, wie sie nach Cicero gefordert wird, ist jedoch relativ und individuell unterschiedlich ausgeprägt. Menschen besitzen beispielsweise jeweils eigene charakteristische Körperbewegungen, Stimmen wie auch Gesten. Selbst wenn

„man eine Spezialbegabung in der Motorik in Rechnung zieht, gibt die Art des Gestikulierens vieles über das Wesen des Menschen kund. Überschwängliche Persönlichkeiten gestikulieren viel und zeigen besonders auch die affektvollen Gesten, die bei ihnen nicht selten zur vollen Ausbildung kommen.“ 48 Vergleichbar mit der Handschrift neigen heitere Personen beispielsweise zu großen Gesten, die in den Bewegungsabläufen weit ausholen, ernste Menschen dagegen eher zu kleinen Gesten. Leonhard zu Folge besteht demnach ein Zusammenhang zwischen Gestik und Persönlichkeit.

48 Leonhard (1976) S.269


Die Inszenierung der Geste

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Die inszenierte Geste wird gelernt und zur Erzeugung einer angestrebten Reaktion beziehungsweise Wirkung gezielt verwendet. In Abgrenzung zur natürlichen Geste hat die Inszenierung eine klar definierte Aufgabe. Sie wird zuvor entsprechend gelernt und zur Erzeugung einer angestrebten Reaktion beziehungsweise Wirkung gezielt verwendet. Oftmals wird sie eingesetzt um einer Handlung die nötige Nuancierung zu verleihen oder um eine „verbesserte“ Version ihrer selbst zu präsentieren. In diesem Zusammenhang liefert sie auch wichtige Informationen über das Geschehen und die darin befindlichen Personen. Um zu wissen, wie man sich zum Beispiel innerhalb eines Gesprächs dem Interaktionspartner gegenüber verhalten beziehungsweise diesen behandeln soll, werden Informationen über dessen Eigenschaften benötigt. Da es jedoch schwierig ist, persönliche Merkmale wie beispielsweise die Intelligenz oder die Gesellschaftsschicht unmittelbar zu erfassen, stützt man sich auf Signale, die erfahrungsgemäß mit solchen Eigenschaften in Verbindung stehen – so wie der Akzent Hinweis auf die Herkunft sein kann. Mit diesem Wissen lassen sich gezielt Informationen, die nicht der Wahrheit entsprechen, d.h. zur Selbstdarstellung, aussenden. Ein Gespräch beruht daher immer auch auf einem Konsens wechselseitiger Vorstellungen voneinander.

KUNST Abb. 22 Kunst

Unnatürlich stark betonte Gesten wirken jedoch befremdlich – ähnlich der inszenierten Gesten, wie sie beispielsweise in der Darstellenden Kunst eingesetzt werden. Durch sie werden Gefühle und Bedeutungen ausgedrückt, die so im Alltag gar nicht zu finden sind. 49

49 vgl. Gebauer und Wulf (1998) S.98


Ein Mensch kommuniziert nicht ständig selbstdarstellende Signale. Das geschieht nur in solchen Situationen, die einem Bühnenauftritt ähnlich sind, d.h. wenn man vor einer Zuhörerschaft erscheint oder von anderen bewertet wird. 50 Selbstdarstellungen sind darüber hinaus unterschiedlich motiviert. Ein Lehrer wird stets versuchen kompetent zu erscheinen, damit seine Schüler die jeweilige Beeinflussung akzeptieren. Ein Bewerber wird einen Eindruck erwecken wollen, durch den er für den Job eingestellt wird. Wir suchen die Vorstellung unserer Identität stets zu festigen. Viele Menschen versuchen daher ein Image von physischer Attraktivität zu pflegen oder einen hohen Sozialstatus zu imitieren, weil ihnen die dadurch geschaffenen sozialen Beziehungen gefallen. Die Dekodierung von manipulierten Signalen läuft in zwei getrennten Prozessen ab. Neben der unmittelbaren Wahrnehmung der nonverbalen Signale, werden auch kognitive Überlegungen in die Bewertung einbezogen. Dabei wird abgewogen, ob sie echt sind oder durch sonstige Besonderheiten der Situation entstanden sind. Ein Verhalten wird in diesem Zusammenhang dann der Person zugeschrieben, die von der Normalität in der Situation abweicht (dies gilt insbesondere bei sozial unerwünschtem Verhalten), wenn kein starker Situationsdruck besteht (ihm also mehrere Alternativen zur Verfügung stehen) und wenn sein Verhalten über längere Zeit konstant bleibt. Gleichzeitig hat jeder Mensch bevorzugte Kriterien, nach denen er seinen Interaktionspartner einordnet. Seine Aufmerksamkeit wird demnach beispielsweise zunächst auf die Gesellschaftsschicht und dessen Hinweise gelenkt, sollte dieses Merkmal für ihn persönlich am ehesten relevant sein.

50 vgl. Argyle (2005) S.135


Die Geste als Indikator der Wahrheit

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Der auffälligste Indikator für Authentizität in Bezug auf Natürlichkeit sind Emotionen.

Wir erkennen Menschen über das Zusammenspiel verschiedener Charaktereigenschaften, wie beispielsweise Geruch, Stimme oder der Art und Weise der Bewegungen. Dementsprechend ist Natürlichkeit eine wesentlichere Vorraussetzung um die Identifizierung einer Person zu ermöglichen. Weicht ein Verhalten von diesem normalen Ausdruck ab, erscheint uns die Identität unnatürlich oder sogar fremd. 51 Die Geste als Ausdruck der Emotion Affect Displays

FAUST Abb. 23 Angst

Der auffälligste Indikator für Authentizität in Bezug auf Natürlichkeit sind Emotionen. Diese finden am stärksten Ausdruck im Gesicht und die darin stattfindende Mimik eines Menschen. Auf diese Weise lassen sich Stimmungen wie Trauer, Wut, Verzweiflung, Freude, Zufriedenheit oder Neugierde gut identifizieren bzw. voneinander abgrenzen. In der Gestik hingegen drücken sich Empfindungen subtiler aus, beispielsweise deuten verkrampfte Hände auf Angst hin während eine offene Haltung Entspannung und Ausgeglichenheit ausdrückt. Die Geste jedoch ist bezüglich ihrer Verlässlichkeit zuverlässiger als das Gesicht, denn während das Gesicht über eine kaum messbare Reaktion und Anpassungsfähigkeit verfügt, lässt sich der restliche Körper weniger gut kontrollieren. Insbesondere Bewegungen der Hände reagieren langsamer und lassen sich entsprechend weniger gut maskieren beziehungsweise manipulieren. 52 Eine Anpassung oder Korrektur körperlicher Ausdrucksformen ist zwar möglich, wirkt jedoch oftmals unglaubwürdig und nicht vertrauenswürdig, da sie abrupt ausgeführt wird .

51 vgl. Molcho (1988) 52 vgl. Goldman (1983) in Bekmeier (1989) S.26


Bei persönlichen Gesprächsthemen neigt der Mensch zur Selbstdarstellung

Ergänzend zum Ausdruck informieren Gesten zudem über die Intensität einer Empfindung. Wie stark die jeweilige Empfindung wahrgenommen wird, lässt sich dabei an der Körperspannung erkennen. Je stärker eine Empfindung wahrgenommen wird, desto mehr wird sich der Körper verkrampfen. Dies lässt sich auch an expressiven Stimmungslagen erkennen. Während sich leichte Begeisterung beispielsweise durch wenig Körperanspannung auszeichnet, werden bei Euphorie oder starker Aggression oftmals sogar die Finger zur Faust angespannt. 53 Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass bei persönlichen Themen meistens versucht wird, diese zu verbergen. Über gleichgültige Dinge berichtet der Mensch zwar einfach wahrheitsgemäß, sobald jedoch persönliche Fragen auftauchen, pflegt er diese nicht auszusprechen beziehungsweise zu sagen, was ihm angemessen erscheint. „Recht hat bei solchen Differenzen immer der Ausdruck, nicht das Wort; denn dieses kann man setzen wie man will. [...] der Ausdruck dagegen kommt so wie es die tatsächliche innere Haltung bestimmt.“ 54 Die Geste als Ausdruck der Persönlichkeit Adaptoren

„Aus der Art, wie jemand beiläufige, auf das Selbst bezogene Gesten verwendet, kann der aufmerksame Beobachter Schlüsse auf die jeweilige Stimmung und auf die Persönlichkeit des Senders ziehen.“ 55 Neben den vom Betrachter deutlich wahrnehmbaren Gesten, welche die Gefühlslage deutlich machen, vermitteln auch die zumeist unbewusst durchgeführten und wahrgenommenen Adaptoren 56 wesentliche Informationen über die Persönlichkeit des Gegenübers. Diese Bewegungen beziehungsweise

53 vgl. Argyle (2005) S.247


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In gefühlsbetonten Situationen verliert der Mensch die Kontrolle über seinen Körperausdruck

GEFÜHL

Handlungen sind, nach Ekman und Friesen, Teil der Selbstbefriedigung und dienen primär dem eigenen Wohlbefinden. Der Ausführende berührt sich dabei selbst, um sich zu beruhigen, wie dies beispielsweise beim Kauen der Fingernägel oder Reiben der Nase der Fall ist. Gleichzeitig teilt er dem Betrachter damit jedoch auch unbewusst mit, dass er nervös ist. Emotionen und die eigene Grundstimmung können in den seltensten Fällen kontrolliert oder gar ganz unterdrückt werden, da sie gewöhnlich nicht einer bewussten Kommunikationsintention unterliegen. Aufgrund ihrer Authentizität, also der Glaubhaftigkeit ihrer Information, wirken sie daher oft enttarnend. In gefühlsbetonten Situationen verliert der Betroffene dann die Kontrolle über seinen Körperausdruck beziehungsweise seine Wirkung auf Aussenstehende.

„Die Geste wirkt zunächst unmittelbar ohne eigenes Zutun, und zwar in den meisten Fällen des Alltags unterhalb des Bewusstseins. Deshalb kann man Worte zurücknehmen, Gesten aber nicht“ 57 Ausdrucksformen, die ohne Kommunikationsabsicht auf emotionale Zustände hinweisen sind demnach geeignete Indikatoren für das Erkennen der wahren Gefühlslage.

Abb. 24 Nervosität

54 55 56 57

Leonhard (1976) S.260 vgl. Delhees (1994) S.167 vgl. Ekman und Friesen (1981) in Bekmeier (1989) S.19 Dietrich (2010) in Wulf (2011) S.263


Synthese > Die Macht der Geste Nonverbale Signale übermitteln alle möglichen Informationen über den Körper, die soziale Rolle und die Persönlichkeit des Senders. Eine Dekodierung respektive Interpretation der Identität ist entsprechend eine Schnittmenge von identitätsbildenden Faktoren wie Stimme, Bewegungsstil und persönlichen Eigenschaften jeweils in Abhängigkeit der Selbstdarstellung verschiedener sozialer Rollen. Körperliche Merkmale, wie Größe, Hautfarbe, Geschlecht und Bewegungsstil sowie persönliche Eigenschaften, wie Intelligenz und Extraversion, werden unwillkürlich vergeben und bilden die natürliche Grundlage der Identität. In Abhängigkeit des gesellschaftlichen Status werden diese körperlichen und persönlichen Merkmale dann jedoch durch die soziale Rolle beziehungsweise Situation beeinflusst oder bewusst manipuliert. Bei diesen Signalen liegt der informative Wert insbesondere darin, wie der Sender sich selbst versteht und wie er wünscht, dass andere im allgemeinen oder in besonderen Bereichen ihn sehen – welche jedoch erst ins Bewusstsein rücken, wenn andere durch ihr körperliches Auftreten widersprüchlich beziehungsweise unerwartet reagieren. Die Dekodierung einer Persönlichkeit mit Hilfe der Gestik entsteht ebenso aus der Wahrnehmung beziehungsweise Interpretation verschiedener inszenierten sozialen Rollen basierend auf den gegebenen natürlichen Merkmalen und Eigenschaften des Senders.


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Erkenntnis 1 zum Einfluss der Geste

Der nonverbale Ausdruck (und insbesondere die Gestik) sind die Grundvorraussetzung für die menschliche Anpassungsfähigkeit an verschiedene Situationen und damit von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung verschiedener sozialer Rollen. Basierend auf dem Prozess der Mimese beziehungsweise der Nachahmung anderer Menschen, entsteht eine Vertrautheit mit dem Verhalten der Menschen im Allgemeinen wie auch im Speziellen. Die Nachahmung und das Hineinversetzen in den Interaktionspartner macht Reaktionen abschätzbar und schafft eine Kompetenz, die Situationen kontrollierbar werden lässt. Diese Macht der Manipulation schafft somit nicht nur eine Anpassungsfähigkeit, sondern lässt auch unterschiedliche Identitäten beziehungsweise soziale Rollen entstehen.

Erkenntnis 2 zum Verständlichkeit

Die Geste ist allgemein verständlich, sofern sie natürlichen Ursprungs oder ausreichend metaphorisch als Zeichen zu verstehen ist.

der Geste

Künstlich geschaffene Gesten, bedingen stets äußeren Einflüssen. Ihr Verständnis hängt von gemeinschaftlichen Konventionen oder der Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten ab.


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Erkenntnis 3 zur Information der Geste

Die kommunizierte Information in Bezug auf die Identität des Senders hängt von der Form der Geste ab. Während eher körper- und emotionsbezogene Handbewegungen etwas über die Identität des Individuums mitteilen, gibt die rituelle beziehungsweise emblematische Geste Auskunft über die gemeinschaftliche (oder institutionalisierte) Identität. Die so genannten Affect Displays geben in der Regel authentisch Auskunft über die momentane Empfindung des Senders und in Abgrenzung zur Mimik oder Körperhaltung auch zu dessen Intensität. Die Geste als Adaptor bezieht sich primär auf das Wohlbefinden des Senders, zeigt jedoch gleichzeitig auch an, wie er sich fühlt. Diese Anzeichen werden ohne Kommunikationsintention enkodiert und können daher nicht manipuliert beziehungsweise an Situationen oder gemeinschaftliche Werte angepasst werden. Sie liefern demnach authentische Informationen zur Person. Mit der Ausführung einer emblematischen Geste, wie beispielsweise einem rituellen oder kulturspezifischen Zeichen, wird die Anerkennung der Werte und Vorstellungen zum Ausdruck gebracht. Die Geste wird zwar vom Individuum ausgeführt und als dieses wahrgenommen, jedoch wird der Sender durch den Vollzug zu einem Kommunikationsinstrument der institutionellen Botschaft beziehungsweise gemeinschaftlichen Identität. Diese spezifischen Gesten sind lexikalisiert und haben eine Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften zum Ziel.


Die Geste als Illustrator beziehungsweise als Unterstützung der verbalen Sprache liefert sowohl Auskunft über das Individuum, wie auch über gemeinschaftliche Vorstellungen. Ihre Bedeutung ist in erster Linie abhängig von der verbalen Sprache und dementsprechend von der Konvention des Sprachraums beziehungsweise dem Kulturraum abhängig – ähnlich den Emblemen. Ihre Ausführung hingegen hängt auch von den körperlichen Merkmalen, also dem Individuum und seinem Verhaltensmuster ab. Wie oben beschrieben, wird zum Beispiel ein eher heiterer Mensch mehr gestikulieren als ein Ernster oder dominanter Mensch. Erkenntnis 4 zur Authentizität der Geste

Die individuelle Gestik basierend auf körperlichen Merkmalen sowie der Persönlichkeit, wird von äußeren Umständen (körperliche Attraktivität), wie zum Beispiel der Stimmung oder sozialen Situation beeinflusst. Gemeinschaften beispielsweise verfügen über eigene (ritualisierte) Gesten und durch die Ausführung dieser, wird ihre Identifikation ausgedrückt und auf das Individuum übertragen. Entsprechend passen sich unsere Gesten an die spezifische Rolle an. Zu unterscheiden sind daher natürliche Gesten, welche Informationen über das Individuum mitteilen, und inszenierte Gesten, welche die soziale Rolle kommuniziert.


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Erkenntnis 5 zur Authentizität der Geste

Gesten sind authentisch, wenn sie unbewusst auftreten und sich auf den Körper beziehungsweise Gefühle des Menschen beziehen. Das Verhältnis von Selbstdarstellung und Authentizität hängt dann von der persönlichen Wertung der Situation ab. Während die meisten Personen in persönlichen Situationen dazu neigen sich bei üblichen Meinungen der Allgemeinheit oder der des Interaktionspartners anzupassen, ist das Verhalten in gleichgültig empfundenen Momenten (oder ohne Publikum) natürlicher. In gefühlsbetonten Situationen verliert der Betroffene jedoch in Gänze die Kontrolle über seinen Körperausdruck respektive seine inszenierte soziale Rolle. Während sich in diesen Momenten verbale Sprache und Mimik weiterhin beeinflussen lassen, wirkt die Gestik oft enttarnend. Ein Widerspruch lässt sich beispielsweise oftmals an der fehlenden Abstimmung des Gesamtausdrucks, zum Beispiel durch verzögerte Reaktionen, erkennen. Nicht jeder Moment lässt sich daher bewusst manipulieren, da insbesondere körperbezogene und emotionale Gesten ohne Kommunikationsintention auftreten. Auch unnatürliche stark betonte Gesten wirken befremdlich, da durch die Inszenierung der Geste oftmals Gefühle und Bedeutungen ausgedrückt werden, die so im Alltag gar nicht zu finden sind.


Ausblick Die Macht der Geste Bisher ist der Einsatz von Körpersprache vorwiegend in Primärsituationen untersucht worden, d.h. in Situationen, in denen der Sender zugleich das zu erforschende Medium ist. Hingegen ist ihr Einsatz in Sekundärsituationen, in denen nonverbale Kommunikation durch einen anderen semiotischen Code abgebildet wird, wie der Fotografie oder im Kommunikationsdesign, kaum erforscht worden. Wie die Erkenntnisse dieser Arbeit zeigen, besitzt die Geste vielversprechende Eigenschaften in Bezug auf Information, Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit, welche sicherlich auch in Sekundarsituationen von Nutzen sein könnten. Im Folgenden soll daher kurz diskutiert werden, ob diese Fähigkeiten der Geste, welche sie in direkten zwischenmenschlichen Situationen besitzt, auch für ihren Einsatz in Kommunikationsmedien nutzbar gemacht werden kann. Die Bedeutung körpersprachlicher Aussagen für die Kommunikation erklärt sich bereits durch den häufigen Einsatz in der Werbung, in der die starke Wirkung auf die menschlichen Emotionen als nonverbale Form der Beeinflussung eingesetzt wird. Ein Lächeln besitzt eben eine stärkere Wirkung als freundliche Worte ...



Literaturverzeichnis

Bücher

Argyle, Michael: Körpersprache und Kommunikation. Junfermann, Paderborn, 2005 Beck, Klaus: Kommunikationswissenschaft. UTB, Stuttgart, 2010 Bekmeier, Sigrid: Nonverbale Kommunikation in der Fernsehwerbung. Physika-Verlag Heidelberg, Heidelberg, 1989 Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. UTB, Stuttgart, 2002 Delhees, Karl H.: Soziale Kommunikation. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Opladen, 1994 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Fischer, Frankfurt, 1994 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag, 1993 Fricke, Ellen: Origo, Geste Und Raum: Lokaldeixis Im Deutschen. De Gruyter, 2007 Gebauer, Gunter und Wulf, Christoph. Spiel, Ritual, Geste. Rowohlt, Hamburg, 1998. Grosse, Julia und Reker, Judith: Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit. Piper, München, Zürich, 2012


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Bücher

Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation. Verlag Huber Hans, 2003 Wulf, Christoph: Gesten. Wilhelm Fink Verlag, München, 2010 Wulf, Christoph: Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation. Springer, 2011

Artikel

Wachsmuth, Ipke: Der Körper spricht mit Gehirn und Geist, Ausgabe 4, 2006

Diplomarbeiten

Eddiks, Christina: Gesten im Service Köln International School of Design, 2004 Marzotko, Anja: Kommunikation durch Bewegung Köln International School of Design, 2010


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Online

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