FOTOGRAFIE LITERATUR STREETART MALEREI COMICS ZEITGENÖSSISCHE KUNST AUSGABE 11 HEFT EINS 2012 JAHRGANG 05 ISSN 1866-9816 ISBN 978-3-941570-02-3 DOPLPACK VERLAG 6,90 EUR
IVO MAYR, KÖLN PAUL ALTMANN, leipzig ANTONY CROSSFIELD, LONDON JANA STRIEWE, HANNOVER Deike Lautenschläger, taipeh
leck mich
AUSGABE 11
HEFT EINS 2012
JAHRGANG 05
UM[LAUT]
JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS.
stadt, land, flucht FOTOKUNST VON IVO MAYR
keine einzeltitel
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verzeihung, jetzt ist mal kurz krieg! VON DEIKE LAUTENSCHLÄGER
Zwei Uhr nachmittags. Sirenenklänge wehen durch die Stadt. Der Wind reißt sie mal ab, mal trägt er sie lauter herüber, schiebt sie an den Hochhäusern vorbei, presst sie in die Läden und die Cafés hinein, drückt sie zum brodelnden Verkehr auf die Straße herunter, zwischen den Bäumen im Park hindurch, hängt sie über das Summen der Lüftungsabzüge an den Häusern und breitet sie auf den Gehwegen aus zu Füßen der Passanten in die Frühlingssonne. In Wellen legt das Heulen die Stadt lahm. Ich stehe nur da und staune. Taipeh, zwei Uhr, Mittwochnachmittag. Nichts ist passiert. Die kalte Luft des Supermarktes bläst mir in den Rücken. Alles um mich bewegt sich langsamer, friert ein, dünnt sich aus, zieht sich zurück, hinterlässt ein Watt aus geparkten Autos, abgestellten Mopeds, liegengelassenen Fahrrädern. Darüber flackern unbeirrt die Neonleuchten aus chinesischen Zeichen. Ich bewege mich nicht, dann schließlich doch, gehe drei Meter auf die Kreuzung zu, die zwischen mir und meiner Wohnung liegt. Vor mir rennen zwei Mädchen in Schuluniform kichernd über die Straße, meine Schritte werden schneller, ich hüpfe über die Busspur wie über einen Fluss, springe von Zebrastreifen zu Zebrastreifen, zwei Minuten nach zwei und noch etwa zwanzig Meter. Der schrille Klang einer Trillerpfeife trifft mich bis ins Mark. Da ist niemand mehr, der vor mir läuft, die Schulmädchen sind schon längst weg. Mein erster Reflex ist Losrennen. Als ich zucke, pfeift es noch einmal, diesmal länger und energischer. Taipeh ist plötzlich so ungewohnt leer, dass ich mir einbilde, ein Echo zu hören und ich bekomme Panik. »Verzeihung, wàn-ān-yǎn-xí!« Ein dicker Junge in Polizistenuniform steht neben mir, einen halben Kopf kleiner als ich. Im ersten Moment verstehe ich nicht. Mein Chinesischwortschatz ist auf ein Friedensvokabular beschränkt. Er zeigt auf einen Zettel: »萬 安演習« und liest übertrieben langsam und laut vor: »wàn-ān-yǎnxí«. Ich kenne alle Wörter: wàn-ān heißt völlig sicher und yǎn-xí bedeutet Übung — doch Sinn macht es nicht. Ich sehe ihn fragend
an: »Ich bin doch völlig sicher, oder?« »Jaja, sicher sicher, ... aber wir üben jetzt nicht sicher sein. Es ist zwei Uhr und wir üben jetzt ...hm... Krieg.« Ich schweige und versuche zu verstehen. »Verzeihung« fügt er nochmals hinzu. Zwei Uhr also und schon drei Minuten geübter Krieg. Die Luft über dem Teer flimmert, die Ampel zählt die Sekunden zur nächsten Rotphase herunter. Wie entscheidet man, wann der Krieg beginnt? Zur vollen Stunde? Oder wählt man eine symbolische Zeit? Fünf vor zwölf? Oder 4.45 Uhr morgens? Nach dem Essen oder besser währenddessen, in einem Land, wo »Hast du schon gegessen?« eine Begrüßungformel ist? Wenn die Sonne am höchsten steht? Vielleicht in der schläfrigen Mittagspause? Fünf Minuten nach fiktivem Kriegsbeginn. Auf der Straßenseite gegenüber klingeln Handys. Eine Frau schminkt sich im Seitenspiegel eines Autos, andere schlafen auf den Sitzen ihrer Mopeds. Krieg gegen wen eigentlich? Als ich fragen möchte, bemerke ich, dass der Polizist schon nicht mehr neben mir steht. Er flitzt hinter dem Nächsten her, der sich auf der Kreuzung unwissend in Unsicherheit begibt. »Wer greift denn an?« frage ich den schwitzenden Mann neben mir, und es klingt so, als würde ich mich nach dem Fußballergebnis vom letzten Abend erkundigen. »Na niemand. Das ist nur eine Luftschutzübung. Niemand greift an. Aber es könnten die Chinesen angreifen, also die vom Festland. Aber das ist Politik und über Politik rede ich nicht«, und damit schweigt er. Ein weißes Blatt Papier weht über den Asphalt, wo vor kurzem noch
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HEFT EINS 2012
JAHRGANG 05
UM[LAUT]
Busse, Autos und Mopeds dahinpreschten. So platt wie ein schlechter Western. Als es zehn Minuten nach zwei ist, bewegt sich nichts mehr. Alle sind am äußersten Punkt angekommen — so weit wie es geht, soweit sie dürfen, bis an die nächste Straße, die sie auf ihrem Weg überqueren müssten. Nur noch die Sonne ist draußen. Rund um die Kreuzung warten Menschen unter den Vorbauten der Häuser im Schatten wie am Rande eines Spielfeldes, an jeder Ecke ein Polizist mit Walkie-Talkie als Schiedsrichter. Wir harren der Dinge, die da kommen werden oder auch nicht, starren auf das Warnblicken der Busse und auf die anderen neben uns. Viertel nach zwei. Eine Viertelstunde gespielter Krieg. Wir sind abgeschottet und ausgeschlossen. Die Cafés und Geschäfte haben ihre Eisenjalousien an den Türen heruntergelassen und das Licht ausgeschaltet. Wer konnte, der hat sich noch zuvor hinein gerettet. Wieder versucht ein Geschäftsmann, schnell zum Bürohaus auf die andere Seite zu rennen — ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel oder Katz-und-Maus mit den Polizisten wie aus einem Charlie Chaplin Film. Wer raus ist, bezahlt nicht mit dem Leben, sondern umgerechnet 200 Euro Strafe. Fliegen laufen an meinen Beinen hoch und machen mich zappelig. »Ist ja nur einmal im Jahr«, murmelt die alte kleine Frau beruhigend mit dem Körbchen voller duftender Magnolienblüten zum Verkauf. Sie sitzt auf ihrem Klapphocker wie jeden Tag neben dem Eingang der Bank. Schulmädchen fotografieren sich gegenseitig. Die Bankangestellten, gerade vom Mittagessen zurück, stehen in Grüppchen und ziehen an ihren klebenden Schweiß nassen Kostümen. Jeder führt seinen eigenen kleinen Kampf — gegen die Fliegen, die Hitze, die Langeweile, die Augen der Polizisten, gegen das Vergessen, dass Taiwan sich 1949 im Bürgerkrieg von China gelöst hat und jederzeit mit Gewalt zurückgeholt werden kann.
JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS.
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Fünf vor halb zwei. Polizeiautos fahren Patrouille. Das Walkie-Talkie des Polizisten rauscht. Wir warten. Und wie lange geht eigentlich ein Krieg? Monate, Jahre? Experten rechnen zwischen zehn Minuten und drei Tagen bis hin zu zwei Wochen, sollte China wirklich Taiwan angreifen. Vor dem Vorbau in der Sonne kreisen ein paar weiße Schmetterlinge auf und ab, keine Wolke am Himmel. Die Natur holt sich ihr Gebiet zurück. Die Frau hinter mir faltet ihre Zeitung zusammen, Schuhe scharren auf dem Gehweg. Langsam kommt Taipeh wieder zu sich, der Alltag flutet zurück. »Verzeihung!« Zum letzten Mal entschuldigt sich der Polizist bei den zögernden herumstehenden Passanten, dann läuft er auf die Kreuzung, um den anrollenden Verkehr zu regeln. Die Fußgängerampel wird grün und der Krieg auf Probe ist vorbei. Wo ich 30 Minuten gestanden habe, würde ich gern eine Gedenktafel anbringen: An dieser Stelle ist am 18. Mai 2011 nichts passiert.
deike lautenschläger, *1977 in grimma (Sachsen), lebt als freie autorin, daf-lehrerin und doktorandin in taipeh, taiwan. studium an der bauhaus-universität weimar und dem art institute of pittsburgh. veröffentlichungen mit kurzgeschichten und reportagen u.a. in der schweizer literaturzeitschrift entwürfe, in parapluie und in der anthologie über grenzen des meike-schneider-literaturpreis 2011.
foreign bodies FOTOMALEREI VON ANTONY CROSSFIELD
»die begrenzungen des körpers werden hinterfragt und die geschlossenheit und integrität des selbst bezweifelt, ebenso wie die stabilität der fotografie als digitales medium. der körper ist nicht länger der raum, der die idee des selbst absichert, er ist die domäne, in der das selbst in frage gestellt wird und sich beweisen muss.« antony crossfield
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JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS.
»mich faszinieren zeitungsbilder von menschen- und naturkatastrophen, weil sie so viel leid und ohnmacht zeigen, aber dennoch, nicht selten, so wenig in uns auslösen. durch zeichnerische neuinszenierung versuche ich, solchen bildern und dem, was sie aussagen, näher zu kommen.« simon prades
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super size me, 2009 90 x 90 cm öl und tusche auf leinwand
Valerij Pabst, *1981 an der Grenze zwischen Russland und der Mongolei, lebt seit 10 Jahren in Köln, wo er Kunstpädagogik studierte. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen in Köln, Bonn, Berlin, München und Barnaul (Russland), u.a. Einzelausstellung im Rahmen der 4. Bonner AIDS- Gala, 2009, Brückenforum, Bonn, und Teilnahme an der Gemeinschaftsausstellung artSprung, 2008, colourblind-GALLERY u.a., Köln. → valerij-pabst.de
JANA STRIEWE, *1980 in HANNOVER, wo sie lebt und als freie fotografin arbeitet. Sie studierte fotografie an der fachhochschule hannover. zu ihrem portfolio zählen u.a. reportagen aus dem lee county jail, usa, und die reihe menschen. → jANASTRIEWE.de
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HEFT EINS 2012
VON TOBIAS PAGEL
JAHRGANG 05
UM[LAUT]
JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS.
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kanonisches ziehende landschaften/ mir wühlen im flatternden haare/ hallt es wie geschrei/ über allen gipfeln/ fliegt in herbstesnacht vorbei/ das schöne und berückende/ ein tanz von kraft um eine mitte/ schlug mein herz/ mein löwe/ wird mein flügel/ als ein wehen dieses schattens/ scheuchten seine tritte/ meine seele/ um den uralten turm
zur sache aus liebe zum spiel/ sitzen wir in der ersten reihe/ leben autos/ gehören zur familie/ lieben technik& hassen teuer/ sind die guten/ geben unserer zukunft ein zuhause/ machen unser ding/ heute sind wir könig& deutschland/ entdecken die möglichkeiten/ nehmen uns die freiheit/ aktivieren abwehrkräfte/ machen es fertig bevor es uns fertig macht
tobias pagel, *1981 in sigmaringen, lebt und arbeitet in winterlingen (Baden-württemberg). studium an der eberhard-karls-universität tübingen. er schreibt vor allem lieder und gedichte und ist am tübinger studio für literatur und theater aktiv. 2009 gewann er den 1. preis beim lyrikwettbewerb dem schönen zuliebe des schweizer govinda-verlages.
GALERIE STEPHAN STUMPF G A L E R I E F Ü R G E G E N W A RT S K U N S T – C O N T E M P O R A RY A RT
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