Forschungsmagazin der Universität Innsbruck - 01/2017

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Ausgabe 2/2017, 9. Jg.

zukunft forschung

OFFENES WISSEN

thema: offener austausch | klima: buchhalter des eises | pharma: phytovalley tirol labor: bohrkernanalysen | soziologie: pflege in der zukunft | recht: demokratie und effizienz | mathematik: wörterbuch aus daten | physik: nanomagnete in der schwebe DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNSBRUCK


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Foto: Andreas Friedle


EDITORIAL

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

E

s gibt keine österreichische, englische oder israelische Wissenschaft“, sagte der Chemie-Nobelpreisträger Dan Shechtman, als er im Oktober an der Universität Inns­ bruck über seine Forschungen zu Quasikristallen erzählte. Wissenschaft war immer schon grenzüberschreitend; sie lebt von der Offenheit und dem freien Austausch von Wissen. An der Universität Inns­bruck wird diese Offenheit sehr intensiv gelebt, entstehen doch beinahe drei Viertel der Forschungsarbeiten in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Ausland. Dieser globale Austausch erfordert aber auch einen freien Zugang zu den Forschungsergebnissen, zu den Daten aus Experimenten und zur entsprechenden Software. Aktuell gibt es in der Wissenschaftsgemeinde eine breite Initiative zur Stärkung der freien Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Auch die Universität Inns­bruck hat in diesem Jahr eine OpenAccess-Policy in Kraft gesetzt. Mit der Einrichtung einer Koordinationsstelle Open Access an der Universitäts- und Landesbibliothek bietet die Universität den Forschenden überdies eine Anlaufstelle für alle Fragen rund um dieses Thema. Auch der Universitätsverlag innsbruck university press unterstützt bereits seit Langem die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Realisierung von Open-Access-Publikationen und gibt mehrere frei zugängliche Zeitschriften heraus. Wir stellen Ihnen im

Schwerpunkt dieser Ausgabe einige ausgewählte Projekte vor, die auf dem offenen Austausch von Wissen beruhen oder die Offenheit in der Forschung direkt thematisieren. Diese Ausgabe gibt Ihnen darüber hinaus wieder einen breiten Überblick über aktuelle Forschungsvorhaben und Ergebnisse aus der Grundlagenforschung und angewandten Forschung an der Universität Inns­bruck. Der Transfer zwischen Grundlagen und Anwendung wird auch ein zentraler Aspekt des neuen Michael-Popp-Forschungsinstituts für die Entwicklung von pflanzlichen Wirkstoffen sein. Gestiftet wird das Institut vom Vorstandsvorsitzenden von Bionorica SE, Michael A. Popp, und dem Land Tirol. Damit entsteht ein weiterer wichtiger Baustein für ein „Phytovalley Tirol“, das Tirol zum Zentrum der Entwicklung von hochwirksamen und nebenwirkungsarmen Wirkstoffen aus Pflanzen machen soll. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und freuen uns über Ihre Fragen und Anregungen!

TILMANN MÄRK, REKTOR ULRIKE TANZER, VIZEREKTORIN FÜR FORSCHUNG

IMPRESSUM Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns­bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns­bruck, www.uibk.ac.at Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Dr. Christian Flatz (cf); public-relations@uibk.ac.at Verleger: KULTIG Corporate Publishing – Koch & Partner KG, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Inns­bruck, www.kultig.at Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Eva Fessler (ef), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Daniela Pümpel, MA (dp), Mag. Susanne Röck (sr) Layout & Bildbearbeitung: Florian Koch, Lara Hochreiter Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns­bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz – Dieses Produkt stammt aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern und kontrollierten Quellen.

Foto: Uni Inns­bruck

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BILD DER WISSENSCHAFT


INHALT

TITELTHEMA

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ASTRONOMIE. In der Weltraumforschung haben der offene

Zugang zu Daten und weltweite Kooperationen Tradition, um gemeinsam Blicke in ferne Galaxien zu werfen.

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INTERVIEW. Eva Ramminger und Justus P­ iater über den freien Zugang zu Wissen und die Macht der Wissenschaftsverlage.

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ROMANISTIK. Das Archiv für Textmusik in der Romania setzt auf ATeM, eine kulturwissenschaftliche Open-Access-Fachzeitschrift. 14 STATISTIK. Quelloffene Software spielt in der Statistik eine

bedeutende Rolle – die Programmiersprache R ganz besonders.

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DIGITALISIERUNG. Leonhard Dobusch, Experte für digitale Rechts18 fragen, sagt: „Auch digitale Offenheit braucht Organisation.“

TITELTHEMA. Wissenschaft ist grenzüberschreitend

und lebt von der Offenheit sowie dem freien Austausch von Wissen. ZUKUNFT FORSCHUNG geht der Frage nach, wie diese Offenheit an der Universität Inns­bruck gelebt wird.

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FORSCHUNG GEOLOGIE. Ein neues Labor an der Uni Inns­bruck ermöglicht ­ ichael Strasser eine präzise Analyse von Bohrkernen, die Hinweise M auf künftige Klimabedingungen und Extremereignisse liefern.­ 26 RECHTSWISSENSCHAFT. Wie Effizienz als verfassungsrechtlicher Begriff und Demokratie zusammengehen, erforscht Maria Bertel. 30 MATHEMATIK. Jeder von uns erzeugt Unmengen an Daten. Karin Schnass arbeitet daran, diese Daten auch optimal auszuwerten. 32 QUANTENPHYSIK. Quantenphysiker um Oriol Romero-Isart

STANDORT. Bruno Buchberger konzipierte Ende der

1990er-Jahre in Innsbruck das neue Informatik­institut und -studium. Immer im Fokus hatte er dabei drei Achsen: Logik, Mathematik und Anwendung.

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lassen Nanomagnete über einem Magnetfeld schweben.

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SOZIOLOGIE. Abhängigkeit im Alter muss gesellschaftsfähig ­werden, damit das Pflegesystem neu aufgesetzt werden kann.

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PHYSIK. Ein Forscherteam präsentiert eine Gesamtschau der organischen Kohlenstoffe in der Atmosphäre über einem Waldgebiet. 39 PHYTOWISSENSCHAFT. Michael A. Popp und Günther Bonn über

das neue Forschungsinstitut für die Entwicklung pflanzlicher Wirk39 stoffe und die Stärkung des „Phytovalley Tirol“.

KLIMA. Am Langenferner bestimmt Stephan ­Galos

jährlich die Massenbilanz, für den Meteorologen­ein ­wichtiger Link zwischen atmosphärischen Verhältnissen und der Entwicklung der Gletscher.

RUBRIKEN EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: KUNST & BAKTERIEN 4 | NEUBERUFUNG: MARTINA KRAML 6 | FUNDGRUBE VERGANGEN­HEIT: HUGO RAHNER 7 | BILDGLOSSAR: CITIZEN SCIENCE PROJEKTE 20 | MELDUNGEN 24 + 40 | WISSENSTRANSFER: PROTOTYPEN: SCHAUMBETON, SPIEGELLAMELLE, OBERFLÄCHENBESCHICHTUNG 34 | KARRIEREGIPFEL 42 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 | ZWISCHENSTOPP: JAMES FERREIRA 48 | SPRUNGBRETT INNS­BRUCK: SIMON BRANDL 49 | ESSAY: HEIMLICHE WISSENSCHAFT? von Timo Heimerdinger 50

Wissenschaft ist Kunst und Kunst ist Wissenschaft. Für seine neue Ausstellung hat sich der Tiroler Künstler Thomas Feuerstein mit steinfressenden Bakterien beschäftigt und wurde in der Vorbereitung und Umsetzung von Thomas Pümpel und seinem Team vom Institut für Mikrobiologie unterstützt. Kultiviert in einem Bioreaktor produzie­

ren die vom Eisenerz Pyrit und von Kohlendioxid lebenden Bakterien Schwefelsäure, die durch Schläuche in die Replik einer klassischen Marmor­skulptur eingeleitet wird und langsam beginnt, die Oberfläche zu zersetzen. Die Verbindung von Wissen, Erfahrung und Kunst macht diese Kooperation zu etwas Besonderem.

Fotos: Andreas Friedle (1), Stephan Galos (1), Aleksandra Pawloff (1) COVERFOTO: AdobeStock/Mopic (1), NASA/JPL-Caltech/2MASS (1); BILD DER WISSENSCHAFT: Thomas Feuerstein

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NEUBERUFUNG

GRENZGÄNGERIN Martina Kraml, seit März 2017 Professorin für Katechetik, ­Religionspädagogik und Religionsdidaktik beziehungsweise Fachdidaktik, bewegt sich sowohl an fachlichen als auch an religiösen Grenzen. derer Religionen geht und nicht um ein Gespräch über sie. „2008 war es uns im Rahmen des Kongresses ‚Kommunikative Theologie‘ in Telfs ein Anliegen, das Zusammenleben von Christen, Muslimen und säkularisierten Menschen zu erforschen. Schon damals haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, dass die Perspektiven gleichgewichtig vertreten sind.“ Seitdem engagiert sich Kraml in zahlreichen Projekten der interreligiösen Zusammenarbeit für diese Art des Miteinanders. Den eigenen Glauben sieht sie dabei als Vorteil: „Eine Verständigung der Religionen funktioniert meiner Ansicht nach nicht von einem neutralen Standpunkt aus, da hier die Sensibilität für den Glauben an sich verloren geht. Der involvierte Standpunkt – die Innensicht – ist unverzichtbar, wenn es um Dialog geht. Wenn es kompliziert wird – und das ist dieser Dialog auf jeden Fall –, tendiert man oft dazu, ­etwas ganz zu vermeiden. Ein Standpunkt, der Religion immer weniger öffentlichen Raum zugesteht, ist meiner Meinung nach aber der falsche Zugang.“ Ängste vor einer Vermischung der Religionen sollten laut Kraml bearbeitet werden. „In ‚dritten Räumen‘, in dem man manche festgefahrene Positionen aufgeben kann, wäre ein guter Dialog möglich“, so die Theologin: „Die Universität kann hier eine wichtige Rolle spielen.“

MARTINA KRAML, gebürtige Vorarlbergerin, war erst als Volksschullehrerin tätig, bevor sie ihr Studium der Selbstständigen Religionspädagogik und Christlichen Philosophie in Inns­bruck begann. Nach einigen Jahren der Unterrichts­ tätigkeit an verschiedenen Schultypen begann sie 1998 ihr Doktoratsstudium im Fachbereich Katechetik/Religionspädagogik und Religionsdidaktik an der Uni Inns­bruck, das sie 2001 abschloss. Nach einer Zeit als Universitätsassistentin und später als assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie folgte 2013 die Habilitation. Am 1. März 2017 wurde Kraml als Universitätsprofessorin berufen.

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n ihrer Funktion als Professorin für Religionspädagogik und Religionsdidaktik ist Martina Kraml zu jeweils 50 Prozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät und der School of Education tätig. „Die Arbeit an zwei Fakultäten ist eine besondere Herausforderung, befruchtet sich aber gegenseitig sehr“, erklärt Martina Kraml. „Ein weiterer Bereich, in dem ich mich gerne über Grenzen hinweg bewege, ist die interreligiöse Zusammenarbeit.“ So ist die Theologin sowohl Studienbeauftragte für Katholische als auch für Islamische Religionspädagogik. Als praktische Theologin beschäftigte sich Kraml schon früh mit dem Thema Interreligiösität, betont aber, dass es dabei um einen Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern an-

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Kompetenz für Vielfalt

Einen Weg des Miteinanders der Religionen will Martina Kraml auch ihren Studierenden mit auf den Weg geben. Gemeinsame mit dem Institut für Islamische Religionspädagogik organisierte religionsübergreifende Lehrveranstaltungen, in denen Vertreterinnen und Vertreter beider Religionen zu Wort kommen, sollen die künftigen Religionspädagoginnen und Religionspädagogen für ein selbstverständliches Miteinander sensibilisieren „Eines meiner wesentlichen Ziele in der Lehre ist es, meinen Studierenden die Kompetenz mitzugeben, mit Vielfalt umgehen zu können. Denn als Lehrerinnen und Lehrer sind sie auch Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die weit in die Gesellschaft wirken können.“ sr

Foto: Andreas Friedle


FUNDGRUBE VERGANGENHEIT

EUROPÄISCHER THEOLOGE Hugo Rahner erforschte die Kirchenväter, sah das Christentum als gemeinsame Vergangenheit Europas und lebte eine Theologie der Verkündigung – im Dezember 2018 jährt sich sein Todestag zum 50. Mal.

S

ind Sie der Bruder des berühmten Rahner?“, soll Hugo Rahner oft gefragte worden sein, ähnlich oft soll er ironisch geantwortet haben: „Nein, das ist mein Bruder.“ Hugo war der ältere der zwei Rahner-Brüder, die sich beide dem Studium der Theologie (Promotion und Habilitation an der Universität Inns­ bruck) verschrieben hatten, die beide dem Jesuitenorden beigetreten waren und die beide Professoren an der Theologischen Fakultät der Uni Inns­bruck wurden. In allem war Hugo etwas früher dran als der um vier Jahre jüngere Karl, bis in die 1960er-Jahre hinein war er auch der bekanntere Theologe. „Die Bedeutung von Hugo Rahner­liegt einerseits in seiner Rolle als Patristiker, als einer, der sich mit der Zeit der Kirchenväter, mit der Bildtheologie der frühen katholischen Kirche und mit dem Weiterleben der antiken in der christlichen Welt wissenschaftlich auseinandersetzte“, sagt Thomas Karmann vom Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert herrschte in der katholischen Kirche eine starke Zurückhaltung gegen-

Fotos: Universitätsarchiv Inns­bruck

über biblisch-historischer Forschung, sie sei gefährlich und würde den Glauben in Frage stellen. „Ein Ausweg für Kirchenhistoriker war, sich mit theologisch problemlosen Themen zu beschäftigen“, weiß Karmann. Das tat auch Hugo RahHUGO RAHNER SJ (1900-1968) trat 1919 in den Jesuitenorden ein. Von 1926 bis 1931 studierte er in Inns­ bruck Philosophie und Katholische Theologie, 1929 wurde er zum Priester geweiht. Nach der Promotion (1931) folgte ein Studium der Geschichte in Bonn (Promotion 1934), die Habilitation (1935) und die Professur für Kirchen- und Dogmengeschichte und Patrologie (1937) in Inns­bruck. Nach der Aufhebung der Fakultät durch die Nationalsozialisten dozierte er bis 1945 an der Päpstlichen Theologischen Fakultät in Sion. Zurück in Inns­bruck wurde er zweimal Dekan der Theologischen Fakultät, einmal Rektor der Universität. Eine schwere Krankheit erzwang 1963 seine vorzeitige Pensionierung.

ner, „doch er erzeugte mit ihnen eine große theologische Relevanz.“ Als Kirchenhistoriker und Jesuit befasste sich Rahner mit dem Ordensgründer Ignatius von Loyola (1491 – 1556), seine Forschungen über dessen Spiritualität und Rolle als Mann der frühen Neuzeit sind für Karmann „bahnbrechend“, Rahner als „europäisch Denkender“ auch heute relevant. Eine Relevanz, die ein von Karmann organisiertes Symposium zu dessen 50. Todestag (17.–18. Jänner 2019) beleuchten soll. Zur Sprache wird dabei auch ein weiterer Aspekt in Rahners Wirken kommen, das ihn weit über Inns­bruck hinaus bekannt machte. „Untypisch für Patristiker verknüpfte er seine Forschungen mit der theologischen Praxis, nutzte seine Funktion als Seelsorger sowie Reden an der Universität oder auf Tagungen, um kirchenhistorische Erkenntnisse der Öffentlichkeit mitzuteilen“, berichtet Karmann. Diese Theologie der Verkündigung war ein Markenzeichen Inns­brucks zwischen den 1930er- und 1950er Jahren, getragen von Theologen wie Andreas Jungmann, Karl Rahner – und seinem berühmten Bruder Hugo. ah

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Foto: Andreas Friedle


OFFENE UNENDLICHE WEITEN Die Messung von Gravitationswellen und Lichtsignalen nach der Kollision zweier ­Neutronensterne in einer fernen Galaxie bedeutete im Sommer 2017 eine wissenschaftliche Sensation. An der Entdeckung waren weltweit mehr als 70 Observatorien beteiligt, über 3900 ­Forscherinnen und Forscher publizierten die Ergebnisse. Nicht der einzige offene Zugang zu Wissen in der Welt der Astrophysik.

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TITELTHEMA

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BILD SEITE 8/9: Das Universum sehen und zugleich auch zu hören gelang Astronominnen und Astronomen im Sommer 2017, gemessen wurden die Gravitationswellen und das Aufleuchten eines Zusammenstoßes zweier Neutronensterne. Die Beobachtung gelang am 17. August mithilfe der Gravitationswellen-Observatorien LIGO in den USA und VIRGO in Italien sowie von rund 70 Observatorien. An der Daten-Auswertung war auch das Team von Olaf Reimer beteiligt. Die Illustration der Neutronensternenkollision stammt von Aurore Simonnet von der Sonoma State University.

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eit Juni 2008 umkreist das Fermi Gamma-ray Space Telescope unsere Erde und soll in den unendlichen Weiten des Weltalls Quellen hochenergetischer Gammastrahlen finden und ihre Eigenschaften untersuchen. Olaf Reimer, Professor für ­Astro- und Teilchenphysik an der Universität Inns­bruck, ist seit mehr als 15 Jahren Teil des Fermi-Teams. Auch wenn am Team rund 100 Forscherinnen und Forscher aus zwölf Ländern beteiligt sind, sei man, so Reimer, in der Auswertung der Daten, die über das NASAWeltraumteleskop generiert werden, limitiert. Daher ist es Usus und von Seiten der NASA Bedingung, diese Daten derart aufzubereiten, dass sie auch für externe Forscher zugänglich und verwertbar sind. Was man mit diesen Daten machen kann, zeigte 2010 ein Team rund um den Harvard-Astronomen Doug Finkbeiner. Es kitzelte aus den Daten eine unbekannte gigantische Struktur innerhalb der Milchstraße heraus, die von ihnen entdeckten Fermi-Bubbles schafften es als wissenschaftliche Sensation ins NASA News Release und auf das Cover von Scientific American. „Als Mitglied des Fermi-Teams war ich natürlich beschämt, dass wir das nicht selbst entdeckt haben, als Forscher bin ich aber erfreut, dass unsere Daten von anderen für diese fundamentale Entdeckung genutzt werden

OLAF REIMER (Jahrgang 1965) studierte an der Universität Leipzig Physik. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen, wo er 1995 promovierte. Es folgten Forschungsaufenthalte am Max-PlanckInstitut für extraterrestrische Physik, am NASA ­Goddard Space Flight Center sowie am Institut für Theoretische Weltraum- und Astrophysik der Uni Bochum. 2005 wechselte Reimer an die Stanford University (Hansen Experimental Physics Laboratory und Kavli Institute for Astroparticle Physics and Cosmology). 2009 übernahm er an der Universität Inns­bruck die Professur für Astro- und Teilchenphysik.

konnten“, sagt Reimer. Dieser offene Zugang zu Daten ist für den Weltraumforscher (fast) selbstverständlich, er hat in seiner Disziplin Tradition – so einigte man sich etwa schon zu Beginn der 1980er-Jahre auf die Datenformate für den öffentlichen Gebrauch. „Ein Grund für den offenen Umgang mit Daten liegt darin, dass in den USA Funding Agencies wie z. B. die NASA das öffentliche Zur-Verfügung-Stellen fordern, da mit Steuermitteln, und zwar mit beträchtlichen, geforscht wird“, berichtet der Astrophysiker. Schon in Projektanträgen müssen Anteile am Gesamtbudget für Public Outreach reserviert werden, will man Projektdaten exklusiv pu-

Fotos: NSF/LIGO/Sonoma State University/A. Simonnet (Seite 8/9), G. Pérez/IAC/SMM (1), Andreas Friedle (1)


TITELTHEMA

blizieren, ist das von Seiten der NASA ein Ausschließungsgrund. Ähnliches plant die EU, eine Entwicklung, die Reimer begrüßt. „Wenn uns schon so viel Geld zur Verfügung gestellt wird, um unsere Experimente durchzuführen, haben wir die moralische Verpflichtung, unseren Kollegen Ergebnisse und Daten, der Öffentlichkeit auch Bilder und Himmelskarten zur Verfügung zu stellen.“ Wobei, das mit den Daten sei so eine Sache, räumt Olaf Reimer ein: „Im Fermi-Team hat uns die Diskussion, welche Art von Daten wir veröffentlichen, viel Zeit gekostet.“ Die Rohdaten kann fast niemand verwerten, daher bringt das Instrumenten-Team „nach bestem Wissen und Gewissen“ diese in eine Form, mit der externe Forscher etwas anfangen können. „Der Prozess, aus gemessenen Rohdaten Informationen zu erhalten, ist aber kein objektiver“, gibt der Inns­brucker Forscher zu. Um die notwendige Transparenz zu gewährleisten, wird das Prozedere regelmäßig überdacht und gegebenenfalls verbessert. Ein anderes Modell ist die Arbeit mit Externen. „Bei komplizierten Experimenten laden wir Wissenschaftler zur Zusammenarbeit ein. Solche Kooperationen eröffnen die Chance, in Bereiche vorzudringen, für welche die Expertise unseres Teams nicht ausgereicht hätte“, sagt Reimer.

Weltweites Beobachternetz

Eingeladen zur Kooperation wurden im heurigen Sommer auch die Betreiberteams von rund 70 Weltraumteleskopen. Im August fingen die Detektoren VIRGO (Italien) und LIGO (USA) Signale von Gravitationswellen ein, die durch den Zusammenstoß zweier Neutronensterne verursacht wurden. Den Experten ge-

lang es auch, grob den Ursprungsort zu lokalisieren – in einer Galaxie, die 130 Millionen Lichtjahre entfernt ist. Die Information ging innerhalb kürzester Zeit an die 70 Observatorien weiter, die daraufhin den Weltraum beobachteten – und quasi das „Nachglühen“ der Kollision einfangen konnten. „Die Daten, die von VIRGO und LIGO gemessen wurden, sind nicht öffentlich“, schränkt Reimer den Open Access ein, „offen war aber die Information, wo etwas stattgefunden hat.“ Ein extremer Zeitdruck habe danach geherrscht, das Ereignis schnellstmöglich zu veröffentlichen, ein Termin wurde für Oktober festgesetzt, wissenschaftliche Publikationen zum Thema mussten zeitgerecht fertig sein. „Bei über 70 beteilig­ten Kollaborationen mit ihren vielen Mitgliedern braucht es normalerweise Monate, wenn nicht Jahre, bis eine Publika­ tion fertig ist“, weiß Reimer. Doch es klappte, rund 3900 Forscherinnen und Forscher waren schlussendlich an den Veröffentlichungen beteiligt, selbst Nature passte wegen der Pressekonferenz zur Astro-Sensation den Erscheinungstermin der Publikationen an. Natürlich, sagt Reimer, sei es auch von Vorteil, „dass meine Disziplin Grundlagenforschung am Rande der Verwertung ist“. Bis Entwicklungen aus der Weltraumforschung wie z. B. GPS oder Teflon reif für einen breiten Markt waren, vergehen Jahre bis Jahrzehnte, der Konflikt zwischen Verwertung und Öffentlichkeit sowie Reproduzierbarkeit sei daher nicht so groß wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen. Doch es geht auch um ein gemeinsames Ziel der Community: „Am Ende wollen wir alle das Gleiche, nämlich das verstehen, was wir im Moment nicht verstehen.“ ah

CHERENKOV TELESCOPE ARRAY: Moderne CherenkovTeleskop-Experimente wie H.E.S.S., MAGIC oder VERITAS bestehen aus bis zu fünf Teleskopen, teilweise sogar verschiedener Teleskoptypen. Diese Experimente haben in den letzten Jahren gezeigt, dass unser Himmel von einer Vielzahl von Gammaquellen bevölkert ist und haben damit Gammaastronomie als innovativen und spannenden Zweig der Astronomie etabliert. Um diese Gammaquellen im Detail zu studieren (hochaufgelöst und über einen breiten Energiebereich) und neue, weniger helle Quellen und Quelltypen zu detektieren, stoßen diese Experimente jedoch bereits an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Das Projekt „Cherenkov Telescope Array – CTA“ ist nun eine Initiative zum Bau des nächsten bodengebundenen Instruments zur Beobachtung von sehr hochenergetischer Gammastrahlung. „Wir sehen uns nicht mehr als H.E.S.S., MAGIC oder VERITAS und somit als Konkurrenz, sondern bauen CTA gemeinsam“, sagt H.E.S.S.-Mitglied Olaf Reimer. Die Standorte von CTA werden auf La Palma/Kanaren und in der chilenischen Atacamawüste sein. Als ein offenes Observatorium wird es einer breiten Astrophysik-Community zur Verfügung stehen und wird tiefe Einsichten in das nichtthermische hochenergetische Universum bieten. Österreich ist mit dem Institut für Astro- und Teilchenphysik der Universität Inns­bruck an CTA beteiligt.

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FRAGE DER TRADITION Eva Ramminger, Leiterin der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, und Informatiker Justus ­ Piater über den freien Zugang zu Wissen, die Macht der Wissenschaftsverlage, Probleme rund um das ­Copyright von Daten und die Unterstützung der Open-Access-Bewegung. ZUKUNFT: Herr Piater, Sie treten bei Pu-

blikationen für eine Open-Access-Kultur ein. Wird die Forschercommunity von Wissenschaftsverlagen ausgebeutet? JUSTUS PIATER: Die Antwort hängt, glaube ich, etwas von der Domäne ab. Fakt ist, dass der größte Teil der Arbeit von Wissenschaftlern unentgeltlich gemacht wird: Der Peer Review und in den mathematik­ lastigen Wissenschaften das Typesetting und die elektronische Verteilung. In der Informatik und Physik sowie in technischen Wissenschaften bleibt nicht mehr viel übrig, was Verlage zu tun hätten. ZUKUNFT: Auch keine zu zahlende Arbeit… PIATER: Richtig. Es kann sogar kontraproduktiv sein, bei vielen Artikeln wird das Typesetting nochmals durchgeführt, das Ergebnis ist oft schlechter als jenes, das man hingeschickt hat. Um es auf den

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Punkt zu bringen: Verlage verdienen damit, dass sie der Welt Informationen vorenthalten. Wissenschaft wird öffentlich finanziert. Um sie zu veröffentlichen, ist man auf Verlage angewiesen, die damit Geld verdienen, dass man sich bei ihnen das öffentlich finanzierte Wissen wieder mit Geld holen muss, ohne dass ein wahrnehmbarer Mehrwert entsteht. In meinem Fachgebiet brauchen wir Verlage überhaupt nicht mehr, wir brauchen Sponsoren, welche die Kosten von Online-Fachjournalen z. B. für die OnlineInfrastruktur finanzieren. ZUKUNFT: Frau Ramminger, wie sehen Sie diese Thematik? EVA RAMMINGER: In den Wissenschaftsdisziplinen schreitet die Entwicklung sehr unterschiedlich voran. In den Fächern Informatik, Astronomie, Physik ist Open Access schon seit Langem ein

Thema. Es gibt aber auch Fachbereiche, vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen dieser Wandel anders erfolgt, in denen die Fachcommunity mit Literatur anders umgeht. Bei einigen Wissenschaften ist die Halbwertszeit von Information viel kürzer, in den Geisteswissenschaften wird auch Literatur verwendet, die 100 Jahre alt ist. Für uns als Bibliothek ist es nun die Herausforderung sowohl neue Publikationstraditionen als auch noch sehr printbetonte mit einem umfassenden Angebot zu versorgen. Das ist die Bandbreite, in der wir uns bewegen. ZUKUNFT: Geht es nicht auch um Tradition? Das gesamte Interview finden Sie auf der Homepage der Uni Inns­bruck unter: www.uibk.ac.at/forschung/magazin/19/

Fotos: Andreas Friedle


TITELTHEMA RAMMINGER: Ja. In manchen Fachbe-

reichen war das Publizieren bereits früh international ausgerichtet, während andere einen regionalen Wirkungsraum bevorzugen, was auch mit der Thematik zusammenhängt. Es gibt Traditionen, die brauchen unbedingt ein Peer Review, andere sagen, für uns ist das nicht mehr wichtig, wir wollen unsere Forschungsergebnisse möglichst schnell und breit kommunizieren. PIATER: Ich muss an dieser Stelle auch klarstellen, dass das Publikationsmedium von der Publikationsqualität vollkommen unabhängig ist. Was die Qualität in unserem Umfeld sichert, ist der Peer Review, wobei diskutiert wird, ob sich das überlebt hat. Bis heute jedenfalls ist es der goldene Standard, der die Qualität sicherstellt – und dann kann es entweder elektronisch oder in Papierform, Open Access oder nicht publiziert werden. ZUKUNFT: Qualität wird durch die Publikationsarbeit, wie man sie z. B. in der Belletristik von Verlagen gewohnt ist, und nicht durch die Publikationsform bestimmt… PIATER: Genau. Wenn ich mit einer neuen Zeitschrift konfrontiert werde und einschätzen will, wie gut die Artikel wahrscheinlich sind, schaue ich als erstes auf die Editoren. RAMMINGER: Es gibt unterschiedliche Verhaltensweisen im Belletristik- und Wissenschaftsmarkt. Qualität heißt bei Zweiterem, wie gut und anerkannt die Editoren sind, wie hoch die Impact Factors sind. Und je mehr diese Bewertungskriterien eine Rolle spielen, desto mehr lassen sich die Verlage das bezahlen. Die Top-Zeitschriften Nature und Cell gehören beispielsweise in diese Liga. ZUKUNFT: Stoßen die Kosten in Dimensionen vor, die das Budget einer Bibliothek sprengen können? RAMMINGER: Ja. ZUKUNFT: Sind die Kosten in den letzten Jahren gestiegen? RAMMINGER: Die Lizensierung von Zeitschriften war schon immer ein großer Budgetposten. Die Tatsache, dass qualitativ hochwertige wissenschaftliche Forschung und der Zugang zu ihr für Universitäten überlebenswichtig sind, macht es zu einem Wirtschaftsfaktor. Nachdem Unis die Hauptabnehmer von wissenschaftlicher Literatur sind, sind wir in einem Kreislauf, der stark über

EVA RAMMINGER begann ihre berufliche Tätigkeit 1985 an der Universität Inns­bruck, wo sie 1988 ihre Bibliotheks­ ausbildung und 1993 ein Studium der Kunstgeschichte abschloss. 2003 wechselte sie an die Bibliothek der ETH Zürich, 2010 übernahm sie die Leitung der Universitätsbibliothek der TU Wien. Seit Februar 2016 leitet sie die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol.

Geld reguliert wird. Wir steuern inzwischen stark dagegen, in dem wir unter anderem die Open-Access-Bewegung aktiv unterstützen, uns koordinieren und Einkaufskonsortien gründen. ZUKUNFT: Besteht die Gefahr, dass durch eine Trennung von Printprodukten Wissen nicht mehr auffindbar wird? PIATER: Da sehe ich keine Gefahr. Auch bei Papiermaterial muss man sich Gedanken machen, wie man es organisiert. In elektronischer Form hat man aber die Möglichkeit, den Datenbestand gleichzeitig mehrfach zu organisieren. Die Herausforderung ist, das Material mit

JUSTUS PIATER studierte in Braunschweig sowie Magdeburg und schloss 1994 mit dem Diplom ab. An der University of Massachusetts machte er einen MSc und einen PhD in Computer Science, danach war er beim Forschungsinstitut INRIA Rhône-Alpes. 2002 wurde er Professor für Informatik an der Université de Liège in Belgien. Seit 2010 ist er Professor am Institut für Informatik, Schwerpunkt Intelligente Systeme.

aktueller Software verfügbar zu halten. Es wird kein Weg daran vorbeiführen, elektronische Archive immer wieder auf aktuelle Technologien zu konvertieren. ZUKUNFT: Womit wir wieder ein neues Betätigungsfeld für Bibliotheken hätten. RAMMINGER: Ja, es gibt bezüglich Langzeitarchivierung große internationale Bemühungen – mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Es geht auch um die Eigentümerschaft dieser Daten – was gerade für die Wettbewerbsfähigkeit von Universitäten elementar sein kann. Das Problem der Urheberschaft ist ein riesiges, wobei es auch ein Bestreben von Verlagen gibt, auf diese Daten Zugriff zu erhalten. ZUKUNFT: Wo liegt das Copyright wissenschaftlicher Forschungsleistungen und Publikationen? PIATER: Wir werden mehr oder weniger gezwungen, unser Copyright auf die Verlage zu überschreiben. In meinen Augen ist das skandalös, wir haben die Arbeit, sie haben das Verwertungsrecht. In der Praxis habe ich dieses Problem aber nie als so wichtig angesehen, da ich noch keinen Fall gesehen habe, in dem so ein Copyright eingeklagt wurde. RAMMINGER: An der Universität wurde ein Open-Access-Netzwerk gebildet, wo unter anderem Autoren in Vertragsverhandlungen mit den Verlagen beraten werden. So ist es nicht zwingend notwendig, dass sie sämtliche Rechte am Text abgeben, dass z. B. das Archivieren auf einer Forschungsplattform möglich ist. PIATER: Das ist in meinem Bereich schon der Fall, praktisch sämtlich topklassige Konferenzen mit Proceedings oder Journals erlauben das. Auch die EU hat erkannt, dass es da ein Problem gibt, und setzt durch, dass z. B. bei Horizon2020-Projekten öffentlich finanzierte Forschung auch öffentlich zugänglich sein muss. ZUKUNFT: Wo wird die Reise hinführen? PIATER: Aus meiner Sicht hoffe ich, dass in zehn Jahren Verlage – zumindest in meinem breiten Umfeld – bei der Verbreitung wissenschaftlicher Literatur keinerlei Rolle mehr spielen, dass alle Zeitschriften Open Access sind und von Freiwilligen – so wie schon jetzt, aber ohne Verlagshoheit – gemanagt werden. Ich hoffe, dass diese Zeitschriften gesponsert werden wie z. B. durch die Uni Inns­b ruck, die für Open-Access-Gründungen die Infrastruktur zur Verfügung stellt. ah

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TITELTHEMA

KLANG DER WORTE „La vie en rose“ und „Aux Champs-Élysées“ sind nur zwei der bekanntesten französischen C­ hansons, dem Herzstück des Archivs für Textmusik in der Romania an der Uni Inns­bruck. Die vielfältigen ­Verbindungen von Text und Musik werden unter anderem auch in ATeM, einer kulturwissenschaftlichen Open-Access-Fachzeitschrift, beleuchtet.

GERHILD FUCHS: „Wem ist schon bewusst, dass aus dem Ohrwurm ‚O sole mio’ später ‚It’s now or never’ von Elvis Presley wurde?“

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Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA

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ber 6.000 Tonträger, mit mehr als 60.000 Einzeltiteln von über 1.000 Interpretinnen und Interpreten, umfasst die Allgemeine Sammlung des Textmusikarchivs, ergänzt durch eine umfassende Fachbibliothek. Dazu kommen noch zahlreiche Werke von speziellen Sammlungen wie etwa jene von ­Pierre Seguy zum französischen Chanson oder Albert Gier zur Librettoforschung. Jaques Brel, Georges Brassens oder Edith Piaf sind nur einige der bekannten Vertreterinnen und Vertreter des Chansons, das die größte Sammlung im Textmusik­ archiv an der Uni Inns­bruck ausmacht. „In den Pariser Vierteln Saint-Germain-des-Prés bzw. an der Rive Gauche hatten die Chansonniers und Chansonnières ihre Lokale, in denen sie aufgetreten sind. Das Chanson ist im 20. Jahrhundert in Frankreich die wichtigste Form der Populärmusik“, erklärt Gerhild Fuchs, Professorin am Institut für Romanistik und Leiterin des 1985 von Ursula Mathis-Moser gegründeten und kontinuierlich ausgebauten Archivs. Die Wissenschaftlerin betont zudem, dass diese Künstlerinnen und Künstler stark von literarischen und philosophischen Strömungen der Zeit, wie etwa dem Existentialismus, beeinflusst wurden. Text und Musik verschmelzen im Chanson wie in allen Formen der Textmusik in ganz besonderer Art und Weise, vor allem dann, wenn die betreffenden Künstlerinnen und Künstler ihre Texte selbst schreiben, die Musik komponieren und ihr Werk selbst auf der Bühne interpretieren. „Das sogenannte Autorenlied ist zu einer Kunstform geworden, die nicht die Würden der ernsten, klassischen Musik hat, aber im Bereich der Populärmusik etwas Elitäres darstellt“, verdeutlicht Fuchs. Das französische Chanson beeinflusste und beflügelte auch die Entwicklung des Autorenliedes beispielsweise in Italien, Spanien oder Portugal.

Gesungene Lyrik

Wie der Fado in Portugal ist in Italien etwa das Neapolitanische Lied weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. „Wem ist schon bewusst, dass aus dem Ohrwurm ‚O sole mio’ später ‚It’s now or never’ von Elvis Presley wurde?“, weist die Romanistin auf einen prägnanten kulturellen Transfer

in diesem Bereich hin. Doch weder die Musik noch der Text sollen in den Forschungen im Archiv im Vordergrund stehen. „Es ist die Kombination aus beidem, denn Text und Musik bedingen sich gegenseitig, dazu kommt noch die Kunst der Interpretation – wir interessieren uns für dieses komplexe Zusammenspiel“, so Fuchs. Neben dem Autorenlied beschäftigen sich die Wissenschaftlerin und ihr Team auch mit traditionellen Mischformen von Text und Musik wie Oper, Operette oder Musical, im Mittelpunkt stehen aber vor allem Liedformen der Populärkultur, auch in der Gestalt von Schlager, Pop, Rock oder Rap. „Auch als Literaturwissenschaftler haben wir die Musik im-

musikforschung in ein modernes Licht rückt“, so Fuchs, die als Herausgeberin der Online-Zeitschrift gemeinsam mit Ursula Mathis-Moser und Birgit MertzBaumgartner darauf Wert legt, dass der Zugang zum untersuchten Medium auf wissenschaftlichen Theorien basiert. „Alle eingereichten Artikel werden an zwei externe internationale Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler zur Begutachtung geschickt. Das Peer-Review-Verfahren liegt uns besonders am Herzen, um die Qualität der Beiträge und der Zeitschrift noch einmal zu erhöhen“, betont Gerhild Fuchs. Offen müssen die Wissenschaftlerin und ihr Team auch im Hinblick auf die laufende Anschaffung von Tonträgern

„ Mit der Open-Access-Fachzeitschrift ATeM wollen wir uns aus einer interdisziplinären Perspektive den vielfältigen Verbindungen Gerhild Fuchs, Archiv für Textmusikforschung von Text und Musik widmen.“ mer im Ohr, auch wenn wir diese nicht musikwissenschaftlich untersuchen kön­ nen. Auffallend ist für uns, dass die Texte der französischen Chansons und der italienischen Canzone hohe literarische Qualitäten haben, da die Textbasis immer Lyrik ist“, betont die Wissenschaftlerin, die verdeutlicht, dass Lyrik bis über die Renaissance ­ hinaus immer im Zusammenspiel mit Musik gedacht wurde. „Die Scuola Siciliana war im frühen 13. Jahrhundert die erste große italienische Lyrikschule, die stark von den Troubadours beeinflusst wurde. Lyrik und Musik waren in diesen frühen Dichtungen untrennbar miteinander verbunden“, erläutert die Romanistin.

Offen für alle

Das Archiv für Textmusikforschung stellt sich den Herausforderungen der digitalen Zukunft und ist offen für Neues. Offen ist auch die seit Dezember 2016 bestehende Open-Access-Fachzeitschrift ATeM, das Publikationsorgan des Archivs für Textmusikforschung, verlegt von innsbruck university press. „Aus einer interdisziplinären Perspektive wollen wir uns den vielfältigen Verbindungen von Text und Musik widmen. Unser Anliegen ist es, ein zeitgemäßes Format zu bieten, das den in der Wissenschaft etwas randständigen Bereich der Text-

sein. Wurden bisher hauptsächlich CDs oder LPs angeschafft, muss mit den digitalen Medien auch ein neuer Zugang zur Archivierung von Musik ausgearbeitet werden. „Ein Teil der zeitgenössischen Populärmusik ist mittlerweile hauptsächlich elektronisch verfügbar. Dieser Herausforderung müssen wir auch als Archiv begegnen und die Chancen der neuen Verfügbarkeiten ergreifen“, so Fuchs. Das größte Problem bei der Anschaffung neuer Tonträger ist jedoch, wie sie betont, die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel. „Eine derart große Sammlung wirklich aktuell zu halten, ist nur schwer möglich, wir sind daher ständig auf der Suche nach Sponsoren.“ So sollen neben dem Schwerpunkt im französischen und frankokanadischen Chanson sowie dem relativ gut ausgebauten Bereich der italienischen Canzone zukünftig auch Lücken im Spanischen und Portugiesischen geschlossen werden. „Ein Anlass zu großer Freude ist für die Betreiber und die Nutzer des ­Archivs auf jeden Fall die Tatsache, dass die Archiv­r äume im letzten Jahr umund ausgebaut werden konnten und nunmehr in neuem Glanz erstrahlen“, so Fuchs. Ein Besuch des neuen Archivs ist für alle interessierten Personen möglich und der Leiterin sowie ihrem Team äußerst willkommen. dp

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TITELTHEMA

OFFENE STATISTIK Quelloffene Software spielt in der Statistik eine bedeutende Rolle – die Programmiersprache R ganz besonders. Sie wird auch in Innsbruck weiterentwickelt.

R-CODE für Modellierung zensierter Daten und darauf basierende Niederschlags­ prognose für Nordtirol.

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D

ie Ausbreitung und Gefährdung des tropischen Regenwalds, die Gewinnwahrscheinlichkeit von Nationalteams bei Fußball-Großereignissen oder die Wahrscheinlichkeit von Nebel auf Flughäfen: Nur drei Beispiele von Fragestellungen, an denen der Statistiker Achim Zeileis arbeitet. So unterschiedlich die einzelnen Anwendungsgebiete anmuten, gemeinsam ist ihnen, dass sie statistische Methoden erfordern und nur mit entsprechender Software umgesetzt werden können – und dass dabei die Open-SourceProgrammiersprache R eine bedeutende Rolle spielt, wie Achim Zeileis erklärt: „R ist eine Programmiersprache, die von Anfang an entworfen wurde, um mit Daten und Statistik zu arbeiten. R ist erweiterbar und quelloffen, jeder und jede kann daran mitarbeiten und selbst Erweiterungspakete für konkrete Anwendungen schreiben.“ Österreichische Forscherinnen und Forscher sind ganz zentral an der Weiterentwicklung von R beteiligt (siehe

Kasten), darunter auch Achim Zeileis selbst. Aus seiner wissenschaftlichen Arbeit ist R für den Statistiker nicht mehr wegzudenken: „Wenn ich statistische Methoden entwickle, möchte ich auch praktisch sehen, ob die funktionieren – ich schreibe also ein R-Paket dafür, um das empirisch zu überprüfen. Das kommt auch vor, wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen an deren Fragestellungen arbeite. Und daneben gibt es Fälle, wo ich ohne ganz konkrete Anwendung Software als Forschungsoutput habe, wo es nur darum geht, eine Methode umzusetzen, die es vielleicht in anderen Software-Umgebungen schon gibt, aber für R noch nicht oder nicht in der gewünschten Qualität.“

Open Source

Um R hat sich seit Entwicklung der Sprache in den 1990ern eine weltweite Community entwickelt, die Pakete für unterschiedliche Anwendungsfälle schreibt und die Sprache

Fotos: Achim Zeileis (1), Uni Innsbruck/Eva Fessler (1)


TITELTHEMA

„ Wenn ich statistische Methoden entwickle, möchte ich auch ­praktisch sehen, ob die funktionieren – ich schreibe also ein R-Paket dafür, um das empirisch zu überprüfen.“ Achim Zeileis, Institut für Statistik weiterentwickelt. Die gemeinsame Arbeit erleichtert auch den Austausch: „Das Tolle an Open-Source-Software mit einer Community ist, dass Zusammenarbeit leichter entsteht und auch für junge Wissenschaftler die Überwindung nicht so groß ist, Leute einfach anzuschreiben und die eigene Mitarbeit anzubieten. Es kommt natürlich auch vor, dass das jemand ablehnt, aber sehr häufig funktioniert das.“ So werden Pakete dann auch auf ganz unerwarteten Gebieten zum großen Erfolg: „Ein Bereich, der vor Jahren in R noch nicht gut umgesetzt war, ist die Analyse von Zähldaten. Die modellierte Variable ist dabei Ergebnis eines Zählprozesses. Ein klassisches wirtschaftswissenschaftliches Beispiel wäre, wie häufig ein Patent in einem bestimmten Zeitraum zitiert wird, was als Maß für den Innovationsgehalt eines Patents verwendet wird – das sind meistens niedrige Werte, oft auch Null. In der Literatur gab es dafür viele Modelle, aber nur ein Teil war damals in R umgesetzt. Deshalb habe ich den Autor eines dieser R-Pakete kontaktiert und das mit ihm erweitert. Der Kollege ist Politikwissenschaftler, wir haben dann auch gemeinsam ein Paper dazu publiziert, das sehr regelmäßig und recht häufig zitiert wird. Die Zitationen kommen aber in einem nur sehr geringen Ausmaß aus den Wirtschaftswissenschaften oder der Politikwissenschaft, sondern viel mehr aus den Umweltwissenschaften. Dort setzen Forscherinnen und Forscher unsere Software ein, um zu modellieren, von welchen Umweltfaktoren die Anzahl der Sichtungen bestimmter Tiere abhängt. Das ist eines der Pakete, zu dem ich sehr viele Anfragen bekomme und das recht erfolgreich ist, wenn auch auf einem ursprünglich nicht erwarteten Fachgebiet.“

Motivation

R ist heute in der Statistik-Community die am weitesten verbreitete Software – und durch die Quelloffenheit und die große Zahl an Menschen, die an und mit R arbeiten, entstehen auch Möglichkeiten für Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg. „Eine Motiva-

tion für mich ist, dass ich Leute beeinflussen kann in der Art, wie sie ihre Daten analysieren, und ich ihnen Werkzeuge zur Verfügung stellen kann, die ihnen dabei helfen. Manchmal klappt das nicht und niemand verwendet das Paket – und manchmal trifft man genau die Bedürfnisse der Anwender. Die Zitationen und direktes Feedback sind dann eine starke Motivation, die Software weiterzuentwickeln und zu verbessern“, sagt Achim Zeileis.

Offenes Journal

Eng mit offener Statistik-Software und deren Verbreitung verknüpft ist das Open-AccessJournal of Statistical Software (JSS), dessen CoEditor in Chief Achim Zeileis ist. „Das JSS wurde 1996 an der University of California, Los Angeles von Jan de Leeuw gegründet. Damals waren Software-Autoren in der akademischen Gemeinschaft nur wenig sichtbar, es gab keine wissenschaftlichen Publikationsplattformen dafür. Vor diesem Problem standen wir auch Anfang der 2000er-Jahre, als ich selbst meine ersten Papers geschrieben habe. Mein erstes Paper mit Peer-Review war eins im JSS und unsere damalige Arbeitsgruppe an der WU Wien hat sich in der Folge stark im JSS eingebracht. Das Journal ist seither enorm gewachsen, der Impact Factor ist gestiegen, ebenso die Zahl der Einreichungen.“ Um im JSS veröffentlicht zu werden, muss ein wissenschaftlicher Beitrag und die dazugehörige Software eingereicht werden, beides unter offenen Lizenzen – das Paper unter einer Creative-Commons-Lizenz, die Software unter einer GPL-kompatiblen Lizenz. „Der Peer-Review-Prozess ist relativ aufwendig, weil beide Teile, Software und Paper, begutachtet werden. Auch Revisionen dauern länger als bei anderen Journalen, weil der Review auch darin bestehen kann, dass große Teile der Software neu geschrieben werden müssen“, erklärt Achim Zeileis. Etwa 80 Prozent aller Einreichungen im JSS sind R-Pakete, wobei das Journal nicht auf R beschränkt ist – auch quelloffene Pakete für andere StatistikUmgebungen sind möglich. sh

PROGRAMMIERSPRACHE R: R ist eine freie Programmiersprache und ein interaktives System für statistische Berechnungen, das genau wie das freie Betriebssystem Linux unter der GNU General Public Licence (GPL) veröffentlicht wird. R ist in den 1990er-Jahren aus der in den 1970ern an den Bell-Labs entwickelten Programmiersprache S hervorgegangen. Der Name der Sprache geht zurück auf den Anfangsbuchstaben der Vornamen der beiden ursprünglichen Designer: Ross Ihaka und Robert Gentleman. Über ein Paketsystem kann jede und jeder R-Entwicklerin oder -Entwickler werden und eigene Erweiterungspakete schreiben. R wird heute von einer weltweiten Community weiterentwickelt, wobei Österreich hier eine bedeutende Rolle spielt – so befindet sich das zentrale Archiv für R-Pakete wie auch der Sitz der R Foundation an der Wirtschaftsuniversität Wien. Teams an mehreren österreichischen Universitäten (wie um Achim Zeileis an der Universität Innsbruck) tragen wesentlich zur Weiterentwicklung bei. Die seit 2004 jährliche größte Konferenz für R-Nutzerinnen und -Nutzer, „useR!“, wurde ebenfalls in Österreich ins Leben gerufen.

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TITELTHEMA

OFFENHEIT ORGANISIEREN Jederzeit und überall: Die Digitalisierung hat den Zugang zu Wissen revolutioniert. Was technisch längst möglich ist, stellt die Gesellschaft aber immer wieder vor neue ­Herausforderungen. Denn: Auch digitale Offenheit braucht Organisation, sagt der Organisationsforscher und Experte für digitale Rechtsfragen Leonhard Dobusch. ZUKUNFT: Das Thema Digitalisierung spielt in vielen Bereichen Ihrer Arbeit eine große Rolle. Welche Bedeutung hat das „Netz“ Ihrer Meinung nach für die Wissenschaft? LEONHARD DOBUSCH: Um die Bedeutung deutlich zu machen, lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern hat geradezu zu einer Wissensexplosion geführt. Wissen konnte dadurch Einzug in die Gesellschaft halten und hat zum Beispiel die Schulpflicht ermöglicht. Die Bedeutung des Internets sehe ich ähnlich groß: Die prinzipiell sofortige, globale Verfügbarkeit von Wissen hat die „Explosion“ nochmals multipliziert. Diese Entwicklung ist absolut wünschenswert, denn Wissenschaft ist ihrem Wesen nach dadurch gekennzeichnet, dass sie offenen Zugang zu Wissen voraussetzt. Erkenntnisfortschritt kann nur über Auseinandersetzung mit Bestehendem erfolgen. Offenheit ist aber immer auch mit Herausforderungen verknüpft. ZUKUNFT: Wo liegen die großen Herausforderungen? DOBUSCH: Sowohl im Wissenschaftsbereich als auch in vielen anderen Bereichen, mit denen wir uns in der Organisationsforschung auseinandersetzen, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Einerseits ermöglicht die Digitalisierung mehr Offenheit – im Guten wie im Schlechten. Es gibt mehr Vielfalt an Wissensquellen und Meinungen, auf der anderen Seite verbreiten sich auch Falschmeldungen und Hassbotschaften einfacher und schneller. Digitalisierung bedeutet auch Kontrollverlust, mit dem umgegangen werden muss, um zweifellos vorhandene Potenziale auch ausnutzen zu können. Daher ist der 18

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„ Die Erfindung des Buchdrucks­ hat geradezu zu einer ­Wissensexplosion geführt. Wissen konnte dadurch Einzug­ in die Gesellschaft halten. Die Bedeutung des Internets sehe ich ähnlich groß: Die prinzipiell­ sofortige, globale­ Verfügbarkeit­von Wissen hat die ‚Explosion‘­nochmals ­multipliziert. Diese­ Entwicklung ist absolut­­wünschenswert, denn ­Wissenschaft ist ihrem Wesen nach dadurch gekennzeichnet, dass sie offenen Zugang zu ­Wissen voraussetzt.“

zweite Aspekt ganz wesentlich: Offenheit will organisiert werden. Die Potenziale größerer Offenheit stellen sich durch Digitalisierung nicht von selbst ein. ZUKUNFT: Hält man sich die Entwicklungen rund um Open Access in der Wissenschaft vor Augen, verläuft die Organisation dieser Offenheit zumindest nicht ganz reibungslos. DOBUSCH: Richtig. Seit mehr als zehn Jahren ist es aus technischer Sicht völlig problemlos möglich, wissenschaftliche Publikationen sofort und weltweit zur Verfügung zu stellen. Das heißt aber natürlich noch lange nicht, dass das auch so geschieht: Eine technisch mögliche Offenheit ist noch lange keine intellektuelle oder kreative Offenheit. Wir haben es mit etablierten gesellschaftlichen Strukturen zu tun, die sich auch im wissenschaftlichen Publizieren in traditionellen Abläufen zeigen. Es bestehen sogenannte Pfadabhängigkeiten, die viele Akteure in diesem Prozess im Moment noch zu Profiteuren machen. Profit bedeutet das Handeln mit wissenschaftlichen Publikationen vor allem für große Verlagshäuser, die trotz sinkender Produktionskosten durch die Digitalisierung sehr hohe Subskriptionsgebühren einheben. Dagegen regt sich aber immer mehr Widerstand – zu Recht. Öffentlich finanzierte Forschung sollte öffentlich zugänglich sein. Und für Lehr- und Lernunterlagen gilt eigentlich dasselbe. Aber während wir bei wissenschaftlichen Publikationen mit dem Konzept von Open Access auf einem guten Weg sind, gibt es beim freien Zugang zu Lehr- und Lernmaterialien noch sehr viel Aufholbedarf. ZUKUNFT: Wie könnte eine gelungene Organisation von Offenheit aussehen?

Fotos: Andreas Friedle


TITELTHEMA

DOBUSCH: Meiner Ansicht nach gibt es

hier verschiedene Werkzeuge. Auf rechtlicher Seite stehen mit Creative Commons Urheberrechtslizenzen zur Verfügung, die sehr viele Dinge vereinfachen – oder überhaupt erst möglich machen. Creative-Commons-Lizenzen erlauben die freie Weiterverwendung von verschiedensten Inhalten und die Zusammenarbeit von vielen Menschen, ohne ständig Rechte klären zu müssen. Dass es heute eine offene, weltweit zugängliche Enzyklopädie wie die Wikipedia gibt, ist stark auf diese offenen Lizenzen zurückzuführen. Die Wikipedia ist aus dieser Sicht eine große Errungenschaft, sozusagen eine Oase digitalen Gemeinguts in einem Meer kommerziell getriebener Angebote. Aber auch die Wikipedia hat natürlich mit Problemen zu kämpfen. Aus einer Management-Perspektive lassen sich am Beispiel der Enzyklopädie viele interessante Fragestellungen zur Organisation von Offenheit ableiten, z. B. wie sich Vielfalt in Communities aus Freiwilligen erreichen lässt. Was den Wissenschaftsbereich betrifft, würde ich für einen weiteren Ausbau des universitäts- und bibliotheksbasierten Veröffentlichungswesens

plädieren, das gerade ein Comeback erlebt. Universitäten und Bibliotheken können sich dadurch von den Praktiken der Großverlage emanzipieren und über andere Wege Zugang zu Wissen ermöglichen. In Inns­bruck besteht dank der innsbruck university press die Möglichkeit von Open-Access-basierten Publikationen. ZUKUNFT: Welche Perspektiven sehen Sie für diesen Weg hin zu mehr Öffnung? DOBUSCH: Um bei dem Beispiel mit Universitätsverlagen zu bleiben: Früher war die Rolle von Universitätsbibliotheken vor allem, ihren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Zugang zum Weltwissen zu organisieren. Vielleicht ist es jetzt umgekehrt: Die Bibliothek muss der Welt Zugang zum Wissen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ihrer Einrichtung ermöglichen. Da findet eine Redefinition von Rollen statt. Auch wenn die Organisation von Offenheit mit Aufwand verbunden ist, lohnt es sich auf jeden Fall: Gerade der offene Zugang zu Wissen ist gesamtgesellschaftlich von sehr großem Wert. Meiner Ansicht nach geht es nicht mehr um die Frage, ob wir offen sein sollen, sondern wie wir diese Offenheit gestalten. mb

LEONHARD DOBUSCH (*1980) promovierte nach Abschluss der Studien der Betriebswirtschaft und der Rechtswissenschaften in Linz an der Freien Universität Berlin. Nach Forschungsaufenthalten in Köln, Stanford und Wien war er von 2012 bis 2016 als Juniorprofessor für Management an der FU Berlin tätig. Im Februar 2016 folgte Dobusch dem Ruf nach Inns­bruck, wo er Professor für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Organisation am Institut für Organisation und Lernen ist. Dobusch bringt sich regelmäßig in Gastbeiträgen und Kommentaren in öffentliche Diskurse ein. Als Mitgründer der MomentumKongressreihe versucht er außerdem, wissenschaftliche Ideen mit politischer Praxis zusammenzubringen. Mitte 2016 wurde Dobusch als Vertreter für den Bereich Internet in den ZDF-Fernsehrat berufen. Er betreibt mehrere Blogs und äußert sich als regelmäßiger Autor auf netzpolitik.org zu verschiedenen netzpolitischen ­Themen.

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MITFORSCHEN AN DER UNI INNSBRUCK

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Die Universität Inns­bruck fördert den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auf vielen Ebenen. In verschiedenen Projekten werden Bürgerinnen und Bürger auch aktiv in den Forschungsprozess miteinbezogen. „Citizen Science“, also Bürgerwissenschaft, lautet hier das Motto. Daneben werden auch immer wieder Schülerinnen und Schüler an Forschungsprojekten beteiligt.

Unterstützt wird dies unter anderem vom österreichischen Wissenschaftsministerium über das Sparkling-Science-Forschungsprogramm.

01 | SCHMETTERLINGE Im Projekt Viel-Falter können Interessierte beim Spazieren die bunte Welt der Schmetterlinge erforschen. Tagfalter reagieren empfindlich auf Umwelt- und Klimaveränderungen und sind deshalb gute Indikatoren für den Zustand der Natur. Ziel ist ein österreichweites von Wissenschaft, Freiwilligen und Schulen getragenes Tagfalter-Monitoring, das in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden einen wichtigen Beitrag zu einem dauerhaften und finanzierbaren Biodiversitäts-Monitoring in Österreich leisten soll. Für die Beobachtung benötigt das Team rund um Johannes Rüdisser vom Institut für Ökologie Unterstützung aus der Bevölkerung.

Mehr unter www.viel-falter.at.

02 | GLETSCHERSCHMELZE Gletscherskigebiete nutzen industrielles Vlies, um Pisten im Sommer abzudecken. Das kann bis zu 1,5 Meter Schneegewinn bedeuten. Der wirtschaftliche Nutzen ist belegt, aber nicht die ökologische Unbedenklichkeit. Ein Team um die Ökologin Birgit Sattler untersuchte mit Schülerinnen und Schülern, welche Auswirkungen die Gletscherabdeckung auf Mikroorganismen und Vielzeller in Schnee und Eis hat. Die jungen Menschen wurden in der interdisziplinären Untersuchung für den alpinen Lebensraum und dessen Gestaltungsmöglichkeiten sensibilisiert.

Mehr unter www.coverup.at.

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03 | HERBSTLAUB Der Abbau des grünen Blattpigments Chlorophyll verursacht einmal im Jahr ein farbenprächtiges Naturschauspiel. Dahinter steckt ein komplexer Recyclingprozess der Pflanze, der einer Wiedergewinnung wesentlicher Mineralien dient. Mittels chemischer Analyse und Strukturaufklärung haben Tiroler Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Thomas Müller die Abbauprodukte des Chlorophylls in Pflanzen aus der Tiroler Bergwelt untersucht. Dabei suchten sie auch Antworten auf die Frage, inwiefern Stressfaktoren wie extreme Witterungsbedingungen und erhöhte Strahlenbelastung diese Abbauprozesse beeinflussen.

Fotos: Uni Innsbruck (2), Viel-Falter (1), colourbox.de (1), pixabay.com/Thomas Hendele (1), COVER.UP (1), pixabay.com/Catta Kvarn (1)

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TITELTHEMA 04 | BAUMWACHSTUM In Inns­bruck und Dornbirn tragen einige Bäume eine Art Maßband um ihren Stamm. Dahinter steckt ein Projekt von Stefan Mayr vom Institut für Botanik, bei dem die Bevölkerung zum Mitmachen eingeladen ist. Alles, was man benötigt, ist ein Smartphone: Im Projekt CITREE wird das Wachstum von städtischen Bäumen genauer unter die Lupe genommen. Denn Bäume erfüllen vielfältige Funktionen in der Stadt: Sie verbessern das Mikroklima und die Luftqualität, spenden Schatten und fungieren als Sicht- und Lärmschutz. Bäume haben es aber auch nicht leicht in der Stadt: Große Hitze und Trockenheit, Luftschadstoffe, wenig Wurzelraum oder viel Salz im Winter machen ihnen das Leben schwer.

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Mehr unter: www.citree.net.

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05 | BAKTERIENWELT Der Artenvielfalt der Bakterien in heimischen Gewässern sind Schülerinnen und Schüler aus sechs Salzburger Gymnasien auf der Spur. Sie isolieren und beschreiben am Forschungsinstitut für Limnologie am Mondsee neue Bakterienarten aus Gewässern der Umgebung. Die Charakterisierung der neuen Arten schließt auch die Sequenzierung der Genome ein. Genomsequenzen sind für die Verbindung der taxonomischen Forschung mit der Erforschung der mikrobiellen Diversität und Ökologie von großer Bedeutung. Für die Schüler gibt es viel zu tun, denn einigen Schätzungen nach sind von den ungefähr einer Million Bakterienarten 99 Prozent noch nicht wissenschaftlich beschrieben.

06 | KLEINVIEH Der positive Einfluss von Dünger auf den Pflanzenertrag ist weithin bekannt und auch gut untersucht. Weniger bekannt sind allerdings dessen Auswirkungen auf die Artenvielfalt und -zusammensetzung der wirbellosen Tiere. Im Projekt „Kleinvieh braucht auch Mist“ untersuchten Wissenschaftler um Daniela Sint gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern auf mehreren Getreidefeldern in Kematen im Lauf von zwei Feldjahren den Einfluss verschiedener Dünger. Sie arbeiteten von der Beprobung bis zur Auswertung mit. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den Regenwürmern. .

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07 | LUFTSAMMLER Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern haben Inns­brucker Physiker einen einzigartigen Datensatz zur Zusammensetzung und Quellstärke von flüchtigen organischen Verbindungen in einem ländlichen, inneralpinen Gebiet erstellt. Mit meteorologischer Hightech-Ausrüstung wurde an den Gymnasien in Mittersill und Zell am See die Außenluft gemessen. Außerdem sammelten die Schüler mit Kanistern im ganzen Tal Luft und analysierten sie anschließend im eigens eingerichteten Labor. So konnten sie feststellen, welche flüchtigen Substanzen vom Straßenverkehr stammen, welche von den Wäldern in die Luft abgeben wurden und wie sich diese Substanzen im Salzachtal ausbreiten.

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STANDORT

MANN DER DREI ACHSEN Als Werkstudent programmierte Bruno Buchberger in den 1960er-Jahren das erste „Elektronengehirn“ an der Universität Inns­bruck, Ende der 1990er konzipierte er das neue Informatikinstitut und -studium in Inns­bruck. Immer im Fokus hatte er dabei drei Achsen: Logik, Mathematik und Anwendung. ZUKUNFT: Während Ihres Studiums haben Sie an der Universität Inns­bruck als Programmierer gearbeitet, unter anderem an einem „raumgroßen“ Zuse Z23. War für Sie damals die Entwicklung der Computertechnologie, auf die wir heute zurückblicken, vorstellbar? BRUNO BUCHBERGER: Ich habe mir sogar noch sehr viel mehr vorgestellt, z. B. habe ich darüber nachgedacht, ob man Computer nicht gänzlich aus Plastik machen kann. Ich konnte mir auch deshalb viel vorstellen, weil ich immer in den drei 22

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wesentlichen Koordinatenachsen der „Computerei“ gedacht habe: die mathematische Logik, die grundsätzlichen Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen des formalen mathematischen Denkens; die Mathematik selbst, die sich bemüht, Verfahren zu finden, um beliebige Probleme aus der Realität so systematisch zu lösen, dass man die Lösung in einen Algorithmus überführen kann; und die Anwendung. In diese drei Achsen Logik-Mathematik-Anwendung wurde ich sozusagen hineingedrückt, in zwei durch

meine Situation als Werkstudent. Mein Fach war Mathematik, mein Geld dafür verdiente ich am „Elektronengehirn“, dem ersten Computer an der Universität Inns­bruck. Es brauchte einen Programmierer, ich meldete mich, damit ich keine fachfremden Dinge machen musste, um mein Geld zu verdienen. In die erste Achse, die mathematische Logik, habe ich mich im Selbststudium vertieft, aus heutiger Sicht ist das das, was „artificial intelligence“ genannt wird. Insofern war für mich klar, wohin es mit der Compu-

Fotos: Aleksandra Pawloff (1), privat (1)


STANDORT tertechnologie gehen wird und dass es nach oben keine Grenze gibt. ZUKUNFT: Spielen diese drei Achsen heute auch noch eine Rolle? BUCHBERGER: Ja, es ist immer noch wichtig, sie sollen auch in die Ausbildung einfließen, damit die Absolventen in Personalunion in allen drei Achsen arbeiten können. Beim Aufbau des RISC habe ich auf internationale Doktoratsstudenten gesetzt, die diese drei Achsen vereinen können. ZUKUNFT: Ende der 1980er-Jahre haben sie als Universitätsprofessor den Softwarepark Hagenberg gegründet, heute arbeiten dort mehr als 1.000 Menschen in über 80 Unternehmen und Forschungsinstituten. Wie war damals die Reaktion auf Ihre Initiative?

etwas einfallen lassen, damit in dieses von der Grundlage bis zur Anwendung Gebiet Arbeitsplätze kommen. Worauf abzudecken. Ein weiterer Vorschlag war ich den Softwarepark konzipiert habe, das Transfercenter zwischen IT und Wirtwieder angelehnt an den drei Achsen, schaft, da habe ich einige Jahre später mit starker Betonung der dritten – An- jedoch festgestellt, dass das Gebäude inwendung, Gründerfirmen etc. Ich hätte zwischen von Physikern besetzt ist. Das mir nicht gedacht, dass ich dann viel Zeit freut mich für die Physiker, war aber eidamit verbringen würde, Arbeitsplätze gentlich nicht die Idee. ZUKUNFT: Wie beurteilen Sie die Entwickins Mühlviertel zu bringen ZUKUNFT: Um das Jahr 2000 erarbeiteten lung der Inns­brucker Informatik? Sie für die Universität Inns­b ruck ein BUCHBERGER: Im Detail habe ich die Konzept für ein neues Informatik-Institut Entwicklung nicht beobachtet, ich weiß und ein entsprechendes Studium. Legten nur, dass etliche der Professoren in ihren Sie die Schwerpunkte auch hier auf die Forschungsbereichen international ganz vorne sind und weltweit bekannt sind. drei Achsen? BUCHBERGER: Ja, mir ist – auch bei der Er- Das ist eine Basis, die ich auch von außen stellung anderer Konzepte – immer klarer feststellen kann. Inwieweit sie motiviert geworden, wie wichtig diese drei Achsen sind, für Firmen etwas zu tun oder welsind. Daher versuchte ich auch in Tirol, che zu gründen, kann ich nicht beurteidieses Konzept aufzubau- len. Das Potenzial ist hundertprozentig en. Einerseits die Lehr- da, für Technologietransfer braucht es „ Ich hätte mir in meinem Leben nie gedacht, stühle, die Forschung und auch nicht unbedingt eine eigene Strukdass ich viel Zeit damit verbringen würde, Lehre in diesem Sinne tur, es braucht die Motivation, entweder Arbeitsplätze ins Mühlviertel zu bringen.“ betreiben. Bei der Beset- selbst etwas zu machen oder die Absolzung der Lehrstühle, bei venten dazu anzuregen. BUCHBERGER: Solche Dinge sind zum Teil der Findung und Evaluierung geeigneter ZUKUNFT: Aus heutiger Sicht: Würden geplant, zum Teil Zufall. Von Anfang an Kandidaten habe ich noch mitgewirkt. Sie die gleichen Vorschläge für die Inns­ war beim RISC eine eigene Firma von Ein Lehrstuhl etwa geht tief in die Logik, brucker Informatik machen oder etwas mir dabei, damit die Studierenden einen andere decken die angewandte Seite da- ändern? nahtlosen Übergang in die Praxis haben. von ab, andere Grundlagen, sowohl in BUCHBERGER: Das Drei-Achsen-Modell Da kam viel Geld herein, wir brauchten der Forschung als auch in der Lehre. Hier ist so aktuell wie nie, andere UniversiPlatz, in den Räumlichkeiten der Uni ist es wichtig, dass es sich durch alle Ebe- täten, die es nicht haben, versuchen es in konnten wir aber nicht expandieren. Da nen zieht, Bachelor, Master und Doktorat, Schwung zu bringen. Es geht aber nicht entstand die Idee, für dieses Geld von au- Postdocs, internationale Studierende etc. nur um die drei Achsen, sondern darum, ßen auch einen Ort außerhalb zu finden. Und natürlich die dritte Achse, Anwen- in allen dreien ganz vorne zu sein. Also Im Auge hatte ich ein freies Areal direkt dung und Arbeitsplätze. Daher habe ich keinen Mittelweg, ein bisschen Forneben der Uni, der damalige Linzer Bür- damals eine enge, in Österreich aber als schung, ein bisschen Anwendung. Die germeister wollte es nicht genehmigen, problematisch gesehene Kooperation Dynamik kommt nur, wenn die Beteilig­ da es Agrarland war. Heute stehen dort mit der Fachhochschule vorgeschlagen, ten in allen Bereichen, in der Forschung drei große Gebäude, der Science Park der um in der Lehre das breite Spektrum und im Business, Spitze sind. ah Uni Linz. BUCHBERGER: Wie kamen Sie dann in das BRUNO BUCHBERGER kam 1942 in kleine Hagenberg, 25 Kilometer außerInns­bruck zu Welt. In seiner Heimatstadt halb von Linz? ZUKUNFT: Ich habe nahe der Uni rund 15 studierte er Mathematik und promovierte Standorte angeschaut, es gab aber immer 1966 bei Wolfgang Gröbner. Mit der irgendein Hindernis. Eines Tages erhielt Dissertation begründete er die Theorie ich einen Anruf des damaligen ober­ der Gröbnerbasen, die in mathematischen österreichischen Landeshauptmanns Softwaresystemen als Standard-Methode Josef Ratzenböck: „Herr Professor, ich zur exakten Behandlung nicht-linearer höre, Sie suchen was? Ich helfe Ihnen, Systeme eingesetzt wird. Der von ihm ich hätte da eine alte Ruine, die richten erfundene Algorithmus zur Konstruktion wir her.“ Für mich war die Entfernung von Gröbner-Basen trägt seinen Namen. Seine akademische Karriere führte ihn 1974 als kein Problem, die Studenten leiden heuordentlicher Professor für Computer-Mathematik an die Johannes Kepler Universität Linz. te schon etwas, dass sie weit vom Schuss 1987 gründete er dort das Forschungsinstitut für Symbolisches Rechnen (RISC), 1989 den sind. Ratzenböck meinte später noch, Softwarepark Hagenberg. Der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftler ist Ehrendoktor wenn ich in Hagenberg schon gemütlich von derzeit sechs Universitäten, darunter auch die Universität Inns­bruck, für die er Ende forschen könne, könne ich mir doch auch der 1990er-Jahre das 2001 gestartete Informatikstudium konzipierte.

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KURZMELDUNGEN

DATENZAUBER

Nach der Entdeckung der Gravitationswellen gingen die Bilder von der Kollision zweier Schwarzer Löcher um die Welt. Produziert wurden sie von einem Spin-off der Uni Inns­bruck. DIGITALE LITERATURPLATTFORM

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er literarische Raum Nord-, Ostund Südtirols seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart kann in einem neuen Online-Portal von verschiedenen Seiten her erkundet werden: Das gegenwärtige literarische Leben, topografische Lektüren, historische Perspektiven, das Rezensionenmagazin LiLit etc. bilden die grundlegenden Ressourcen, die laufend aktualisiert und ergänzt werden. „Aufbauend auf jahrzehntelanger Grundlagenforschung präsentiert das Forschungsinstitut Brenner-Archiv in einer interaktiven Online-Plattform ein umfangreiches Literaturlexikon, eine Landkarte zum Literaturraum Tirol, Dokumentationen und Rezensionen sowie einen Veranstaltungskalender. Damit stellt die Wissenschaft ihre Ergebnisse der interessierten Öffentlichkeit frei zur Verfügung“, erläutert Ulrike Tanzer, Leiterin des Brenner-Archivs und Vizerektorin für Forschung. Das Portal wurde und wird neben der Universität Inns­ bruck von den Ländern Tirol und Südtirol, von der Stadt Inns­bruck und dem Wissenschaftsfonds FWF durch Förderungen ermöglicht.

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ährend des Astronomie-Studiums an der Uni Inns­bruck hat sich Werner Benger bereits mit der Relativitätstheorie beschäftigt. Dieses Interesse führte ihn dann auch an das Albert-Einstein-Institut in Potsdam und später an die Louisiana State University, wo er mit dem bekannten Computerwissenschaftler und Physiker Ed Seidel zusammenarbeitete und Software zur Verarbeitung sehr großer Datenmengen entwickelte. Daraus entstanden erste Visualisierungen zu den Gravitationswellen. Die Software aus der Astrophysik nutzt Benger heute beim Spin-off-Unternehmen AHM Software GmbH, an dem die Uni Inns­bruck über die Uni-Holding beteiligt ist, um große Datenmengen aus der luftgestützten Vermessung zu verarbeiten. Nach der ersten experimentellen Beobachtung von Gravitationswellen

2016 erhielt die Firma den Auftrag, Simulationsdaten zum Experiment zu visualisieren. Daran betei­ligt­war auch Dominik Steinhauser, Doktorstudent am Institut für Astro- und Teilchenphysik. Mit der Bekanntgabe der wissenschaftlichen Sensation, die heuer auch mit dem PhysikNobelpreis gewürdigt wurde, gingen die in Inns­bruck produzierten Bilder um die Welt. „Die Fähigkeiten, mit extrem großen Datenmengen umzugehen, kommen aus der Erfahrung mit dem Supercomputing für Gravitationswellen“, erzählt Werner Benger. „Diese nutzen wir bei AHM nun sehr erfolgreich für die Verarbeitung von Erdbeobachtungsdaten.“ Ein Beispiel ist die interaktive Darstellung eines zehn Terabyte großen Datensatzes, der ganz Bayern in einer Auflösung von weniger als 40 Zentimeter dreidimensional beschreibt.

Mehr über die Tiroler Literaturlandschaft in ihrer ganzen Vielfalt gibt‘s auf www.literaturtirol.at

ULTRAKALTE MIKROSKOPIE HAT WURZELN IN INNS­BRUCK

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er Chemie-Nobelpreis ging in diesem Jahr an Jacques Dubochet, Richard Henderson und Joachim Frank für die Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie zur hochauflösenden Strukturerkennung von Biomolekülen in Lösung – eine Erfolgsgeschichte für die Biochemie, die auch Wurzeln an der Universität Inns­bruck hat. Der 2011 verstorbene Chemiker Erwin Mayer hat in den 1980ern am Institut für Allgemeine, Anorganische und Theoretische Chemie ein Verfahren entwickelt, das heute als „Hyperquenchen“ bekannt ist. Wässrige Proben können damit abgekühlt werden, ohne dass sich Eiskristalle bilden und damit die Struktur der im Wasser gelösten biologische Probe verändert wird – genau das, was in der Kryo-Elektronenmikroskopie gebraucht wird. Mayer und sein Team arbeiteten dabei auch direkt mit dem nunmehrigen Nobelpreisträger Jacques Dubochet von der Universität Lausanne zusammen – in Inns­bruck hergestellte Proben wurden in der Schweiz im Kryo-Elektronenmikroskop untersucht.

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Fotos: S. Ossokine, A. Buonanno (Max Planck Institute for Gravitational Physics) | Simulating eXtreme Spacetimes project | D. Steinhauser (Airborne Hydro Mapping GmbH); Martin Högbom/The Royal Swedish Academy of Sciences (1), Pixabay/Pexels (1)


Kooperation zahlt sich aus Steigen Sie jetzt ein. Gemeinsame Forschungsund Entwicklungsprojekte von Tiroler Betrieben und Forschungseinrichtungen können ab sofort wieder Fördergelder im Programm K-Regio einwerben. Das Land Tirol fördert gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte von Wissenschaft und Wirtschaft im regionalen Kompetenzzentrenprogramm K-Regio. Im Rahmen der aktuellen Ausschreibung können Förderanträge bis zum 30. Jänner 2018 bei der Standortagentur Tirol eingereicht werden. Informieren Sie sich jetzt.

· K-Regio

Projekte: Kooperative F&E-Projekte mit hohem Entwicklungsrisiko, die von Konsortien partnerschaftlich durchgeführt werden und Produkt- oder Verfahrensinnovationen mit hohem Technologiesprung ermöglichen. Fördernehmer: Konsortien aus mindestens drei Partnern, davon eine Forschungseinrichtung und zwei Unternehmen (mindestens ein KMU) aus Industrie, produzierendem Gewerbe oder der produktionsnahen Dienstleistung. Förderung: Projekte erhalten bis zu 900.000 Euro an Fördermitteln bei maximaler Laufzeit von drei Jahren. Förderquoten bis 100 % sind möglich. Für den aktuellen Call stehen insgesamt 2,7 Millionen Euro zur Verfügung. Das Programm wird aus Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziert.

· Standortagentur Tirol

Beratung: Die Standortagentur Tirol hilft bei der Suche nach den passenden Partnern für Ihr Projekt und berät und begleitet Sie bei der Einreichung. Antragsstelle: Standortagentur Tirol Information: www.standort-tirol.at/k-regio

Standortagentur Tirol Bereich Förderprogramme DI Rudolf Stoffner, PhD

Ing.-Etzel-Straße 17 6020 Innsbruck · Österreich +43.512.576262.241 t foerderungen@standort-tirol.at e

· www.standort-tirol.at · www.tirol.gv.at


GEOLOGIE

MIT HOCHTECHNOLOGIE IN DIE VERGANGENHEIT Ein neues Labor an der Uni Inns­bruck ermöglicht Forscherinnen und Forschern eine hochaufgelöste, schnelle und präzise Analyse von Bohrkernen. Die so gewonnenen Daten könnten wichtige Hinweise auf künftige Klimabedingungen und Extremereignisse liefern.­

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ohrkerne dienen Wissenschaftlern als hochaufgelöste Archive: Die einzelnen Sediment-Schichten, die sich Jahr für Jahr in subaquatischen Böden, Höhlen oder Gesteinsformationen ablagern, geben Aufschluss über klimatische und ökologische Bedingungen, Mensch-Umwelt-Beziehungen und Naturereignisse wie Bergstürze oder Erdbeben zu Zeiten, die weit über historische Aufzeichnungen hinausreichen. Mit dem neuen Forschungslabor „Austrian Core Facility für wissenschaftliche Bohrkernanalysen“ steht den Forscherinnen und Forschern in Inns­b ruck nun das erste Kompetenzzentrum seiner Art zur Verfügung, das mittels modernsten Messverfahren das Scannen von Bohrkernen und damit hochauflösende wissenschaftliche Analysen ermöglicht. „Die neuen Scanner ermöglichen uns Analysen, die früher rund zwei Monate gedauert haben, in zehn Stunden vorzunehmen“, erläutert Michael Strasser, Geologe und Leiter des neuen Kompetenzzentrums. „Ein zwei Meter langer Bohrkern aus einem Bergsee liefert uns Daten über einen Zeitraum von 10.000 Jahren. Mussten wir diesen früher Schicht für Schicht bearbeiten, um chemische und physikalische Eigenschaften für die einzelnen Zeitskalen zu erhalten, können wir ihn nun in seinem Originalzustand scannen“, beschreibt er die Vorgangsweise. „Dies bedeutet für uns nicht nur eine enorme Zeitersparnis, sondern auch eine wesentlich größere Auflösung, was die Zeitskalen betrifft.“ Im Rahmen seiner Forschungsarbeit untersucht Michael Strasser subaqua-

MICHAEL STRASSER: „Die neuen Scanner ermöglichen uns Analysen, die früher rund zwei Monate gedauert haben, in zehn Stunden vorzunehmen.“

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Mehr über die Arbeit von Michael Strasser in „Zeit für Wissenschaft“, dem Podcast der Uni Inns­bruck: www.bit.ly/bohrkern

Fotos: Andreas Friedle


GEOLOGIE

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tische Bohrkerne aus alpinen Seen oder dem Meer, um darin nach Hinweisen auf Erdbeben oder Bergstürze zu suchen. Erdbebenwellen und Erschütterungen während eines Erdbebens induzieren Sedimentumlagerungen, Deformationen im Sediment und auch UnterwasserSchlammlawinen.

Erdbeben vorhersagen

„Wenn wir in Bohrkernen aus Seeböden systematisch nach diesen Ablagerungen von subaquatischen Rutschungen suchen, können wir einerseits feststellen, dass ein Erdbeben stattgefunden hat, und es datieren. Gleichzeitig kann mithilfe mechanischer und physikalischer Modelle rückgerechnet werden, wie stark die Bodenerschütterung war“, beschreibt Strasser die Vorgangsweise. Auch das Epizentrum des Erdbebens kann berechnet werden: „Die Seen fungieren dabei als prähistorische Seismografen – mithilfe ihrer Daten kann man durch physikalische Berechnungen der Wellenausbreitungsgeschwindigkeiten räumliche Analysen durchführen.“ So hat sich Strasser in den letzten Jahren

AUSTRIAN CORE FACILITY FÜR WISSENSCHAFTLICHE BOHRKERNANALYSEN: Im neuen Kompetenzzentrum stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller österreichischen Universitäten und Disziplinen österreichweit einzigartig drei Hochleistungsscanner mit einem Gesamtwert von rund 750.000 Euro zur Verfügung. Der GEOTEK MULTI-SENSOR CORE LOGGER (MSCL-S) ist ein Messgerät zur automatisierten und qualitätskontrollierten Erfassung wichtiger gesteinsphysikalischer Kennwerte mittels nicht-invasiver Messverfahren: So wird die Dichte und Porosität, die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Kompressionswellen und die Magnetisierbarkeit des Bohrkernmaterials in hoher vertikaler Auflösung – Messung bis zu alle 0,1 Zentimeter entlang der Bohrkernachse – bestimmt. Der Scanner ermöglicht Messungen mit einer Geschwindigkeit zwischen 0,5 bis zwei Stunden pro Kernmeter je nach vertikaler Auflösung. (Bild Seite 38) Der SMARTCUBE CAMERA IMAGE SCANNER (SMART CIS) ist ein Bohrkernfoto­ scanner, der Foto-Linescans geteilter Sedimentkerne oder abgerollte 360°-Mantel­ober­ flächen-Fotoaufnahmen ganzer Gesteinsbohrkerne in hoher Auflösung bis zu 1.000 dpi ermöglicht. (Bild 1) Der COX ANALYTICS XRF CORE SCANNER (ITRAX) ist ein Röntgenfluoreszenz-Kernscanner mit digitaler Radiografie und liefert ein 22 Millimeter breites digitales DurchlaufRöntgenbild mit bis zum 50 µm Auflösung für Mikrostruktur- und Textur-Analysen der Bohrkerne. Der Bohrkern wird der Länge nach automatisch gescannt, wobei mittels Röntgenfluoreszenzspektroskopie für jeden Messpunkt (Messung bis zu 200 µm entlang der Bohrkernachse) gleichzeitig Gehalt und Verteilung der chemischen Elemente zwischen Al und U gemessen wird. Dies liefert innerhalb fünf Stunden pro Kernmeter hochauflösende, geochemische Proxy-Daten, um Umwelt- und Klimaveränderungen, Mensch-UmweltBeziehungen, extraterrestrische Impacts sowie die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Geo- und Biomaterialien und geo- und umweltdynamischen Prozessen, die in der chemischen Signatur der Bohrkernarchive gespeichert sind, zu analysieren bzw. zu rekonstruieren. (Bild 2) Finanziert wurde der Aufbau des neuen Forschungslabors durch das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) und die Universität Inns­bruck.

für die Schweiz und Österreich ein Archiv aus Bohrkernen in Seen aufgebaut, anhand derer er nachweisen kann, dass es in der Vergangenheit starke Erdbeben gab, diese aber weiter zurückreichen als die Geschichtsbücher. „Daraus lernen wir viel über die aktive Tektonik des Alpenraums“, erläutert Strasser. Neben Bohrkernen aus alpinen Seen untersucht der Geologe aber auch ozeanische Bohrkerne. So ist er am Internatio­ nal Ocean Discovery Program beteiligt, bei dem Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammenarbeiten, um in neue Welten vorzudringen: Im Rahmen einer Forschungsexpedition auf dem deutschen Forschungsschiff Sonne entnahm

„ Je mehr wir über ­ vergangene Erdbeben wissen, umso wahrscheinlicher wird es, mögliche ­Indikatoren zur ­Prognostizierbarkeit von ­Erdbeben zu erkennen.“

Michael Strasser, Institut für Geologie

der Wissenschaftler 2016 Bohrkerne aus rund sieben Kilometern Tiefe. „Je mehr wir über vergangene Erdbeben wissen, umso wahrscheinlicher wird es, mögliche Indikatoren zur Prognostizierbarkeit von Erdbeben zu erkennen“, erklärt Strasser. „Die Vergangenheit liefert hier sozusagen die Schlüssel für die Zukunft.“

Neuland betreten

Dass das neue Labor neben Geologen auch anderen Disziplinen helfen kann, neue Aspekte in der Mensch-UmweltBeziehung zu erhalten, zeigte bereits der Testlauf im Labor. „Bei den Tests der Scanner, für die wir Bohrkerne aus dem Milstätter See verwendet haben, zeigten sich in diesen Spuren eines dort nicht vermuteten Schwermetalls“, beschreibt Strasser. „Darauf anschließende Recherchen zeigten, dass diese Hinweise auf historische Bergwerke im Einzugsgebiet geben“, verdeutlicht der Geologe das Potenzial des neuen Bohrkern-Labors, das ab November allen Wissenschaftsdisziplinen aller österreichischen Universitäten zur Verfügung steht. sr

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KLIMAFORSCHUNG

BUCHHALTER DES EISES Schneefall und Eisschmelze bestimmen nicht nur das Leben der Gletscher, sondern auch jenes von ­Stephan Galos. Am Langenferner misst er jährlich die Massenbilanz, für den Meteorologen­ein ­wichtiger Link zwischen atmosphärischen Verhältnissen und der Entwicklung der Gletscher.

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in Gang auf den Langenferner gehört für Stephan Galos schon zur Routine. Fünf- bis siebenmal im Jahr ist er oben in der Südtiroler Ortlergruppe, bohrt im Talschluss des Martelltales auf rund 3.000 Meter Pegelstangen zehn bis zwölf Meter tief ins Eis, grabt metertiefe Schächte in den Schnee, der den Winter über gefallen ist. Für den Mitarbeiter des Instituts für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Inns­b ruck ist dies Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit, erstellt er doch eine Massenbilanz des Langenferners, misst die Zuwächse und Abgänge am Gletscher, setzt sie in ein Verhältnis. „Es funktioniert ähnlich einer finanziellen Bilanz“, meint Galos und fügt lachend hinzu: „Am Gletscher ist es aber einfacher, die Umsätze sind überschaubarer.“

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Erstmals gemessen wurde die Differenz zwischen dem Massenzufluss (Akkumulation) und dem Massenverlust (Ablation) eines Eiskörpers im Jahr 1874 am Schweizer Rhonegletscher. Es waren lediglich punktuelle Messungen, erst der Schwede Hans Ahlmann führte in den 1920er- und 1930er-Jahren jährliche Messungen auf unterschiedlichen Gletscherflächen durch, im Norden Schwedens, am Storglaciären, wird seit 1945 jedes Jahr eine Massenbilanz ermittelt. „Weltweit gibt es gut 150 solcher Messprogramme, sie sind aber nicht gleichmäßig verteilt. Die meisten gibt es in Gegenden mit guter Infrastruktur, in den Alpen und in Skandinavien. In Österreich gibt es dreizehn Massenbilanzgletscher, die Universität Inns­bruck betreut drei, zwei in den Ötztaler Alpen und seit 2004 jene am Langenferner“,

berichtet Stephan Galos. Wie gemessen wird, hängt vom Gletscher und der Fragestellung ab, es können fünf bis zehn, aber auch mehr Messpunkte sein. Am Langenferner, der sich von 2.711 Höhenmeter bis hinauf auf 3.370 Meter erstreckt und dessen vergletscherte Fläche rund 1,6 Quadratkilometer beträgt, sind es 30 Messstationen. An tief ins Eis gebohrten Pegelstangen wird an der Oberfläche am freien Stangenteil der Eiszuwachs beziehungsweise -schwund gemessen, in den Schächten wird die Dichte und Höhe des angesammelten Schnees analysiert. Schneefall, erklärt Stephan Galos, mache den größten Teil der jährlichen Akkumula­ tion aus, Massengewinn könne ein Gletscher aber auch durch die Winddrift von Schnee, eventuell auch durch Lawinen erfahren. Die Ablation wird neben Ver-

Fotos: Stephan Galos (4), Andreas Friedle (1)


KLIMAFORSCHUNG

STEPHAN GALOS studierte in Inns­bruck Meteorologie und Geophysik. Er arbeitet als PhD am Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Massenbilanzen des Langenferner, ein Gletscher des Cevedale-Massivs in den Ortler-Alpen. Auf rund 3.000 Meter Höhe werden dafür jährlich die Akkumulation und Ablation des Gletscher gemessen, für das „Bilanzjahr“ Oktober 2016 bis September 2017 ergab dies ein Minus von 2.000 Kilogramm Eis pro Quadratmeter Gletscherfläche. dunstung, Kalben und Lawinen vor allem durch das Schmelzen von Eis und Schnee bestimmt.

Langenferner-Bilanz

„Im heurigen September gab es am Langenferner keinen Winterschnee mehr, in den wir Schächte graben und messen konnten“, erzählt Galos. Das Team der Uni Inns­bruck erstellt am Langenferner auch eine Winterbilanz, kann daher den winterlichen Schneezuwachs messen und einen langjährigen Vergleich anstellen. „Nur im Frühjahr 2007 lag noch weniger Schnee am Langenferner“, verpackt der Meteorologe den äußerst schneearmen Südtiroler Winter 2016/17 in sachliche Worte und ergänzt: „Daraus kann man aber keine Rückschlüsse ziehen. Im langjährigen Vergleich zeichnet sich kein Trend im winterlichen Schneefall in den hohen Gletscherregionen ab. Der letzte Winter war eine Ausnahme.“ Keine Ausnahme aber, das zeigen die Messungen, sind die heißen Sommer mit früheren und längeren Hitzewellen. „Der Sommer 2015 war in den Ötztaler Alpen wärmer als der sogenannte Rekordsommer 2003, 2017 war vergleichbar“, weiß Galos. In Kombination mit dem geringen Winterschnee ergibt das die negativste Jahresbi-

lanz seit 2003: ein Minus von 2.000 Kilogramm Eis pro Quadratmeter Eisfläche, „umgerechnet“, so Galos, „ist das eine 2,2 Meter dicke Eisschicht, die – gemittelt auf die Gletscherfläche – abgeschmolzen ist.“ Diese negative Massenbilanz von 2.000 Kilogramm pro Quadratmeter ist für den Forscher ein „direkt messbarer Link zwischen den atmosphärischen Verhältnissen, also dem Wettergeschehen, und der Veränderung der Gletscher“. Einen Link, den er noch besser verstehen will. „Als Wissenschaftler will man mehr als Verlust und Zuwachs quantifizieren, man will die Zusammenhänge besser verstehen“, sagt der gebürtige Vorarlberger. Ein solcher Zusammenhang ist der Anstieg des Meeresspiegels, „das weltweite Schmelzen der Gebirgsgletscher liefert momentan den größten Anteil“. Sein Institutskollege Fabien Maussion etwa modelliert Zukunftsszenarien für Gletscher auf globaler Ebene. „Mit dem Prozessverständnis, das man aus den Auswertungen von Massenbilanzen gewinnt, kann man Modelle entwickeln. Kombiniert mit Klimaszenarien erlaubt dies Berechnungen für die Zukunft, z. B. den Anstieg des Meeresspiegels.“ Galos und andere Buchhalter des Eises liefern dazu das Datenmaterial. „Wir arbeiten

auch an der Verbesserung unserer Methoden, um Fehler zu minimieren bzw. ‚Störgeräusche‘ zu filtern“, so Galos. „Darüber hinaus interessieren wir uns für die Prozesse, welche die Massenbilanz bestimmen.“ Ein solcher ist der Wind am Berg, der Schnee vom oder auf den Gletscher bläst, der warme Luft mit sich bringt und Schneeverlagerungen verur­sacht: „Am Langenferner haben wir unsere Messungen so designt, dass wir diesen Prozess besser verstehen lernen.“ Näher als das Meer ist dem Langenferner der Vinschgau, ein Tal mit wenig Niederschlag und intensiver Landwirtschaft, bewässert wird dort seit Jahrhunderten. „Der Langenferner entwässert in den Vinsch­gau, in heißen trockenen Sommern kommen bis zu 50 Prozent des Wassers der Etsch vom Gletscher“, macht Galos auf einen lokalen Zusammenhang aufmerksam, könnte doch der Gletscherschwund in solch­trockenen Alpentälern eine direkte Auswirkung auf die Bewässerung und den Wasserverbrauch haben. Und das relativ zeitnah. Stephan Galos: „Durch unser Verständnis über die Be­ obachtungen und in Kombination mit den Messungen kann man sagen, dass der Langenferner in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein wird.“ ah

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RECHTSWISSENSCHAFT

MARIA BERTEL (*1987 in Bezau, Vorarlberg) ist seit Mai 2016 Elise-Richter-Stelleninhaberin des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre. Sie arbeitet dort an ihrem Habilitationsprojekt „Das Effizienz­prinzip der österreichischen Verfassung“. Ihre verfassungsrechtliche Dissertation zum Thema „Dezentralisierung in Peru: die (verfassungs-) rechtliche Stellung der Regionen und Kommunen“ schloss sie 2012 ab. Neben dem Studium der Rechtswissenschaften hat Maria Bertel auch ein Bakkalaureats-Studium der Philosophie in Innsbruck abgeschlossen.

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Foto: Andreas Friedle


RECHTSWISSENSCHAFT

EFFIZIENTE DEMOKRATIE? Wie Effizienz als verfassungsrechtlicher Begriff und Demokratie zusammengehen, erforscht die Innsbrucker Juristin Maria Bertel.

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ffizient soll er handeln, sparsam, wirtschaftlich: Nicht erst, aber verstärkt seit der Wirtschaftskrise stehen der Staat und sein Handeln unter Beobachtung, insbesondere hinsichtlich der Effizienz. Aber was heißt das eigentlich, effizientes Handeln? Lässt es sich in ein juristisches Schema bringen, an dem staatliche Aktionen gemessen und beurteilt werden können? Und was heißt ein verfassungsrechtliches Gebot von effizientem Handeln für demokratische Prozesse, die oft per Definition wenig effizient sind, gilt es doch, viele Meinungen einzubinden? Diese Fragen beschäftigen

ment der Ineffizienz aufhebbar: „Die Literatur weist, gestützt durch die Rechtsprechung des VfGH, überwiegend darauf hin, dass sich das Effizienzgebot auch an den Gesetzgeber richtet. Bislang hat der VfGH jedoch noch kein Gesetz aufgrund von Ineffi­zienz aufgehoben.“

Effizienz und Demokratie

Seit mehreren Jahren findet dieses vom VfGH so eingeführte Effizienzgebot auch regelmäßig Eingang in die einschlägige Fachliteratur, sagt Maria Bertel: „Kaum ein Lehrbuch der vergangenen Jahre kommt ohne dieses Effizienzgebot aus.

„ Die für mich momentan spannendste Frage ist, inwieweit sich das Effizienzgebot an den Gesetzgeber richtet und ihn bindet, weil das unmittelbar Auswirkungen auf demokratische Prozesse hat.“ Maria Bertel die Juristin Maria Bertel: „In den letzten Jahren fanden Forderungen in Zusammenhang mit einer höheren Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Staates, wie zum Beispiel der Ruf nach Schuldenbremsen und ähnlichen Instrumenten, vermehrt Eingang in die öffentliche Diskussion. Für das Budgetrecht legt die Verfassung allerdings schon jetzt explizit die Beachtung des sogenannten budgetrechtlichen Effizienzgebotes fest.“ Nun kennt der Verfassungsgerichtshof (VfGH) darüber hinaus auch ein allgemeines verfassungsrechtliches Effizienz­gebot, das er insbesondere aus den Bestimmungen über Prüfungen durch den Rechnungshof ableitet. „Die Rechnungshof-Bestimmungen legen fest, dass der Rechnungshof die Staatswirtschaft im Hinblick auf die Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen hat. Daraus leitet der VfGH ein allgemeines Effi­ zienzgebot ab, das sich nicht nur auf Rechnungshof-Prüfungen bezieht.“ Zentrale Frage ist, ob sich ein Effi­ zienzgebot auch an den Gesetzgeber richtet – falls ja, wären Gesetze vom VfGH­ nämlich unter Umständen mit dem Argu-

Eine exakte Definition gibt es bislang jedoch noch nicht und die versuche ich nun. Die für mich momentan spannendste Frage ist, inwieweit sich das Effizienzgebot an den Gesetzgeber richtet und ihn bindet, weil das unmittelbar Auswirkungen auf demokratische Prozesse hat.“ Wenn sich das verfassungsrechtliche Effizienzprinzip auch an den Gesetzgeber richtet, kann das zum einen bedeuten, dass Gesetze Effizienzvorgaben entsprechen müssen. Zum anderen könnte jedoch auch der demokratische Prozess selbst unter Effizienz-Gesichtspunkten betrachtet werden. „Effizienz gilt grundsätzlich meist nicht als rechtliches, sondern als wirtschaftliches Konzept. Die Demokratie mit wiederkehrenden Wahlen und Verhandlungen in Parlamenten ist unter diesem Blickwinkel jedoch nicht unbedingt effizient. Wenn man Effizienz also eng auslegt, kann das auf Kosten der Demokratie gehen oder sie sogar gefährden“, sagt Maria Bertel. Sie arbeitet deshalb an einer offener gefassten Definition des Begriffs: „Ich will mich dem Effi­zienzbegriff eben nicht ausschließlich wirtschaftlich, sondern unter anderem

auch philosophisch nähern und untersuchen, ob es hier nicht für den Rechtsstaat einen anderen Effizienzbegriff braucht.“ Der VfGH bezieht sich konkret in Entscheidungen zu Privatisierungen auf das Effizienzgebot, erklärt die Juristin: „Der VfGH bleibt sehr vage. Aus seinen Entscheidungen ergibt sich kein fixes Raster, nach dem man alle künftigen Fälle abprüfen könnte. Im Bereich von Privatisierungen lese ich die VfGH-Erkenntnisse so, dass die Ausgliederung von Aufgaben im Vergleich zur Besorgung durch den Staat nicht teurer kommen oder ineffizienter sein darf. Das heißt: Für den Staat sollte sich kein schwerwiegender Nachteil aus einer Ausgliederung ergeben.“ Andere Fälle, die vom Forschungsprojekt umfasst sind, sind zum Beispiel Gemeindezusammenlegungen, für die vielfach mit einer gesteigerten Effizienz argumentiert wird, oder die Frage nach der Effizienz des Bundesstaates – Forderungen nach Reformen der föderalistischen Struktur sind praktisch immer mit Effizienz-Argumenten verbunden.

Transparenz

Wie könnte nun ein Effizienzbegriff aussehen, der auch rechtlich anwendbar ist? Für Maria Bertel spielt Transparenz hier eine wichtige Rolle: „In den Wirtschaftswissenschaften gibt es den Begriff des Minimal- und des Maximalprinzips: Wie kann man mit möglichst geringem Mittel­ einsatz einen bestimmten Nutzen erlangen? Und wie mit gegebenen Mitteln ein möglichst gutes Ergebnis erlangen? Ich denke, im Verfassungsrecht könnte man auf dieser Sichtweise aufbauen, ohne jedoch damit einen Optimierungszwang zu verbinden. Sinnvoll scheint mir, den Mitteleinsatz und das erwartete Ergebnis sichtbar und damit auch besser abschätzbar zu machen.“ Bertels Projekt wird vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) im Rahmen des Elise-Richter-Programms unterstützt und läuft noch bis 2020. sh

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MATHEMATIK

WÖRTERBUCH AUS DATEN Jeder und jede von uns erzeugt nahezu täglich Unmengen an Daten. Am Institut für Mathematik arbeitet START-Preisträgerin Karin Schnass mit ihrem Team daran, diese Daten auch optimal auszuwerten.

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ie Fotos vom letzten Urlaub in den Anden, zwei Staffeln „Breaking Bad“ als Netflix-Download, drei unfertige Text-Dokumente und eine ganze Reihe weiterer fertiger, gefühlte 5.000 E-Mails, alle Nirvana-Alben als MP3, und das ist nur der private Computer: Wir alle sammeln und erzeugen nahezu täglich Unmengen an Daten. Manche davon relevant, andere weniger; manche komplex, andere einfach strukturiert. Insgesamt gibt es Schätzungen,

„ Daten liegen praktisch nie so vor, wie man sich das ­theoretisch überlegt hat.“ Karin Schnass dass vom weltweiten Datenvolumen – inzwischen zumindest einige Billionen Gigabyte – maximal ein Viertel auch nützlich ist und nur etwa ein Prozent tatsächlich analysiert werden kann. Mit Methoden dieser Analyse beschäftigt sich die Mathematikerin Karin Schnass in ihrem vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF mit einem START-Preis geförderten Projekt: „Viele stellen sich die Analyse von Daten relativ einfach vor: Schlagworte sind dann Deep Learning, Machine Learning, das passiert alles automatisch und dann machen wir wunderbare Dinge damit. Leider ist es nicht so einfach: Daten sind nämlich leider nie wirklich sauber und liegen praktisch nie so vor, wie man sich das theoretisch überlegt hat. Nehmen wir als Beispiel die Auswertung von Fotos: Sie haben Bilder von Leuten, da ist dann einmal der Kopf schief, einmal ist die Person bei den Ohren, einmal bei der Stirn abgeschnitten. Aber man hätte gerne, dass der Kopf immer die gleiche Größe hat und zentriert am Bild ist – dabei ist aber die Tatsache, dass jemand einen sehr großen Kopf hat, auch ein Merkmal

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Fotos: Karin Schnass (4), Andreas Friedle (1)


MATHEMATIK

ZWEI BEISPIELE für automatisch erstellte Dictionarys: Das Dictionary des Affen (4. Bild von links) enthält mehr Atome, weil das Bild komplexer ist. Das Dictionary der Paprikas hingegen kommt mit weniger Atomen aus (2. Bild von links). und das gehört berücksichtigt. Bis man die Daten einmal soweit hat, dass das alles passt, hat man extrem viel Zeit investiert.“

Dictionary Learning

Die Methode, die Schnass und ihr Team für die Auswertung von Daten – Bilder, Audio, aber theoretisch jede Art von Datenquelle – verwendet, heißt „Dictionary Learning“: Ein Bild wird in Stücke zerschnitten, diese Bildstücke bilden die Datenquelle. „Üblich ist dabei eine Größe von 8 x 8 Pixel, also 64 Pixel pro Stück. Was wir wollen, ist, dass alle denkbaren Formen, die im Bild vorkommen, auch in den Stücken repräsentiert sind“, erklärt Schnass. Diese Stücke werden dem Lern-Algorithmus übergeben, der am Ende ein Dictionary, ein Wörterbuch, der gewünschten Größe ausspuckt, aus dem sich das Ausgangsbild wieder zusammensetzen lässt. Wie viele einzelne Teile – in der Fachsprache „Atome“ – gebraucht werden, hängt natürlich von der Komplexität des Ausgangsbilds ab (siehe Bilder). „Es gibt eine Reihe von Bildern, an denen die Algorithmen weltweit getestet werden, unter anderem eines von Paprikas und eines von einem Affen. Der Affe ist aufgrund der feinen Fellstruktur schwieriger, da werden insgesamt mehr Atome gebraucht als bei den Paprikas, die aus vielen glatten Flächen bestehen“, sagt die Mathematikerin. Anwendung findet die Methode allerdings weniger in der Kompression von Daten – dafür gibt es effizientere Verfahren – als in der Wiederherstellung von beschädigten Portionen. „Stellen Sie sich ein zerknülltes Foto vor: Die Risse, die beim Zerknüllen entstehen, sind Leerstellen, die wir aber gerne gefüllt hätten. Nun kommt uns zugute, dass Bilder ja nie komplett zufällig zusammengesetzt sind, sondern immer etwas zeigen – wir können also unseren Algorithmus sogar

über das zerstörte Foto laufen lassen und erhalten unbeschädigte Atome.“ Mit diesen unbeschädigten Atomen können die Forscherinnen und Forscher dann beschädigte Teile des Bilds wiederherstellen. „Daten, egal welcher Form, kann man sich als Punkte in hochdimensionalen Räumen vorstellen. Aber es ist nicht so, dass diese Räume voll sind, also dass ein Datenpunkt tatsächlich ein ganz beliebiger Punkt im Raum sein kann – meis­ tens sind diese Punkte in irgendwelchen Strukturen angeordnet, etwa auf einer Linie“, sagt Karin Schnass. Diese Eigenschaft von Daten machen sich die Forscherinnen und Forscher zunutze: „Wenn ich jetzt nicht die gesamten Informationen habe, kann ich dennoch von vorhandenen Informationen auf das Gesamtbild schließen. Ich habe zum Beispiel ein Computertomografie-Gerät, will aber Patienten nicht einer hohen Strahlenbelastung aussetzen und viel Energie verbrauchen, al-

KARIN SCHNASS (*1980 in Klosterneuburg) erwarb 2004 ihr Diplom in Mathematik an der Universität Wien, bevor sie im Jahr 2009 an der ETH Lausanne in der Schweiz promovierte. Nach Geburt ihres ersten Kindes und einer Karenz 2009 forschte die Mathematikerin als Postdoc am Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) in Linz. Nach Geburt ihres zweiten Kinds 2011 und einer Karenz arbeitete sie als Erwin-Schrödinger-Stipendiatin des Wissenschaftsfonds FWF an der Università degli studi di Sassari in Italien, bevor sie im Oktober 2014 an die Universität Innsbruck wechselte. Für ihr Projekt „Optimierung, Modelle und Algorithmen für Dictionary Learning“ erhielt Karin Schnass 2014 einen START-Preis, mit bis zu 1,2 Millionen Euro die höchstdotierte Auszeichnung für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Österreich.

so mache ich weniger Messungen. Dann habe ich zwar weniger Informationen, aber ich weiß, dass die Daten auf einer bekannten Struktur liegen. Ich verwende also bekannte Zusatzinformationen, um Daten zu rekonstruieren und von weniger Punkten auf das Gesamtbild zu schließen. Bei der Magnetresonanztomografie wird das bereits verwendet: Man spart sich Messungen, weil man weiß, dass die Daten eine niedrigdimensionale Struktur haben, und das verwendet man, um die Anzahl der Messungen zu reduzieren. Auch ein Dictionary ist eine Art einer niedrigdimensionalen Struktur.“ Denkbar ist ein Einsatz auch in Szenarien, wo Energie nur begrenzt zur Verfügung steht: Wenn etwa ein Mars-Rover nur die nötigsten Messungen vornimmt, hält die Batterie länger. Der Aufwand, die gesendeten Daten dann auf der Erde umzurechnen, ist größer, hier spielt der Energieverbrauch aber auch eine geringere Rolle. „Das gleiche Phänomen haben wir übrigens auch bei handelsüblichen Kameras, wenn in JPG gespeichert wird: Die Kamera macht derzeit das Foto und rechnet dann selbst auf das komprimierte JPG-Format runter. Das benötigt natürlich auch Energie. Ein anderer Zugang wäre, wenn man wirklich viele Bilder speichern will und die Batterie lang halten soll, auch hier mit der Kamera nur die nötigsten Messungen für ein Foto zu machen und den Rest erst später am Computer rechnen zu lassen. Aber das ist derzeit noch Zukunftsmusik.“ Karin Schnass und ihr Team arbeiten im Moment an der Verbesserung ihrer eigenen Dictionary-Learning-Algorithmen und an möglichen Einsatzgebieten – so ist es etwa alles andere als trivial, automatisch festzustellen, wie viele Atome im Dictionary tatsächlich gebraucht werden, vor allem, wenn die Ausgangsdaten schon Fehler aufweisen. Das Projekt ist derzeit bis 2021 angesetzt. sh

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WISSENSTRANSFER

BETON, LICHT UND ÖL Der Förderkreis 1669 der Uni Inns­bruck unterstützt die Entwicklung von drei Prototypen, mit denen Forschungsergebnisse in konkrete Anwendungen umgesetzt werden sollen.

THERMOMECHANISCH optimierter Schaumbeton als alternatives Fassadenelement (li.), eine Spiegellamelle der Firma Bartenbach (mi.), deren Eigenschaften mit einem neu entwickelten Messgerät einfacher untersucht werden können, und eine neue ölabweisende Oberflächenbeschichtung (re.), die in Zukunft zur Trennung von Öl und Wasser eingesetzt werden soll.

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er Großbrand im Londoner Grenfell Tower hat auf dramatische Weise deutlich gemacht, wie wichtig Brandschutz auch bei Fassadenkonstruktionen ist. Am häufigsten werden heute kunststoffbasierte Materialien verwendet. Forscher um Roman Lackner vom Arbeitsbereich Materialtechnologie arbeiten nun an einer vielversprechenden Alternative. Zementgebundene Systeme, die sich durch den gezielten Eintrag eines Porensystems auszeichnen, zeigen hervorragende Eigenschaften hinsichtlich des Brandschutzes und können gut wiederverwertet werden. Bisher eingesetzter Schaumbeton weist allerdings noch schlechtere Wärmedämmeigenschaften als herkömmliche Materialien auf. Mit Unterstützung des Förderkreises will Lackner dies nun mit seinem Team durch die thermomechanische Optimierung des Porenraums im Beton ändern.

Messtechnologie

Die Mitglieder unterstützen die Universität als Netzwerk von Verbündeten, als Brücke in die Gesellschaft – sowohl ideel als auch materiell. Infos: www.uibk.ac.at/foerderkreis1669

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Mit komplexen Fassadensystemen lassen sich auch in stark verglasten Gebäuden angenehme Lichtverhältnisse erzielen und die notwendige Kühlung reduzieren. Trotz der Vorteile werden diese modernen Fassadensysteme heute nur zögerlich eingesetzt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass nur spärlich Daten aus Messungen zur Verfügung stehen und reine Simulation für die Produktentwicklung nicht ausreicht. Für die Bestimmung der Leuchtdichteverteilung werden sogenannte

Goniophotometer eingesetzt. Ein Team um Rainer Pfluger vom Arbeitsbereich Energieeffizientes Bauen entwickelt derzeit ein neuartiges Goniophotometer, das die Nachteile vorhandener Messgeräte überwindet und so neue Möglichkeiten für die Vermessung von Fassaden etablieren könnte. Die Innovation liegt dabei in der direkten optischen Messung der Dichteverteilung des von einem Objekt ausgehenden Lichtstroms. Mit dieser Entwicklung soll die Basis für die Herstellung von Goniophotometern mit niedrigen Kosten und hoher Auflösung bei kurzer Messdauer gelegt werden.

Trennverfahren

Inge Hackl vom Institut für Allgemeine, Anorganische und Theoretische Chemie arbeitet an einer neuen Möglichkeit zur Trennung von Öl und Wasser. Fettabscheideanlagen finden in der Wasseraufbereitung, nach Ölkatastrophen oder in der Industrie Anwendung. Basierend auf einer von ihrem Kollegen Herwig Schottenberger kürzlich entwickelten und von der Uni Inns­bruck patentierten Verbindungsklasse arbeitet die Chemikerin an einer Alternative zu herkömmlichen Wasseraufbereitungssystemen. Grundlage dafür ist eine gleichzeitig wasseranziehende und ölabweisende Oberflächenbeschichtung. Mit den Mitteln des Förderkreises will sie das Verfahren weiterentwickeln und für die Markteinführung vorbereiten. cf

Fotos: Uni Inns­bruck (2), Bartenbach


WISSENSTRANSFER

ERFOLGREICHES SPIN-OFF

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GRÜNES RENNAUTO Tirol hat ein Motorsportteam. Studierende konstruierten ein ­Elektro-Rennauto zur Teilnahme an der Formula Student.

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inter Campus Tirol Motorsport (CTM) steht eine Vereinigung engagierter Studierender von den Hochschulen Tirols. Im Oktober vergangenen Jahres haben sie erstmals mit einer Konstruktion eines mit Elektromotoren ausgestatteten Rennwagens begonnen, den sie ein Jahr später erfolgreich präsentierten. „Vor nur einem Jahr haben wir mit unseren Ideen auf einem weißen Blatt Papier begonnen und uns gemeinsam alle weiteren Schritte erarbeitet. Erstmals ein Team in Inns­bruck aufzubauen, war ein großer Reiz, und wir sind bereits in den Vorbereitungen für die Konstruktion eines neuen Autos, mit dem wir im kommenden Jahr in Spielberg an den Start gehen wollen“, sagt Lukas Dür, Mechatronik-Student an der Universität

Inns­bruck und Projektleiter von CTM. Ganz im Sinne des Ziels von Tirol 2050 soll das elektrisch fahrende Auto nicht nur schnell, sondern auch effizient sein. „Das ist die Zukunft und wir möchten mit unseren Ideen einen innovativen Beitrag für weitere Entwicklungen leisten“, freut sich das CTM-Team mit dem Ziel, ein Auto von 0 auf 100 km/h unter drei Sekunden beschleunigen zu können. Das innovative Antriebskonzept des Rennwagens mit vier Elektromotoren zeigt die Möglichkeiten zukünftiger Technologien auf und bringt der Region umweltschonende Mobilität näher. „Dieses Zeichen wollen wir gemeinsam mit den uns unterstützenden Unternehmen setzen, um nachhaltige Antriebskonzepte zu fördern“, betont Dür.

EIN JAHR UNTERNEHMERSCHMIEDE INNCUBATOR

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ufgrund der sehr guten Auslastung des InnCubators und der bewährten Kooperation zwischen der Tiroler Wirtschaftskammer und der Universität Inns­bruck wurde das vor einem Jahr gegründete gemeinsame Gründerzentrum ausgebaut. Auf einer Fläche von 500 Quadratmetern wurde auf dem WIFI Campus die Basis für neue Lern- und Arbeitsräume geschaffen. „Durch die Erweiterung soll ein pulsierendes Ökosystem entstehen, in dem Innovationen und Start-ups weiterentwickelt werden“, erklärt WK-Präsident Jürgen Bodenseer. Von Lehrlingen über Studierende bis hin zu Quereinsteigern – das Angebot des InnCubators steht allen unternehmerisch denkenden Menschen in Tirol offen. „Wir haben die Kompetenzen und Ressourcen der Wirtschaftskammer und der Universität zusammengefasst und diese um ein zusätzliches Angebot erweitert“, sagt Rektor Tilmann Märk. Im ersten Jahr unterstützte die Unternehmerschmiede über 15 Start-ups.

Fotos: Stephan Elsler (1), colourbox.de (1), Aria Sadr-Salek/www.photography.snow.at (1)

as Spin-off Txture GmbH der Uni Inns­bruck unterstützt global agierende Unternehmen dabei, ihre weltweiten Cloud-Systeme erfolgreich zu planen und zu optimieren. Das junge Unternehmen hat sich für das Finale des European Venture Contest im Dezember in Düsseldorf qualifiziert. Über 1.000 europäische Technologie-Startups bewarben sich für die elfte Ausgabe des European Venture Contest, die besten 100 haben sich in Vorveranstaltungen in ganz Europa für das Finale qualifiziert. Trends wie Industrie 4.0, Internet der Dinge oder smarte Systeme verändern die Unternehmenswelt. Viele prominente Sicherheitsvorfälle, darunter gehackte, fremdgesteuerte Autos, massen-

haft gestohlene Kundendaten oder geschäftskritischer Ausfall von IT-Systemen, machen aber auch deutlich, dass IT-Innovation die Beherrschbarkeit der neuen Technologien voraussetzt. Das Team um die Informatik-Professorin Ruth Breu hat diese neuen Erfordernisse an das IT-Qualitätsmanagement sehr früh erkannt und arbeitet bereits seit 2009 im Kompetenzzentrum QE LaB in Kooperation mit Industriepartnern wie Infineon, Siemens und der Porsche Holding an neuen Methoden und Werkzeugen. Das Gründungsteam der Txture GmbH, Matthias Farwick, Thomas Trojer und Ruth Breu, vermarktet ein Werkzeug am internationalen Markt, das die planerische Abbildung von IT-Assets grundlegend neu interpretiert. Inspirieren ließ sich das Team dabei von interaktiven Landkarten wie beispielsweise Google Maps. Die Universität Inns­bruck ist über die Uni-Holding an dem erfolgreichen Technologieunternehmen beteiligt.

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Koordinationsstelle für universitäre Weiterbildung

Leben & Lernen – universitäre Weiterbildung Aktuelles aus den Weiterbildungsangeboten an der Universität Innsbruck ▪ Wirtschaftskriminalität, Korruption & Recht ▪ Library and Information Studies ▪ Frieden, Entwicklung, Sicherheit und internationale Konflikttransformation ▪ Pädagogische Qualität und Qualitätsentwicklung im Kindergarten ▪ Textile & Polymere Science Die wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Innsbruck vermittelt Zusatz- und höhere Fachqualifikationen in den an der Universität vertretenen Studienrichtungen. Dabei werden Forschung auf höchstem Niveau und aktueller Praxisbezug miteinander verbunden.

www.uibk.ac.at/weiterbildung 36

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© BfÖ 2017

19 Universitätslehrgänge | 27 Universitätskurse und Seminare 55 Unternehmenspartner | 850 Teilnehmende fachspezifische Kompetenzen erweitern | aktueller Praxisbezug berufsbegleitend studieren


QUANTENPHYSIK

NANOMAGNETE IN SCHWEBE Quanteneigenschaften lassen Nanomagnete über einem Magnetfeld schweben, obwohl das laut dem klassischen Earnshaw-Theorem eigentlich unmöglich ist.

FASZINIERENDE QUANTENWELT: Cosimo Rusconi und Oriol Romero-Isart (re.) lassen einen Magnetkreisel schweben.

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it Dauermagneten kann man keine stabil schwebende Konstruktion errichten, das hat der Brite Samuel Earnshaw bereits 1842 nachgewiesen. Lässt man einen Magneten über einem anderen schweben, genügt die kleinste Störung, um ihn abstürzen zu lassen. Der Magnetkreisel, ein beliebtes Spielzeug, umgeht dieses Earn­ shaw-Theorem. Bei einer Störung richtet die Kreiselbewegung ihn wieder so aus, dass die Stabilität erhalten bleibt. Nun haben Physiker um Oriol Romero-Isart vom Institut für Theoretische Physik der Universität Inns­bruck und dem Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit Forschern am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching erstmals gezeigt, dass Nanomagneten auch in Ruhe über einem statischen Magnetfeld schweben können. „In der Quantenwelt können winzige Nanoteilchen ruhend über einem ­Magnetfeld schweben“, sagt Romero-Isart. „Verantwortlich dafür sind Quanteneigenschaf-

Foto: IQOQI Inns­bruck/M.R.Knabl

ten, die in der makroskopischen Welt nicht wahrnehmbar sind, bei Nanoobjekten aber stark hervortreten.“

Stabil schweben lassen

Albert Einstein hat gemeinsam mit dem niederländischen Physiker Wander Johannes de Haas 1915 nachgewiesen, dass der Magnetismus auf ein quantenmechanisches Phänomen zurückgeht, nämlich den Drehimpuls von Elektronen, den sogenannten Elektronenspin. Die Physiker um Romero-Isart zeigen nun, dass dieser Elektronenspin es einem Nanomagneten erlaubt, im Ruhezustand über einem statischen Magnetfeld zu schweben, obwohl das nach dem klassischen Earnshaw-Theorem eigentlich unmöglich ist. Die Theoretiker haben ausführliche Stabilitätsanalysen abhängig vom Radius des Objekts und der Stärke des externen Magnetfelds gemacht. Diese zeigen, dass in Abwesenheit von Reibungsverlusten (Dissipation) sich ein Gleichgewichtszustand einstellt. Verantwortlich dafür ist der gyromagnetische Effekt: Bei Ände-

rung der Magnetisierung tritt wegen der Kopplung der magnetischen Momente mit dem Spin der Elektronen ein mechanisches Drehmoment auf. „Dadurch wird der magnetische Schwebezustand des Nano­magneten stabilisiert“, erklärt Cosimo Rusconi. D ­ arüber hinaus konnten die Forscher auch zeigen, dass die Freiheitsgrade des schwebenden Nanomagnets miteinander quantenverschränkt sind. Romero-Isart ist optimistisch, dass diese schwebenden Nanomagnete bald auch im Labor beobachtet werden können. Sie machen Vorschläge, wie dies unter realistischen Bedingungen gelingen könnte. Schwebende Nanomagnete bieten ein völlig neues Experimentierfeld für die Physiker. Unter instabilen Verhältnissen könnten sie exotische Quantenphänomene offenbaren. Auch könnten mehrere Nanomagnete miteinander gekoppelt und die Ausbreitung der Magnetisierung im Labor simuliert und studiert werden. Technisch sind schwebende Nanomagne­ te zum Beispiel auch als hochsensible Sensoren interessant. cf

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SOZIOLOGIE

DAS ALTER NEU DENKEN Abhängigkeit im Alter muss gesellschaftsfähig werden. Dann erst kann laut Bernhard Weicht vom Institut für Soziologie das Pflegesystem neu aufgesetzt werden.

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BERNHARD WEICHT, geboren 1981 in Wien, studierte (Sozial-)Wirtschaft in Wien sowie Sozialpolitik an der University of Nottingham, wo er 2010 promovierte. Als Marie Curie Fellow forschte er an der Universität Utrecht, anschließend war er Dozent am Leiden University College. Seit 2015 arbeitet er am Institut für Soziologie der Universität Inns­bruck. Der Themenkreis Alter, Altern und Pflege ist Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit.

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ir haben sie im Kopf: die ausgelassen tanzenden Seniorinnen und Senioren, die älteren, gepflegten Paare, die sich bedeutungsvoll lächelnd zuprosten, die Fußball spielenden Großmütter und die verwegenen, grauhaarigen Radfahrer aus der Werbung. Die Gesellschaft suggeriert uns laufend, wie schön aktives Altern sein kann. Im Gegenzug wird Pflegebedürftigkeit negativ bewertet. Das zeigt sich ganz besonders, wenn man genau zuhört, wie im öffentlichen Diskurs über Pflege gesprochen wird. Und das macht Bernhard Weicht vom Institut für Soziologie seit über zehn Jahren. „Als um das Jahr 2005 in Österreich die Diskussion um die 24-Stunden-Betreuung aufpoppte, habe ich mit meinen Diskursanalysen begonnen“, berichtet Bernhard Weicht. „Ich fand es irrsinnig spannend, welche Sprache verwendet wurde, um die Betreuerinnen zu bezeichnen, welche Geschichten erzählt und welche Bilder geschaffen wurden.“ So war „Pflegenotstand“ damals ein Lieblingsbegriff in Medien und Politik und diente häufig, um Schreckensszenarien zu übertiteln, die im Zusammenhang mit künftig notwendigen Pflegekosten gezeichnet wurden. Weicht beschäftigt sich seither mit verschiedenen Aspekten der Diskussion um Pflege, sowohl im informellen als auch im institutionellen Bereich. Neben der Analyse der öffentlichen Diskurse und deren Reproduktion durch die Politik sind auch zahlreiche Interviews mit Pflegebedürftigen, Pflegenden, Pflegekräften und weiteren Fokusgruppen Basis seiner Forschungsarbeit.

Abhängigkeit als Tabu

Ein Kernthema von Bernhard Weicht ist Abhängigkeit im Alter, die seinen Untersuchungen zufolge als „schlimmste Phase“ des Lebens konstruiert wird. „In einer Gesellschaft, wo Autonomie so wichtig ist,

will niemand abhängig sein.“ Obwohl die Lebenserwartung steigt und es immer mehr alte Menschen gibt, sind Abhängigkeiten im Alter ein großes Tabu. Pflegeheime entwickeln sich zunehmend zu Alternativen, die nur in Betracht gezogen werden, wenn der Pflegeaufwand extrem hoch ist. Möglichst

„ Abhängigkeit im Alter wird als schlimmste Phase des Lebens Bernhard Weicht, Institut für Soziologie ­konstruiert.“ lange zu Hause zu wohnen, ist ein viel gehegter und häufig auch gesellschaftlich suggerierter Wunsch. Diese Ansprüche finden jedoch keine entsprechenden Rahmenbedingungen im System, das in den Augen von Bernhard Weicht in der aktuellen Form so nicht funktioniert und in Zukunft noch weniger funktionieren wird. Ein Blick auf das in Österreich beliebte Modell der 24-Stunden-Betreuung ist beispielhaft: Waren es früher im Bereich der informellen Pflege vor allem weibliche Familienmitglieder, die die Alten-Betreuung unentgeltlich übernommen haben, so ermöglicht seit 2007 die im Hausbetreuungsgesetz verankerte 24-Stunden-Betreuung den Traum vom Altern in vertrauter Umgebung. „Die 24-Stunden-Betreuung, die vorwiegend durch Pflegekräfte aus dem Ausland getragen wird, wurde geschaffen beziehungsweise gesetzlich legalisiert, ohne das Pflegesystem grundsätzlich zu ändern“, kritisiert Weicht. Er führt eine Reihe von Problemen an, die diese besonderen Beschäftigungsverhältnisse mit sich bringen, unter anderem die Abgrenzung von Privatleben und gemeinschaftlichem Leben, die Frage, was alles Teil des Beschäftigungsverhältnisses ist und was nicht mehr, oder die Frage, ob und wann es Freizeiten gibt. „Es gibt kaum Regelungen.

Fotos: Colourbox/ Oleg Mikhaylov (1), privat (1)


SOZIOLOGIE

Hinzu kommt, dass das ganze System auf unterschiedlichen Lohnverhältnissen aufbaut. Anders würde es gar nicht funktionieren.“ Was Weicht an der 24-Stunden-Pflege allerdings positiv sieht, ist, dass sie den Aspekt der Beziehung zwischen Betreuerinnen und Betreuten in den Mittelpunkt rückt.

Radikales Umdenken

Neue Wege in der Pflege können nur auf der Basis eines radikalen Kurs- und Diskurswechsels gefunden werden, ist der Wissenschaftler überzeugt. „Wir sind unser ganzes Leben lang von anderen abhängig. Manchmal mehr, manchmal weniger. Wir müssen beginnen, viel mehr darüber zu sprechen, dass Altern und Abhängigkeiten Teil unseres Lebens sind, sonst wird es keine positiven Lösungen geben.“ Dieses Umdenken muss auch die Arbeitswelt miteinschließen, sodass neben dem Arbeitsleben auch Betreuungsauf-

gaben zu Hause Platz haben, meint der Soziologe. „Während einem in der Berufswelt die Betreuung kleiner Kinder noch irgendwie zugestanden wird, ist die Pflegekarenz eher tabuisiert und wird kaum in Anspruch genommen.“ Auch das Schaffen neuer Wohnformen ist ein wichtiger Schritt. Wohngemeinschaften, generationenübergreifendes Wohnen, aber auch ganz neue Wohnarten sind denkbar. So erzählt Bernhard Weicht vom Demenzdorf Hogeweyk in den Niederlanden, das altes Denken radikal aufbricht. Dort wird mehr Augenmerk auf die Bedürfnisse und weniger auf die Einschränkungen gelegt, wodurch sich viele andere Probleme erledigen. Einmal mehr betont Weicht, dass die für solche Ideen erforderlichen organisatorischen Entscheidungen ein anderes Begreifen von Altern voraussetzen. „Das ist ebenso eine politische wie auch gesellschaftliche Thematik.“ ef

24-STUNDEN-BETREUUNG basiert auf einem Beschäftigungsverhältnis, wird aber oft mehr als Ersatzfamilie gesehen. Eben deshalb ist dieses Modell mit all seinen Nachteilen so beliebt.

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KURZMELDUNGEN

ZUKUNFTSIDEEN

Inns­brucker Forscher präsentierten auf der EXPO 2017 zwei innovative Projekte für die Energieversorgung der Zukunft.

AUCH WEITERHIN EIN VERLÄSSLICHER PARTNER

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limawandel und Risikomanagement sind zentrale Herausforderungen unserer Zeit und beeinflussen ganz wesentlich Leben und Wirtschaft in Gebirgsräumen und den von diesen abhängigen Vorländern. Seit 2002 hat alpS zahlreiche Projekte mit vielen Wirtschafts- und Wissenschaftspartnern, Behörden, Vereinen und NGOs erfolgreich umgesetzt. „Der Erfolg von alpS lag immer im ausgeglichenen Mix aus angewandter, praxisnaher Forschung und dem Einbringen dieser Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in die Beratung“, sagt die Geschäftsführerin Sara Matt-Leubner. In den vergangenen sieben Jahren war alpS auch Träger eines von Bund und Land Tirol geförderten COMET-K1-Zentrums, dessen Förderung nun im April 2018 ausläuft. alpS wird aber weiterhin ein verlässlicher Partner für bereits bestehende Kooperationen sein, zugleich seine Aktivitäten mit weiteren Partnern und Auftraggebern deutlich ausbauen. Nach Abschluss der COMET-Phase wird alpS aus zwei sich synergetisch ergänzenden Einheiten bestehen: alpS Consulting als eigene GmbH und alpS Research als Teil der Universität Inns­bruck. „So stellen wir sicher, dass die Leistungen sowohl im Bereich der wissenschaftlichen als auch der beratenden Tätigkeitsfelder weiterhin die gewohnt hohe Qualität haben“, erklärt Matt-Leubner. Weitere Ansprechpersonen und verantwortlich für die strategische Entwicklung und operative Umsetzung sind die AbteilungsleiterInnen Daniela Hohenwallner-Ries (Klimawandelanpassung), Matthias Huttenlau (Wasserressourcen- und Risikomanagement) und Paul Stampfl (Energieraumplanung). Sie werden dabei von einem engagierten Team unterstützt.

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ie diesjährige Weltausstellung in der kasachischen Hauptstadt Astana stand ganz im Zeichen der zukünftigen Energieversorgung und möglicher Maßnahmen für weltweite Nachhaltigkeit. Auf dem 25 Hektar gro­ ßen­Ausstellungsgelände wurden innovative Ideen aus der ganzen Welt präsentiert. Zwei davon kamen von der Uni Inns­bruck und wurden im zentralen Pavillon der Ausstellung gezeigt. Rames Najjar, Professor für Hochbau am Institut für Experimentelle Architektur, hat gemeinsam mit seinem Bruder Karim Najjar, Professor an der American University of Beirut, bewegliche Strukturen entwickelt, die an der stark verbauten Küste Beiruts den Fischern wieder Zugang zum Meer verschaffen sollen. Über einen Schwimmer im Wasser wird die Wellen-

bewegung auf die Konstruktion übertragen. „Diese Bewegung wollen wir für die Energiegewinnung nutzen, indem wir einen Generator damit betreiben, und die Häuser der Fischerfamilien mit Strom versorgen“, erzählt Rames Najjar. Für die Präsentation in Astana verband Najjar diese Idee mit einem Konzept zum Speichern von Energie, das seit einigen Jahren am Arbeitsbereich für Wasserbau der Fakultät für Technische Wissenschaften entwickelt wird. Markus Aufleger, Robert Klar und Bernd Steidl wollen große, schwimmende Plattformen bauen, um Energie sehr effizient zu speichern. „Diese schwimmenden Speicher funktionieren sehr ähnlich wie Pumpspeicherkraftwerke hier in den Alpen“, erklärt Klar. „Sie liefern dann Energie, wenn sie tatsächlich gebraucht wird.“

SOMMERTECHNIKUM

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m Juli und August bot die Uni Inns­bruck zum ersten Mal Schülerinnen die Möglichkeit, in technische und naturwissenschaftliche Studien hineinzuschnuppern. 18 Mädchen aus Tirol besuchten ein bezahltes Praktikum in Betrieben oder Universitätsinstituten sowie eine Sommerschule an der Universität. „Mit dem neuen Sommertechnikum setzt die Universität Inns­bruck eine wichtige Maßnahme, um Frauen nachhaltig für die MINT-Fächer zu begeistern“, sagt Bernhard Fügenschuh, Vizerektor für Lehre und Studierende. „Mit der einzigartigen Kombination aus Praktikum und Sommerschule erhalten die Schülerinnen einen guten Einblick in einzelne Studienrichtungen, sowohl in praktischer Hinsicht als auch auf theoretischer Ebene.“

Fotos: Ieva Saudargaitė (1), Uni Inns­bruck (1), pixabay.com/Wolfgang Sojer (1)


ATMOSPHÄRE

IN EINEM WEITGEHEND unberührten Waldgebiet in den Rocky Mountains wurde nach organischen Spurenstoffen in der Luft gesucht.

„FEHLENDER“ KOHLENSTOFF Luftqualität und Klima werden durch chemische Prozesse in der Atmosphäre beeinflusst, biogenem Kohlenstoff kommt dabei eine wichtige Rolle zu.

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m Sommer 2011 versammelte das National Center for Atmospheric Research in den USA die modernsten Messinstrumente in Colorado, um dem gesamten aus biologischen Quellen stammenden Kohlenstoff in der Atmosphäre auf die Spur zu kommen. Mit dabei waren Forscher der Universität Inns­bruck. Sie installierten ihre elektronische Spürnase – ein hoch spezialisiertes Gerät zur Messung von flüchtigen organischen Verbindungen – am Fuß eines 26 Meter hohen Messturms. Der Feldversuch fand in einem weitgehend unberührten Kiefernwald in den Rocky Mountains statt. Das Inns­brucker Team um Armin Hansel und Thomas Karl arbeitete mit einem Protonen-Tausch-Reaktions-Time-of-FlightMassen-Spektrometer (PTR-ToF-MS), mit dem sich zeitlich hoch aufgelöste Messungen durchführen lassen und das die Kohlenstoffflüsse in der Atmosphäre aufzeichnen kann. Dieses Gerät wurde in Inns­bruck entwickelt und kam bei dem Feldversuch zum ersten Mal zum Einsatz. „Das PTR-TOF-MS kann winzigste Mengen organischer Spurenstoffe in der Luft messen“, erklärt Hansel vom Insti-

Foto: colourbox.de

tut für Ionenphysik und Angewandte Physik. Es eignet sich daher besonders, um die von den Bäumen abgegebenen Kohlenstoffverbindungen zu erfassen. Denn bei der Photosynthese wird rund ein Prozent des von der Pflanze aufgenommenen Kohlendioxids als flüchtige organische Verbindungen wieder in die Atmosphäre abgegeben. „Mit unserer Methode können wir diese flüchtigen Spurenstoffe besonders gut messen, während die anderen Instrumente eher auf die weniger volatilen Verbindungen spezialisiert waren“, erzählt Hansel.

Den Luftströmungen folgen

Mit einer speziellen Messmethode – dem sogenannten Eddy-Covariance-Verfahren – konnten die Inns­brucker Forscher die Konzentration der verschiedenen Kohlenstoffverbindungen laufend überwachen. Dazu wurden pro Sekunde bis zu zehn Messungen durchgeführt und die Daten später mit der Windgeschwindigkeit korreliert. „Auf diese Weise können wir die Luftbewegungen in der Atmosphäre analysieren und den Transport der Kohlenstoffverbindungen quasi in

Zeitlupe mitverfolgen“, sagt Thomas Karl vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften. So ermittelten die Forscher je nach Windrichtung die über einem bestimmten Waldgebiet vorhandenen flüchtigen Kohlenstoffverbindungen. Aus den Daten konnten die Forscher auch ablesen, was mit den von den Bäumen emittierten Kohlenstoffen in der Atmosphäre passiert. „Wir wollten wissen, welche Verbindungen die Kohlenstoffe eingehen und wie nach und nach immer weniger flüchtige Moleküle entstehen, die später an Aerosolen anhaften oder am Boden und an Pflanzen kondensieren.“ Das ist keine leichte Aufgabe, denn diese Kohlenstoffverbindungen bilden sehr viele unterschiedliche Oxidationsprodukte. Die Forschungsarbeit liefert nun erstmals ein detailliertes Bild, was der Nadelwald an organischem Kohlenstoff abgibt, wie dieser in der Atmosphäre oxidiert wird und wo er am Ende landet. Überraschender Weise macht der Anteil der bisher nicht gemessenen Kohlenstoffverbindungen ein ganzes Drittel der insgesamt erfassten Menge aus. cf

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PHYTOWISSENSCHAFT

PHYTOVALLEY FÜR TIROL Michael A. Popp, Vorstandsvorsitzender von Bionorica, und Chemiker Günther Bonn über das neue Forschungsinstitut für die Entwicklung pflanzlicher Wirkstoffe, die Stärkung des Phytostandorts Tirol und die Akzeptanz von Bionorica-Produkten in der Schulmedizin

MICHAEL A. POPP, 1959 in Nürnberg geboren, studierte Pharmazie an der Universität Erlangen. Zwischen 1987 und 1991 promovierte er an der Universität Inns­bruck. 1988 übernahm er die Leitung von Bionorica, das sein Großvater 1933 gegründet hatte. Er positionierte das Unternehmen als einen der weltweit führenden Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln und machte es zu einem global agierenden Unternehmen und Schrittmacher im Bereich des Phytoneering. Die Bionorica-Gruppe erzielte 2016 mit über 1.500 Mitarbeitern einen Umsatz von rund 253 Millionen Euro. Michael Popp habilitierte sich an der Universität Inns­bruck und hält seit 1999 Vorlesungen für Analytische Phytochemie und Pharmazeutische Biologie.

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ZUKUNFT: Mit Bionorica Research hat Ihr Unternehmen schon seit 2005 eine Forschungseinheit in Inns­bruck. Warum engagieren Sie sich nun mit einer zweiten in Tirol? MICHAEL A. POPP: Was wir vorhaben, gibt es in diesem Stil noch nicht. Es gibt eine Pharmakognosie, die Pharmakologie, es gibt die Arzneiformenlehre. Auf der anderen Seite ist es so, dass die ideale Ergänzung von dem, was Günther Bonn und ich machen, fehlt. Man muss es auch etwas historisch betrachten. Ich habe in Inns­bruck promoviert, ich habe mich bei Günther Bonn habilitiert, ich habe Studenten hier, wir haben im Bereich der Analytik sehr viel gemeinsam entwickelt und zum Patent gebracht. Es ist durch Günther Bonns Arbeit ein Center of Excellence in der Phytoanalytik entstanden – das war das erste Schritt. ZUKUNFT: Und die weiteren Schritte? POPP: Ende der 1990er-Jahre kam es in Inns­bruck mit Hartmut Glossmann und Professoren aus München zur Gründung von Biocrates, unser erstes Biotech-Startup. Es folgte die Bionorica Research, da wir in Inns­bruck einen idealen Standort haben – alle unseren wissenschaftlichen Führungskräfte sind Urgewächse der Universität. Heute haben wir bei Bionorica Research das modernste Labor weltweit. Ein weiterer Schritt war die Gründung des Austrian Drug Screening Institute, des ADSI, an dem wir für Phytoforschung exklusiver Partner sind. Dazu kommt ein Vorteil von Österreich – die Forschungsförderung für Unternehmen, die 2018 sogar noch erhöht wird. Wenn man das alles betrachtet, kann man schon von einem Phytovalley sprechen. Deswegen war es naheliegend zu sagen, gründen wir doch hier auch das Forschungsinstitut.

Fotos: Andreas Friedle


PHYTOWISSENSCHAFT ZUKUNFT: Warum ein universitäres Forschungsinstitut?

POPP: Wenn wir klinische Studien ma-

chen, heißt es oft: Pflanzliche Arzneimittel sind mild oder schwach wirksam. Das geht so überhaupt nicht: Wir sind wirksam, genauso wie ein chemischsynthetisches Arzneimittel wirksam ist. Dafür brauchen wir klinische Studien mit Patienten, die richtig krank sind – nur so können wir den Unterschied zu einem Placebo zeigen. Es herrscht immer noch ein gewisses Denken von früher: Nimm’s, schaden kann’s nichts und wenn es hilft, ist es gut. Davon ist Bionorica weit entfernt, wir sind die einzige Firma, die mit ihren pflanzlichen Arzneimittel in der Schulmedizin angekommen ist. Es hat noch niemand aus unserem Mitbewerb geschafft, dass er auf Weltkongressen von Pulmologen oder Urologen auftreten kann. Wir sind fest verankert und voll akzeptiert, deswegen die Idee, ein Michael-Popp-Institut mit dieser Zielrichtung und Forschungsstandards auf höchstem internationalen Niveau zu gründen. Natürlich hilft es auch der Universität und der Region, da wir weltweit mit Instituten und Universitäten vernetzt sind. ZUKUNFT: Wo wird das Insitut angesiedelt sein? GÜNTHER BONN: Es ist ein vollwertiges Forschungsinstitut an der Fakultät für Chemie und Pharmazie, es wurde dafür der Organisations- und Entwicklungsplan geändert. Angesiedelt ist es am Mitterweg, Bionorica hat im Gebäude der Bionorica Research zusätzlich Raum angemietet, stellt auch die Infrastruktur. ZUKUNFT: Wie wird das Institut aufgestellt sein? POPP: Das Institut umfasst eine neue Professur, zwei wissenschaftliche Assis­ tenten, zwei Dissertanten, eine Laborstelle und ein Sekretariat. Für die ersten fünf Jahre bedeutet dies ein Investitionsvolumen von fünf Millionen Euro, 1,5 Millionen davon kommen vom Land Tirol für eine zweite Stiftungsprofessur. BONN: Es handelt sich um eine Stärkung des Standorts, es kommt etwas Neues dazu. Die Professur der Michael-PoppStiftung wurde von allen Gremien genehmigt und wird ausgeschrieben. Die Stiftungsprofessur des Landes ist zugesagt, die genaue inhaltliche Ausrichtung wird noch so diskutiert werden, dass sie

eine zusätzliche Stärkung ist und in das gesamte Bild passt. ZUKUNFT: Welche Ausrichtung soll das Institut haben? POPP: In erster Linie wollen wir neue pflanzliche Wirkstoffe finden, am Anfang gegen das metabolische Syndrom und Adipositas. Danach werden wir schauen, in welche zusätzliche Richtung es geht. Klares Ziel ist angewandte Forschung mit Ergebnissen. Wir wollen uns an Einrichtungen wie dem WeizmannInstitut für Wissenschaften oder den Max-Planck-Instituten orientieren, Ziel ist auch, dass weitere Institute entstehen, z. B. in Russland, vom Absatz her der größte Markt für Bionorica. ZUKUNFT: Sie sprechen vom Phytovalley. Wer wohnt schon in diesem Tal? BONN: Es hat sicherlich zwei Nuklei, ein Nukleus ist Bionorica Research, der andere das ADSI. An der Universität ist in den Jahren auch ein Umfeld entstanden, an der Chemie, der Pharmazie und der Botanik. Wir haben auch schon exakte Vorstellungen für ein Christian-DopplerLabor, wissen auch schon, welche Projekte wir durchführen wollen und werden das CD-Labor beantragen. Zudem gibt es unter anderem Gespräche mit Cura Cosmetics. ZUKUNFT: Was ist mit Cura Cosmetics angedacht? POPP: Wir haben durch unser Forschung sehr viele Ergebnisse, wir haben etwa anti-bakterielle und anti-entzündliche Wirkungen nachgewiesen. Wir kennen auch die Bedürfnisse der Dermatologen sowie der Haut an sich und sind daher am Forschen, ob manche Heilpflanzen,

GÜNTHER BONN, Jahrgang 1954, studierte in Inns­bruck Chemie sowie Lehramt Chemie und Physik. Ab 1977 war er Gymnasial-Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Analytische Chemie und Radiochemie, ab 1983 Universitätsassistent. Danach folgten Habilitation (1985), Yale University (1988), Berufung an die Uni Linz (1991) und die Berufung als Professor für Analytische Chemie an die Uni Inns­bruck (1995).

Extrakte oder Wirkstoffe für eine Problemhaut nützlich sein können – nicht als Arzneimittel, sondern eher als Kosmetikum. Eine Richtung, in die auch Cura Cosmetics geht, daher denken wir zurzeit gemeinsam intensiv nach. BONN: Ich möchte auch festhalten, dass es ein Michael-Popp-Institut, kein Bionorica-Institut ist. Popp ist als Geschäftsmann auch Wissenschaftler geblieben. Ich bin mir sicher, dass aufgrund seiner Beziehungen andere Firmen Interesse zeigen werden. ZUKUNFT: In Deutschland mussten viele Institute und Lehrstühle für Pharmakognosie der Biotechnologie weichen. Ist Ihr Institut auch ein Weg, dieses Forschungsgebiet nachhaltig zu etablieren? POPP: Ich sehe keine Anzeichen, dass sich das, was in Deutschland passiert ist, in Österreich wiederholen wird. Ich denke, dass der Lehrstuhl von Hermann Stuppner in Inns­bruck erhalten bleiben wird genauso wie jene in Graz und Wien. Daher war es schon auch die Idee, dies in Österreich zusätzlich zu stärken, nicht zu schwächen und jemanden etwas wegzunehmen. ah

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KARRIEREGIPFEL

UNTERNEHMERISCHES DENKEN STÄRKEN Mit zahlreichen Initiativen stärkt die Universität Inns­bruck das unternehmerische Denken ihrer Studierenden und Mitarbeiter. Koordiniert werden die Maßnahmen von der Transferstelle Wissenschaft – Wirtschaft – Gesellschaft.

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itte November fanden an der Universität Inns­b ruck zum zweiten Mal die Karrieregipfel statt. Hier konnten sich Studierende persönlich über Berufschancen in den Bereichen IT & Technik, Chemie & Life Sciences sowie Wirtschaft informieren. „Wir bringen bei den Karrieregipfeln Studierende und Unternehmen verschiedener Branchen und Fächer zusammen“, sagt Annemarie Larl von der Transferstelle der Universität. „Knapp 50 Unternehmen nutzten dieses Jahr die Gelegenheit, direkt mit unseren zukünftigen Absolventinnen und Absolventen in Kontakt zu kommen.“ An den drei Standorten am Campus Technik, dem Centrum für Chemie und Biomedizin und der SoWi fanden sich nicht nur mögliche Arbeitgeber, es gab auch eine Gründerberatung durch die Transferstelle, die UniHolding und den InnCubator. Wer eine Idee für ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung hatte, konnte sich

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hier informieren und von Expertinnen und Experten individuell beraten lassen. „Neben dem Berufsweg als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter in einem Unternehmen steht unseren Studierenden auch der Weg zur Gründung eines eigenen Unternehmens offen“, sagt Sara Matt-Leubner, die Leiterin der Transferstelle Wissenschaft – Wirtschaft – Gesellschaft an der Universität Inns­bruck. „Mit einem Lehrstuhl für Innovation und Entrepreneurship und entsprechenden Kursen für Studierende aller Fachrichtungen stärken wir das unternehmerischen Denken bei den Studierenden. Wollen sie den Schritt wagen, dann steht ihnen in Inns­bruck eine umfassende Struktur für Beratung und Unterstützung zur Verfügung.“

Neue Postdoc-Society

Nicht jeder erfolgreiche Wissenschaftler wird irgendwann einmal Professor. Nur rund zehn bis 20 Prozent der Postdocs schlagen am Ende eine wissenschaftliche

Karriere ein – alle anderen arbeiten später außerhalb der Universität. „Hier liegt ein enormes Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft“, sagt Sara Matt-Leubner. „Deshalb haben wir an der Universität Inns­bruck auch eine Initiative zur Förderung des Entrepreneurship-Denkens bei dieser Personengruppe gestartet.“ Mit der Postdoc-Society soll bei erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Bewusstsein für Karrieremöglichkeiten in der Wirtschaft gestärkt werden. Mit regelmäßigen Vernetzungstreffen, Informationsangeboten und verschiedenen Veranstaltungsformaten sollen die unterschiedlichen Anforderungen, Rahmenbedingungen, Strukturen, Prioritäten und Blickwinkel auf Wissenschaft und Wirtschaft aufgezeigt werden. Begleitet wird die Postdoc-Society durch die Transferstelle der Universität, die auch Alumni-Service, Career-Service und die Beteiligungsgesellschaft Uni-Holding in sich vereint. cf

Foto: Uni Inns­bruck


PREISE & AUSZEICHNUNGEN

SPITZENPREISE Der Wittgenstein-Preis, Österreichs höchstdotierter und prestigeträchtigster Wissenschaftspreis, ging in diesem Jahr an den Quantenphysiker Hanns-Christoph Nägerl. Einen START-Preis erhielt der Nachwuchsforscher Wolfgang Lechner.

TOP-FORSCHUNG: Höchster heimischer Wissenschaftspreis für Hanns-Christoph Nägerl (li.), Nachwuchspreis für Wolfgang Lechner.

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er mit 1,5 Millionen Euro dotierte Wittgenstein-Preis wird an etablierte Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher zur weiteren Steigerung ihres wissenschaftlichen Leis­ tungspotenzials verliehen. In diesem Jahr wurde Hanns-Christoph Nägerl vom Institut für Experimentalphysik der Universität Inns­b ruck ausgezeichnet. Er ist nach Peter Zoller und Rudolf Grimm der dritte Inns­b rucker Quantenphysiker, der diesen höchsten österreichischen Preis erhalten hat. „Die Inns­b rucker Quantenphysik genießt weltweit einen hervorragenden Ruf und ist eines unserer Stärkefelder. Das wird durch diese Auszeichnungen einmal mehr unterstrichen. Mit HannsChristoph Nägerl haben wir nun bereits den dritten Wittgenstein-Preisträger in unseren Reihen“, freute sich auch Rektor Tilmann Märk. Ein weiterer Grund zur Freude war der START-Preis für den Nachwuchsforscher Wolfgang Lechner vom Institut für Theoretische Physik der

Fotos: Uni Inns­bruck (1)

Universität Inns­bruck und dem Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Ultrakalte Quantenmaterie

Hanns-Christoph Nägerl ist einer der weltweit führenden Quantenphysiker auf dem Gebiet der ultrakalten Quantenvielteilchensysteme. Er ist besonders für seine Arbeiten zu atomaren Quantendrähten und zu molekularen Quantengasen bekannt. Der Wittgenstein-Preis wird es Hanns-Christoph Nägerl ermöglichen, seine Arbeiten zur Quantenkontrolle von Vielteilchensystemen auf eine neue Ebene zu heben. Sein Ziel ist es, aus den molekularen Quantengasen heraus die Moleküle einzeln und zustandsselektiv zu detektieren und in weiterer Folge auch einzeln zu manipulieren. Mögliche Anwendungen liegen in der Präzisionsmesstechnik und der Beantwortung der Frage, ob fundamentale Naturkonstanten wirklich konstant sind.

Spezieller Quantencomputer

Wolfgang Lechners Forschung zielt darauf ab, theoretische Grundlagen für eine bestimmte Art von Quantencomputer zu entwickeln, der Optimierungsprobleme effizient lösen kann. Optimierungsprobleme sind in der Wissenschaft und auch im Alltag allgegenwärtig. Sie reichen vom Finden der Grundzustands-Elektronenstruktur von Molekülen, der Faltung von Proteinen bis hin zu logistischen Problemen in der Industrie. Der Kern seiner Forschung ist eine neue Architektur für Quantencomputer, die Lechner in der Arbeitsgruppe von Peter Zoller in Inns­ bruck entwickelt hat. Diese Architektur erlaubt es, einen voll programmierbaren Quantencomputer für Optimierungsprobleme zu bauen. Diese Idee wurde als Patent angemeldet und weckt bereits reges Interesse. Mit der Unterstützung aus dem START-Programm will Lechner diese Architektur verwenden, um neue Ansätze von Quantencomputern für künstliche Intelligenz zu entwickeln. cf

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PREISE & AUSZEICHNUNGEN HABILITATION AUSGEZEICHNET Für ihre Habilitationsschrift über MenschObjekt-Beziehungen im Mittelalter und in der Renaissance am Beispiel der fürstlichen Höfe des süddeutschen und ober­ italienischen Raums erhielt die Historikerin Christina Antenhofer einen der diesjährigen Kardinal-Innitzer-Förderungspreise. Die gebürtige Südtirolerin ist assoziierte Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität Inns­bruck. Bereits im vergangenen Jahr wurde ihre Habilitationsschrift mit dem Forschungspreis der Stiftung Südtiroler Sparkasse ausgezeichnet. GOLDMEDAILLE FÜR ZOOLOGEN Der erste Preis der Edmund Optics Edu­ cational Awards für Europa geht in diesem Jahr an den Zoologen Thorsten Schwerte, der den Stechmücken den Kampf angesagt hat. Viele Studien zeigen, dass Stechmücken dem Geruch folgen, wenn sie auf der Suche nach einem neuen Opfer sind. Relativ wenige Erkenntnisse gibt es allerdings darüber, welche Rolle das Sehen dabei spielt. Thorsten Schwerte vom Institut für Zoologie versucht genau dies nun mit einem ausgeklügelten Experiment herauszufinden. Das innovative Studienkonzept wurde vom Unternehmen Edmund Optics mit dem Gold Award ausgezeichnet. DREI AUSZEICHNUNGEN Hochwasser und Überflutungen zu simulieren und weiterführend unterschiedliche Manöver zur Umleitung des Wassers oder zur Sicherung von Bereichen darzustellen, ist der Forschungsgegenstand des schon mehrfach ausgezeichneten Daniel Winkler vom Arbeitsbereich Umwelttechnik am Institut für Infrastruktur. Heuer gewann er den begehrten Poul-HarremoësAward auf der diesjährigen ICUD-Konferenz in Prag, den Best-Student-Paper-Award der Universität Inns­bruck sowie den EuregioJungforscherInnenpreis.

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FELTRINELLI-PREIS Francesca Ferlaino erhielt den Antonio-Feltrinelli-Nachwuchspreis in Physik. Diese Auszeichnung geht an italienische Gelehrte unter 40 Jahren für außergewöhnliche Erfolge in ihrem Fach.

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ie Accademia dei Lincei, die na­ tionale Akademie der Wissenschaften Italiens, verlieh Mitte November im Rahmen der alljährlichen Eröffnung des akademischen Jahres die Antonio-Feltrinelli-Preise an herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst. Es sind dies die höchsten derartigen Auszeichnungen in Italien. In diesem Jahr erstmals vergeben wurden vier Nachwuchspreise in der Höhe von je 50.000 Euro in den Fachgebieten Astronomie, Mathematik, Medizin und Physik. Die in Neapel geborene Quantenphysikerin Francesca Ferlaino erhielt den Preis für ihre herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der ultrakalten Quantengase. Ferlaino ist Professorin am Institut für Experimentalphysik der Universität Inns­bruck und wissenschaftliche Direktorin am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Experimentalphysikerin erforscht ultrakalte Quantenmaterie, in

der die Teilchen den Regeln der Quantenmechanik gehorchen. Die Eigenschaften dieser Teilchen können heute im Labor sehr gut kontrolliert werden. Dies ermöglicht die Untersuchung von quantenmechanischen Phänomenen, die sonst kaum zugänglich sind. Ferlainos Schwerpunkt liegt in der Erforschung von dipolaren Quantenphänomenen. Gemeinsam mit ihrem Team war sie die erste, die ultrakalte Quantengase aus Erbiumatomen erzeugt hat. Die relativ schweren Atome der seltenen Erden bieten eine neue Spielwiese zum Studium des komplexen Quantenverhaltens, wo Wechselwirkung über große Distanzen und Richtungsabhängigkeit ins Spiel kommen. Damit will sie ein grundlegendes Verständnis von komplexen, geometrieabhängigen Quantensystemen schaffen und in bisher unerforschte Gebiete der Physik vordringen. Als Quantensimulator kann dieser Ansatz dazu genutzt werden, um ein tie­ feres Verständnis der Quanteneigenschaften von Materie zu erlangen.

Fotos: Andreas Friedle (2), privat (2), Uni Inns­bruck (1), Martin Vandory (1), Land Tirol/Kathrein (1), Angelika Winkler (1), BM für Bildung (1)


PREISE & AUSZEICHNUNGEN

LANDESPREIS FÜR TEXTILFORSCHER Die Forschungen an dem von Thomas Bechtold geleiteten ­ Institut für Textilchemie und Textilphysik in Dornbirn machen neue ­innovative Produkte und Verfahren möglich.

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issenschaftslandesrat Bernhard Tilg überreichte Ende Oktober den mit 14.000 Euro dotierten Wissenschaftspreis des Landes Tirol an den Textilforscher Thomas Bechtold. Der Preisträger ist Leiter des Instituts für Textilchemie und Textilphysik. Die im Jahr 1982 gegründete Außenstelle der Universität Inns­bruck befindet sich in Dornbirn. Das Institut zählt zu den international erfolgreichen „Think-Tanks“ für textile Forschung und Entwicklung. „Wissenschaft und Forschung sind Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg, das belegt das herausragende Lebenswerk des Chemikers Thomas Bechtold. Seit 35 Jahren wirkt er an diesem Institut, das seit 20 Jahren unter seiner Leitung steht. Durch die enge Verknüpfung der Außenstelle mit der heimischen Textilindustrie hat Universitätsprofessor Bechtold nationale wie auch internationale Leitbetriebe bei der Erforschung und Umsetzung von neuen innovativen Produkten, Verfahren und Dienstleis­ tungen wirksamst unterstützt. Das betrifft die Bereiche der Fasermodifikation, textilen Färbungsprozesse, technischen Textilien, Funktionsbekleidung ebenso

THOMAS BECHTOLD (re.) wurde 1956 in Dornbirn geboren und studierte von 1974 bis 1981 an der Universität Inns­ bruck Chemie. Von 1982 bis 1992 war er Lehrer an der HTL Dornbirn und gleichzeitig freier Mitarbeiter am Institut für Textilchemie und Textilphysik. Nach seiner Habilitation im Jahr 1993 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1997 ist er Leiter des Instituts. Im Jahr 2010 wurde Thomas Bechtold Universitätsprofessor für Angewandte Chemie und Textilchemie. Seit 1984 hat er über 260 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und über 20 Patente angemeldet. Die Auszeichnung wurde Thomas Bechtold vom Tiroler Landesrat Bernhard Tilg (li.) überreicht.

wie die Nachhaltigkeit und das Recycling dieser Materialien. Ich gratuliere einem beliebten Universitätslehrer und genialen Forscher, der mehrere Patente hält und auch interdisziplinär zu Höchstleistungen fähig ist“, würdigte Landesrat Tilg den Preisträger. Den mit 4.000 Euro dotierten Förderpreis für Wissenschaft erhielt Noemí Aguiló-Aguayo. Die Textilchemikerin ist Mitarbeiterin von Thomas Bechtold am Forschungsinstitut in Dornbirn.

KÄTHE-LEICHTER-PREIS Nikita Dhawan erhielt für ihre Forschungen zu Gender und Postkolonialismus, Menschenrechten, Demokratie und Dekolonisierung sowie für ihrer Analyse der Instrumentalisierung des Feminismus im Zuge der Fluchtbewegungen nach Europa den Käthe-Leichter-Preis der Arbeiterkammer. HOCHKARÄTIGE AUSZEICHNUNG Der Asahiko Taira International Scientific Ocean Drilling Research Prize ging in diesem Jahr an den Inns­brucker Geologen Michael Strasser. Der Preis wird von der American Geophysical Union und der Japan Geoscience Union vergeben und geht an Persönlichkeiten mit herausragenden transdiziplinären Forschungsleis­ tungen im Bereich von Tiefseebohrungen. Mehr zu Strassers Forschungsarbeiten lesen Sie auf den Seiten 38 und 39. BERNARD-BRODIE-PREIS Den Bernard-BrodiePreis für den besten Artikel des Jahres 2017 im Fachmagazin Contemporary Security Policy erhielt der Inns­brucker Sicherheitsforscher Martin Senn vom Institut für Politikwissenschaft. Gemeinsam mit seinem Kollegen Jodok Troy befasste er sich in dem Artikel mit dem Konzept der gezielten Tötungen und dessen aktueller Transformation. INTERNATIONALE AUSZEICHNUNG Der Pharmazeut Hermann Stuppner forscht an der Entwicklung von pflanzlichen Arzneistoffen. Für seine wegweisenden Beiträge auf diesem Fachgebiet wurde ihm in Italien der Bruker Award verliehen. Es ist dies die höchste Auszeichnung der Phytochemical Society of Europe.

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ZWISCHENSTOPP INNS­BRUCK

METALLURGIE VERSTEHEN Mit kristallografischen Untersuchungen an der Uni Inns­bruck will der Südafrikaner James Ferreira Probleme bei der Produktion von Vanadium überwinden helfen. „ Am Institut für Mineralogie und Petrographie analysiere ich mit kristallografischen ­Methoden die Struktur und chemische ­Zusammensetzung von s­ ynthetisch hergestellten Proben und von Erzen aus den ­Produktionsstätten in James Ferreira, University of Pretoria Südafrika.“

Anwendungsbezug

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m Bushveld-Komplex im Nordosten von Südafrika liegen reiche Lagerstätten von Platin, Chrom, Kupfer und Nickel. Auch das vor allem in der Stahlproduktion eingesetzte Vanadium findet sich in den Erzen. Es verbessert die Zähigkeit von Stahl und erhöht dessen Widerstandsfähigkeit. Bei der Produktion im Schmelzofen kann es allerdings passieren, dass die Erzbrocken verkleben und deshalb das gesamte Material entsorgt werden muss. Schmelzen die Erze regelrecht zusammen, dauert es allein zwei Wochen, bis das Material abgekühlt ist und der Ofen ausgeräumt werden kann. Der ökonomische Schaden in einem solchen Fall ist enorm.

Verbindungen analysieren

James Ferreira forscht am Department of Materials Science and Metallurgical Engineering der University of Pretoria. Die dortige Arbeitsgruppe kooperiert bereits seit Jahren mit den Materialwissenschaft-

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lern um Volker Kahlenberg an der Universität Inns­bruck. Mit Unterstützung des Österreichischen Austauschdiensts kam James Ferreira im Herbst für drei Monate nach Inns­bruck, um das hier vorhandene Know-how in der Kristallografie mit seinem Wissen über die Metallurgie fruchtbar zu verbinden. Die Proben brachte James Ferreira aus Südafrika mit. „Hier am Institut für Mineralogie und Petrographie analysiere ich mit kristallografischen Methoden die Struktur und chemische Zusammensetzung von synthetisch hergestellten Proben und von Erzen aus den Produktionsstätten in Südafrika“, erzählt James Ferreira. „Diese bestehen aus einem komplexen Gemisch von Vanadium, Stickstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff.“ Gelingt es dem jungen Südafrikaner, die in den Pellets vorhandenen Verbindungen besser zu verstehen, lassen sich damit vielleicht auch die in den Produktionsstätten beobachteten Probleme vermeiden.

Im Rahmen des zwischenstaatlichen Austauschprogramms reisen auch Wissenschaftler der Uni Inns­b ruck nach Südafrika. So war Klaus Zöll aus der Arbeitsgruppe von Volker Kahlenberg im August in Pretoria, um dort Experimente durchzuführen, die an der Uni Inns­bruck nicht möglich sind. Der Nachwuchsforscher untersucht das Sintern von Eisenerzen. Beim Sintern wird das sehr feinkörnige Abbaumaterial der Erzgewinnung durch eine 1300 Grad Celsius heiße Flammenfront geführt. Dabei entstehen jene Pellets, die später im Hochofen weiterverarbeitet werden. Die Erzpartikel in den Pellets werden in eine sogenannte Matrix eingebaut, die wie ein Kleber funktioniert. „Die darin enthaltenen Verbindungen sind noch nicht sehr gut charakterisiert“, erklärt Klaus Zöll. In Südafrika hat er zu den Erzen äquivalente synthetische Mischungen unter verschiedenen Gasatmosphären gesintert und untersucht nun deren strukturelle Eigenschaften in den hochmodernen Labors an der Uni Inns­bruck. „In beiden Projekten betreiben wir Grundlagenforschungen mit einem sehr starken Anwendungsbezug“, freut sich Volker Kahlenberg über die gelungene Kooperation. cf

Foto: Andreas Friedle


SPRUNGBRETT INNS­BRUCK

FISCHFORSCHER IM RIFF Die Rolle verschiedener Fischarten im Ökosystem von Korallenriffen untersucht der Biologe Simon Brandl und hofft, damit zum Erhalt dieser einzigartigen Lebensräume beizutragen.

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auchen findet Simon Brandl eigentlich „zu kalt und unbequem“, um es in seiner Freizeit zu betreiben. Für seine Arbeit ist es aber absolut notwendig, denn der Ökologe hat sich den Fischen in Korallenriffen verschrieben. Korallenriffe sind eines der artenreichsten und biomassereichsten Ökosysteme der Welt. „Wir verstehen noch immer nicht, wie Korallenriffe tatsächlich funktionieren“, sagt Simon Brandl, der an der Universität Inns­bruck Biologie studiert hat. „Besonders die Frage, wie diese Systeme so viel Biomasse produzieren können, obwohl sie in nährstoffarmen Ozeanen liegen,

SIMON BRANDL, geboren 1988 in München, studierte Biologie an der Universität Inns­ bruck und absolvierte im Anschluss ein marinbiologisches Mas­ terstudium an der James-Cook-University in Townsville in Australien. Ebendort promovierte Brandl sich auch 2016. In den vergangenen zwei Jahren war er Forschungsstipendiat am Tennenbaum Marine Observatories Network der Smithsonian Institution. Im Herbst hat Brandl ein zweijähriges Forschungsstipendium an der Simon-Fraser-University in Vancouver, Kanada, angetreten.

Fotos: Jordan Casey

ist noch immer weitgehend unerforscht. Am Ende meiner Forschungslaufbahn hoffe ich, dass ich diese Frage beantworten und dadurch auch zum Schutz dieser einzigartigen Systeme beitragen kann.“ Brandl untersucht die ökologische Rolle von unterschiedlichen Arten von Korallenriff-Fischen und setzt diese dann im Bezug zu übergreifenden ökologischen Prozessen. „Ich interessiere mich besonders dafür, wie wir funktionelle Aspekte verschiedener Arten erfassen können, wie sich dies auf die Artengemeinschaften der Korallenfische auswirkt und in welchem Ausmaß die Zusammensetzung dieser Gemeinschaften fundamentale Prozesse in Korallenriff-Ökosystemen beeinflusst“, so der gebürtige Deutsche.

Nahrungsnetz ergründen

Brandl interessiert sich hauptsächlich für kleine, den Meeresboden bewohnende Fische, wie Grundeln, Schleimfische oder Schildfische. Diese hatte er schon während seiner Zeit in Inns­bruck erforscht, wo er eine Bachelor-Arbeit zu Schildfischen im Mittelmeer verfasst hat. Nach dem Abschluss in Inns­bruck wollte Brandl sich weiter in der Marinbiologie vertiefen und zog ein Masterstudium in Townsville in Australien jenem in Groningen in den Niederlanden vor: „Obwohl ich eine Zusage von beiden Universitäten hatte, war

die Entscheidung nicht besonders schwer, da die James-Cook-University eine der führenden Einrichtungen für die Erforschung von Korallenriffen ist.“ Nach nur einem Semester konnte er hier bereits mit einem eigenen Forschungsprojekt starten. Im anschließenden Doktoratsstudium widmete er sich vor allem pflanzenfressenden Fischen wie Papageifischen, Doktorfischen und Kaninchenfischen. Simon Brandl arbeitet mit einem breiten Repertoire an Methoden, von Verhaltensbeobachtungen, Ökomorphologie und Insitu-Experimenten über DNA-Barcoding bis zur Physiologie. Diese wird er auch einsetzen, wenn er sein neues Forschungsprojekt an der Simon-Fraser-University in Vancouver beginnt, wo Brandl seine Arbeit mit den kryptischen, kleinen Riff-Fischen vertiefen will. „Wir wollen versuchen, ein komplettes Nahrungsnetz in Korallenriffen der Insel Moorea in Französisch-Polynesien zu rekonstruieren und vermuten, dass diese häufig übersehenen kleinen Fische eine wichtige Rolle darin spielen“, erzählt der Biologe. Danach möchte er sich auf Professuren in den USA, in Kanada oder Europa bewerben, um weiterhin Korallenriffe und deren ökologische Prozesse zu erforschen und so eine Antwort auf seine Forschungsfrage nach dem Ursprung der Biomasse in Korallenriffen zu finden. cf

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ESSAY

HEIMLICHE WISSENSCHAFT? Timo Heimerdinger über die halbherzige Veröffentlichungspflicht für österreichische Dissertationen

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as Wesen der Wissenschaft liegt – über alle Disziplinen hinweg – im freien Spiel der Argumente im Streben nach Erkenntnis. Eine Voraussetzung für diesen kollektiven und offenen Prozess ist die Publikation und Zugänglichkeit wissenschaftlicher Arbeiten. Je einfacher und um„ Wesentliche und für die Fächer i­nsgesamt fassender – umso besser. Alle Formen der Erschwerung relevante Forschung spielt sich in von Zugänglichkeit zu For­Dissertationen ab. Daher ist es auch so schungsliteratur sind in diewichtig, dass diese Arbeiten veröffentlicht­ sem Sinne unwissenschaftwerden, denn nur so können sie zum lich. Daher buchstabiert der ­Bestandteil des Diskurses werden.“ Open-­Access-Gedanke das Publikationsprinzip unter den Bedingungen der Digitalisierung neu. Natürlich bleiben einige technische, rechtliche und ökonomische Fragen, deren Beantwortung nicht trivial ist. Aber im Grundsatz sind sich alle einig, dass die möglichst freie Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen unverzichtbar und zu fördern ist. So weit, so gut – doch bei genauerer Betrachtung der österreichischen Gepflogenheiten zeigen sich Ungereimtheiten, die insbesondere den Umgang mit Dissertationen betreffen. Es besteht Modernisierungsbedarf von alten Regelungen, die ein fragwürdiges Verständnis der Dissertation an sich offenbaren. Dissertationen sind im akademischen Qualifikationsweg die ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die „dem Nachweis der Befähigung TIMO HEIMERDINGER wurzur selbstständigen Bewältigung wissende 1973 in Tübingen geboren. schaftlicher Fragestellungen dienen“ (BGBl. Er studierte Volkskunde, I Nr. 74/2006, vgl. auch § 51, UG 2002). DaNeuere Deutsche Literaturgemit sind Dissertationen so etwas wie die Geschichte und Deutsche Philosellenstücke in der akademischen Vita und logie in Freiburg i.Br., Pisa und viel mehr als reine Prüfungsleistungen: Sie Kiel. Seit 2009 ist er Professor sollen als veritable Beiträge im wissenschaftfür Europäische Ethnologie lichen Diskurs Bestand haben. Gerade in den an der Universität Inns­bruck Geistes- und Kulturwissenschaften mit ihrer und seit 2015 Sprecher des Tradition der Individualforschung im Format Forschungsschwerpunktes der wissenschaftlichen Monografie kommt „Kulturelle Begegnungen – der Dissertation eine besondere Bedeutung Kulturelle Konflikte“. Er sieht zu. Wesentliche und für die Fächer insgesamt im Open-Access-Gedanken relevante Forschung spielt sich in Dissertainsbesondere auch für Nachtionen ab. Daher ist es auch so wichtig, dass wuchswissenschaftlerInnen diese Arbeiten veröffentlicht werden, denn eine Chance auf bessere nur so können sie zum Bestandteil des DisSichtbarkeit und Rezeption kurses werden. Konsequenterweise gibt es in ihrer Arbeiten.

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Österreich daher auch eine Veröffentlichungspflicht für Dissertationen (§ 86, UG 2002). Allerdings atmet dieser Paragraf noch den Geist des vordigitalen Zeitalters, denn dieser Veröffentlichungspflicht ist bereits dann Genüge getan, wenn zwei (!) ausgedruckte Exemplare des Manuskriptes abgegeben werden, eines für die jeweils lokale Bibliothek und eines für die Nationalbibliothek. Und zudem besteht die Möglichkeit, die Ausleihe für bis zu fünf Jahre zu sperren. Die digitale Veröffentlichung in einem Repositorium ist nur fakultativ. Gegenwärtig sind in der ULB Inns­bruck 65 Dissertationen gesperrt (Okt 2017), viele andere existieren nur als kopiertes Manuskript. Zwar sind die Texte auch unter diesen Bedingungen – zumindest irgendwann – öffentlich zugänglich, aber es handelt sich doch um eine Veröffentlichung mit angezogener Handbremse. Diese Verhältnisse muten antiquiert wenn nicht gar verdruckst an. Die Kombination aus minimalem Verbreitungsgrad und langer Sperrmöglichkeit löst bei internationalen KollegInnen im besten Fall Kopfschütteln und im schlechtesten Fall Schmunzeln aus: Wer oder was soll durch diese Regelungen eigentlich vor zu viel Öffentlichkeit und Sichtbarkeit geschützt werden? Und warum? Wir empfangen widersprüchliche Signale: Auf der einen Seite wird immer mehr internationale Sichtbarkeit in peer reviewed Journals erwartet, auf der anderen Seite werden Dissertationen weiterhin wie bessere Seminararbeiten behandelt. Das passt nicht zusammen. Die Universität Inns­bruck hat mit 1.10.2017 einen klaren Schritt in die richtige Richtung unternommen und verpflichtet alle DissertantInnen dazu, eine digitale Version ihrer fertigen Arbeit ins Repositorium hochzuladen. Die Sperrmöglichkeit bleibt jedoch bestehen. Hoffen wir, dass diese Option möglichst selten und nur dann genutzt werden wird, wenn die Arbeit sowieso als Buch erscheint. Der Gesetzgeber ist gefragt, hier endlich zeitgemäße und auch in internationaler Perspektive überzeugende Verhältnisse zu schaffen. Wir brauchen eine Veröffentlichungspflicht, die diesen Namen auch verdient. Sie sollte nicht als lästige Hürde gelten, sondern als Chance und Selbstverständlichkeit.

Foto: Andreas Friedle


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Foto: Andreas Friedle


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