Ariadnes roter Faden
Das Archäologiemuseum – eine Welt von Mythen und Menschen in Zeit und Raum
Silvia Renhart
Ariadnes roter Faden Das Archäologiemuseum – eine Welt von Mythen und Menschen in Zeit und Raum
Impressum Ariadnes roter Faden Das Archäologiemuseum – eine Welt von Mythen und Menschen in Zeit und Raum Autorin Silvia Renhart Herausgeber Universalmuseum Joanneum Archäologie & Münzkabinett Lektorat Jörg Eipper-Kaiser Grafik, Layout, Umschlaggestaltung Leo Kreisel-Strauß Druck Dravski tisk, Maribor Umschlagbild Ausschnitt: Römisches Bodenmosaik mit Peltaornamenten bzw. Amazonenschild (kleiner halbmondförmiger Schild), Anfang 3. Jahrhundert n. Chr., Flavia Solva Wagna/Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. II, S. 21 Graz 2018
Dieses Booklet stellt auch die Dokumentation und Weiterentwicklung der 2016 und 2017 durchgeführten Projekte mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) im Universalmuseum Joanneum (UMJ) und mit jungen erwachsenen Flüchtlingen dar: „Integrationsbotschafter/innen und Museumsguides – Flüchtlinge werden zu Integrations- und Kulturbotschafterinnen/-botschaftern“
Inhalt Vorwort
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Einleitung
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Große Mutter – Große Göttin
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Das Gilgamesch-Epos
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Mond und Sonne
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Isis und Osiris
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Hirsche, Pferde, Vögel, Fische …
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Aphrodite und Apollon
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Dionysos, Mänaden, Satyrn und Nymphen
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Die Dioskuren
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Medusa
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Amazonen und Herakles
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Europa
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Thetis und Achilles
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Der Pfau
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Adonis und Venus
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Amor
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Medea
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Paris
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Oidipus und die Sphinx
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Ikarus
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Literatur und Abbildungen
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Vorwort Das altgriechische Wort μῦθος kann im Deutschen wohl am ehesten mit „Erzählung“ wiedergegeben werden. Im Unterschied zum Märchen ist der Mythos eine geglaubte Erzählung, in der göttliche Mächte als Ursachen für die Welt und die Erscheinungen des Daseins verstanden werden. Kosmos und Mensch werden als „schmuckvolle“ Ordnungen des Seins gedeutet, nicht als Chaos und Nichtsein. Der Mythos will den Gesetzmäßigkeiten dahinter auf die Spur kommen. Im Archäologiemuseum des Universalmuseums Joanneum begegnet man dem mythischen Denken, den Objekten und Darstellungen, die auf Grundlage dieses Denkens geschaffen wurden, auf Schritt und Tritt. Mit seinen Objekten, deren Herkunft von der Steiermark bis in den Vorderen Orient reicht, hat das Archäologiemuseum vielfältige Anknüpfungspunkte für das Nachdenken über Mythen – nicht nur für einheimische Erwachsene und Jugendliche, sondern auch für junge Menschen, die von ihrem Zuhause, das Tausende Kilometer entfernt ist, fliehen mussten. Wir haben diese Menschen in unser Museum eingeladen, damit sie etwas über uns und wir etwas über sie erfahren. Das Museum sollte auf diese Art und Weise zu einem Resonanzraum werden, zu einem Ort der Weltbeziehung, an dem ausgestellte Objekte aus der Antike zum Auslöser für die Reflexion über die eigenen Traditionen und Mythen wurden.
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Diese Publikation steht am Abschluss eines Projektes, an dem neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Universalmuseums Joanneum auch die Abteilung Internationale Beziehungen der Fachhochschule Joanneum in Graz mitwirkte und das vom Land Steiermark mit einer Förderung bedacht wurde. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle für ihr großes Engagement, das für das Gelingen des Projektes entscheidend war, herzlich gedankt. Karl Peitler Leiter der Abteilung Archäologie & Münzkabinett
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Der Mythos
Mythologie und Archäologie
Der Begriff „Mythos“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „Wort, Rede, Erzählung von Begebenheiten“. Mythen entstanden in einer Zeit, in der Menschen und Völker noch keine Schrift hatten und sich Geschichten mündlich weitererzählten. Manchmal wurden sie auch bildlich dargestellt und blieben so über Jahrtausende erhalten. Nach der Erfindung der Schrift wurden Mythen schließlich aufgeschrieben und sind heute – in Stein gemeißelt oder auf Papyrus geschrieben – noch immer lesbar.
Als „Mythologie“ bezeichnet man die Gesamtheit der Mythen eines Volkes, aber auch die Wissenschaft von den Mythen. Sie ist eine Art und Weise, die Welt – und vor allem jene der Vorfahren – zu verstehen. Naturwissenschaftliche und archäologische bzw. geschichtliche Erkenntnisse stellen eine andere Möglichkeit des Zugangs zur Vergangenheit dar.
Diese Geschichten aus den Anfängen der menschlichen Zivilisation berichten von Göttinnen und Göttern, übernatürlichen Wesen und ihren Beziehungen zu den Menschen. Aber sie handeln auch von Dingen und Ereignissen, die man sich nicht erklären konnte, wie von der Entstehung der Götterwelt, der Erde, der Sonne, des Mondes, der Sterne, der Natur, des Menschen selbst und der jeweiligen Gemeinschaft. Mythen vermitteln Identität, Lebenssinn, Erklärungen, religiöse und gesellschaftliche Orientierung und stärken den Zusammenhalt einer Gruppe. Sie erzeugen ein gemeinschaftliches Ich, ein Gefühl von Heimat, das auch in Krisenzeiten Halt bietet. Zudem geht von Mythen eine große integrationsstiftende Kraft aus.
Nicht alle Fragen der Menschheitsgeschichte und Handlungen von Menschen sind mit Logik zu beantworten und zu deuten. Daher ist es u. a. für Archäologinnen und Archäologen wichtig, sich mit Mythen zu beschäftigen. Vor allem, da Mythen als eine Art „Kulturspiegel“ eines Volkes gelten und sich über weite Kulturräume verbreiteten. Dies lässt sich an zahlreichen Objekten u nd Darstellungen im Archäologiemuseum gut nachvollziehen: Nicht nur auf römischen Grabmonumenten oder antiken Gefäßen, sondern auch am Sarkophag der ausgestellten ägyptischen Mumie sowie am einzigartigen hallstattzeitlichen Kultwagen von Strettweg und auf den berühmten Grab funden aus Kleinklein finden sich Hinweise auf Mythen sowie Darstellungen derselben.
Rechts Hallstattzeitliche Maske und Hände aus Kleinklein/ Großklein (Südsteiermark), Kat. 21, S. 59
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Dieses Booklet entstand zum Abschluss und auch als Dokumentation des vom Land Steiermark, Abteilung 11 – Soziales, Arbeit und Integration, geförderten Projektes „Integrationsbotschafter/innen und Museumsguides – Flüchtlinge werden zu Integrations- und Kulturbotschafterinnen/botschaftern“ (Förderungsschwerpunkt: „Spracherwerb und Integrationshilfe“). Ein großer Dank ergeht an alle unterstützenden Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Archäologie & Münzkabinett (Karl Peitler, Marko Mele, Barbara Porod, Daniel Modl, Beatrix Schliber-Knechtl, Nina Heyer, Helena Mihat, Gottlieb Redlinger-Pohn) sowie an das im Archäologiemuseum aktive Team der Kunst- und Kulturvermittlung (Christa Gamperl, Claudia Ertl, Angelika Schön) und an die Abteilung Internationale Beziehungen der Fachhochschule Joanneum in Graz (Birgit Hernády, Christoph Hofrichter).
Insgesamt steht am Ende des Projektes u. a. die Erkenntnis, dass sich Interkulturalität – das Eigene und das Fremde, das uns am Ende doch ähnlicher ist als gedacht – wie ein roter Ariadne-Faden durch die Jahrtausende zieht: Wir sind viele Menschen – jedoch nur eine Menschheit auf einer Erde. In diesem Sinne ist dieses Booklet allen am Projekt Beteiligten gewidmet, aber auch allen begeisterten, fantasiebegabten Leserinnen und Lesern sowie Besucherinnen und Besuchern, die im Archäologiemuseum eine ganze Welt von Mythen und vor allem Menschen in Zeit und Raum entdecken w ollen.
Im Rahmen dieses 2017 durchgeführten Projektes wurden junge Flüchtlinge in die Archäologie der Steiermark sowie in ihre weitreichenden Verbindungen und Ursprünge in Zeit und Raum eingeführt. Dem Thema „Mythen“ wurden mehrere Lehrveranstaltungen und Workshops gewidmet, was großen Anklang fand. Es ermunterte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den zahlreichen Krisenregionen der Erde, sich mit ihrer Herkunft, ihren Kulturen und den damit verbundenen Mythen zu beschäftigen. Viele dieser „Geschichten aus dem uralten Gedächtnis der Menschheit“, die sich im Archäologiemuseum wiederfinden, werden in diesem Booklet vorgestellt. Rechts Workshop zum Thema „Mythen“, Teilnehmer/innen des Projektes „Integrationsbotschafter/innen und Museumsguides – Flüchtlinge werden zu Integrationsund Kulturbotschafterinnen/-botschaftern“
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Große Mutter – Große Göttin Mystisch und mythisch muten die Erzählungen über die „Große Mutter“ oder eine „Große Göttin“ an. Sie gebar alles Leben und konnte zugleich in einer großen Umarmung den Tod bringen. Die Große Mutter herrschte über die Tiefe der Erde, den Himmel, die Fruchtbarkeit, das Leben und den Tod. Ihr zur Seite stand in manchen Kulturen der sogenannte „Herr der Tiere“: Diese gehörnte Gestalt stand für die männliche Zeugungskraft, für das Wachsen und Vergehen der Natur im Jahreskreislauf. Er musste immer sterben, um wieder auferstehen zu können. Aus Kleinasien kommend, wurde von den Griechen der Glaube an die Fruchtbarkeitsgöttin Kybele übernommen. Sie wurde zugleich als „Herrin der (wilden) Tiere“ verehrt. Begleitet wurde Kybele von Löwen und Panthern, die ihren Wagen zogen. Zudem streifte sie häufig umgeben von Musikanten, Verehrern und Priestern durch den Wald. Sie wohnte auf dem Berg Ida und wurde auch als Berg- und Naturgöttin sowie Erdenmutter verehrt. Als Kybeles Geliebter Attis die Tochter des Königs von Pessinus heiraten wollte, störte sie – rasend vor Eifersucht – die Hochzeitsgesellschaft und strafte alle Feiernden mit Wahnsinn. Auch Attis wurde wahnsinnig, lief in den Wald, entmannte sich und verblutete. Als Kybele den toten Attis fand, bat sie Zeus, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Doch der Göttervater gewährte nur, dass Attis’ Körper nie verwesen solle. Daraufhin bestattete Kybele Attis in einer Höhle, setzte eine aus Eunuchen bestehende Priesterschaft ein und stiftete einen Kult der Beweinung. Daraus entwickelte sich, ähnlich dem Mithraskult, ein im ganzen römischen Reich verbreiteter Mysterienkult. 10
Das Zeichen der Großen Mutter war der Mond, wobei der neue Mond als Jugendsymbol für sie als Mädchen stand. Der Vollmond galt als Bild der jungen, freien Frau auf dem Weg zur Mutterschaft. Der abnehmende Mond symbolisierte das Alter, die abnehmende Lebenskraft und den Abstieg zum Tod. Es gibt die Annahme, dass in Gemeinschaften, wo die Große Göttin in ihrer ursprünglichen Form verehrt wurde, die Frau angesehener war als der Mann. Eine alleinige Herrschaft der Frau - ein sog. Matriarchat - ist aus Sicht der Wissenschaft jedoch bislang nicht belegbar. Die Königin galt als Vertreterin der „Göttin auf Erden“ und der Mann war der Vertreter des „Herrn der Tiere“, der in einer bestimmten Vollmondnacht von seinem Nachfolger getötet wurde. Dieser heiratete dann die Königin und fand nach einer Frist dasselbe Schicksal wie sein Vorgänger. Vor seinem rituellen Tod reichte ihm die Göttin einen Granatapfel als Versprechen der Unsterblichkeit in der Wiedergeburt. Hinweise auf frühe Muttergöttinnen-Kulte liefern nicht nur Mythen, sondern wohl auch sogenannte Venusstatuetten aus der jüngeren Altsteinzeit, dem Jungpaläolithikum. Eines der berühmtesten Beispiele dafür ist die Venus von Willendorf aus Niederösterreich. Sie ist 25.000 Jahre alt, nur 11 cm groß, aus Kalkstein gefertigt und von sehr üppiger Gestalt. Zahlreiche solcher Frauen statuetten aus der Späteiszeit bis in die Jungsteinzeit wurden in Europa gefunden. Sie werden einerseits als Fruchtbarkeitssymbole und andererseits als Darstellungen von Göttinnen gedeutet. Im Archäologiemusem befindet sich eine 2002 am Karmeliterplatz/Pfauengarten in Graz aufgefundene, 19 cm hohe, weibliche Tonfigur. Sie wird Graziella genannt und
datiert in das 4. Jahrtausend v. Chr., in die sogenannte Kupferzeit. Der Kopf ist wie bei vergleichbaren Figuren nur schematisch angedeutet. Der Oberkörper mit den Brüsten ist nackt dargestellt, während Bauch und Beine anscheinend bekleidet waren, wie Furchenstichmuster mit weißen Farbresten zeigen. Frauenfiguren – vor allem aus Ton – sind am Ende der Jungsteinzeit häufig anzutreffen und werden meist mit rituellen Handlungen bei Fruchtbarkeitskulten in Zusammenhang gebracht.
Römische Sitzstatue der Fruchtbarkeitsgöttin Kybele aus Pettau-Haidin (Slowenien, Ptuj-Hajdina), Röm. Nr. 38, S. 63
Weibliche Tonfigur Graziella, 4. Jahrtausend v. Chr., Kat. 4, S. 25
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Das Gilgamesch-Epos Der älteste schriftlich überlieferte Mythos der Geschichte ist das Gilgamesch-Epos. In ihm trifft man auf Elemente, die in vielen später nachfolgenden Erzählungen in unterschiedlichen Kulturkreisen wieder auftreten, wie z. B. die Entstehung der Welt, die Sintflut oder die Suche nach der Unsterblichkeit und dem Paradies. So beginnt die Mythenreise in Babylonien, einem Königreich im sogenannten Zweistromland von Euphrat und Tigris. Es wurde auch Mesopotamien genannt und liegt im heutigen Irak. Dort wurden vor rund 4.400 Jahren diese Geschichten in elf Tontafeln eingeritzt und schließlich in der Bibliothek des assyrischen Königs Aššurbanipal in der Hauptstadt Ninive aufbewahrt. Die Bibliothek umfasste 25.000 Tontafeln und war somit die größte des Alten Orients. Mit Funden aus dieser Sammlung konnte die von Mesopotamien bis Syrien und sogar in Palästina verbreitete Keilschrift 1802 wieder entziffert werden. Die sumerische Keilschrift ist neben den ägyptischen Hieroglyphen die heute älteste bekannte Schrift der Welt. Diese Bilderschrift wurde mit Keilen in Tontäfelchen geritzt. So bedeuten z. B. die Zeichen Auge und Wasser „weinen“, Frau und Schmuck stehen für „Fürstin“, und drei Berggipfel bedeuten „Gebirge“. Gilgamesch, der junge König von Uruk, war zu zwei Dritteln Gott und zu einem Drittel Mensch. Seine Untertanen, das Volk der Sumerer, ärgerten sich über seinen ausschweifenden Lebensstil und beschwerten sich deswegen bei den Göttern. Der oberste Gott Anu gab der Muttergöttin den Befehl, sein Verhalten zu mäßigen. Also erschuf sie einen Gegenspieler namens Enkidu, einen rauen, ungestümen und am ganzen Körper 12
behaarten Gesellen, der in der Steppe lebte und mit den Tieren umherzog. Um Enkidu zu fangen, wurde eine schöne Frau ausgesandt, der es gelang, ihn zu zähmen und nach Uruk zu bringen. Als er Gilgamesch vorgestellt wurde, fand dieser sofort Gefallen an ihm und eine tiefe Freundschaft begann. Sie beschlossen, gemeinsam die Stadt zu verlassen, um Abenteuer und Ruhm zu suchen. Nach ihrer glorreichen Rückkehr war die Göttin Ischtar sehr beeindruckt und wollte Gilgamesch heiraten. Doch dieser wies sie zurück, was die Göttin sehr zornig machte. Aus Rache schickte sie den Himmelsstier auf die Erde, den Enkidu jedoch tötete. Die Götter waren darüber so verärgert, dass Enkidu zur Strafe erkrankte und starb. Über den Tod seines Freundes war Gilgamesch sehr traurig und er begab sich auf die Suche nach dem ewigen Leben. Nach zahlreichen Irrwegen traf er auf Urschanabi und seine Frau, die als einfache Menschen vom Tod verschont blieben. Sie erzählten ihm die Geschichte von der Sintflut, die sie mit ihrer Familie und ausgewählten Tieren und Pflanzen auf einem Boot überlebt hatten. Ihre Unsterblichkeit sollte die Götter an ihr Versprechen erinnern, die Menschheit nie mehr zu vernichten. Urschanabi sagte, er könne Gilgamesch nur helfen, wenn er sieben Tage und sieben Nächte ohne Schlaf bliebe. Doch Gilgamesch schlief ein. Daraufhin konnten ihm nur neue, unzerstörbare Kleider sowie die Erzählung von einer Pflanze, die die Alten wieder verjüngt, geschenkt werden. Gilgamesch fand dieses Kraut, doch er war unachtsam und so fraß es ihm eine Schlange weg. Seitdem können sich Schlangen durch Häutung verjüngen. Gilgamesch aber kehrte nach Uruk zurück und musste erkennen, dass nur die G ötter unsterblich sind, während Menschen das Leben und Sterben als Teil ihrer Natur akzeptieren müssen.
Wie einleitend bereits festgehalten, finden sich in diesem Mythos viele Geschichten und Symbole, die auch aus späteren Epochen und Kulturen bekannt sind, wieder – wie z. B. der Stier. Archäologische Ausgrabungen förderten zutage, dass mächtige Auerochsenschädel (sog. Bukranien) die Wände der rund 9.000 Jahre alten Wohnhäuser des Zweistromlandes geschmückt hatten. Weitere Forschungen ergaben, dass dieser Brauch mehrere Jahrtausende lang vom heutigen Iran, Irak über Syrien bis in die Türkei verbreitet war. Diese heute ausgerottete Wildrindform hatte für die Menschen wohl seit jeher eine große Bedeutung. Darauf weisen bereits die 40.000 Jahre alten Höhlenmalereien aus der Altsteinzeit in den berühmten Höhlen von Lascaux (Südfrankreich) und Altamira (Nordspanien) hin. Auch in Mythen und auf Darstellungen der Ägypter, Griechen und Römer kommen immer wieder Stiere bzw. Stiergehörn vor. Symbolisch steht der Stier für Wildheit, Kraft, Stärke, Reichtum, Fruchtbarkeit und Kampfeslust. So zählte der Auerochse auch zu den wilden Tieren, die für Gladiatorenkämpfe im römischen Kolosseum und in den Arenen gefangen wurden und großen Mut von den Gladiatoren erforderten.
Silberbecher (sog. Skyphos) mit Darstellung eines Wagenrennens und Bukranien, die Girlanden halten, 1. Jahrhundert n. Chr., Groß St. Florian (Südsteiermark), Kat. 36, S. 89
Auch im Archäologiemuseum finden sich an unterschiedlichen Objekten Darstellungen von Auerochsenschädeln.
Römischer Altarabschluss mit Bukranien, Girlanden und Bezug zum Mythos von Perseus und Andromeda, 3. Jahrhundert n. Chr., Seggauberg/Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. 70, S. 93
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Mond und Sonne Die meisten Schöpfungsmythen beginnen mit der Erschaffung des Universums. Sonne und Erde, den Sternen und vor allem dem Mond kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Nüchtern betrachtet, ist der Mond nur ein Gesteinsbrocken mit einem Durchmesser von 3476 Kilometern, der seit Jahrmillionen um die Erde – und mit ihr um die Sonne – durch das Weltall fliegt. Licht und Wärme empfängt er von der Sonne, indem er ihre Strahlen widerspiegelt – als silbern glänzender Vollmond oder als schmale Sichel am dunklen Himmel. Diese Wahrnehmung regte viele Völker zu unterschiedlichen Mythen und Darstellungen an. Der Mond wurde als Gottheit zum Mittelpunkt von Kult und Opfer sowie zum Symbol von Tod und Auferstehung, aber auch für das Geheimnisvolle, Ungebändigte und Chaotische in der Natur und im Menschen selbst. So schrieben alte Kulte dem Mond die Macht über Liebe, Fruchtbarkeit, Wachstum, Ebbe und Flut, das Reich der Gefühle und das weibliche Geschlecht zu. In der griechischen Mythologie heißt die Mondgöttin Selene, in der römischen Luna. Beide sind stets mit einer Mondsichel dargestellt. Selene gebar Zeus zwei Kinder und dem König von Elis, Endymion, den sie in einen ewigen Schlaf versetzte, sogar 50 Töchter. Die Zahl 50 wird auch mit den 50 Monaten zwischen zwei Olympischen Spielen in Zusammenhang gebracht. Es wird angenommen, dass der Mond den Menschen das Zählen beibrachte. Denn nach jedem Vollmond nahm er ab und schien schließlich zu „sterben“, um nach einer gewissen zählbaren Zeit wieder „aufzuerstehen“. So entstanden die ältesten Kalender 14
der Menschheit – die Mondkalender. Die bislang weltweit älteste Darstellung des Kosmos mit Mond, Sonne und Sternen ist die 3.600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra (Deutschland). Daraus kennen wir zum Beispiel die Vorstellung der Menschen in der Bronzezeit (2.200–800 v. Chr.), der Himmel würde sich wie eine Kuppel über die flache Erde wölben. Mythen berichten, dass die Menschen ursprünglich sogar Angst vor dem Mond hatten. Sie hielten ihn für mächtiger als die Sonne, da er nicht nur nachts, sondern manchmal auch tagsüber zu sehen war – während man die Sonne ausschließlich am Tag sah. So kam es auch zur Vorstellung, dass der Mond die Menschen scheinbar wie ein einäugiges Raubtier vom Baum herab belauerte, ja dass er sogar einer von wilden, bösartigen Stieren sein musste. Denn das linke Horn des Wesens war in bestimmten Nächten deutlich zu sehen. Auch schien es immer wieder so, als würde das Mondwesen selbst von etwas Unsichtbarem angegriffen und aufgefressen, jede Nacht ein bisschen mehr, bis es völlig verschlungen und der Himmelsstier tot war. Doch seltsamerweise stand nach drei dunklen Nächten das rechte Horn des Tieres wieder am Himmel. Und Nacht für Nacht wuchs es wieder und wurde scheinbar „lebendig“. Dieser stetige Kampf lebte in der Geschichte vom Himmelsstier Jahrtausende lang weiter und fand in den steinzeitlichen Höhlen malereien ebenso seinen Niederschlag wie im Zeichen des Stiergehörns. Objekte aus Gold sind oft auch als H inweis auf die Sonne zu verstehen.
Oben links Urnenfelderzeitlicher Gürtelbeschlag und Spiralringe aus Gold, Rothenburg/Neunkirchen (Niederösterreich), Kat. 10, S. 37 Oben rechts Urnenfelderzeitliche Brillenfibeln, Ruse/Marburg (Slowenien, Ruše/Maribor); hallstattzeitliche, mit Kreisen verzierte Scheibenfibeln, Kleinklein/Großklein (Südsteiermark), Kat. 12, S. 41 Unten rechts Urnenfelderzeitliche Mondidole, Bärnbach (Weststeier mark), Fötzberg bei St. Margarethen a. d. Raab und Königsberg bei Tieschen (Oststeiermark), Kat. 15, S. 47
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Mit einem Stier in Verbindung steht auch der Sonnengott Mithras, der als Mittler zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit sowie als Hüter des Rechts galt. Die älteste Erwähnung entstammt einer hethitischen Urkunde aus dem Jahr 1.350 v. Chr. Der Mithraskult verbreitete sich von Persien ausgehend im 2. Jahrhundert n. Chr. über das gesamte römische Reich. Im 3. Jahrhundert n. Chr. war er sogar beliebter als das Christentum. Im Mittelpunkt dieses streng hierarchisch organisierten Kultes stand die Tötung eines Stieres, die an die Tötung des Urstieres Guesh erinnern sollte. Mit dem Blut des Opfertieres und der Taufe mit dem Blut sollte die Welt gerettet werden und eine Verjüngung erfahren. Die Anhänger trafen sich in unterirdischen Räumen. Mit Ausnahme von Frauen konnten Angehörige aller Gesellschaftsschichten an den Kulthandlungen teilnehmen. Überlieferte Kultbilder zeigen, wie Mithras von links kommend den Stier an Hörnern oder Nüstern zurückreißt und ihm einen Dolch in die Seite stößt. Mithras wird stets mit einer phrygischen (skythischen) Mütze dargestellt. Sie hat einen nach vorn in die Stirn geschlagenen runden Zipfel und wurde aus Wolle oder Leder gemacht. Ursprünglich war sie aus einem gegerbten Stierhodensack mit umliegender Fellpartie gefertigt. Damit sollten die besonderen Fähigkeiten und die Kraft des Stieres auf den Träger übergehen. Aus dem Mithraskult entsprang auch das mit der unbezwingbaren Kraft der Sonne verbundene römische Mithrasfest – Sol Invictus – am 25. Dezember.
Hinweise auf Sonne, Mond und den Mithraskult finden sich natürlich auch im Archäologiemuseum: Halbmond- bzw. stierhornähnliche Keramikobjekte aus der Urnenfelder- (1.200–800 v. Chr.) und Hallstattzeit (800–400 v. Chr.) werden einerseits als Feuerböcke interpretiert, die direkt im Feuer standen und Spieße mit Fleisch hielten, und andererseits als Mondkalender. Etliche Fundstücke wurden sowohl in Siedlungen als auch in reich ausgestatteten Gräbern gefunden. Bestimmte Kombinationen aus Frauengräbern scheinen in diesem Zusammenhang sogar auf eine besondere gesellschaftliche Stellung der Bestatteten – z. B. als „Hüterin der Zeit“ – hinzuweisen. Insgesamt ist der Gebrauch als Mondkalender bei einigen Stücken eindeutig nachweisbar. Die meisten Stücke sind jedoch laut aktuellem Forschungsstand wahrscheinlich keine Kalender.
Rechts oben Fragment eines Mithras-Kultbildes mit Mondgöttin Luna samt Mondsichel, brennender Fackel, Stiermaul und Kopf mit phrygischer Mütze, St. Veit am Vogau (Südsteiermark), Röm. Nr. 82, S. 105 Rechts unten Römisches Grabbaurelief mit Mondgöttin Selene, Mondsichel, Pferdewagen, schlafendem Geliebten Endymion, geflügeltem Eros und tanzender Mänade, 2. Jahrhundert v. Chr., Voitsberg (Weststeiermark), Röm. Nr. 63, S. 87
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Isis und Osiris Osiris war der im Alten Ägypten sehr verehrte Totengott. Er war der Bruder von Seth sowie der Göttinnen Nephthys und Isis, die auch seine Frau war. Verstorbene mussten im Gerichtssaal vor ihm erscheinen und alle 42 Göttinnen und Götter stellten eine Frage, welche die Toten wahrheitsgemäß mit „Nein“ beantworten mussten. Nur so konnten sie auf ein Leben in der Nachwelt hoffen. Um jedoch völlig in die Nachwelt eingehen zu können, mussten ihre Körper zuvor mumifiziert werden. Dieses Jenseits der Ägypter lag weit im Westen – dort, wo die Sonne untergeht. Daher trug Osiris auch den Beinamen „Herr des Abendlandes“. Osiris war sehr beliebt sowie geschickt und erbte daher von seinem Vater Geb die Länder Ober- und Unterägypten, während sein Bruder Seth die Herrschaft über das Wüstenland erhielt. Seth war damit sehr unzufrieden und beneidete Osiris so sehr, dass er ihn tötete, zerstückelte und über ganz Ägypten verteilte. Isis war verzweifelt und begab sich auf die Suche nach den Körperteilen, die sie nach langen Irrwegen und Abenteuern schließlich fand und wieder zusammensetzte. Anubis – der schakalköpfige Gott der Mumifizierung, der die Seelen zur Nachwelt geleitete – half Isis und balsamierte den Leichnam des Osiris ein. Inzwischen hatte sich Seth selbst zum König ernannt und trachtete dem Sohn von Isis und Osiris, dem falkengestaltigen Horus, nach dem Leben. Isis musste mit ihm fliehen und ihn vor Seth verstecken, bis er erwachsen war. Als Horus ein junger Mann war, kam es zu zahlreichen grausamen Kämpfen, die jedoch keine Entscheidung brachten. So wurde ein göttliches Gericht unter dem Vorsitz des Schöpfer- und Sonnengottes Re 18
einberufen. Als auch dieses keine Klärung herbeiführen konnte, schaltete sich Osiris ein. Er drohte damit, seine grausamen hundeköpfigen Boten loszulassen, die sich weder vor Menschen noch Göttern fürchteten, wenn das Gericht sich nicht bald für seinen Sohn Horus entscheiden würde. Dies bewirkte, dass Horus endlich zum rechtmäßigen König erklärt wurde. Auch bestätigte das göttliche Gericht Osiris als Totengott und verbannte Seth in die Wüste, den Ort des Bösen, und machte ihn zum Gott der Stürme. Ab diesem Zeitpunkt war der regierende Pharao auch die Verkörperung des „lebenden Gottes Horus“ auf Erden, der nach dem Tod selbst in die Reihen der Götter aufstieg. Im Archäologiemuseum finden sich die Mumie und der Sarg des Pahes aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. und die Mumie des Priesters Anch-pa-chrad in einer sargähnlichen Hülle aus Kartonage aus dem 10. Jahrhundert v. Chr. Auf beiden Objekten sind zahlreiche Darstellungen von mythischen Wesen und Göttern festgehalten. Viele Götter wie Horus, der als Falkengott auch der Herr der Lüfte war, erscheinen als Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Der Sonnen- und Schöpfergott Re war der mächtigste Gott und wurde mit einer Sonne über dem Kopf dargestellt. Die Sonne bedeutet Licht und Wärme und schafft somit die Grundvoraussetzung für das Leben – für die Schöpfung. Die zweitmächtigste Gottheit ist Isis. Von den einfachen Ägyptern wurde sie eigentlich als die wichtigste Gottheit gesehen und verehrt, denn sie war die sogenannte „Große Mutter“, die ewig liebende Gemahlin, die Himmelskönigin und Beschützerin der Familie. Meist wird sie sitzend dargestellt – bekrönt mit der Sonnenscheibe und
Ägyptische Uschebtis, 13.–3. Jahrhundert v. Chr., Kat. 45, S. 107
Ägyptische Mumie und Sarg des Pahes und des Priesters Anch-pa-chrad, 2. Jahrhundert v. Chr., Kat. 44, S. 105
die Mondsichel zu Füßen, säugt sie ihren kleinen Sohn Horus. Ebenfalls an das ägyptische Totenreich und Osiris erinnern im Archäologiemuseum die zahlreichen Uschebtis, sogenannte „Antworter“, die den Toten mit ins Grab gegeben wurden. Diese kleinen mumienförmigen Figuren wurden ab ca. 1.800 v. Chr. angefertigt und sollten im Jenseits einerseits die Verbindung zum Totengott Osiris herstellen und andererseits anstelle der Toten den vorgeschriebenen Frondienst leisten. Idealerweise sollten einem Verstorbenen 365 Ushebtis – für jeden Tag des Jahres ein Uschebti – mitgegeben werden.
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Hirsche, Pferde, Vögel, Fische … In der Eisenzeit – zwischen 800 und 15 v. Chr. – treten in Europa ganz verschiedene Stämme als Träger der sog. Hallstatt- und Latènekultur auf. Fälschlicherweise hat sich für sie der Überbegriff „Kelten“ eingebürgert. Diese Bezeichnung geht wohl auf die erste Nennung sog. „Keltoí“ (griechisch Κελτοί [Keltoí] oder Γαλάται [Galátai], lateinisch Celtae oder Galli) beim griechischen Schriftsteller Herodot zurück. Er erwähnt, dass „Kelten“ an den Quellen der Donau wohnen sollen. Eine weitere Verfestigung dieser Bezeichnung erfolgte durch Caesars Schilderungen vom Gallischen Krieg. Darin wurden sie als furchterregend, ungebildet, ungestüm – schlicht für Römer als barbarisch bezeichnet. Heute wird der Begriff „Kelten“ kritisch gesehen, da sich dahinter wohl ganz verschiedene Familien (Clans) und Stämme verbergen, die wahrscheinlich durch ähnliche Sprachen und eine gemeinsame Zivilisation zwar verbunden waren, aber keineswegs ein „Volk“ bildeten. Die kulturellen Äußerungen dieser sicher lange Zeit in Mitteleuropa ansässigen Menschen beeindrucken durch ihre Reichhaltigkeit, Kunstfertigkeit und manchmal auch Rätselhaftigkeit. Letzteres veranlasste nachfolgende Generationen einiges zu übernehmen, zu interpretieren und letztendlich zu bewundern. So sind viele sog. „keltische“ Rituale und Feste bereits von Griechen und Römern übernommen worden, und auf sie gehen auch heute noch praktizierte christliche Bräuche zurück. Als Beispiel sei hier das Samain-Fest angeführt, das in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November begangen wird. In dieser Nacht wurden die Geister der „Anderswelt“ für den Menschen sichtbar. Darin wurzeln Halloween und das christliche Allerheiligen. Samain war auch eines der beiden großen Feuerfeste, die das Jahr in 20
Sommer und Winter teilten. Man verstand das Feuer wohl als irdische Entsprechung der Sonne, da es wie sie Leben erhalten, aber auch zerstören kann. Eine wichtige Rolle in der „keltischen“ Mythologie spielten Tiere. Ihnen wurden nicht nur spezielle Eigenschaften wie Kraft, Weisheit, Schnelligkeit und Fruchtbarkeit zugeordnet, sondern auch direkte Verbindungen zur Götterwelt nachgesagt, weswegen sie bei Opferritualen eine bedeutende Rolle spielten. Auch für das tägliche (Über-) Leben waren Tiere unverzichtbar. Auf vielen Fundstücken finden sich kunstvolle Tierdarstellungen, die einen Blick in eine Welt voller Mystik und Geheimnisse gewähren. So galt der Stier als Symbol der Kraft und des Reichtums und der Eber war mit dem Krieg verbunden. Die bedeutendste Göttin war Epona: Sie stand für Landwirtschaft und Fruchtbarkeit, war sogar bei den römischen Truppen als Göttin der Pferde und der Reiterei beliebt und galt auch als Göttin der Kavallerie und der Wagenführer. Ihr Name bedeutet „große Stute“. Dementsprechend ist sie meist auf einem Pferd in Begleitung eines Vogels, eines Hundes und eines Fohlens dargestellt, aber auch mit einer Schale, mit Früchten oder einem Füllhorn. Der Hund war ein ständiger Begleiter, sowohl als Haustier als auch als Jagd- und Kriegshelfer. Vögel wurden als geheimnisvolle Wesen eingeschätzt, da man glaubte, dass sie in der kalten Jahreszeit in die „Anderswelt“ fliegen würden – somit waren sie ideale Mittler zwischen Diesseits und Jenseits. Die besondere Stellung des Pferdes wird zusätzlich durch Opferung und Mitbestattung in den sogenannten Fürstengräbern der Hallstattzeit deutlich.
Ein weiterer wichtiger Gott der „Kelten“ war Cernunnos. Er wurde mit einem Geweih am Kopf dargestellt, was ihm auch die Namen „Hirschgott“ oder „Geweihgott“ einbrachte. Er war der Herr der Natur, der Tiere, der Landwirtschaft, des Wohlstandes und der Unterwelt. Cernunnos wird meist mit verschränkten Beinen sitzend gezeigt, in der einen Hand den heiligen Torques (Halsring) und in der anderen die widderköpfige Schlange haltend. Die vielen Darstellungen von Wesen mit Geweihen weisen wohl auf die Bedeutung hin, die dem Wachstumsrhythmus des Geweihs vom Abwerfen im Frühjahr bis zum Bastfegen im Sommer beigemessen wurde. Im übertragenen Sinne entsprechen diese Vorgänge wohl auch dem Aussäen und Ernten des Getreides. Insgesamt, so könnte man heute spekulieren, symbolisierte das Hirschgeweih wahrscheinlich Fruchtbarkeit, Lebenslauf, Kraft und Stärke.
Kleiderbesatzbleche aus Strettweg mit Tierdarstellungen, Kat. 19, S. 55
Kultwagen von Strettweg, Ende 7. Jahrhundert v. Chr., Strettweg/Judenburg (Obersteiermark), Kat. 16, S. 49
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Auch Fische spielen eine besondere Rolle, speziell Forelle und Lachs. In einer Erzählung nascht der junge Fion mac Cumhaill versehentlich vom gebratenen „Lachs der Weisheit“ und erlangt dadurch das geheime Druidenwissen. In späteren schriftlichen Aufzeichnungen ist sogar die Rede vom größten Fisch der Welt, der Jasconius genannt wurde. Mit den „Kelten“ wird auch Iupiter, der oberste römische Reichsgott, in Verbindung gebracht, indem er mit dem vorrömischen Gott Uxlemitanus gleichgesetzt wird. Der Grund dafür ist, dass dieser keltische Gott – wie übrigens auch der griechische Göttervater Zeus – als Wettergott verehrt wurde. Alle diese obersten Götter waren auf einem hohen Berg zu Hause, schleuderten Blitze und verursachten Donnergrollen. Auch Mars Latobius geht auf eine „keltische“ Gottheit zurück, die von den Römern ihrem Kriegsgott Mars gleichgesetzt wurde. Latobius ist zugleich ein Heil-, Hirten- und Totengott. Als Vater der Zwillinge Romulus und Remus, die von einer Wölfin gesäugt wurden und als Gründer der Stadt Rom gelten, ist Mars der Stammvater der Stadt Rom. Ihm zu Ehren weihten und benannten die Römer den ersten Monat ihres Jahres – den März. Auf vielen im Archäologiemuseum ausgestellten Funden der Eisenzeit findet man Hinweise auf mystische Weltvorstellungen, so auch am wertvollsten und bedeutendsten Fund der europäischen Hallstattzeit: dem Kultwagen von Strettweg. Er wurde 1851 bei Feldarbeiten nahe Judenburg in einem ehemaligen Grabhügel gefunden. Er datiert in das 7. Jahrhundert v. Chr.
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Im Zentrum des Wagens steht eine große weibliche Figur mit einer flachen Schale am Kopf, auf der sich ursprünglich ein weiteres Gefäß befunden hat. Sie ist von zwölf kleineren Figuren umringt, darunter vier Reiterkrieger. Jeweils vorne und hinten am Wagen führen zwei geschlechtslose Figuren einen Hirsch am mächtigen Geweih, dahinter folgen jeweils eine Frau und ein Mann mit einem Beil. Die Szene wird insgesamt als Opferprozession interpretiert. Weitere bedeutende hallstattzeitliche Funde des 7.–6. Jahrhunderts v. Chr. wurden 1927/28 im Grabhügel „Galgenkogel“ bei Wildon in der Südsteiermark gefunden. Darunter befinden sich dünne Bronzebleche mit nach rechts bzw. links gewendeten Hirschen mit imponierendem Geweih, die ursprünglich auf graphitierten (geschwärzten) Gefäßen angebracht gewesen waren. Sie können sowohl als Jagdszenen als auch als Bestandteil eines Opferzuges anlässlich eines Festes gedeutet werden. Das hallstattzeitliche Gräberfeld von Kleinklein bei Großklein (Südsteiermark) umfasste ursprünglich wahrscheinlich 2.000 Grabhügel aus dem 9.–6. Jahrhundert v. Chr. Die bedeutendsten Funde sind eine Bronzemaske und zwei Bronzehände mit Verzierungen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., die ursprünglich auf einem Holzuntergrund befestigt waren. Daneben fanden sich zahlreiche Waffen, Helme, Brustpanzer und Gefäße mit vielfältigen geometrischen, symbolischen und figuralen Szenen. Neben Darstellungen von Menschen und Tieren, Jagdszenen, sportlichen und musikalischen Wettkämpfen sowie kultischen Handlungen sticht besonders die Darstellung von menschenverschlingenden Riesenfischen hervor.
Bronzebleche vom hallstattzeitlichen Grabhügel vom Galgenberg/Wildon (Südsteiermark), Kat. 27, S. 71
Hallstattzeitliche Maske und Hände aus Kleinklein/ Großklein (Südsteiermark), Kat. 21, S. 59
Büste des Mars Latobius, 2. Jahrhundert n. Chr., Frauenberg/Leibnitz (Südsteiermark), Kat. 42, S. 101
Römischer Weihealtar für Iupiter Optimus Maximus und Uxlemitanus, 3. Jahrhundert n. Chr., Brunn/Fehring (Oststeiermark), Röm. Nr. 74, S. 98
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Aphrodite und Apollon Aphrodite war die griechische Göttin der Liebe, der Schönheit, der sinnlichen Begierde, der Sexualität und der Fortpflanzung. Apollon ist als Gott des Frühlings, des Lichts, der Heilung, der sittlichen Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung, der Künste und der Bogenschützen überliefert. Aphrodite war angeblich so schön, dass alle Männer – auch die Götter – sie sehr begehrten. Dies weckte bei Frauen und Göttinnen sowohl Neid als auch Angst. Sogar Hera, die oberste Göttin des griechischen Götter himmels und Ehefrau von Zeus, misstraute ihr und überzeugte den Göttervater, Aphrodite um des lieben Friedens willen sofort zu verheiraten. Alle Götter traten als Freier auf den Plan, präsentierten sich von ihrer besten Seite und versuchten, Aphrodite mit den schönsten Geschenken zu locken. Apollon zum Beispiel versprach ihr einen Thron und eine Krone, gefertigt aus dem heißesten Sonnengold, sowie einen goldenen, von weißen Schwänen gezogenen Wagen und die Musen als Mägde. Doch Aphrodite sprach mit niemandem, lächelte alle Bewerber nur an. Hera wurde das zu bunt: Sie zog Hephaistos, den lahmen Gott der Schmiedekunst, von seinem hintersten Platz hervor und befahl ihm zu sprechen. Verschämt sagte er, dass er ein guter Ehemann für ein Mädchen wie Aphrodite sei, denn er arbeite bis spät in die Nacht. Wieder lächelte Aphrodite nur, hob jedoch das rußverschmierte Kinn des kleinen Schmiedes zu sich empor und küsste ihn auf den Mund. Noch in derselben Nacht heirateten sie und bei der Hochzeitsfeier begann Aphrodite endlich zu sprechen. Sie wandte sich flüsternd an jeden einzelnen ihrer Freier 24
und nannte jedem eine Zeit, zu der er sie mit seinen Geschenken besuchen konnte. Aphrodite wird auch die „Schaumgeborene“ genannt, da sie dem Meer am Ufer der Insel Zypern entstiegen sein soll. Sie sorgt nach alter Vorstellung dafür, dass sich Menschen ineinander verlieben, untereinander lieben, den Wunsch nach Kindern entwickeln und fruchtbar sind. Auch Apollon, dem Zwillingsbruder der Artemis, wird große Schönheit nachgesagt. Zu den wichtigsten Aufgaben dieses athletischen Helden zählte der Schutz des Orakels von Delphi – das Zentrum der Weissagungen im antiken Griechenland. Er wurde auch als Sonnengott verehrt, da er jeden Tag mit seinem Streitwagen das Himmelszelt durchquerte und dabei die Sonne von Ost nach West zog. Apollon gilt als Erfinder der griechischen Harfe, der Leier, sowie als Gott der Medizin und der Reinigung des Körpers. Die Zuständigkeiten von Aphrodite und Apollon kommen in den Votivstatuetten aus Zypern, die im Archäologiemuseum ausgestellt sind, zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um 37 Statuetten und Reliefs aus dem 6.–1. Jahrhundert v. Chr. Sie zeigen thronende Frauen, die Babys oder kleine Kinder auf dem Schoß halten oder denen größere Kinder zur Seite stehen. Die detailgetreue Gestaltung lässt Geschlecht, Kleidung und Schmuck der Dargestellten erkennen. Auf Zypern wurden diese Kalksteinstatuetten Aphrodite und Apollon zum Opfer dargebracht, um diese um Nachwuchs, eine glückliche Geburt und auch Gesundheit zu bitten.
Votivstatuetten aus Zypern, 6.–1. Jahrhundert v. Chr., Kat. 46, S. 109
Römisches Statuenfragment Apollon mit dem Greif, Seggauberg/Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. 78, S. 102
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Dionysos, Mänaden, Satyrn und Nymphen Dionysos ist wohlbekannt als der griechische Gott des Weines, der Illusion, der Verkleidung, der Ekstase und der Fruchtbarkeit. Er wird einerseits als sanft, andererseits als schrecklich beschrieben. Dionysos war der Sohn von Zeus und Semele, der Tochter des König Kadmos von Theben. Als sie schwanger war, erbat sich Semele von Zeus, ihn so sehen zu können, wie er wirklich war. Obwohl er wusste, dass sie sofort sterben würde, wenn er ihrer Bitte nachkommt, hielt er sein Versprechen. Als Semele tot vor ihm lag, nahm er das ungeborene Kind aus ihrem Körper und setzte es sich in seinem Oberschenkel ein, bis es geboren werden konnte. Zeus’ Gattin Hera verfolgte dieses unerwünschte Kind mit Hass. Trotzdem gelang es Dionysos – nach Abwehr vieler Angriffe vonseiten Heras – zum einzigen unsterblichen Gott des griechischen Götterhimmels mit einer weltlichen Mutter zu werden. Er heiratete Ariadne, nachdem er sie auf der Insel Naxos schlafend aufgefunden hatte. Sie war dort von Theseus – dem athenischen Königssohn, der auf Kreta mit Ariadnes Hilfe die Bestie Minotaurus besiegt hatte – zurückgelassen worden. Ariadne gab Theseus ein Garnknäuel, das er beim Betreten des Labyrinths, in dem der menschenfressende Stier lebte, abrollte. Angeblich erschlug er den Minotaurus mit bloßen Fäusten und konnte dank des „Ariadnefadens“ wieder aus dem Labyrinth herausfinden. Seitdem spricht man auch vom „roten Faden“, der in schwierigen Situationen Orientierung gibt.
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Theseus gelang es, auch seine zuvor von Ariadnes Vater, König Minos, eingesperrten Kameraden zu befreien. Gemeinsam flohen sie alle mit Ariadne auf ihrem Schiff. Inzwischen war Dionysos dem Helden im Traum erschienen, wo er Theseus mitteilte, dass Ariadne von ihm selbst begehrt würde und Theseus sie ihm überlassen müsse. Aus diesem Grund ließ er die schlafende Ariadne auf Naxos allein zurück und segelte davon. Dionysos fand sie, weckte sie auf und machte Ariadne durch die Heirat mit ihm zur Göttin. Dieses Auferwecken galt Griechen und Römern in ihren Totendarstellungen als beliebtes Gleichnis für ein Aufwachen nach dem Tod und ein göttliches Weiterleben. In Dionysos’ Gefolge befanden sich stets die Mänaden und Satyrn. Die Satyrn waren Zwischenwesen – teils Mensch, teils Ziegenbock. Der bekannteste von ihnen ist Pan, der Gott des Waldes, der Ziegenhirten und Schäfer. Die Satyrn feierten ausschweifend mit Dionysos, tanzten wild herum, spielten dazu Flöte und vergnügten sich mit den in den Wäldern beheimateten Nymphen. Die weiblichen Begleiter von Dionysos wurden Mänaden genannt, was so viel wie „die Rasenden“ bedeutet. Sie betranken sich so sehr, dass sie in rauschhafte Verzückung verfielen, die Wälder durchstreiften, Tiere töten, ja förmlich zerrissen und aßen. Manchmal befanden sich in Dionysos’ Gefolge auch Nymphen, wohltätige, fast unsterbliche und ewig junge weibliche Naturgeister. Sie schweiften umher, führten Tänze auf, jagten, webten in kühlen Grotten, pflanzten Bäume und waren den Menschen behilflich. Meistens traten sie als Hüterinnen von Orten, Bergen, Bäumen, Wiesen, Heilquellen und Grotten auf, wo ihnen die Menschen Opfer darbrachten.
Römisches Grabbaurelief mit Dionysos und Ariadne, Köflach (Weststeiermark), Röm. Nr. 67, S. 90
Apulisch-rotfiguriger Glockenkrater des Grazer Malers, sitzende Mänade mit Stab, Früchten und nacktem Jüngling, 370–360 v. Chr., Kat. 48, S. 113
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Viele antike Theaterstücke handeln von den Abenteuern und Festen des Dionysos. Auch Gefäße – vor allem Trinkgefäße – tragen Verzierungen und Darstellungen, die von ausschweifenden Festen erzählen. Im Rahmen eines sogenannten Symposions tranken und opferten die Männer gemeinsam. Frauen waren dabei nur als Unterhalterinnen zugelassen und für Tanz, Musik und weitere Vergnügungen zuständig. Eine Vorstellung von solchen Festen geben prachtvolle, mit roten Figuren auf schwarzem Untergrund verzierte Weinmischgefäße,
sogenannte rotfigurige Krater, die aufgrund ihrer Form auch Glockenkrater heißen. Solche Gefäße wurden sowohl von der einheimischen Bevölkerung Siziliens und Süditaliens als auch von zugezogenen Griechen im Rahmen von Grabkulten verwendet. Dahinter stand der Wunsch auf ein glückliches und von Festen geprägtes Weiterleben im Jenseits. Im Archäologiemuseum finden sich einige Objekte, die auf Dionysos, seine Begleiterinnen und Begleiter sowie Erlebnisse Bezug nehmen.
Römische Grabbaureliefplatte, tanzende Satyre, St. Johann ob Hohenburg (West steiermark), Röm. Nr. 57, S. 79
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Römisches Grabbaurelief, schlangenum wickelter Kantharos, Weinstock, zwei Eroten bei der Weinlese, Wundschuh (Südsteiermark), Röm. Nr. 64, S. 88
Römisches Weiherelief, drei Nymphen samt Opferszene, Heilbrunn/Bad Mitterndorf (Obersteiermark), Röm. Nr. 66, S. 89
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Die Dioskuren Die Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes werden auch die Dioskuren genannt. Polydeukes war der Sohn von Zeus, Kastors Vater war KönigTyndareos von Sparta. Ihre Mutter war Leda, der sich Zeus angeblich in Gestalt eines Schwans genähert hatte, worauf diese mit Polydeukes schwanger wurde. In derselben Nacht kam es zu einer weiteren Begegnung zwischen Leda und Tyndareos, bei der Kastor gezeugt wurde. Anders als Kastor war Polydeukes aufgrund seiner göttlichen Abstammung unsterblich. Die beiden Brüder waren einander sehr zugetan und vollbrachten wahre Helden taten. Alle liebten die schönen, anmutigen, stets fröhlichen und hilfsbereiten Jünglinge. Die Menschen beteten in allen Nöten des Lebens zu ihnen und verehrten sie als Retter in der Not. Kastor war ein geschickter Lenker von Pferdewagen, während Polydeukes der berühmteste Faustkämpfer seiner Zeit war. Als Theseus die geliebte Schwester der Dioskuren – die schöne Helena – entführte, stellten sie ihren Mut unter Beweis: Sie jagten dem Räuber nach und befreiten Helena aus seiner Gewalt. Doch auch sie selbst entführten die Bräute ihrer beiden Cousins, nachdem diese sie nach einem gemeinsamen Raub von Rinderherden in Arkadien hinters Licht geführt hatten. Daraus entbrannte ein heftiger Kampf, bei dem jeweils ein Bruder starb. Am Ende überlebte nur der unsterbliche Polydeukes, worüber er todtraurig war. Daraufhin machte ihm sein Vater Zeus ein Angebot: Er hatte die Wahl, entweder unsterblich zu bleiben und in ewiger Jugend im Olymp bei den Göttern zu wohnen oder sterblich zu werden und mit dem geliebten Bruder alles zu teilen – die Hälfte 30
der Zeit in der finsteren Unterwelt, dem Hades, und die andere Hälfte im goldenen Himmelssaal. Polydeukes entschied sich für seinen Bruder und die Sterblichkeit. Im Archäologiemuseum sind die Dioskuren auf der Rückseite eines Metallspiegels aus dem 3.–2. Jahrhundert v. Chr. dargestellt. Solche blank polierten Bronzespiegel sind oft mit gewölbter Oberfläche gefertigt, entweder aus zwei Teilen oder aus einem Teil wie das vorliegende Objekt. Solche Spiegel wurden verwendet, bevor in der römischen Kaiserzeit das Spiegelglas aufkam.
Römisches Grabrelief, Leda mit dem Schwan, 2. Jahrhundert n. Chr., Stubenberg (Oststeiermark), Röm. Nr. 62, S. 86 Römisches Grabbaurelief, Dioskuren mit Mantel, Helm, Lanze und Pferd, Dobl (Weststeiermark), Röm. Nr. 65, S. 88
Hellenistischer Griffspiegel mit Dioskuren und Flechtband, 3.–2. Jahrhundert v. Chr., Kat. 49, S. 115
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Medusa Medusa war eine der drei Gorgonen – furchterregende, weibliche Ungeheuer mit fratzenhaften Gesichtern, die anstelle von Haaren Schlangen auf dem Kopf trugen. Wer sie anblickte, erstarrte sofort zu Stein. Medusa war als einzige der Gorgonen sterblich – dies machte sich Perseus zunutze, da er für die Hochzeit von König Polydektes keines der gewünschten Pferde mitbringen konnte. Also musste er ein anderes, besseres Geschenk finden: das Haupt der Medusa. Der König war damit einverstanden, sah er darin doch eine Möglichkeit, Perseus unschädlich zu machen – dieser schützte nämlich bislang seine Mutter Danae vor den Begehrlichkeiten des Polydektes. Perseus machte sich mit Unterstützung von Hermes und Athena, die ihn auch ausrüsteten, auf den Weg zu den Gorgonen. Zu seiner Ausstattung gehörten eine Sichel, ein Sack, eine Tarnkappe, ein Schild und geflügelte Sandalen. Da in Athenas glattem Schild das Spiegelbild der Medusa zu sehen war, konnte Perseus ihr das Haupt abschlagen, ohne sie direkt ansehen zu müssen, und steckte ihren Kopf sogleich in seinen Sack. Auf seiner Flucht mithilfe der geflügelten Sandalen sah er die an einer Meeresklippe angekettete Andromeda, die einem Seeungeheuer geopfert werden sollte, um Poseidon – den zornigen Gott des Meeres – zu besänftigen. Denn Andromedas Mutter hatte sich gebrüstet, schöner als die Meeresnymphen zu sein und Poseidon damit verärgert. Als das Ungeheuer auftauchte, enthüllte Perseus Medusas Haupt und das Ungeheuer wurde sofort zu Stein. Er rettete Andromeda, befreite das Land und heiratete sie. Zurück zu Hause tötete er mit
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dem Medusenhaupt auch König Polydektes und übergab es schließlich an Athena. Die Schutzgöttin Athens trägt seitdem Medusas Kopf zur Abschreckung ihrer Gegner auf ihrem Brustpanzer. Auf einem der schönsten und imposantesten Grabsteine Österreichs, ausgestellt im Archäologiemuseum, finden sich neben Bildnissen der Verstorbenen auch ein Medusenhaupt, das Böses abschrecken sollte, und Delphine, welche die Toten über das Meer nach Westen in Richtung Sonnenuntergang ins Jenseits begleiten sollten.
Oben Römischer Grabstelengiebelaufsatz mit Medusenhaupt und Tauben, ca. Mitte 2. Jahrhundert n. Chr., Umgebung Marburg (Slowenien, Maribor), Röm. Nr. 14, S. 37 Unten links Römische Grabstele des L. Cantius Secundus, vor 100 n. Chr., mit roten Farbresten, St. Leonhard/Graz, Röm. Nr. 1, S. 18 Unten rechts Römisches Grabbaurelief, Perseus tötet Medusa, Oswaldgraben/Kainach (Weststeiermark), Röm. Nr. 61, S. 85
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Amazonen und Herakles Die sagenhafte Frauengesellschaft der Amazonen war das Gegenteil der zivilisierten Norm der Antike. Sie bauten kein Getreide an, lebten nicht in Städten wie die Griechen, kleideten sich wie Männer, zogen beritten zur Jagd und waren als tapfere Kämpferinnen und Reiterkriegerinnen bekannt und gefürchtet. An Kämpfen durften junge Amazonen erst teilnehmen, wenn sie mindestens einen Mann getötet hatten. Es wird auch berichtet, dass sie männliche Sklaven hielten und sich mit Männern nur trafen, um Nachwuchs zu zeugen – wobei sie Knaben aussetzten und nur die Mädchen aufzogen. Aus einigen antiken Quellen geht hervor, dass sie sich die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen hantieren zu können – das griechische Wort amazos bedeutet dem Sinn nach „brustlos“. Die verschiedenen Amazonenvölker lebten in Gebieten rund um das Schwarze Meer wie im Kaukasusgebiet, in Nordanatolien, wo im Pontosgebiet auch ihre Hauptstadt Themiskyra lag. Aber auch in Kleinasien (Karien, Lykien) und in Libyen sollen sie gesiedelt haben. Alle griechischen Helden der Mythologie mussten gegen Amazonen kämpfen, so auch Herakles, der bei den Römern Herkules hieß. Er war ein Nachfahre von Perseus und Andromeda und der Stärkste unter den Starken. Als Sohn von Zeus wurde er von Hera ein Leben lang mit Hass verfolgt. So schickte sie ihm im Alter von zwei Jahren zwei Schlangen, die ihn töten sollten. Doch der kleine, starke Herakles erwürgte sie mit bloßen Händen. Er kam nach vielen Abenteuern zu göttlichen Ehren und wurde sogar in den Olymp aufgenommen. Herakles galt als Heilund Orakelgott sowie als Beschützer von 34
Sportstätten (Gymnasia) und Palästen. Die Attribute des unter dem Schutz von Athene, der Schutzgöttin von Athen, stehenden Herakles waren Löwenfell, Keule, Bogen und Köcher mit Pfeilen. Hera stand auch hinter jener Aufgabe, die Herakles im Auftrag von Eurystheus, des Königs von Mykene, zu lösen hatte. Er sollte den Zaubergürtel der Amazonenkönigin Hippolyte stehlen, den sie von ihrem Vater, dem Kriegsgott Ares, erhalten hatte. Die Amazonen begrüßten Herakles freundlich und Hippolyte wollte ihm den Gürtel sogar freiwillig überlassen. Das durchkreuzte jedoch die Pläne der eifersüchtigen Hera, die sich als Amazone verkleidete und einige andere Amazonen dazu anstiftete, das Schiff von Herakles anzugreifen, da dieser angeblich ihre Königin entführen wolle. Vielen tapferen Kriegerinnen kostete diese Intrige das Leben und etliche wurden gefangengenommen. Im Austausch gegen ihre gefangene Schwester Melanippe übergibt Hippolyte schlussendlich den Zaubergürtel an den misstrauischen und aggressiven Herakles.
Oben Römisches Bodenmosaik mit Peltaornamenten bzw. Amazonenschild (kleiner halbmondförmiger Schild), Anfang 3. Jahrhundert n. Chr., Flavia Solva/Wagna/ Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. II, S. 21 Unten Römischer Weihealtar, Inschriften zu Herkules und Victoria (römische Siegesgöttin, vor 212 n. Chr., Kugelstein/Frohnleiten (Graz-Umgebung), Röm. Nr. 73, S. 96
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Europa Europa war die schöne Tochter des phönizischen Königs Agenor, in die sich Zeus verliebte. Da seine Frau Hera für ihre gnadenlose Eifersucht bekannt war, verwandelte er sich in einen schönen, weißen Stier und mischte sich unter eine Herde, die nahe am Strand weidete, wo sich Europa mit ihren Freundinnen aufhielt. Zeus errang ihre Aufmerksamkeit und versuchte sich einzuschmeicheln. Europa überwand ihre Furcht, streichelte den sanften Stier und setzte sich sogar auf ihn – worauf er mit ihr ins Wasser sprang und auf das offene Meer schwamm, hinaus bis nach Kreta. Dort legte Zeus seine Stiergestalt ab, verführte Europa und zeugte insgesamt drei Kinder mit ihr. Einer ihrer Söhne wurde der spätere kretische König Minos. König Agenor war darüber sehr erbost, denn der Raub von Ehefrauen und Töchtern galt in der Antike als schwerer Affront. Er sandte seine Söhne aus, um Europa wieder heimzubringen – jedoch vergeblich, sie blieb verschollen. Nach Europa wurde schließlich ein ganzer Erdteil benannt. Der Name bedeutet im Griechischen „die (Frau) mit der weiten Sicht“. Er könnte sich aber aus einer semitischen Sprache, eventuell aus dem Phönizischen, ableiten, wo er „dunkel“ bzw. „Abend“ bedeutet – vielleicht ein Hinweis auf das Abendland. Die Idee zur Namengebung des Kontinents stammt wohl vom griechischen Schriftsteller und Geografen Herodot. Er dehnte im 5. Jahrhundert v. Chr. den Begriff „Europa“, der sich erst nur auf den Peloponnes beschränkte, auf die gesamte Landmasse vom Mittelmeer bis zum Schwarzen Meer aus. Damit grenzte er Europa klar von Asien (Asia) und Afrika (Libya) ab. 36
Römisches Mosaikbodenfragment, Darstellung der Europa auf dem Stier, spätes 4. Jahrhundert n. Chr., Pettau (Slowenien, Ptuj), Röm. Nr. III, S. 22
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Thetis und Achilleus Thetis war eine Tochter von Zeus und verliebte sich in den Helden Peleus, der schon bei den Argonauten mitgekämpft und auch sonst viele Abenteuer erlebt hatte. So scheiterte seine Ehe daran, dass er den Schwiegervater versehentlich tötete. Als er auf die Meernymphe Thetis traf, verliebte er sich sofort und wollte sie entführen. Thetis schlug ihn mithilfe einer Schlange in die Flucht, doch er gab nicht auf, und mit Zeus’ Zustimmung heiratete er sie schließlich. Zur pompösen Hochzeitsfeier waren alle eingeladen, mit Ausnahme von Eris, der Göttin der Zwietracht. Eris kam aber trotzdem und warf einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „Der Schönsten“ mitten unter die Feiernden. Sofort entbrannte zwischen Athene, Hera und Aphrodite ein wilder Streit, den schließlich Paris, der Sohn von Troias König Priamos, auf Geheiß von Zeus entscheiden musste. Da Aphrodite ihm die schönste Frau der Welt – die schöne Helena – versprach, entschied er sich für sie. Helena war die Tochter von Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit – also eine Rachegöttin, die von den Gladiatoren sehr verehrt wurde. Zeus paarte sich mit ihr in der Gestalt eines Schwans – unwissentlich, denn Nemesis hatte sich auf der Flucht vor ihm in einen Adler verwandelt und ließ den Zuflucht suchenden Schwan an sich heran. Das daraus entstandene göttliche Ei wurde zu Leda – der Tochter des ätolischen Königs Thestios und der Eurythemis – gebracht, die Helena aufzog.
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Paris entführte die schöne Helena nach Troia, wohin ihnen Helenas zorniger Gatte Menelaos, der König von Sparta, mit einem großen griechischen Heer folgte. Eine wilde und lange Schlacht entbrannte, an der auch der fast unbezwingbare Held Achilles beteiligt war. Seine Mutter Thetis hatte ihn als Kleinkind in den Styx, den Fluss der Unterwelt, getaucht. Dies machte ihn am ganzen Körper unverwundbar – bis auf jene Stelle an der Ferse, an der Thetis ihren Sohn einst ins Wasser hielt. Paris kannte diese Schwachstelle. Als Achilles Hector, den Sohn des Priamos, in Troia getötet sowie dreimal um die Stadtmauer geschleift hatte und sich dann noch immer weigerte, den Leichnam an den Vater auszuhändigen, traf ihn Paris´ Pfeil genau an der Ferse und tötete ihn.
Links oben Römische Reliefplatte, Thetis und Achilleus, Rohitsch (Slowenien, Rogatec), Röm. Nr. 5, S. 26 Links unten Römischer Weihealtar, Weiheinschrift zu Nemesis, 2.–3. Jahrhundert n. Chr., Flavia Solva/Wagna/Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. 75, S. 99 Rechts unten Römisches Weiherelief, Nemesis als ausgleichende, nicht strafende Göttin, 3. Jahrhundert n. Chr., Seggauberg/Schloss Seggau/Leibnitz (Südsteiermark), Röm. Nr. 76, S. 100
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Der Pfau Bereits beim Betreten des Parks von Schloss Eggenberg fallen die freilaufenden, eleganten Pfaue mit ihrem herrlichen, blaugrün gefärbten Federkleid auf. Sie stolzieren über das ganze Areal und ziehen auch vor dem Eingang des Archäologiemuseums ihre Runden. Manchmal glauben einige der Vögel, dass sie den Eingang bewachen müssen, sind sie doch auch als Wachtiere bekannt. Aber nicht nur lebend sind sie zu bewundern, auch auf Darstellungen im Museum sind sie zu finden – ein Ausdruck der Faszination, die sie seit Jahrtausenden auf die Menschen ausüben. Der Blaue Pfau stammt ursprünglich aus den Wäldern Indiens. Dort wurde er geschätzt, da er junge Giftschlangen frisst und mit seinem durchdringenden Schrei vor Tigern warnt. Er gilt seit Jahrtausenden als Symbol für Herrschaft, Macht, Kraft, Reichtum, Liebe, Leidenschaft, Unsterblichkeit und Schönheit. Persische Mythen erzählen, dass der Kadscharen-Herrscher Fath Ali Schah den sogenannten Pfauenthron in Isfahan in Auftrag gegeben habe. Er benannte ihn in Anlehnung an den Namen seiner Lieblingsfrau Tavus – was Pfau bedeutet. Seitdem saßen persische Herrscher stets auf dem Pfauenthron. Auf vielen Kunst werken Persiens findet sich auch das Motiv eines Lebensbaumes mit zwei Pfauen an der Seite als Sinnbild für die Dualität des Menschenlebens – Leben im Diesseits und Unsterblichkeit im Jenseits. Auch in griechischen und römischen Mythen findet sich der Pfau wieder. Er war das Lieblingstier der Göttin Hera, welche die Federn des Pfaus mit den Augen des von Hermes getöteten hundertäugigen Wächters Argos 40
schmückte und dem männlichen Tier sein prachtvolles Aussehen verlieh. fau In der frühchristlichen Kirche galt der P als Paradiesvogel und Symbol des Himmels, der Seligkeit und des Glücks. Da man glaubte, dass sein Fleisch nicht verwesen würde, symbolisierte er Auferstehung, Un verweslichkeit der Leibseele und Unsterblichkeit. In späteren Zeiten wendete sich das Blatt, das Christentum sah in ihm ein Symbol für Eitelkeit. Parallel dazu kam in Europa auch der Aberglaube auf, es bringe Unglück, sich einen Pfau zu halten oder auch nur seine Federn zu besitzen. Auf diese Vorstellung ging wohl die im Mittelmeerraum lange vorherrschende Meinung zurück, dass die Pfauen augen Teufelsaugen wären, die mit dem neidischen Blick des weiblichen Dämons Lilith zusammenhingen. Aus diesem Grund machte man sie für unerklärliche Todesfälle und anderes Unglück verantwortlich. Auf einer Aschenkiste aus Savci (Slowenien), die im Archäologiemuseum ausgestellt ist, findet sich die Darstellung eines Eros, der einen Pfau aus einer Ziste (Korb/Kiste) picken lässt.
Römische Aschenkiste, Eros und Pfau, Savci/Pettau (Slowenien, Savci/Ptuj), Röm. Nr. 8, S. 31
Adonis und Venus Adonis – ursprünglich ein syro-phönizischer Vegetationsgott – war jung und wunderschön, weswegen er von vielen Göttinnen begehrt wurde. In der römischen Mythologie war er der Geliebte von Venus, in der griechischen Sagenwelt der Gefährte von Aphrodite. In beiden Kulturen war er der Gott der Schönheit und Vegetation.
Dieser Mythos entsprang wohl einem aus Asien nach Syrien gebrachten Fruchtbarkeitskult, der symbolisch für den jährlich wiederkehrenden Wechsel zwischen Licht und Finsternis, zwischen Erde und Unterwelt und zwischen Sommer und Winter stand. Im Archäologiemuseum findet sich dazu eine Darstellung auf einem Giebelaufsatz einer Grabstele.
Adonis wurde auf der Jagd von einem wütenden Eber zerrissen, in den sich Ares bzw. Mars verwandelt hatte. Aphrodite bzw. Venus war untröstlich und verwandelte sein auf den Boden fallendes Blut in Adonis röschen. Jede Träne von Aphrodite wurde zu einer Blüte, die sich vom Blut des Adonis rot färbte. Der tote Adonis musste ins Totenreich, wo Persephone, die Frau des Hades, sich in ihn verliebte. Nun erhoben beide Göttinnen Ansprüche an ihn, sodass Zeus zur Schlichtung gerufen wurde. Er entschied, dass Adonis einen Teil des Jahres in der Unterwelt und einen anderen Teil im Sonnenlicht und damit bei Aphrodite leben durfte.
Römischer Stelengiebel mit Venus bzw. Aphropdite/Adonis/Eroten/Hund, Altendorf/Pettau (Slowenien, Starše/Ptuj), Röm. Nr. 17, S. 40
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Amor Amor, auch Cupido genannt, ist der römische Gott der Liebe. Bei den Griechen hieß er Eros. Seine Mutter ist Venus (griechisch: Aphrodite) und sein Vater der Kriegsgott Mars (griechisch: Ares). Amor ist der jüngste aller Götter und wird meist als Knabe mit Flügeln dargestellt. Er ist mit Pfeil und Bogen bewaffnet, gilt als listig und liebt es, mit schalkhafter Bosheit Menschen und Götter zu quälen. Die Römer verwendeten beide Namen, Amor und Eros, und stellten ihn häufig auch mehrfach bildlich auf Schalen, Grabsteinen und dergleichen dar. Wie beliebt diese Darstellungen waren, zeigen zahlreiche römische Grabreliefs auch aus der Steiermark, und in der Barockzeit kehrten AmorGestalten als sogenannte Putten wieder. Der Überlieferung nach lobten die Eltern der schönen Psyche deren Schönheit mehr als jene von Venus. Dies kam Venus, der Göttin der Schönheit, zu Ohren und sie war darüber sehr erbost. Sie beauftragte ihren Sohn Amor, einen Liebespfeil für Psyche auf ein Monster abzuschießen, damit sie sich in ein Scheusal verliebe. Doch Amor traf versehentlich sich selbst und entbrannte sofort in heftiger Liebe zu Psyche. Er hatte Angst vor seiner Mutter und wollte Psyche vergessen, doch es gelang ihm nicht. Also musste er mutig sein und sein Missgeschick gestehen. Schlussendlich heiratete er sie, jedoch unter der Bedingung, dass sie sich nur in der Dunkelheit trafen und seine Frau ihn nie zu Gesicht bekommen dürfe. Amor schenkte seiner Gattin einen wunderschönen Palast, in dem sie jede Nacht auf ihn wartete. Psyches Schwestern wurden eifersüchtig, da es ihr scheinbar so gut 42
ging, und überredeten sie, diesen wundersamen Ehemann doch auch einmal bei Licht anzusehen. Daraufhin wurde Psyche neugierig, aber auch misstrauisch: In der folgenden Nacht richtete sie einen Lichtschein auf den schlafenden und zu ihrer Überraschung wunderschönen Jüngling. Amor erwachte und verließ sie – erzürnt darüber, dass Psyche ihr Versprechen gebrochen hatte. Sie wandte sich traurig und verzweifelt nach Hilfe suchend an Venus, doch auch sie war zornig und unterzog Psyche vielen Prüfungen, bei denen sie sich erneut ungehorsam zeigte. So sollte sie ein Gefäß mit dem Schlaf des Todes aus der Unterwelt holen und es Venus ungeöffnet übergeben. Doch Psyches Neugier war stärker, sie öffnete das Gefäß und fiel sofort tot um. Amor hatte seine Frau schon verzweifelt gesucht, fand sie und bat Jupiter, den Göttervater, Psyche wieder zum Leben zu erwecken und unsterblich zu machen. Von dieser großen Liebe gütig gestimmt, erfüllt Jupiter Amors Wunsch. Im Archäologiemuseum befindet sich neben etlichen schönen Bernsteinschmuckstücken auch ein aus Bernstein geschnitzter Amor. Er datiert in das 1.–2. Jahrhundert n. Chr. und wurde in Poetevio (Slowenien) gefunden. Bernstein ist ein fossiles Harz, das seit Jahrtausenden begehrt ist – vor allem für die Herstellung von Schmuck. Aufgrund seiner elektrisch aufladenden Wirkung war er schon bei den alten Griechen als Elektron bekannt. Die reichsten Bernsteinvorkommen finden sich im Baltikum, also an der Ostsee. Von dort verlief die Bernsteinstraße nach Süden über Carnuntum (römische Stadt östlich von Wien) durch das Burgenland und vorbei an Poetevio (römische Siedlung in Slowenien) bis nach Aquileia (bei Grado in Italien).
Rechts oben im Kreis Amor aus Bernstein, 1.–2. Jahrhundert n. Chr., Poetovio/ Pettau (Slowenien, Poetovio/Ptuj), Kat. 39, S. 95 Links unten Römischer Grabmalaufsatz, Amor und Psyche, 2.–3. Jahrhundert n. Chr., Öblarn (Obersteiermark), Röm. Nr. 53, S. 76
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Medea Medea war die Frau des griechischen Helden Jason. Sie half ihm und seinen Kameraden beim Raub des Goldenen Vlieses. Das Goldenes Vlies war das Fell eines g oldenen Widders, das König Aietes von Kolchis gehörte und von einem furchtbaren Drachen bewacht wurde.
verbrannten. Doch damit nicht genug: Sie tötete auch die gemeinsamen Kinder und floh – Iason noch verspottend – auf einem drachengezogenen Wagen nach Korinth, um ihre Kinder zu begraben.
Iason kam mit seinem Schiff, der Argo, und 50 Kriegern – den Argonauten – nach Kolchis. König Aietes versprach Iason das Vlies, wenn er verschiedene Aufgaben erfüllt. So musste er die feuerspeienden, mit Bronzehufen versehenen Stiere des Königs anschirren sowie Drachenzähne aussähen und die daraus wachsenden Riesen töten. Medea, die Königstochter, verliebte sich in Iason und da sie eine Zauberin war, half sie ihm mit ihren Zauberkünsten. Schließlich betäubte sie den Drachen, sodass Iason das Vlies stehlen konnte, und floh mit ihm. König Aietes und ihr Bruder Apsyrtos verfolgten sie. Medea tötete ihren Bruder, zerstückelte die Leiche und warf die Stücke ins Meer, um ihren Vater aufzuhalten, der die Teile einsammelte. Dadurch entkamen sie. Nach einigen Umwegen landeten Iason und Medea in Korinth, ließen sich dort nieder und gründeten eine Familie. Sie waren glücklich – bis zu dem Augenblick, an dem Kreon, der König von Korinth, Iason seine Tochter Glauke zur Frau anbot. Diese politisch vorteilhafte Heirat wollte sich Iason nicht entgehen lassen, trennte sich von Medea und schickte sie ins Exil. Tief verletzt und vor Wut tobend, übermittelte sie dem Brautpaar Gewänder, die ihre Leiber Römischer Grabmalaufsatz, Statuette der Medea aus Pettau (Slowenien, Ptuj), Röm. Nr. 54, S. 77
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Paris Der troianische Königssohn Paris wurde als Kind auf dem Berg Ida ausgesetzt und von einer Bärin gesäugt. Denn eine Prophezeiung sagte den Eltern, König Priamos und Königin Hekabe, dass dieser Sohn wie eine Fackel sei und Troia in Brand stecken werde. Das Kind sollte sterben, doch der Diener Agelaos erbarmte sich seiner. Paris überlebte und es gelang ihm, schon als Jüngling ins Königshaus aufgenommen zu werden.
Im Archäologiemuseum befindet sich dazu ein Zeugnis hervorragender römischer Bildhauerkunst – die aus einem Stück gearbeitete Seitenwand einer Grabaedikula (Grabkapelle). Darauf wird im oberen Anteil auf die Erzählung von Medea und im unteren Bereich auf Paris, der eine Panflöte (Syrinx) bläst, Bezug genommen.
Zeus machte Paris zum Schiedsrichter im Streit zwischen den Göttinnen Hera, Athena und Aphrodite, die sich darüber zankten, welche von ihnen die Schönste sei. Paris gab Aphrodite seine Stimme, weil er sie für die Schönste hielt und sie ihm außerdem die schönste Frau der Welt, Helena, versprochen hatte. Sie half ihm sogar, Helena zu entführen. Deren Ehemann, König Menelaos von Sparta, war darüber so erzürnt, dass er mit Unterstützung der Griechen nach Troia segelte, um sie zurückzuholen. Daraus entbrannte der berühmteste Krieg der Antike, der Troianische Krieg. Viele der antiken Helden verloren ihr Leben in diesem Krieg, den die Griechen mithilfe des Troianischen Pferdes gewannen: Sie bauten ein Holzpferd, in dessen Inneren sich die besten Krieger versteckten, während die Flotte scheinbar abzog. Die Troianer holten das vermeintliche Geschenk in die Stadt. In der Nacht krochen die Krieger aus dem Inneren des Pferdes, die Flotte kam zurück und die Griechen zerstörten Troia. So ging die Prophezeiung vom Brand Troias doch noch in Erfüllung. Seitenwand einer Grabaedicula, Eroten, Delphine, Weinreben, Tiere sowie Medea und Paris, 3. Jahrhundert n. Chr., Waltersdorf (Oststeiermark), Röm. Nr. 60, S. 82
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Oidipus und die Sphinx Oidipus war der Sohn des Königs von Theben, Laios, dem nach der Heirat mit Iokaste das Orakel von Delphi weissagte, dass ihn eines Tages der eigene Sohn töten würde. Als Iokaste einen Jungen gebar, legten sie ihm Fußfesseln an und setzten ihn auf einem Berg aus, damit ihn die Raubtiere fressen würden. Doch ein Schäfer erbarmte sich seiner und gab das Kind weiter, sodass der Knabe schließlich ins Königshaus von Korinth kam und dort wie ein eigener Sohn großgezogen wurde. Auch Oidipus prophezeite das Orakel, dass er eines Tages seinen Vater töten und seine Mutter heiraten würde. Um das zu verhindern, verließ er seine vermeintlichen Eltern. Auf der Reise kam er in der Nähe von Delphi zu einer Weggabelung mit drei Wegen. Während er noch überlegte, welchen Weg er nehmen sollte, kam ein Wagen mit mehreren, scheinbar wichtigen Männern vorbei, die ihn rüde aufforderten, den Weg sofort freizugeben. Einer schlug sogar mit einem Holzknüppel auf ihn ein. Darüber geriet Oidipus so in Wut, dass er alle Insassen des Wagens tötete, darunter auch einen älteren Mann. Dann setzte er seinen Weg nach Theben fort, musste dort jedoch an einer Sphinx – einem Ungeheuer mit dem Kopf einer Frau, dem Körper eines Löwen, einem Flügelpaar und dem Schwanz einer Schlange – vorbei. Jeder, der passieren wollte, musste ein Rätsel lösen. Wem dies nicht gelang, den tötete die Sphinx und warf ihn in den Abgrund. Oidipus hörte, dass unlängst der König von Theben auf seinem Weg nach Delphi, um eine Lösung zur Beseitigung der Sphinx zu finden, getötet worden war. Nun wollte Oidipus unbedingt in die Stadt und stellte sich dem Rätsel der Sphinx. Er 46
konnte es lösen und die wutschnaubende, tobende Sphinx stürzte sich daraufhin selbst in den Abgrund. Oidipus wurde von den Bürgern begeistert empfangen und zum „tyrannos“ – dem vom Volk erwählten Herrscher – von Theben gewählt. Damit verbunden war der Brauch, dass der neue Herrscher die Witwe des vorigen heiraten musste. So kam es, dass Oidipus – ohne es zu wissen – Iokaste, seine eigene Mutter, zur Frau nahm. Im Archäologiemuseum nimmt die Darstellung einer Sphinx auf diesen Mythos Bezug.
Römisches Grabbaurelief mit Sphinx, Feldkirchen/Graz, Röm. Nr. 69, S. 93
Ikarus Ikarus, der Sohn des genialen Erfinders und Technikers Daedalus, ist heute noch eine Symbolfigur für die Risiken der Technik. Er steht aber auch für die Sehnsucht, die Grenzen des Möglichen zu sprengen. Im Mythos ist Ikarus ein tragischer Held, der in jugendlichem Übermut sein Leben aufs Spiel setzt und so seinen Vater Daedalus bitter bestraft. Daedalus war ein sterblicher Nachkomme des genialen Schmiedegottes Hephaistos. Er war Athener, sodass er von der Stadtgöttin Athene höchstpersönlich in die Schmiedekunst eingeweiht worden war. Daedalus war auch ein guter Lehrmeister, denn sein Lehrling Talos soll nach dem Anblick einer Schlange die Säge erfunden haben. Darüber wurde Daedalus aber so eifersüchtig, dass er Talos vom Dach warf. Um seiner Verurteilung zu entgehen, floh er nach Kreta und baute das berühmte Labyrinth, aus dem niemand entkommen sollte – auch nicht der Minotaurus, ein Wesen, das je zur Hälfte Mensch und Stier war. Minotaurus war das Ergebnis einer Liebschaft zwischen Pasiphae, der Frau von König Minos, mit dem Meeresgott Poseidon.
Um das Geheimnis des Fluchtweges aus dem Labyrinth zu wahren, setzte Minos Daedalus und seinen Sohn Ikarus unter Hausarrest. Beide wollten jedoch fliehen. Da nur noch der Luftweg frei war, entwarf Daedalus kunstvolle Flügel, deren Federn mit Wachs an ein Gestell geklebt waren. Er schärfte Ikarus ein, nicht allzu hoch zu fliegen, da das Wachs sonst in der Hitze der Sonne schmelzen könnte. Beiden gelang die Flucht, doch Ikarus wurde übermütig und flog zu hoch – das Wachs schmolz und Ikarus stürzte ins Meer.
Römische Statuette, Daedalus und Ikarus, Seggauberg/ Leibnitz (Südseiermark), Röm. Nr. 87, S. 108
Ikarus-Statuetten im Archäologiemuseum
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Abbildungen Abb. 01–06: Silvia Renhart, Universalmuseum Joanneum Abb. 07–51: Nicolas Lackner, Universalmuseum Joanneum Anmerkungen zu den Abbildungen Abbildungen und Bildunterschriften nehmen stets Bezug auf die aktuellen Ausstellungskataloge mit den wissenschaftlichen Beschreibungen der Fundstücke: „Röm. Nr. 38, S. 63“ = Römersteinsammlung, Objekt Nr. 38, Seite 63 aus: Hudeczek, Erich, Die Römersteinsammlung des Landesmuseums Joanneum. Ein Führer durch das Lapidarium. Graz 2004. „Kat. 4, S. 25“ = Katalog „Lebensspuren …“, Objekt Nr. 4, Seite 25 aus: Peitler, Karl; Mele, Marko; Porod, B arbara & Modl, Daniel, Lebens spuren. Die bedeutendsten Objekte der Archäologischen Sammlungen und des Münz kabinetts. Schild von Steier 24/2011. Graz 2011. Anmerkungen zum Text Der Inhalt dieses Booklets widerspiegelt die Sichtweise der Autorin.
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