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Landschaft vom Gebrauch her denken
GEBRAUCHSLANDSCHAFTSKARTE Eine praxisorientierte Publikationsreihe der Professur für Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein
Ein Resultat des Forschungsprojektes «Neuland», 2018–2021
Anne Brandl Johannes Herburger Luis Hilti Clarissa Rhomberg
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Gebrauchslandschaftskarte
INHALT
S. 4
S. 21
Neuland
Kartieren
Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins
Auswahl und Verortung von Zitaten
S. 8
Gebrauchslandschaftskarte Eine qualitative Ergänzung in Planungsprozessen S. 11
S. 24
Illustrieren Exemplarisches Nachzeichnen des Gebrauchs von Landschaft S. 26
Publizieren
Narrative
Eine Diskussion über den Gebrauch von Landschaft und Raumplanung anstossen
Die Erforschung des Gebrauchs der urbanen Landschaft
S. 30
S. 14
Interviewen
Wissenschaftliche Einbettung
Lebensl inien in die Landschaft zeichnen
Der Forschungsprozess, der zur Gebrauchslandschaftskarte geführt hat
S. 17
S. 34
Codieren
Literaturverzeichnis
Aussagen nach Gebrauchsweise sortieren
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NEULAND
Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins Die planungspolitischen Bestrebungen im deutschsprachigen Raum zielen seit einiger Zeit auf eine Siedlungsentwicklung nach innen ab. Dabei ist eine optimale und intensive Nutzung des bestehenden Siedlungsgebietes durch Anbauten, Aufstockungen, Ersatzneubauten oder Baulückenschliessungen das Ziel. Die sich mit der Umsetzung dieses Paradigmas vollziehende bauliche Verdichtung führt zu einer Verknappung von Freiräumen sowie zu veränderten Qualitätsvorstellungen und Nutzungsansprüchen an die nicht-bebauten Räume. Landschaftsqualitäten stehen zunehmend im Spannungsfeld zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung, zwischen Innenreserven, Ausnützungs- und Grünziffer, Effizienz- und Kostenorientierung einerseits und Aspekten wie Atmosphärischem, Wohlbefinden, Lebensqualität, Identifikation und sozialer Interaktion andererseits. Genau hier setzt das Forschungsprojekt «Neuland: Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins» am Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein an. Es geht um einen doppelten Perspektivenwechsel. Einerseits fordern wir: Alles ist Landschaft! Auch der bebaute, verdichtete und von Netzwerkbeziehungen zwischen Siedlungskernen geprägte Raum ist Landschaft. Innerhalb dieser urbanen Landschaft gilt es, den banalen und (un)gestalteten Situationen die entsprechende planerische Aufmerksamkeit und ästhetische Fürsorge zukommen zu lassen. Denn im Zuge
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Abbildung 1: Ausschnitt aus der Gebrauchslandschaftskarte Vaduz.
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der Umsetzung einer Siedlungsentwicklung nach innen stehen diese alltäglichen Landschaftsqualitäten besonders unter Druck. Deshalb bedeutet der erste Perspektivwechsel, das Leitbild der Siedlungsentwicklung nach innen hin zu einem Leitbild der landschaftsorientierten Siedlungsentwicklung nach innen weiterzuentwickeln. Andererseits gilt es, das Erfahrungswissen der Bewohnerinnen und Nutzer urbaner Landschaften anzuerkennen und in Planungsprozesse zu integrieren. Die Alltagsexperten und -expertinnen, die in einem Quartier, Dorf oder einer Agglomeration wohnen und arbeiten und mit ihrem Gebrauch der gebauten Umwelt einen Schatz an impliziten Wissen besitzen, sind zum Ausgangspunkt der Frage zu machen, welche Landschaftsqualitäten wir im Zuge einer Siedlungsentwicklung nach innen bewahren, neu schaffen oder weiterentwickeln wollen. Der doppelte Perspektivwechsel besteht also darin, die Siedlungsentwicklung nach innen von der Landschaft aus voranzutreiben sowie Landschaft vom Gebrauch her zu denken. Die Ergebnisse des Projektes «Neuland» lassen sich in einen programmatischen Text sowie zwei Texte zu partizipativen Planungsinstrumenten sortieren. Der Text «Alles ist Landschaft» fundiert den doppelten Perspektivwechsel einer landschafts- und gebrauchsorientierten Siedlungsentwicklung nach innen konzeptionell und legt anhand von vier Praxisbeispielen im deutschsprachigen Raum dar, wie dieser Perspektivwechsel bereits auf informeller und formeller Ebene, auf Massstab des Quartiers und der Region gelingt. Das «Urban Landscape Living Lab» beschreibt ein partizipatives Instrument, mit dem der doppelte Perspektivwechsel in der Planungspraxis initiiert werden kann. Das Ziel eines Urban Landscape Living Labs ist es, mittels einer kuratierten, städtebaulichen Intervention neue Perspektiven auf den öffentlichen Raum zu generieren sowie neue Sichtweisen auf unterschätzte und unbekannte Alltagspraktiken und planungspolitische Routinen zu eröffnen. Dadurch wird eine Schnittstelle zwischen institutioneller Raumplanung und alltäglichem Raumgebrauch geschaffen. Die «Gebrauchslandschaftskarte», die Gegenstand des vorliegenden Booklets ist, stellt ebenfalls ein Instrument für eine landschafts- und gebrauchsorientierte Siedlungsentwicklung nach innen dar. Mit Hilfe von sieben Gebrauchsweisen wird aufgezeigt, welche narrativen Qualitäten der urbanen Landschaft inhärent sind. Mit der Gebrauchslandschaftskarte bekommen
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Planer und Politikerinnen ein Instrument für einen konstruktiven Dialog mit der Bevölkerung an die Hand. Indem der Gebrauch von Landschaft sicht- und damit diskutierbar gemacht wird, kann das vielfältige Erfahrungswissen der Alltagsexpertinnen und -experten für die Raumentwicklung genutzt werden. Wir bedanken uns recht herzlich bei den Personen, die uns für Interviews zur Verfügung gestanden sind und ohne die das Erstellen der ersten Gebrauchslandschaftskarte nicht möglich gewesen wäre. Das Forschungsprojekt «Neuland: Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins» ist vom Liechtensteinischen Forschungsförderungsfonds, durch das Amt für Bau und Infrastruktur und das Amt für Umwelt ermöglicht worden. Für die vielen anregenden und konstruktiven Diskussionen möchten wir uns vor allem bei Stephan Banzer, Hanspeter Eberle und Romano Kunz bedanken. Das Projektteam: Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti, Martin Mackowitz und Clarissa Rhomberg
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GEBRAUCHSLANDSCHAFTSKARTE Eine qualitative Ergänzung in Planungsprozessen Die Gebrauchslandschaftskarte hilft Planern und Politikerinnen in einen konstruktiven Dialog mit der Bevölkerung zu treten und deren vielfältiges Erfahrungswissen für Raumentwicklung nutzbar zu machen. Die Gebrauchslandschaftskarte ergänzt traditionelle Planungsinstrumente und flankiert Raumentwicklungsprozesse, indem sie den alltäglichen Gebrauch von Landschaft sicht- und diskutierbar macht. In eine Landschaft sind viele Gebrauchsweisen verwoben, die nie von offiziellen Stellen geplant wurden. Sei es eine Parkgarage, die als Treffpunkt von Jugendlichen fungiert, eine Strasse, auf der Fussball gespielt, ein Quartier, welches gemieden wird oder eine Sitzbank, von der aus sich der Sonnenuntergang besonders gut sehen lässt. Dieser Landschaftsgebrauch (und oft auch aktive Nicht-Gebrauch) entspricht einer momentanen Verbindung von Menschen zu ihrem Lebensraum. Er ist subjektiv, oft widersprüchlich und einem steten Wandel unterworfen. Dennoch kann der Gebrauch einer Landschaft Aufschluss darüber geben, ob und wie Raumplanung gestaltend in diese eingreifen kann. Da es in der Raumplanung letztendlich darum geht, die Raum- und Lebensqualität von Landschaft zu erhöhen, macht es Sinn, die Menschen die in einer Landschaft leben in den Prozess einzubeziehen. Die Gebrauchslandschaftskarte ist aber kein klassisches ‹partizipatives› Instrument, das beim Abfragen von Bedürfnissen ansetzt. Vielmehr werden die Bezüge und die viel-
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schichtigen Raumnutzungen aus der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die vorgestellten Zukünfte kartiert und reflektiert. Die Gebrauchslandschaftskarte erlaubt es, den alltäglichen Gebrauch von Landschaft in Planungsprozesse einzubeziehen, indem sie ihn sichtbar macht. Die Gebrauchslandschaftskarte kann als neu aufgespanntes Feld zwischen Bevölkerung und Planerinnen gesehen werden. Sie zeigt exemplarisch Bedürfnisse, Meinungen und Probleme auf, ist aber keine Handlungsanweisung für planerische Eingriffe. Sie systematisiert die widersprüchliche Vielfalt des Landschaftsgebrauchs, ohne aber zu quantifizieren. Sie ist Nährboden für Diskussionen, aber kein schlagendes Argument für oder gegen konkrete Projekte. Eine Gebrauchslandschaftskarte aktiviert das Nachdenken und Sprechen über die eigene Landschaft als kollektiven Raum und legt damit einen Grundstein für eine Raumentwicklung in einem demokratischen Kontext. Die Gebrauchslandschaftskarte ist also weniger dafür geeignet für ein bestimmtes
Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Zonenplan Vaduz
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Planungsvorhaben zu werben. Vielmehr kann damit ein Landschaftsbild aus Bevölkerungsperspektive gezeichnet werden, mit welchem sich die Sinnhaftigkeit und Akzeptanz von planerischen Eingriffen bewerten und diskutieren lassen. Eine Gebrauchslandschaftskarte kann und soll jederzeit gezeichnet werden, unabhängig von konkreten Vorhaben oder Abstimmungen. Sie ist ein Instrument dafür, Raumentwicklung zum Teil des öffentlichen Diskurses und Selbstverständnisses zu machen. Im Folgenden werden fünf Schritte zur Erarbeitung einer Gebrauchslandschaftskarte beschrieben. Als Beispiel dient die im Rahmen des Forschungsprojektes «Neuland» erstellte ‹Gebrauchslandschaftskarte Vaduz›.
Abbildung 3: Gebrauchslandschaftskarte Vaduz.
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NARRATIVE
Die Erforschung des Gebrauchs der urbanen Landschaft Planung kann nicht mehr nur über Expertenwissen erfolgen. Eine landschaftsorientierte Siedlungsentwicklung kann nur gelingen, wenn man das Erfahrungswissen der Menschen in die Planungsprozesse integriert. Menschen gebrauchen «ihre» Landschaft jeden Tag, können Geschichten erzählen und visionieren. Landschaft vom Gebrauch her denken Der Begriff Gebrauch beschreibt den alltäglichen Umgang mit unserer Umwelt und die Beiläufigkeit, mit der diese im Tun wahrgenommen und erfahren wird. Er verweist auf die intuitive, alltagspraktische Abstimmung zwischen zielgerichteten, zweckorientierten Handlungen oder Nutzungen und dem (un)gestalteten Kontext. Erfahrungswissen meint das Kennen und Verstehen dieser Umwelt durch Reflexion von Wahrgenommenem und Erlebtem (Vgl. Hahn, 2017). Dieses Erfahrungswissen, das sich aus dem praktischen Umgang mit Situationen des Alltags schöpft, geht in einem herkömmlichen Zonenplan und anderen Planungsdokumenten unter. Mit der Gebrauchslandschaftskarte kann dieses implizite Wissen gehoben und als Grundlage für die Raumplanung wie auch für die Kommunikation zwischen Fachexpertinnen (Raumplanern) und Alltagsexperten (Bewohnerinnen) genutzt werden.
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Den Gebrauch über Narrative erforschen Gebrauch und Erfahrungswissen können über Geschichten, Emotionen und Erinnerungen, über sogenannte Narrative, aufgezeichnet und in der Gebrauchslandschaftskarte dargestellt werden. Ein Narrativ ist die Erzählung eines Ereignisses durch eine Erzählerin, welches an mindestens einen Zuhörer gerichtet ist. Die Grundlage für das Narrativ bildet die Geschichte: eine zusammenhängende Sequenz von Ereignissen, die von Akteuren in einem zeitlichen und räumlichen Setting «erlebt» werden (Ameel, 2017, S. 312; van Hulst, 2012, S. 300). Im Unterschied zur Geschichte ist das Narrativ aber individuell von der Erzählweise, vom Erleben und von den Gefühlen des Erzählers abhängig. Narrative für die Planung nutzbar machen Die Gebrauchslandschaftskarte visualisiert jedoch nicht nur individuelle Narrative, sondern allgemeiner das Gedächtnis der Bevölkerung über einen Ort. Für externe Planer eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, die in den Raum eingeschriebenen Geschichten kennen zu lernen. Insgesamt gibt es drei unterschiedliche Formen Narrative für die Raumplanung nutzbar zu machen.¹ • «Narratives for planning» bilden Grundlage und Inhalt der Gebrauchslandschaftskarte. Es sind die Narrative über einen Ort, mit denen die Befragten ihren Gebrauch von Landschaft artikulieren und ihr Erfahrungswissen preisgeben. Dabei ist eine große Bandbreite von Erzählenden essenziell, um die Vielschichtigkeit des Gebrauchs der Landschaft einigermaßen einfangen zu können. Durch eine entsprechend hohe Zahl an befragten Menschen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und Altersgruppen lässt sich auch zwischen individuellen und kollektivem, historischem und aktuellem Gebrauch von Landschaft differenzieren. • «Narratives in planning» entstammen der Feder von Planerinnen in öffentlichen Verwaltungen oder extern beauftragten Büros. Dabei handelt es sich um etwa Pläne, Konzepte, Strategien oder auch Werbemittel für Planungsprojekte. Diese Form des Narrativs bezieht sich letzten Endes auf das Format der Gebrauchslandschaftskarte selbst, die ja auch im Zuge eines Planungsprozesses entsteht und von Planern zusammengestellt wird. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Gebrauchslandschaftskarte nicht auf abstrakte Kategorien wie Zonierungen oder bauliche Masszahlen reduziert, sondern das Erfahrungswissen der Menschen («Narratives for planning») so unverfälscht wie möglich wiedergeben soll. 1
dazu ausführlich Ameel, 2017
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• «Narratives of planning» entstehen während des Planungsprozesses über den Prozess selbst und unabhängig von den Planerinnen. Diese Narrative sind äusserst wichtig, da sie die Stimmung in der Bevölkerung über den Planungsprozess abbilden und daher auch nach dem Prozessende weiterwirken. Im extremsten Fall können die «Narratives of planning» stark von den «Narratives in planning» abweichen, nämlich dann, wenn beispielsweise falsche Erwartungen bei den Bewohnern des Planungsgebiets geweckt wurden oder gar der Eindruck der Scheinpartizipation entstanden ist. Die Gebrauchslandschaftskarte kann also einen wichtigen Abgleich für aus dem Planungsprozess entstehende Konzepte, Strategien oder Pläne darstellen.
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INTERVIEWEN
Lebenslinien in die Landschaft zeichnen
Abbildung 4: Luftbild Vaduz, 1970, mit Beschriftungen eines Interviewten (Ausschnitt) Quelle Luftbild: Stiftung Luftbild Schweiz
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Kartenbasierte Interviews erlauben den Befragten, sich ihres eigenen Gebrauchs von Landschaft bewusst zu werden, ihn zu verorten und auszuformulieren. Aus mehreren individuellen, oft Jahrzehnte umspannenden Narrativen, entsteht ein Bild der Gebrauchslandschaft. Als erstes wird eine möglichst diverse Gruppe an Menschen mit einem Bezug zum untersuchten Raum definiert. Dabei sollte das Alters-, Berufs- und Herkunftsspektrum möglichst breit sein, um einen grossen Querschnitt an Raumnutzern befragen zu können. Die Gespräche dauern ca. eine Stunde und basieren auf zwei Luftbildern des untersuchten Raumes aus unterschiedlichen Zeiten. Das erste Luftbild stammt aus dem Jahrzehnt der Geburt der jeweiligen Befragten, das zweite stammt aus der Gegenwart. Ziel ist es, sich dem gegenwärtigen Landschaftsgebrauch langsam und über Kindheits- und Jugenderinnerungen zu nähern. Mittels eines Leitfadens werden die Personen nach relevanten Orten in ihrem bisherigen Leben befragt und gebeten, diese in das Luftbild einzuzeichnen. Dies dient einerseits der thematischen und räumlichen Orientierung und andererseits als Einstieg ins freie Erzählen. Die Luftbilder unterstützen die Erinnerungen und führen auch zur Diskussion über wenig genutzte Orte.² Die Fragen werden entweder nach bestimmten Räumen («hat der Wald eine Rolle gespielt in Ihrer Kindheit?»), Orten («sind Sie oft in das Café gegangen») oder Aktivitäten («Wo gehen Sie heute einkaufen?») gestellt. Das Interview wird mit der Frage geschlossen, was einem fehlt oder was man sich für den untersuchten Raum noch wünschen würde. Die Alltagsexperten sollen ihre Visionen einer wünschenswerten räumlichen Entwicklung beschreiben. Ziel der einzelnen Interviews ist es, zu möglichst vielen Gebrauchsweisen verortbare Aussagen zu erhalten.
Innerhalb des Forschungsprozesses ist die Unterscheidung zwischen Räumen und Orten aus wahrnehmungsorientierter Sicht erfolgt. Raum lässt sich nur in der Bewegung wahrnehmen. «Ein Ort ist etwas konkret Begrenztes […]. Ein Ort ist der Teil des Raumes, der konkret und unmittelbar erfahren werden kann, während Raum erst entsteht, wenn sich der Wahrnehmende von einem Ort zum nächsten bewegt bzw. mit und in dem Ort etwas macht, das heisst, Raum ist eine Syntheseleistung, die sich in der Zeit und der Bewegung vollzieht. Raum wird durch Orte strukturiert, wobei niemals zwei Orte gleichzeitig an einer (mathematisch bestimmbaren) Stelle sein können. Aber indem verschiedene Menschen einen Ort gleichzeitig nutzen, können unterschiedlich, sich überlagernde Räume entstehen.» Brandl (2013, S. 41) 2
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Abbildung 5: Luftbild Vaduz, 2018, mit Beschriftungen einer Interviewten (Ausschnitt) Quelle Luftbild: Geodaten.li
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CODIEREN
Aussagen nach Gebrauchsweise sortieren Die Aussagen werden in einem nächsten Schritt jeweils einem Ort, einem Raum, einer Zeit und einer Gebrauchsweise zugeordnet. Die Interviews müssen transkribiert und codiert werden, um die einzelnen Gespräche in ein Gesamtbild collagieren zu können. Dies kann mit spezialisierter Software (z.B. MaxQDA), einem Tabellenkalkulationsprogramm wie Excel oder händisch auf einer Pinnwand bewerkstelligt werden. Jede Aussage wird der am besten passenden Gebrauchsweise zugeordnet. Im Folgenden sind die sieben von uns definierten Gebrauchsweisen kurz zusammengefasst. Überlassen: Orte zu überlassen bedeutet auf deren Gebrauch temporär oder dauerhaft zu verzichten. Durch bauliche oder funktionale Änderungen, Zugangsbeschränkungen oder Wechsel der Nutzergruppen fällt der Ort aus dem individuellen oder kollektiven Gebrauch heraus. Überlassen impliziert eine Distanzierung zwischen den Menschen und dem von ihnen bisher gebrauchten Ort, die oftmals mit einer Verlusterfahrung oder Entfremdung einhergeht. Durch das Fehlen eines positiv emotionalen oder rationalen Bezugs zu einem Ort wird dieser nicht mehr aufgesucht. Es geht um die Abwesenheit von individueller oder kollektiver Aufmerksamkeit. Überlassene Orte werden zu einem blinden Fleck in der Gebrauchslandschaftskarte eines oder mehrerer Menschen.
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Ausklinken: Ausklinken erlaubt es uns Menschen, für eine bestimmte Zeit die Routinen des Alltags zu verlassen und eine physische und emotionale Distanz zu den Geschehnissen unserer Umwelt und Gesellschaft aufzubauen. Ausklinken bedeutet, zum Beobachter werden zu können, sich zurückzuziehen und zur Ruhe zu kommen, indem man über die eigene Zeit selbstbestimmt verfügen kann. Menschen klinken sich gerne an Orten aus, die überschaubar sind und das Gefühl des Hierseins, der Selbstbezogenheit ermöglichen. Konsumieren: Konsumieren meint das Verfügbarmachen eines Ortes oder von verbrauchbaren Dingen und Dienstleistungen an einem Ort für einen bestimmten Zweck. Konsumiert wird an Orten mit hoher Zentralität, Erreichbarkeit und Frequenz, die oftmals durch ein konsumförderndes Programm bespielt werden. Das Konsumieren ist dabei eine ökonomisch-rationale Umgangsweise, die keine dauerhafte Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt herstellt. Es werden Erlebnisse erzeugt, die als besondere Wahrnehmungs- und Handlungssituationen flüchtig bleiben. Dazugehören: Dazugehören meint eine emotionale Verbundenheit mit einem Ort und eine Vertrautheit durch wiederkehrende Handlungsgewohnheiten und Erinnerungen. Orientierung und Wohlbefinden sind Voraussetzung für ein Gefühl des Dazugehörens. Dazugehören hat auch eine sozialräumliche Komponente. Die Teilhabe an gemeinschaftlichen Aktivitäten und das Eingebunden-Sein in soziale Interaktionen kennzeichnen das Dazugehören. Menschen fühlen sich dazugehörig, wenn sie das Gefühl haben als Individuum, Teil eines grösseren Ganzen zu sein. Erobern: Das Erobern von Orten erfolgt subversiv und nicht immer gesetzeskonform, indem Orte temporär anders genutzt werden als dies ihre ursprünglich angedachte Gestaltung und Funktionsweise vorgibt. Erobern geht damit über das Aneignen – die aktive Beanspruchung eines Ortes durch spezifische Nutzergruppen – hinaus, indem die Grenzen der Nutzungsmöglichkeiten neu ausgelotet werden. Der Ort wird über das Erobern in Besitz genommen. Das spontane und situative Erobern von Orten passiert oftmals in kleinen Gruppen und stärkt dadurch den sozialen Zusammenhalt. Mitgestalten: Mitgestalten meint die Möglichkeit der selbstbestimmten Veränderung eines Ortes durch Individuen oder Gruppen. Dabei wird die objektive Umwelt in eine subjektiv persönliche, bedeutsame umgewandelt. Mitge-
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stalten ist ein sozialer Prozess, bei dem durch intrinsische Motivation Ideen gemeinsam in die Tat umgesetzt werden. Das Mitgestalten von Orten ermöglicht das unmittelbare Erleben von Selbstwirksamkeit und schafft damit die Grundlagen für Resonanz (Hartmut Rosa) innerhalb der Mensch-Umwelt-Beziehung. Imaginieren: Imaginieren meint das geistige Vermögen von Individuen oder Gruppen sich entweder Orte anders vorzustellen als sie derzeit sind oder auf Orte zu hoffen, die es noch nicht gibt. Das gemeinschaftliche Imaginieren von Orten kann eine wichtige Produktivkraft raumplanerischer, gestalterischer und gesellschaftlicher Veränderungen sein. Im Prozess des Imaginierens stellen wir unsere gestaltete Umwelt einer erstrebenswerten zukünftigen Entwicklung gegenüber. Durch die Einbindung dieser Imaginationen können kollektive Verständnisse für den zukünftigen Gebrauch der Landschaft entwickelt werden. Denn auch das Erdenken des Noch-nicht Vorhandenen kann eine wirklichkeitsmächtige Wirkung entfalten. Aussagen, die in die Kategorie Konzeptlandschaft3 passen, beschreiben keine Gebrauchsweise, sondern allgemeine Informationen über verschiedene Orte und ihr Entstehen, die dem Leser der Karte einen historischen Kontext für die anderen Aussagen geben.
Die Konzeptlandschaft beinhaltet die planerische und entwurfsorientierte Perspektive, während die Gebrauchslandschaft unsere Wahrnehmung und unser alltäglicher Gebrauch von Räumen und Raumelementen in den Mittelpunkt gerückt wird. 3
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Zitat
Ort
Zeit
Proband
Gebrauchsweise
«Das war auch ein Treffpunkt als Teenie, wo man Iragell einfach in Ruhe gelassen wurde.»
Früher
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ausklinken
«Wir sind in den Wald und haben «Niala» Wald (Waldreben) geraaucht, wir haben verschiedenste Dinge gemacht. Der Wald war einfach überall präsent.»
Früher
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erobern
«Irgendwie mochte ich den Weg nach Schaan nicht. Durch den Wald, das fühlt sich so leer an.»
Früher
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überlassen
«Ich bin dann immer zur Grossmutter runter und Vaduz Süd Früher hab dort frische Milch geholt.»
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konsumieren
«Der Platz neben dem Rathaus, der müsste weg. RathausDa würde ich einen richtig schönen Park hin platz machen, wo man auch auf der Wiese liegen darf. Ich hab schon gesehen, dass die Asiaten hier Qui-Gong machen auf dem Platz. Das hat dem Ganzen eine Ruhe gegeben. Schön wäre einfach mal etwas Ungeplantes, wo man was machen darf.»
Heute
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imaginieren
«Das Gustav ist ein kleiner Raum für Alltagskultur. Wir haben da einfach zu viert einen Verein gegründet. Eigentlich aus Lust, Zeit und Interesse, nicht weil wir unbedingt etwas kompensieren wollten. Wir wollten einfach mal gemeinsam etwas machen, was der Stadt einen anderen Charakter bringt neben den ganzen Banken, Treuhändern usw., die die Stadt ein bisschen einnehmen.»
Heute
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mitgestalten
«Mein Freund hat mir vorgeschlagen einfach zur CoopTankstelle zu gehen, wenn ich alleine bin. Man Tankstelle sieht einfach mehr Leute.»
Heute
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dazugehören
«Vaduz, Schaan und Planken haben ja mal Rüfe zusammen gehört bis ein Schaaner Landamann anno 1798 auf der Rüfe erzielt hat, dass sich Vaduz und Schaan trennen. Deswegen haben die Vadozner auch noch Böden in Schaan und umgekehrt auch.»
Früher
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Konzeptlandschaft
Rüfe
Gustav
Tabelle 1: Beispiele von Gebrauchsweisen und eine Aussage zur Konzeptlandschaft
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KARTIEREN
Auswahl und Verortung von Zitaten
Eine ausgewogene Auswahl von prägnanten Zitaten wird nun wieder räumlich angeordnet. Die Farbkodierung wird übernommen, so entsteht eine textbasierte Karte des untersuchten Raumes Codiert man alle Aussagen aus allen Interviews, ergibt sich eine grosse Fülle von Text, die nicht annähernd auf eine Karte im handelsüblichen Format passen würde. Auch unterscheiden sich die Aussagen in ihrer Qualität und Aussagekraft erfahrungsgemäss stark. Man muss sich auch hier vom Anspruch auf Vollständigkeit lösen und Entscheidungen treffen, welche Zitate auf die Karte kommen und repräsentativ für alle nicht-benutzten Aussagen stehen. Das Ziel der Karte ist nicht die möglichst genaue Wiedergabe der Interviews, sondern das Schaffen eines Überblicks über den komplexen, widersprüchlichen und vielfältigen Gebrauch einer Landschaft. In einem ersten Lesedurchgang werden alle in den Augen der Forscherinnen aussagekräftigen Aussagen markiert und auf der Karte angeordnet. Als nächstes werden Zitate hinzugefügt oder weggenommen, bis der verbleibende Text gut auf die Karte passt, die räumliche Verteilung einigermassen gleichmässig ist, und nach Möglichkeit alle Gebrauchsweisen vertreten sind. Die nun resultierende Auswahl sollte dem Gesamteindruck der Interviews in etwa entsprechen.
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Das Anordnen der Zitate kann wiederum in Grafikprogrammen oder händisch geschehen. Wichtig ist es, dass man bei der Farbcodierung bleibt. Wichtige oder oft erwähnte Orte werden ausserhalb der Zitate angeordnet. Die Karte ist nicht proportional und wird durch das häufige Erwähnen von Orten verzerrt. Die räumlich angeordneten Zitate bilden die Rückseite der Gebrauchslandschaftskarte. Die Vorderseite mit den Illustrationen basiert auf den hier ausgewählten Zitaten, weshalb jedem eine Nummer zugewiesen wird.
Abbildung 6: Räumliche Anordnung der codierten Aussagen (Ausschnitt)
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ILLUSTRIEREN
Exemplarisches Nachzeichnen des Gebrauchs von Landschaft Die einzelnen Aussagen werden illustriert. Dabei geht es nicht um eine historische Abbildung, sondern um eine möglichst stimmungsvolle Darstellung des beschriebenen Gebrauchs der Landschaft. Der Gebrauchslandschaftskarte liegt eine andere Logik inne als beispielsweise einem Zonenplan oder einer Wanderkarte. Sie ist in ihrer Aussage unscharf und transportiert eher Stimmungsbilder als präzise parzellenscharfe und punktgenaue Aussagen. Während man bei einem Zonenplan jedem Grundstück eines Dorfes genau eine Zone zuweist, die Zuordnung eindeutig und objektiv ist, bleibt die Gebrauchslandschaftskarte perspektivisch, vieldeutig und subjektiv. Dies wird auch in der grafischen Darstellung offengelegt. Anstatt einer technischen Zeichnung präsentiert sich die Gebrauchslandschaftskarte als Illustration einer atmosphärischen Situation. Im Falle der Gebauchslandschaftskarte Vaduz wurde eine Illustratorin angestellt, welche bei den Interviews nicht dabei war, aber aus derselben Gegend stammt. Ihr wurden einerseits die Zitate, andererseits Fotos von erwähnten Gebäuden und Orten zur Verfügung gestellt. Sie illustrierte einzelne Zitate und ordnete sie dann ebenfalls räumlich an. Jeder Illustration ist eine Nummer beigestellt, die auf das entsprechende Zitat auf der Rückseite verweist.
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Das Konzept der Gebrauchslandschaftskarte sieht keine Einheitlichkeit in der Grafik vor, das vorliegende Beispiel ist eine von vielen Möglichkeiten.
Abbildung 7: Beispielhafte Illustrationen von Gebrauchsweisen in Vaduz
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PUBLIZIEREN
Eine Diskussion über den Gebrauch von Landschaft und Raumplanung anstossen Die Gebrauchslandschaftskarte entfaltet ihre Wirkung dann, wenn sie Zustimmung, Widerspruch und Ergänzungen anregt, aufgehängt oder verschickt wird und zu einem Referenzpunkt in grundsätzlichen Entscheidungen in der Raumentwicklung geworden ist. Im Anbetracht der Ansprüche der Gebrauchslandschaftskarte – den alltäglichen Gebrauch der Landschaft sicht- und diskutierbar zu machen - mag es verwundern, dass sie keine klassischen Handlungsempfehlungen, Wertungen oder Schlussfolgerungen beinhaltet. Es handelt sich eben nicht um einen Plan oder eine artikulierte Vorstellung von der Art und Weise wie mit einem Stück Landschaft raumplanerisch umzugehen sei, sondern um eine Karte, welche subjektive Momentaufnahmen des Gebrauchs und das Erfahrungswissen zu intersubjektiven, narrativen Qualitäten von Landschaft verdichtet und damit viele Lesarten zulässt. Grundsätzlich hat die Gebrauchslandschaftskarte zwei Zielgruppen und zwei verschiedene Verwendungszwecke. Einerseits ist sie für Raumplaner und Politikerinnen auf Gemeindeebene gedacht und kann damit als zusätzliches Instrument in Planungsprozessen gesehen werden. Dabei geht es weniger um den Umgang mit dieser oder jener Strasse, einem Gebäude oder Quartier, sondern um ein orientierungsgebendes Gesamtbild:
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• Wie hat sich der Gebrauch der Landschaft über die Zeit verändert, was schätzen und was vermissen die Menschen in ihr? • Gibt es noch Freiraum, den Kinder und Erwachsene für sich erobern können? • In welchen Momenten sehen sich Menschen als Mitgestaltende? • Wo macht Zugehörigkeit dem Konsum Platz und was sind heute die Rückzugsorte der Menschen? Der Methode entsprechend kann hier keine quantitative Aussage herausgelesen und beispielsweise die Fläche der Rückzugsmöglichkeiten in Prozent angegeben werden. Man muss die Karte als Gesamtschau verstehen, die Zitate und Illustrationen als Anknüpfungspunkte und mögliche Referenz für Fragen wie: Was wollen wir für eine Landschaft? Wie kommen wir dahin? Welche Rolle spielt die Raumplanung dabei? Und welche Trends und Wünsche lassen sich durch Planung (nicht) beeinflussen? Die Gebrauchslandschaftskarte basiert nicht auf einer planerischen Sicht der
Abbildung 8: Die Quellen der Gebrauchslandschaftskarte befinden sich als Zitate auf der Rückseite.
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Dinge, sondern einer alltäglichen. Und genau deshalb sollte sie in den Planungsprozessen eine Rolle spielen: Sie erlaubt es, die Lebenswirklichkeit neben der Planungswirklichkeit auf dem Tisch auszurollen, auf das die zwei – die Konzeptlandschaft und Gebrauchslandschaft – in eine konstruktive Wechselwirkung treten können. Die zweite Zielgruppe sind die Menschen einer jeweiligen Landschaft, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Einwohner, Pendlerinnen und Touristen. Für sie dient die Gebrauchslandschaftskarte als (vielleicht verzerrtes) Spiegelbild ihres Lebensraumes. Eine Karte, die nicht die Landschaft kartiert, sondern ihren emotionalen Bezug zur Landschaft, der über verschiedene Gebrauchsweisen hergestellt wird. Es ist also eine Karte einer kollektiven Identität, die in ständigem Fluss ist und durch jede neue Betrachtung und Diskussion über Landschaftsgebrauch verändert wird. In der folgenden Tabelle werden die Möglichkeiten und Begrenzungen der Gebrauchslandschaftskarte überblicksartig dargestellt.
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Gebrauchslandschaftskarte
Möglichkeiten
Begrenzungen
Bereichert Planungsprozess durch qualitative / intersub- Unverbindlich, informell jektive Perspektive
Abbildung der narrativen Qualitäten / des lokalen und Unsichtbarkeit im Raum kollektiven Gedächtnisses eines Ortes
Relativ «schlanke» Durchführung an Information und Teilhabe
Höherer Aufwand in Aufwertung und Reflexion
Kann für verschiedene Maßstabsebenen und Zeiträume Ist immer unvollständig genutzt werden
Stellt Landschaftsgeschichte aus Sicht der Nutzenden Auswahl der Interviewpartner nicht repräsentativ dar
Flankierendes Instrument zur Sensibilisierung von Raumentwicklungsprozessen
Tabelle 2: Möglichkeiten und Begrenzungen der Gebrauchslandschaftskarte
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WISSENSCHAFTLICHE EINBETTUNG Der Forschungsprozess, der zur Gebrauchslandschaftskarte geführt hat Zur Entwicklung der Gebrauchsweisen und der darauf basierenden Gebrauchslandschaftskarte haben wir im Rahmen des Forschungsprojekts «Neuland» einen iterativen Forschungsprozess der Datengewinnung, Datenanalyse und Interpretation bzw. Theorienentwicklung angewandt, bei dem wir uns der Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory bedienten. Der Ablauf ist in Abbildung 9 dargestellt. «Der Ansatz der Grounded Theory zeichnet sich durch seine Bemühungen aus, Forschung als kreatives Konstruieren von Theorien zu betreiben, die gleichzeitig fortlaufend an den Daten kontrolliert werden» (Flick, 2014, S. 440). Die Grounded Theory geht davon aus, dass Theorien praxisnah und ohne Vorannahmen aus den gesammelten Daten heraus entwickelt werden sollen, wenngleich es insbesondere bezüglich der Vorannahmen deutliche Differenzen innerhalb der Scientific Community gibt. Die von uns bevorzugte konstruktivistische Grounded Theory steht gegenüber anderen Ansätzen mit einem offenen aber kritisch-reflexiven Blick der Einbindung von externer Literatur gegenüber (Bading & Bosch, 2018) «Sie entspricht unserer Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit theoretischem Wissen nicht grundsätzlich im Widerspruch zu einem ergebnisoffenen, gegenüber den erhobenen Daten sensiblen Theoriegenerierungsprozess steht» (Bading & Bosch, 2018, S. 76) Bevor wir mit dem Sampling der Befragten begannen, hatten wir uns für das
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problemzentrierte Interview als Datenerhebungsmethode entschieden. Diese Form des Interviews kann als «Kompromiss» zwischen einem streng leitfadenorientierten und einem narrativen Interview angesehen werden (Flick, 2014). Diese Kombination aus Deduktion und Induktion entspricht den Grundannahmen der konstruktivistischen Grounded Theory. Der zu Beginn des Interviews genutzte Leitfaden dient einerseits der thematischen Orientierung und andererseits einem Einstieg ins Interview, der zu freien Erzählungen anregen soll (Flick, 2014). Eine weitere Unterstützung des Interviews erfolgte über das «sketch mapping». Über die Nutzung eines historischen und eines aktuellen Luftbildes von Vaduz konnten die Befragten ihre Geschichten räumlich mehr oder weniger genau direkt im Luftbild verorten. Wie sich anhand der Interviews zeigte, förderte diese Unterstützung bei fast allen Personen die Gesprächsbereitschaft und das Erinnerungsvermögen und hatte außerdem einen beruhigenden Effekt (Boschmann & Cubbon, 2014). Da die Entwicklung von Richtlinien für die Datenerhebung und die Entwicklung der Theorie über mehrere Runden hinweg parallel verlaufen (Flick, 2014), ist es wichtig den Einstieg ins Feld gut zu planen. Wir haben uns daher für ein initiales Sampling entschieden, das uns einen Zugang zum Feld über unser berufliches Umfeld ermöglicht. Die ersten beiden von uns interviewten
Abbildung 9: Ablauf des iterativen Forschungsprozesses, Johannes Herburger
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Personen verfügen neben ihrer Eignung als Alltagsexpertinnen über ein weiterführendes Netzwerk von diversen Akteuren in der Gemeinde Vaduz, welches uns für das weitere theoretische Sampling von Nutzen war. Dieses initiale Sampling kann daher als Ausgangspunkt für den iterativen Prozess aus Datenanalyse, Theorieentwicklung und erneuter Materialgewinnung angesehen werden. Nach dem gelungenen Einstieg ins Feld gingen wir in die Phase des theoretischen Samplings über, in dem über die bereits gewonnenen Theorien entschieden wird, welche Fälle in der folgenden Erhebungs- und Analyserunde von Bedeutung sind (Flick, 2014). Während wir zu Beginn noch einen Fokus auf Personen aus Vaduz legten, die den Ort seit ihrer Kindheit kennen, wurde der Kreis der Befragten mit zunehmender Sättigung um Personen erweitert, die nicht mehr in Vaduz wohnen bzw. erst seit kurzem in Vaduz wohnen. Die von den Befragten genannten Narrative über bestimmte Orte und Räume wurden jeweils sofort nach dem Interview in der Software QGIS digitalisiert, wobei wir uns an verschiedenen Vorgehensweisen der qualitativen Nutzung von GIS orientierten (Cope & Elwood, 2009). Die Interviews wurden teil-transkribiert, um wichtige Zitate und Erzählungen in einer Spatialite-Datenbank zu speichern. Diese Form der Datenspeicherung ermöglichte auch ein problemloses Verknüpfen von geographischen Orten und den von den Befragten geschilderten Narrativen (Garnett & Kanaroglou, 2016) sowie den daraus generierten Kodes. Über einen iterativen Analyseprozess der durch ein zwei- bis viermaliges Nachhören der Interviews und das Anlegen von Memos und Netzwerk-Karten (Kuckartz, 2016) gestützt wurde, erfolgte das Kodieren der Ergebnisse. Da das Kodieren essentiell für die Datenanalyse in der Grounded Theory ist, orientierten wir uns an von Bading und Bosch (2018) vorgeschlagenen Kodierpraktiken der konstruktivistischen Grounded Theory: Während beim initialen Kodieren eine erste Auseinandersetzung mit einzelnen Dateneinheiten (Sätze, Wörter etc.) und ein vergleichendes Zuweisen von ersten Kodes im Vordergrund steht, deutet sich beim fokussierten Kodieren eine Emergenz von analytisch wertvollen Codes an, die als Grundlage für eine erneute Analyse dienten. Nachdem wir 10 Personen mittels problemzentrierter Interviews befragt hatten, stellte sich die theoretische Sättigung ein, was die Verallgemeinerbarkeit unserer Theorie andeutete. Dies bedeutete wiederum auch den Einstieg in den Schritt des theoretischen Kodierens. Dabei wurden einerseits theoretische Sichtweisen aus der Literatur eingeholt (z.B. Karn und Peter 2015) sowie
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weitere Sichtweisen von außen durch die Diskussion und Rückkopplung der Ergebnisse in den Klausuren unserer Arbeitsgruppe. Um die ergebnisoffene, aber systematisch-analytische Auseinandersetzung mit den Daten (Bading & Bosch, 2018) zu erweitern, koppelten wir unsere Ergebnisse nochmals über eine erneute Befragung mittels eines Workshops mit fünf Jugendlichen im «Jugendcafe Camäleon» in Vaduz zurück. Das Ergebnis unseres Forschungsprozesses ist die Konzeptualisierung einer Gebrauchslandschaftskarte, die auf sieben Gebrauchsweisen/ beruht, die wir aus den Interviews basierend auf der Grounded Theory heraus entwickelten.
Alter Geschl.
Jahre in Wo, wenn nicht Vaduz Vorfahren aus Va- Interview Vaduz duz Nummer
30
w
22
Prag, 2005-2013
Vater und Mutter
1
42
w
11
Schaan, vor 1995 Zürich und Wien, 2006-2019
Vater
2
67
m
44
Mauren, 1997-2020
Vater
3
21
m
14
Ruggell, 2007-2014
Mutter
4
72
w
62
Chur, 1999-2006 Basel, 2010-2013
Vater und Mutter beide aus 5 Deutschland eingewandert
85
w
78
Schaan, 1954-1959 St.Gallen 1970-1972
Vater und Mutter
6
53
m
48
Basel, Buchs, 1989-1994
Vater und Mutter
7
25
m
2
Schellenberg aufgewachsen, keine Zürich, 2014-2017
8,
49
m
43
Zürich, 1991-1997
Vater
9,
35
w
4
St.Gallen, vor 2011 Basel, seit 2015
keine
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Tabelle 3: Kurzsteckbriefe von interviewten Personen. Aus Datenschutzgründen sind die Angaben fiktiv.
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Literaturverzeichnis
LITERATURVERZEICHNIS Ameel, L. (2017). Towards a narrative typology of urban planning narratives for, in and of planning in Jätkäsaari, Helsinki. URBAN DESIGN International, 22(4), 318–330. https://doi.org/10.1057/s41289016-0030-8 Bading, C. & Bosch, C. (2018). Denken und empirisch arbeiten mit der Grounded Theory. In J. Wintzer (Hg.), Sozialraum erforschen: Qualitative Methoden in der Geographie (S. 69–87). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-66256277-2_5 Boschmann, E. E. & Cubbon, E. (2014). Sketch Maps and Qualitative GIS: Using Cartographies of Individual Spatial Narratives in Geographic Research. The Professional Geographer, 66(2), 236–248. https://doi.org /10.1080/00330124.2013.781490 Brandl, A. (2013). Die sinnliche Wahrneh mung von Stadtraum: Städtebautheoretische Überlegungen (21434) [Dissertation]. ETH Zürich, Zürich. Cope, M. & Elwood, S. (Hg.). (2009). Qualitative GIS: A Mixed Methods Approach. SAGE. Flick, U. (Hg.). (2014). Handbuch qualitative Sozialforschung: Grundlagen,
Konzepte, Methoden und Anwendungen (3., neu ausgestattete Aufl., unveränd. Nachdr. der 2. Aufl. von 1995). Beltz. Garnett, R. & Kanaroglou, P. (2016). Qualita tive GIS: An Open Framework Using SpatiaLite and Open Source GIS. Transactions in GIS, 20(1), 144–159. Hahn, A. (2017). Architektur und Lebenspra xis: Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie. transcript Verlag. Kuckartz, U. (2016). Qualitative Inhaltsana lyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung (3. Aufl.). Grundlagentexte Methoden. Beltz Juventa. van Hulst, M. (2012). Storytelling, a model of and a model for planning. Planning Theory, 11(3), 299–318. https://doi. org/10.1177/1473095212440425
This work is licensed under the Creative Commons Namensnennung 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Brandl, Anne; Herburger, Johannes; Hilti, Luis; Rhomberg, Clarissa (2021): Gebrauchslandschaftskarte. Eine praxisorientierte Publikationsreihe der Professur für Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein. Vaduz (Landschaft vom Gebrauch her denken, 2). Wir verzichten in unseren Texten auf Binnen-I und Gendersternchen, fühlen uns aber trotzdem einer gendergerechten Sprache verpflichtet. Daher wechseln wir im Text immer zwischen der weiblichen und männlichen Form von personenbezogenen Nomen.
Impressum Herausgeberin Universität Liechtenstein Institut für Architektur und Raumentwicklung Fürst-Franz-Josef-Strasse 9490 Vaduz, Liechtenstein Verantwortlich für den Inhalt Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti, Clarissa Rhomberg Mitarbeit Forschungsprojekt Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti, Martin Mackowitz, Clarissa Rhomberg Konzeption & Gestaltung Michèle Steffen Grafik Est. Satz Luis Hilti Illustrationen Anna Hilti, sofern nicht anders angegeben Druck Wolf Druck Auflage 250 Stk.
Warum?
Was?
Alltäglicher Landschafts- Eine Karte der Landgebrauch wird oft verschaft aus der Perspektinachlässigt, weil er ve ihrer Nutzerinnen schwer festzuhalten ist. Wie?
Der Gebrauch von Landschaft wird erfragt, in Gebrauchweisen übersetzt und illustriert.
UNI.LI