FORSCHUNG
Landschaft vom Gebrauch her denken
ALLES IST LANDSCHAFT Eine praxisorientierte Publikationsreihe der Professur für Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein
Ein Resultat der Forschungsprojekte «Neuland», 2018–2021 und «Landschaft (neu) denken», 2019–2020
Anne Brandl Johannes Herburger Luis Hilti
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
INHALT
S. 5
Neuland
Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins
S. 8
1
Alles ist Landschaft!
1.1 Was ist Landschaft? 1.2 Landschaft unter Druck 1.3 Landschaftsorientierte Siedlungsentwicklung nach Innen 1.4 Landschaft vom Gebrauch her denken S. 22
2
Landschaft über Projekte ins Bewusstsein bringen
Die Beispiele «Regionale Köln Bonn 2010» und «Regionale 2025 – Projektschau Limmattal» 2.1 2.2 2.3 2.4
Projektbeschrieb Anlass und Ziele Prozess und Vorgehen Wirkung und Verankerung
3
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S. 29
3
Der Gebrauch von Landschaft im Mittelpunkt
Spiel- und Freiraumkonzepte, Vorarlberg 3.1 3.2 3.3 3.4
Projektbeschrieb Anlass und Ziele Prozess und Vorgehen Wirkung und Verankerung
S. 34
4 Planerischer Paradigmenwechsel durch Spazierengehen
Perspektivplan Freiburg 2030
4.1 4.2 4.3 4.4
Projektbeschrieb Anlass und Ziele Prozess und Vorgehen Wirkung und Verankerung
S. 39
5
Mit Metaphern der räumlichen Entwicklung eine Vision geben
Regionalplan Südregion Luxemburg 5.1 5.2 5.3 5.4
Projektbeschrieb Anlass und Ziele Prozess und Vorgehen Wirkung und Verankerung
S. 44
6 Conclusio S. 46
7 Literaturverzeichnis
4
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NEULAND
Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins Die planungspolitischen Bestrebungen im deutschsprachigen Raum zielen seit einiger Zeit auf eine Siedlungsentwicklung nach innen ab. Dabei ist eine optimale und intensive Nutzung des bestehenden Siedlungsgebietes durch Anbauten, Aufstockungen, Ersatzneubauten oder Baulückenschliessungen das Ziel. Die sich mit der Umsetzung dieses Paradigmas vollziehende bauliche Verdichtung führt zu einer Verknappung von Freiräumen sowie zu veränderten Qualitätsvorstellungen und Nutzungsansprüchen an die nicht-bebauten Räume. Landschaftsqualitäten stehen zunehmend im Spannungsfeld zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung, zwischen Innenreserven, Ausnützungs- und Grünziffer, Effizienz- und Kostenorientierung einerseits und Aspekten wie Atmosphärischem, Wohlbefinden, Lebensqualität, Identifikation und sozialer Interaktion andererseits. Genau hier setzen zwei Forschungsprojekte am Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein an: «Neuland: Expeditionen zu den Zwischenräumen Liechtensteins» sowie «Landschaft (neu) denken. Für einen wahrnehmungsorientierten Zugang». Es geht um einen doppelten Perspektivenwechsel: Einerseits fordern wir: Alles ist Landschaft! Auch der bebaute, verdichtete und von Netzwerkbeziehungen zwischen Siedlungskernen geprägte Raum ist Landschaft. Innerhalb dieser urbanen Landschaft gilt es, den banalen und (un)gestalteten Situationen die entsprechende planeri-
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sche Aufmerksamkeit und ästhetische Fürsorge zukommen zu lassen. Denn im Zuge der Umsetzung einer Siedlungsentwicklung nach innen stehen diese alltäglichen Landschaftsqualitäten besonders unter Druck. Deshalb bedeutet der erste Perspektivwechsel, das Leitbild der Siedlungsentwicklung nach innen hin zu einem Leitbild der landschaftsorientierten Siedlungsentwicklung nach innen weiterzuentwickeln. Andererseits gilt es, das Erfahrungswissen der Bewohnerinnen und Nutzer urbaner Landschaften anzuerkennen und in Planungsprozesse zu integrieren. Die Alltagsexperten, die in einem Quartier, Dorf oder einer Agglomeration wohnen und arbeiten und mit ihrem Gebrauch der gebauten Umwelt einen Schatz an impliziten Wissen besitzen, sind zum Ausgangspunkt der Frage zu machen, welche Landschaftsqualitäten wir im Zuge einer Siedlungsentwicklung nach innen bewahren, neu schaffen oder weiterentwickeln wollen. Der doppelte Perspektivwechsel besteht darin, die Siedlungsentwicklung nach innen von der Landschaft aus voranzutreiben sowie Landschaft vom Gebrauch her zu denken. Die Ergebnisse der beiden Forschungsprojekte lassen sich in einen theoretischen Text sowie zwei Texte zu partizipativen Planungsinstrumenten sortieren. Der Text «Alles ist Landschaft», der Gegenstand des vorliegenden Booklets ist, fundiert den doppelten Perspektivwechsel einer landschafts- und gebrauchsorientierten Siedlungsentwicklung nach innen konzeptionell und legt anhand von vier Praxisbeispielen im deutschsprachigen Raum dar, wie dieser Perspektivwechsel bereits auf informeller und formeller Ebene, auf Massstab des Quartiers und der Region gelingt. Das Booklet «Urban Landscape Living Lab» beschreibt ein partizipatives Instrument, mit dem der doppelte Perspektivwechsel in der Planungspraxis initiiert werden kann. Das Ziel eines Urban Landscape Living Labs ist es, mittels einer städtebaulichen Intervention neue Perspektiven auf den öffentlichen Raum zu generieren sowie neue Sichtweisen auf unterschätzte und unbekannte Alltagspraktiken und planungspolitische Routinen zu eröffnen und dadurch eine Schnittstelle zwischen institutioneller Raumplanung und alltäglichem Raumgebrauch zu schaffen. Das Booklet «Gebrauchslandschaftskarte» stellt ebenfalls ein Instrument für eine landschafts- und gebrauchsorientierte Siedlungsentwicklung nach innen dar. Mit Hilfe von sieben Gebrauchsweisen wird aufgezeigt, welche narrativen Qualitäten der urbanen Landschaft inhärent sind. Mit der Gebrauchsland-
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schaftskarte bekommen Planer und Politikerinnen ein Instrument für einen konstruktiven Dialog mit der Bevölkerung an die Hand. Indem der Gebrauch von Landschaft sicht- und damit diskutierbar gemacht wird, kann das vielfältige Erfahrungswissen der Alltagsexpertinnen für die Raumentwicklung genutzt werden. «Landschaft (neu) denken» und «Neuland» sind vom Liechtensteinischen Forschungsförderungsfonds, letzteres auch durch das Amt für Bau und Infrastruktur und das Amt für Umwelt, ermöglicht worden. Für die vielen anregenden und konstruktiven Diskussionen möchten wir uns vor allem bei Stephan Banzer, Hanspeter Eberle und Romano Kunz bedanken. Das Projektteam: Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti, Martin Mackowitz und Clarissa Rhomberg
Abbildung 1: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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1 ALLES IST LANDSCHAFT!
1.1
Was ist Landschaft? Der Begriff Landschaft ist gerade ziemlich en vogue in den Diskussionen über Raumentwicklung, Klimawandel und Nachhaltigkeit. Und dennoch versteht jeder etwas Anderes darunter. Das vor zwanzig Jahren beschlossene Europäische Landschaftsübereinkommen definiert Landschaft als «ein Gebiet, wie es vom Menschen wahrgenommen wird, dessen Charakter das Ergebnis der Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/oder menschlichen Faktoren ist» (Europarat, 2000 / 2004, S. 2). Der in Forschung und Planungspraxis ebenfalls facettenreich diskutierte Begriff der Landschaft (zusammenfassend Hokema, 2012) zielt als «dynamisches Gefüge menschgemachter Räume» (Prominski, 2004, p. 72) sowohl als Prozess als auch als Konstrukt der Wahrnehmung (Burckhardt, 2015) auf ein ästhetisches Phänomen und auf ein physisches Produkt ab. Landschaft ist in doppelter Hinsicht sozial konstruiert: Einerseits ist sie eine Abstraktion der Realität, die uns ermöglicht Raumausschnitte zu typisieren und schnell wieder abzurufen, wenn wir sie brauchen (Burckhardt, 2015). Andererseits ist Landschaft nicht organisch gewachsen, sondern basiert auf physischen Tätigkeiten sowie Vergemeinschaftungen von Menschen und deren Transformationen im Laufe der Geschichte. «Landscape is a social product, the consequence of a collective human transformation of nature» (Cosgrove, 1984). Landschaft ist somit Prozess und Produkt, Analyse und Intuition, Distanz und Erleben gleichermassen.
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Wir nehmen Landschaft täglich wahr, gebrauchen, bewirtschaften, beplanen, konsumieren und verbrauchen sie. Dabei ist Landschaft schon lange nicht mehr das von Goethe und Eichendorff erdichtete und von Caspar David Friedrich so wunderbar gemalte Arkadien, auch wenn dieses Verständnis noch immer weit verbreitet ist. Vielmehr durchdringen, überlagern und vermischen sich Siedlungsbereiche, Verkehrsinfrastrukturen, siedlungsnahe Freiräume und offene Landschaftsstrukturen. Während die offene, äussere Landschaft dem engen Landschaftsverständnis von «Naturlandschaften oder kultivierten Naturräumen» (Hokema, 2012, S. 10) entspricht, schliesst die innere, urbane Landschaft im Sinne eines erweiterten Landschaftsbegriffs auch den bebauten, verdichteten und von Netzwerkbeziehungen zwischen Siedlungskernen geprägten Raum mit ein (Brandl & Fausch, 2016, S. 7; Hokema, 2012, S. 11; Sieverts, 1997/2013). «Sowohl-als-auch-Räume nennen das die Raumplanerinnen und Raumplaner. Sorgsam gekerbte, ökologisch bewirtschaftete Ackerfurchen und hochgezüchtete, düngegetränkte Salatbeete auf Flachdächern; geschichtssatte
Abbildung 2: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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Zunfthäuser und zeitlose Glastürme; Wohngebäude mit Flach- oder Spitzdach, in zartem Rosa, falschem Holz oder futuristischem Material; verwinkelte Dorfläden und Allerweltsshoppingcenter; das Theater mit der S-Bahn in zwanzig Minuten erreichbar und der Nachbarschaftstratsch direkt um die Ecke; Grillenzirpen und Fluglärm, Velotour an Kühen vorbei und abendliches Staustehen mit dem Auto: das alles reiht sich Meter an Meter. Und immer öfter bleibt in dieser urbanen Landschaft unklar, wo der eine Ort aufhört und der nächste anfängt. Denn unsere Städte und Dörfer sind schon lange nicht mehr idyllisch eingebettet in weitläufige Wälder, Ackerflächen und Wiesen. Vielmehr haben die Siedlungen die offene Landschaft in Besitz genommen, sie in kleine Flächen und Bereiche zerstückelt, ungeliebte Funktionen wie Klär- oder Müllverbrennungsanlagen ausgelagert. Diese Gemengelage von Stadt und Land, dicht und weit, laut und leise, grün und grau ist selten Gegenstand unserer Aufmerksamkeit» (Brandl, 2020/21, S. 66). Alles ist Landschaft! fordert, sich auch all jenen banalen räumlichen Situationen zuzuwenden, die es nicht in die Hochglanzmagazine der Architekturzunft,
Abbildung 3: «Der Nachmittag» Quelle: Caspar David Friedrich Abbildung 4: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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in Ausstellungen, Museen oder auf Postkarten schaffen und für diese eine ästhetische und planerische Aufmerksamkeit zu entwickeln. (Brandl, 2020/21) 1.2
Landschaft unter Druck Alles ist Landschaft - Die Drei-Länder-Region Alpenrheintal1 ist Fallbeispiel für die Notwendigkeit dieser Forderung; finden sich doch beinahe alle im vorherigen Absatz genannten Phänomene und Raumstrukturen in dieser Region wieder. Doch die ihnen inhärenten Qualitäten werden zu wenig gesehen oder wertgeschätzt und sie stehen unter Druck – und dies gleich aus mehreren Gründen. Aktuell leben rund 530.000 Menschen im Alpenrheintal und es werden immer mehr. Die Landesflächen wachsen jedoch nicht mit und sind aufgrund der Topografie auch nur beschränkt bebaubar. Trotz dieses Umstands gehen wir mit der endlichen Ressource Boden ziemlich sorglos um. Laut dem Schweizer Bundesamt für Statistik ist die Bevölkerung zwischen 1985 und 2009 um 19%
Der Begriff Alpenrheintal steht für eine Region, die sich vom Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins beim Schweizer Dorf Reichenau im Kanton Graubünden bis zur Rheinmündung in den Bodensee erstreckt. 1
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gewachsen, die Siedlungsfläche aber um 23%. Die Bodenversiegelung hat sogar um 29% zugenommen. Eine noch intensivere Entwicklung ist in Liechtenstein zu beobachten: Im Fürstentum nahm das Gebäudeareal (ohne Industrie- und Gewerbeareal) zwischen 1984 und 2014 um 57 % zu, während die Bevölkerung um 40 % wuchs. Dadurch nahm die Bevölkerungsdichte in diesem Zeitraum um 11 % ab (Beck & Lorenz, 2019, S. 20–21). Diese Entwicklung spiegelt sich auch in internationalen Vergleichen wider: Sowohl was den Bodenverbrauch als auch die Zersiedlung betrifft, gehört Liechtenstein zu den Top-7-Ländern in Europa (European Environmental Agency, 2016, S. 57–59). Für Vorarlberg wurde erhoben, dass sich die Siedlungsfläche seit den 1950er Jahren bis heute verdreifacht hat – in den Talgemeinden des Rheintals sogar verfünffacht. Trotzdem sind landesweit immer noch ein Drittel aller gewidmeten Bauflächen unbebaut (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2018c, S. 128, 135), was hypothetisch bei einer gleich bleibenden Bevölkerungsdichte nochmals Platz für rund 132.000 Menschen bieten würde. Wir rücken beim Wohnen und Arbeiten nicht zusammen, wir zerstreuen uns. Die Ressource Boden ist jedoch endlich und ökonomisch gesehen machen eine kompakte Siedlungsweise, eine Mehrfachnutzung von Infrastrukturen, Flächen und Räumen mehr Sinn, sind sozial wünschens- und ökologisch erstrebenswert. Die Landschaftsfrage ist aber auch deshalb eine zunehmend dringlichere, weil es nicht einfach nur darum gehen kann, was Landschaft ist, sondern wie Landschaft insgesamt sein sollte und welche «Leistungen» sie zu erbringen hat. Die Frage nach dem «wie» zielt unmittelbar darauf ab, welche Qualitäten und Werte wir mit Landschaft verbinden wollen. Sind es weiterhin idealisierte Bilder agrarisch geprägter Gesellschaften oder schenken wir auch scheinbaren Unorten wie Autobahnknoten ästhetische Aufmerksamkeit? Gerade solche Infrastrukturen sind der physische Ausdruck unserer hochmobilen Wohlstandsgesellschaft. «Alles ist Landschaft» ist deshalb eine Aufforderung sich diesen Unorten planerisch zuzuwenden und ihre versteckten, oft subjektiven Qualitäten herauszuarbeiten. Qualitäts- und Wertvorstellungen und damit auch die Wahrnehmung von Landschaft sind an sich ändernde gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geknüpft. Erst seit rund vier Jahrzehnten sprechen wir von Industrielandschaften und erklären Eisenbahnstrecken zu UNESCO Weltkulturerben. Das in den letzten Jahren gewachsene Bewusstsein für den Klimawandel führt dazu, dass wir Dachbegrünungen und Fassadenbepflanzungen neues Gewicht beimessen und staatlich geförderte Windkraft- und Solaranlagen erheblich das Landschaftsbild verändern. Qualität oder die Veränderung
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Abbildung 5: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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von Qualitätsvorstellungen lassen sich jedoch schwer messen: «Anders als bei den meisten Umweltbelastungen – etwa der Luft- oder der Gewässerverschmutzung – lassen sich bei der Veränderung landschaftlicher Qualitäten keine Grenzwerte festlegen. […] In Hinblick auf die Entwicklung der Landschaftsqualität besteht in vielerlei Hinsicht nach wie vor Handlungsbedarf.» (Rey et al., 2017, S. 63) Es ändern sich aber auch die gesellschaftlichen Erwartungen an das, was Landschaft leisten soll. «Unter «Landschaftsleistungen» wird der wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Nutzen von Landschaften für Individuen und die Gesellschaft verstanden.» (Keller & Backhaus, 2017, S. 6) Keller und Backhaus definieren, auf der Grundlage eines eher engen, konservativen Landschaftsverständnisses, vier zentrale, von der offenen Landschaft aus gedachte Leistungen, die sich durchaus widersprechen können: «ästhetischer Genuss», «Identifikationsmöglichkeiten und Verbundenheit», «Erholung und Gesundheit» sowie «Standortattraktivität». Das Abwägen der Prioritäten, ob Landschaftsqualitäten die Tourismuszahlen oder das psychische, physische und soziale Wohlbefinden steigern sollen, bedarf eines kontinuierlichen Diskussions- und Aushandlungsprozesses zwischen den verschiedensten gesellschaftlichen Anspruchsgruppen. Innerhalb der urbanen Landschaft geraten sowohl siedlungsnahe Freiräume als auch Fragmente der offenen Landschaft durch quantitativ wirkende Verdrängungsprozesse wie auch durch die Veränderung von Wertvorstellungen unter Druck. Sie geraten aber auch unter Druck, weil sie Kollektivgüter sind und das in zweifacher Hinsicht. Erstens ist Landschaft ein Kollektivgut, weil wir Menschen sie täglich in der einen oder anderen Form gebrauchen. Der panoramaartige Blick aus dem Fenster unserer Wohnung, die Fahrt zur Arbeit mit der S-Bahn, zwischen Äckern Spazierengehen, im Wald grillieren – dies alles sind Gebrauchsweisen von Landschaft, die wir als Teil unserer Lebensqualität wertschätzen. Landschaft kann aber, zweitens, nicht aus dem Einzelnen, einem Grundstück, einem Strassenabschnitt oder einem Spielplatz heraus gedacht werden. Damit wir unseren Lebensraum als Landschaft wahrnehmen können, müssen wir die einzelnen Puzzleteile zueinander in Beziehung setzen und Zusammenhänge erkennen können. Landschaft ist deshalb nicht die Summe aus Grundstück + Strassenabschnitt + Spielplatz, sondern ein Mehrwert, der sich erst aus den Bezügen zwischen seinen Elementen, aus der Vielstimmigkeit ihrer Qualitäten ergibt. Dadurch entsteht erst die Möglichkeit der Identifikation mit Landschaft – und das fällt uns mit unseren urbanen Landschaften noch ziemlich schwer. (Vgl. Hauser & Kamleithner, 2006)
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Indem Landschaft ein Kollektivgut ist, besteht jedoch auch die Gefahr, dass Zuständigkeiten unklar sind, aber alle mitreden und entscheiden wollen (und vielleicht auch sollten). Mit dem skizzierten, holistischen Verständnis wird Landschaft auf fachlicher Ebene zu einem Querschnittsthema, mit dem sich nicht nur die Landschaftsplanung bzw. weitere Raum gestaltenden Disziplinen wie Architektur, Städtebau, Raumplanung befassen sollten. Vielmehr sollten auch andere Disziplinen wie die Land- und Forstwirtschaft oder die Verkehrsplanung «den landschaftsgenierenden Wert ihrer eigenen Tätigkeit erkennen» (Brandl et al., 2018, S. 68) und auch Anspruchsgruppen ausserhalb der klassischen Planungsdisziplinen in Raumentwicklungsprozesse eingebunden werden. Landschaft als integraler Bestandteil vieler Disziplinen bedarf nicht nur eines fachübergreifenden Zusammenarbeitens, sondern ebenso einer Vernetzung der verschiedenen Planungsebenen, von der Kommunalplanung bis zur Landesplanung. 1.3
Landschaftsorientierte Siedlungsentwicklung nach Innen Die planungspolitischen Bestrebungen im deutschsprachigen Raum zielen in den letzten Jahren auf eine Siedlungsentwicklung nach innen ab. Die Schweiz hat mit ihrem 2013 revidierten Raumplanungsgesetz den grundsätzlich bereits seit 1979 festgehaltenen haushälterischen Umgang mit dem Boden noch einmal verschärft und paradigmatisch festgelegt, dass die Reduzierung von Bauzonen, also die Rückführung von Baugebiet in Nichtbaugebiet anzustreben ist, indem Raumreserven und Wachstumsziele aufeinander abzustimmen sind. Die optimale und intensive Nutzung des bestehenden Siedlungsgebietes durch Anbauten, Aufstockungen, Ersatzneubauten oder Baulückenschliessungen ist das Ziel dieses Leitbildes.² Seine Umsetzung hat jedoch auch unmittelbare Auswirkung auf die offene, insbesondere aber auf die urbane Landschaft. Es steigt der Druck auf all jene Qualitäten innerhalb der urbanen Landschaft, die unter dem Radar von Planung und Gestaltung liegen, weil sie aufgrund ihrer Gewöhnlichkeit bestimmten ästhetischen, effizienz-, ausnutzungs- oder kostenorientierten Vorstellungen nicht entsprechen. Diese Räume werden jedoch immer wichtiger, sind sie doch zunehmend stark beanspruchte soziale Räume des Alltags, der Begegnung, Erholung, aber auch Räume des Konsums und der Mobilität. Siedlungsentwicklung nach Innen wird oftmals gleichgesetzt mit einer baulichen Verdichtung. Dies führt nicht nur zu einem quantitativen, effizienzorientierten, objektivierenden und funktionalen Denken, das sich zwischen Begriffen wie Innenreserven, Einwohnerdichte, Ausnützungs Vgl. die Internetseite des Kantons Bern; https://www.jgk.be.ch/jgk/de/index/raumplanung/ raumplanung/kantonale_raumplanung/siedlungsentwicklungnachinnen/was_ist_siedlungsentwicklungnachinnen.html [abgerufen am 15.10.2020] 2
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und Grünziffer verortet. Vielmehr führt dieses Denken zur Negierung qualitativer, oftmals vor allem subjektiv oder kollektiv wahrnehmbarer Aspekte wie Lebensqualität, Atmosphäre, Wohlbefinden oder soziale Interaktion (Vgl. auch Caviola et al., 2016). Ausserdem bedeutet bauliche Verdichtung oftmals ökologische Entdichtung, denn die Artenvielfalt ist in städtischen Freiräumen wie beispielsweise in Zürich wesentlich grösser als auf den monokulturell bewirtschafteten Ackerflächen des Umlandes (Caviola et al., 2016). Das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Zusammendenkens der Siedlungsentwicklung nach Innen einerseits und der Bewahrung, Weiterentwicklung und Stärkung von Landschaftsqualitäten andererseits ist deshalb in den letzten Jahren gestiegen. So zielen im Raumkonzept Liechtenstein (Regierung des Fürstentum Liechtenstein, 2020) drei der sieben Ziele auf die Erhaltung und Stärkung der Landschaft ab. Neben dem expliziten Ziel einer Siedlungsentwicklung nach Innen, das dem Umstand begegnet, dass die existierenden Bauzonen für das Zwei- bis Dreifache der Einwohnerzahl und für eine Verdoppelung der Arbeitsplätze ausreichen, werden eine bodenschonende, die Siedlungsgebiete begrenzende Raumentwicklung und die Abstimmung von Erho-
Abbildung 6: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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lungsfunktionen, Tourismus und Naturschutz als Voraussetzung zur Erhaltung der qualitativ hochwertigen Natur-, Kultur- und Berglandschaft Liechtensteins als wichtige Ziele formuliert. In Vorarlberg wurde die Planungspolitik in den letzten 20 Jahren stark von «vision rheintal» geprägt. Dabei handelte es sich um einen Raumentwicklungsprozess im Vorarlberger Rheintal, der sich zum Ziel gesetzt hat das «Kirchturmdenken» zu überwinden um letzten Endes auch dem starken Bodenverbrauch Einhalt zu gebieten (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2006). Der Prozess endete zwar 2017 offiziell, aber durch sein Wirken und die immensen Immobilienpreissteigerungen wurden zahlreiche Änderungen im Planungssystem mit initiiert. Dazu gehören neue, gesetzlich restriktivere Massnahmen wie bspw. eine zeitliche Befristung neuer Flächenwidmungen und eine Bebauungsfrist bei Grundstücksankäufen. Ebenfalls können Gemeinden Verdichtungszonen mit Mindestdichten festlegen, die innerhalb von 10 Jahren bebaut werden müssen. Zwar ist der Landschaftsbegriff in der Vorarlberger Raumplanung nicht prominent vertreten, aber viele der Reformen sowie zahlreiche Ziele des «Raumbild 2030», einem Leitbild über die räumliche Entwicklung des Landes (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2019), zielen darauf ab, die beiden grundsätzlichen Strategien der Siedlungsentwicklung – innerörtliche Nachverdichtung und Aufwertung des öffentlichen Freiraums – zusammen zu denken (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2018b). Am Kohärentesten treibt jedoch die Schweiz eine landschaftsorientierte Siedlungsentwicklung nach Innen voran. Bereits 2013 hat das Land das Europäische Landschaftsübereinkommen ratifiziert – ein Schritt, der in Österreich, Deutschland und Liechtenstein gleichermassen aussteht. Basierend auf einem umfassenden Landschaftsverständnis unterstreicht das Übereinkommen die grundsätzliche Bedeutung von Landschaft für die Erhaltung des vielfältigen natürlichen und kulturellen Erbes der europäischen Regionen, für die Lebensqualität und Identifikationsprozesse sowie als Wirtschaftsressource (Europarat, 2000 / 2004). Ein solch umfassendes Landschaftsverständnis setzt voraus, dass Landschaft als Querschnittsthema und Gemeinschaftsaufgabe verstanden wird. Die Erhaltung, Pflege und der Ausbau von Landschaftsqualitäten spielen eine Schlüsselrolle bei der Akzeptanz des Leitbildes einer Siedlungsentwicklung nach Innen. Diese Erkenntnisse münden in der Schweiz seit mehreren Jahren in einer stufengerechten Ausarbeitung und Implementierung von informellen und formellen Planungsinstrumenten auf Landes- und Kantonsebene (Bundesamt für Raumentwicklung, Staatssekretariat für Wirt-
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schaft, Bundesamt für Umwelt, 2012, 2017, 2018; Für eine Zusammenfassung der landschaftspolitischen Instrumente siehe: Steiger, 2016). 2020 veröffentlichte das Bundesamt für Umwelt das umfassend aktualisierte Landschaftskonzept Schweiz. Dieses «geht explizit von einem dynamischen Landschaftsbegriff aus und ist deshalb stärker in die Raumplanung eingebunden.» (Bundesamt für Umwelt, 2020, S. 11) Das behördenverbindliche Landschaftskonzept kann als grundlegender Orientierungsrahmen bezeichnet werden, der für eine kohärente und qualitätsvolle Entwicklung der Schweizer Landschaften strategische Zielsetzungen und Landschaftsqualitätsziele formuliert, die stufengerecht von Bund, Kantonen und Gemeinden umgesetzt werden können. Das breit gefasste, auf der Definition des Europäischen Landschaftsübereinkommens basierende Landschaftsverständnis führt dazu, dass die Schweizer Bundespolitik Landschaft nicht nur als Gemeinschaftsaufgabe der verschiedenen Fachdisziplinen und Planungsebenen versteht, sondern explizit ihre Aufgabe auch darin sieht, partizipative Prozesse zu fördern, um Landschaftskompetenzen bei den zahlreichen Akteuren zu stärken wie auch «die Bereitschaft der Bevölkerung, Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung der Landschaft zu übernehmen.» (Bundesamt für Umwelt, 2020, S. 19) 1.4
Landschaft vom Gebrauch her denken Die sich mit der Umsetzung des Leitbildes der Siedlungsentwicklung nach Innen vollziehende bauliche Verdichtung führt zu einer Verknappung von Freiräumen, nicht zuletzt weil sich «Freiflächen im Gegensatz zu Wohn- oder Arbeitsraum schlecht stapeln lassen» (Wullschleger, 2013). Das oftmals aufgeführte Argument, den Fokus nicht auf die Menge an Freiräumen, sondern auf ihre Qualität zu richten, macht die Sache jedoch nicht einfacher. Denn das Spannungsfeld zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung von Landschaft, die eingangs skizzierten Fragen über Qualitäten, Werte und Leistungen von Landschaft offenbaren eine grundlegende Herausforderung. Es geht um die Diskrepanz des Landschaftsverständnisses zwischen Planern, Planungspolitikerinnen und Investoren auf der einen Seite und den Nutzerinnen und Bewohnern auf der anderen Seite und damit um handfeste Zielkonflikte. Beide Seiten meinen unterschiedliches, wenn sie von Landschaft reden. Die planerische Diskussion darüber, was Landschaft ist, rückt gegenüber der Widersprüchlichkeit von Konzeptlandschaft und Gebrauchslandschaft in den Hintergrund. Diese Gegenüberstellung ist nicht neu. Lucius Burckhardt hat bereits 1979 pointiert gefragt: «[W]er sieht die Landschaft als Landschaft: derjenige, der sie in benennbare Objekte auflöst, oder derjenige, der sich nur
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an der Erscheinung erfreut?» (Ritter & Schmitz, 2006, S. 36) Die Konzeptlandschaft beinhaltet bei dieser Unterscheidung die planerische und entwurfsorientierte Perspektive, also die Sichtweise, die Landschaft in benennbare Objekte auflöst und aus der Perspektive der Gestaltung betrachtet: Grünzüge, Sichtachsen, Ensembles. Landschaft ist hier vor allem eine Ressource, die bestimmte Leistungen zu erbringen hat, wie Standortattraktivität, Biodiversität, die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen oder Gesundheit. Der Mensch ist aber ein Empfindungswesen, das «in» der Landschaft lebt, während Planer und Ingenieure «über» der Landschaft zu stehen meinen (Hahn & Steinbusch, 2006, S. 76). Mit dem Begriff Gebrauchslandschaft rücken wir die Wahrnehmung und den alltäglichen Gebrauch der Landschaft und ihrer Elemente in den Mittelpunkt. Gebrauchslandschaften sind die Landschaften, in denen wir wohnen, uns wohl fühlen und zuhause sind. Zahlreiche soziologische und ethnografische Studien und Forschungsprojekte bestätigen, dass in der Alltagswahrnehmung der Menschen Landschaftsqualitäten eine wichtige Bedeutung für die Beschreibung von Wohn- und Lebensqualitäten haben (Bundesamt für Raumentwicklung, Staatssekretariat für
Abbildung 7: urbane Landschaft Liechtenstein Quelle: Andrés Suárez
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Wirtschaft, Bundesamt für Umwelt, 2018; ETH Wohnforum, 2010; Karn & Peter, 2015). Landschaft ist dabei als übergeordnete Wahrnehmungskategorie zu verstehen, die durch unsere Fähigkeit entsteht, «eine komplexe Ansammlung von Raumbestandteilen intuitiv als bildlichen Zusammenhang […] wahrzunehmen» (Schultz, 2014, S. 35). Wahrnehmung ist zuvorderst ein subjektiver Prozess. In diesem Sinne ist für Jeden Landschaft etwas Anderes. Gleichzeitig ist Wahrnehmung kulturell bedingt, d.h. Wahrgenommenes kann für verschiedene Individuen eine ähnliche oder gleiche Bedeutung haben. Beispielsweise wissen wir in unserem europäischen Kulturkreis alle, wenn wir ein Gebäude mit einer bestimmten Art von Turm sehen, dass es sich um eine Kirche handelt. In diesem Zusammenhang wird auch von der «Bedeutungsgestalt» (Hahn & Steinbusch, 2006, S. 12) von Landschaft gesprochen. Es geht also darum, welche Sinngebung unsere Umgebung für uns bereithält. Aus dieser Perspektive werden immaterielle Werte wie Heimat, Identifikation, Geborgenheit, Lebensqualität, Orientierung wesentlich. Landschaft vom Gebrauch her zu denken rückt konsequenterweise das Erfahrungs- und Gebrauchswissen als Grundlage für eine anwendungsorientierte Architektur-, Stadt- und Landschaftsforschung in den Mittelpunkt und erkennt die Menschen als Expertinnen des Alltags und ihrer Landschaft an (Brandl, 2021; Hahn, 2017). Eine Stadtforschung und Planungspraxis, welche - erstens – die Siedlungsentwicklung von der Landschaft her denkt und – zweitens Landschaft vom Gebrauch her (re)konzeptionalisiert, muss daher ihr Selbstverständnis, ihre Methoden und Instrumente, ihre Begriffe erweitern. «Erst der Gebrauch zeigt ja, ob die intendierte, entwurflich skizzierte und baulich umgesetzte allgemeine Nützlichkeit auch tatsächlich Jemandem von Nutzen ist» (Hahn, 2017, S. 22). Der Begriff Gebrauch beschreibt dabei den alltäglichen Umgang mit der gestalteten und ungestalteten Umwelt und die Beiläufigkeit, mit der diese im Tun wahrgenommen und erfahren wird. Er verweist auf die intuitive, alltagspraktische Abstimmung zwischen zielgerichteten, zweckorientierten Handlungen oder Nutzungen und dem (un)gestalteten Kontext.
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In den folgenden Kapiteln werden Fallbeispiele aus dem deutschsprachigen Raum beschrieben, die sich entweder durch eine landschaftsorientierte Siedlungsentwicklung nach Innen hervorheben und / oder die Landschaft vom Gebrauch her denken. Die vier Beispiele operieren auf unterschiedlichen Massstabsebenen, sind unterschiedlich rechtlich verankert und nutzen verschiedene Methoden der Partizipation, der (planerischen) Analyse und der Umsetzung von der (Stadt-)Region über die Gemeinde hin zum Quartier.
Instrument
Massstab Planungsorgane
Methoden
Umsetzung/ Verbindlichkeit
Regionale Köln/ Bonn
Stadtregion
Partizipative Methoden mit Stakeholdern Projektorientierte Umsetzung von Einzelmassnahmen
Verankerung in Planungsprogrammen oder als Förderinstrumente
Regionale Limmattal
Regionale 2010 Köln/ Bonn Standortagentur Verein «Regionale Projektschau Limmattal»
Spiel- und Freiraumkonzepte Vorarlberg
Gemeinde und Quartier
Jeweilige Gemeinde, Stadt oder Region
Partizipative Methoden Massnahmenplanung; mit spezifischen Gruppen Beschluss durch (Kinder, Jugendliche Gemeindevertretung
Perspektivplan Freiburg 2030
Stadt
Stadt Freiburg
Spaziergang und Wanderung als Methode des planerischen Perspektivenwechsels
Landschaftsorientierte Planungsgrundlagen für die Bewertung von Einzelprojekten im Stadtgebiet
Regionalplan Südregion Luxemburg
Region
Ministère de l'Intérieur et de l'Aménagement du Territoire sowie die Gemeinden der Südregion Luxemburgs
Spaziergang und Wanderung als Methode des planerischen Perspektivenwechsels
Raumvision als abstrakteste Ebene bei der Erstellung des rechtsverbindlichen Regionalplans
Tabelle 1: Übersicht über die analysierten Planungsinstrumente
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LANDSCHAFT ÜBER PROJEKTE INS BEWUSSTSEIN BRINGEN die Beispiele «Regionale Köln Bonn 2010» und «Regionale 2025 – Projektschau Limmattal»
2.1 Projektbeschrieb Die Idee der «Regionale» stammt aus der Strukturförderung des Landes Nordrhein-Westphalen und wurde im Jahr 1997 als Ergebnis der damals noch laufenden IBA Emscher Park gegründet. Die Regionale ist dabei kein eigenes Förderprogramm, sondern es werden verschiedene Förderprogramme von Land, Bund und EU zeitlich begrenzt aber prioritär in der jeweiligen Regionale-Region eingesetzt (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 15)³. Dabei handelt es sich um ein regionales Planungsinstrument, bei dem Gemeinden einer Region einen gemeinsamen, ganzheitlichen Raumentwicklungsprozess anstossen und die Leitbilder dieser übergeordneten Konzeptebene durch konkrete Projekte sichtbar und erlebbar machen. Sinnbildlich für diese Vorgehensweise setzt sich der Begriff «Regionale» aus den Wörtern «Region» und «Biennale» zusammen.⁴ Ein Kerngedanke des Instruments «Regionale» ist es, die Ergebnisse des Raumentwicklungsprozesses in Form einer Ausstellung der Öffentlichkeit vorzustellen. 2.2
Anlass und Ziele Sowohl das Limmattal (Schweiz) als auch die Metropolregion Köln/Bonn (Deutschland) sind wachsende Stadtregionen, die starken raumstrukturellen Veränderungen unterliegen. Die Durchdringung von Siedlungs-, Infrastrukturen und offenen Landschaftsstrukturen sowie wachsende Mobilitätsbedürf https://www.regionale2010.de/hintergrund/prozess-und-prinzipien-der-regionalen-2010/ index.html [abgerufen am 9.4.2021] 4 https://www.regionale2010.de/hintergrund/prozess-und-prinzipien-der-regionalen-2010/ index.html [abgerufen am 9.4.2021] 3
direktion ehr
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Departement Bau, Verkehr und Umwelt AVK
Kanton Zürich Volkswirtschaftsdirektion Amt für Verkehr
Analyse Landschaft
Abbildung 25
nisse führen dazu, dass nicht nur landschaftliche Qualitäten abnehmen, sondern auch die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Region geschwächt wird (Molitor, 2012, S. 277–278). Hier setzen die Regionalen an: durch die partizipativen Verfahren und das Erfahrbarmachen von Landschaft durch Projekte und Ausstellungen werden das Bewusstsein für die landschaftlichen Qualitäten, die regionale Kooperation zwischen den Gemeinden und Identifikationsprozesse der Bevölkerung mit ihrer Region gestärkt (Molitor, 2012, S. 283)⁵. Während Planungsverfahren, die ja auch Teil der Regionalen sind, die Region APgesamthaft Limmattal, 4. Generationin den Blick nehmen, erfolgt die projektbasierte Umsetzung punkTeil 1: Bericht 61/237 tuell: die Regionen initiieren zukünftige Entwicklungen «im Sinne einer Akupunktur an wichtigen, neuralgischen Orten» (Molitor, 2012, S. 276). Das Landschaftsverständnis ist dabei notwendigerweise integrativ, denn sowohl das Limmattal als auch die Region Köln-Bonn sind durch vielfältig agrarisch genutzte Landschaftsteile aber auch durch starke Expansionsphasen unterschiedlicher Industrieepochen gekennzeichnet. Ziel der Regionale-Prozesse ist es daher nicht, die Landschaft grundlegend zu verändern, sondern ihre Departement Bau, Verkehr und Umwelt AVK
AP Limmattal, 4. Generation Teil 1: Bericht 61/237
Analyse Landschaft
Abbildung 8: Agglomerationsprogramm 4.Generation Limmattal, Analyseplan Landschaft (Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich, 2020, S. 62) https://regionale2025.ch/die-regionale/idee/ [abgerufen am 9.4.2021] 5
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
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vielfältigen Eigenschaften klarer zu definieren und dies Planungsakteuren sowie der Bevölkerung bewusst zu machen (Molitor, 2012, S. 277–278). 2.3
Prozess und Vorgehen In urbanen Landschaften, die durch zahlreiche administrative Grenzen und heterogene Akteurskonstellationen geprägt sind, können Entwicklungsplanungen wie die Regionalen «nur durch eine umfassende stadtregionale Kooperation der Kommunen und weiterer Partner erfolgreich umgesetzt werden» (Molitor, 2012, S. 280). Während in der Regionale Limmattal 16 Kommunen zusammenarbeiten⁶, waren es bei der Regionale Köln/Bonn sogar 53 (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 136). Aufgrund der unterschiedlichen Logiken der Planungssysteme im Limmattal und in NRW ergeben sich auch unterschiedliche Herangehensweisen. Zum Zeitpunkt des Beschlusses für die Bewerbung zu einer der Regionalen 2008 oder 2010 im Jahr 1999 war die «Region Köln, Bonn und Nachbarn e.V.» zwar zehn Jahre alt, aber die Akteurslandschaft fragmentiert (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 15). Erst die intensive Auseinandersetzung innerhalb der Region nach dem offiziellen Zuschlag im Jahr 2002 mittels partizipativer Massnahmen wie Zukunftsforen und Wanderungen führte zu einem gegenseitigen Problembewusstsein der Akteure (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 38–39). 2003 wurde die Regionale 2010 Agentur als Bestandteil der Region Köln/Bonn Standortmarketing GmbH gegründet (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 16), die auf übergeordneter Ebene für die Strukturierung des Gesamtprogramms «sowie [für die] inhaltlich-programmatische Ausgestaltung der Arbeitsbereiche sowie Beratung und Unterstützung der Projektträger vor Ort»7 zuständig war. Während der regionalplanerische Prozess in der Regionale Köln/Bonn also parallel zu ersten konkreten Projektaufrufen verlief, ist die Regionale Limmattal über die Agglomerationsprogramme in der Stadtregion Zürich bereits in einen länger etablierten regionalplanerischen Prozess eingebunden. Dennoch musste auch für die Regionale Limmattal eine Umsetzungsstruktur in Form eines Vereins, dessen Mitglieder die Kommunen und die Kantone sind, gegründet werden. Die Regionale Limmattal 2025 ist dabei ein Teil des sich gerade in öffentlicher Mitwirkung befindlichen Agglomerationsprogramms8 Limmattal (4. Generation). Neben neu initiierten Projekten werden auch Einzelmassnahmen aus dem Projekt Agglomerationspark Limmattal aus den Agglomerationsprogrammen der zweiten und dritten Generation im Rahmen der Regionale 2025 im Zeitraum 2019 bis 2025 weitergeführt (Volkswirt https://regionale2025.ch/die-regionale/limmattal/ [abgerufen am 9.4.2021] https://www.regionale2010.de/hintergrund/prozess-und-prinzipien-der-regionalen-2010/ index.html [abgerufen am 9.4.2021] 8 Agglomerationsprogramme sind ein Planungs- und Förderinstrument des Schweizer Bundes zur ganzheitlichen Abstimmung der gemeindeübergreifenden Siedlungs- und Verkehrsentwicklung. 6 7
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
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schaftsdirektion des Kantons Zürich, 2020, S. 32). In diesem sechsjährigen Zeitraum hat die Regionale Limmattal neben der finalen Projektschau im Jahr 2025 auch zwei Zwischenschauen in den Jahren 2019 und 2022 realisiert bzw. geplant. In der Region Köln/Bonn wurden die Projekte des achtjährigen Regionale-Prozesses im Jahr 2010 unter dem Titel «Rheinische Welt-Ausstellung» präsentiert. 2.4
Wirkung und Verankerung Das Instrument der Regionale ist ein Beispiel dafür, wie gemeindeübergreifende Zusammenarbeit an einem konkreten Thema und durch Projekte initiiert werden kann. Landschaft eignet sich dabei als integrativer Handlungsrahmen für eine interkommunale Zusammenarbeit, da sie nicht an Gemeindegrenzen endet. In der Regionale Köln/Bonn beruht diese Herangehensweise unter anderem auf dem Masterplan:grün und dem damit in Zusammenhang stehenden Kulturlandschaftsnetzwerk. Ausgehend vom Kölner Grüngürtelsystem legt das Kulturlandschaftsnetzwerk das Grundgerüst für die zukünftige Siedlungsentwicklung innerhalb der Region (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 136–137). 14 der 53 Einzelprojekte der Regionale 2010 waren direkt dem Kulturlandschaftsnetzwerk zugeordnet, wenngleich sich auch zahlreiche andere Projekte direkt oder indirekt mit der Entwicklung von Freiräumen innerhalb der urbanen Landschaft auseinandersetzten.9 Rund 80 verschiedene Förderinstrumente wurden zur Umsetzung dieser Massnahmen eingesetzt. «Die interkommunale Zusammenarbeit wird von den beteiligten Kommunen als ‚positive Erfahrung‘ beschrieben. Dies wird noch verstärkt, indem der Masterplan eine Reihe neuer Ansatzpunkte für die konkrete, grenzübergreifende Kooperation in der Flächennutzungsplanung einzelner Kommunen geschaffen hat» (Molitor, 2012, S. 284). Die Wirkung der Regionale 2010 war nicht nur aufgrund der Projekte, sondern auch strukturell nachhaltig, da nach der Regionale ein eigener Verein «Region Köln/Bonn e.V.» gegründet wurde. Dieser ist eine Koordinations- und Dienstleistungsplattform «auf regionaler Massstabsebene und fördert die Kommunikation sowie Positionierung zwischen den Partnern in der Region, auf Landes-, Bundes- oder europäischer Ebene» (Region Köln/Bonn e.V., 2015, S. 18). Die Region ist weiterhin aktiv in raumplanerischen Belangen und so wurde etwa 2015 ein regionaler Orientierungs- und Handlungsrahmen beschlossen, der 2019 in einem Agglomerationskonzept für die Region mündete.10 Auch auf kleinregionaler Maßstabsebene gibt es vertiefende Formen der Kooperation im Bereich der Raum- und Landschaftsplanung. So arbeitet Köln mit seinen rechtsrheinischen Nachbarn aktuell an einer Raumperspektive https://www.regionale2010.de/projekte/projekt/index.html [abgerufen am 9.4.2021] https://www.agglomerationskonzept.de/ [abgerufen am 9.4.2021] (Dies ist nicht zu h verwechseln mit den Schweizer Agglomerationsprogrammen) 9
10
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
26
2035 (Stadt Leverkusen, 2018). Der Regionale-Prozess im Limmattal steht zwar noch am Anfang, doch wurde bisher im Rahmen der Agglomerationsprogramme der zweiten und dritten Generation schon regionalplanerisch gearbeitet. Ausserdem gibt es mit der Zürcher Planungsgruppe Limmattal eine weitere institutionalisierte regionalplanerische Organisation, in der die 11 Gemeinden des Bezirks Dietikon zusammenarbeiten und unter anderem den regionalen Richtplan als behördenverbindliches Steuerungsinstrument erlassen.11 Da dieser Perimeter aber nicht dem der Agglomerationsprogramme entspricht, wurde für die Regionale Limmattal eine neue Struktur gegründet. «Die Kantone Zürich und Aargau haben gemeinsam mit den Städten und Gemeinden aus dem Limmattal den Verein ‘Regionale Projektschau Limmattal‘ gegründet» (Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich, 2020, S. 155). Der Verein dient dabei als Motor und Impulsgeberin, der Projekte initiiert, Akteure vernetzt und die verschiedenen Förderinstrumente zu nutzen versucht. Die Umsetzung der Teilstrategie Landschaft des Agglomerationsprogramms Limmattal erfolgt im Rahmen von Projekten der Regionale 2025 (Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich, 2020, S. 3).
https://www.zpl.ch/ [abgerufen am 9.4.2021]
11
27
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
#02 GRÜNES C www.gruenes-c.de
Vielfalt im Verbund – Das „Grüne C“ vernetzt die Freiräume im Norden der Stadt Bonn miteinander und schafft dabei „Brückenschläge“ über den Rhein.
NIEDERKASSEL
TROISDORF
SANKT AUGUSTIN BORNHEIM
BONN ALFTER
1
78
Abbildung 9: Teil des Projektblatts «Grüne C» Teil des Projektblatts (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 78)
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
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# 42 KABELMETALL
STANDORT
GESAMTKONZEPT
AKTEURE / BETEILIGTE
Schönecker Weg 5, 51570 Windeck-Schladern
Gebäudesanierung: Marciniak Architekten Partnerschaft (Köln)
Management „Initiative ergreifen – Bürger machen Stadt“
Freiraum: bbzl landschaften städtebau (Berlin)
5,233 Mio. Euro
PROJEKTTRÄGER
Gemeinde Windeck, Energiepark am Wasserfall GmbH, Bürger- und Kulturstiftung Windeck
PROZESS
Wettbewerb, Lenkungskreis, Studentenworkshop
KOSTEN / FINANZIERUNG
Bund, Land NordrheinWestfalen und Gemeinde Windeck Förderbereiche: Stadterneuerung, Landesprogramm „Initiative ergreifen – Bürger machen Stadt“ REALISIERUNGSZEITRAUM
Direkt am Siegwasserfall in Windeck-Schladern entsteht in einer ehemaligen Industriehalle ein Bürger- und Kulturzentrum für die regionale Vereinsszene. Eingebunden in das Projekt „Natur und Kultur quer zur Sieg“ wird das „Kabelmetallgelände“ gleichzeitig zum zentralen Ausgangspunkt für touristische Aktivitäten im gesamten Siegtal ausgebaut.
2012 – 2013 (geplant)
BAHNHOF
2
3
ABB.1 Der Bierga
BIE R G A R T E N U N D G R Ü N E S K L A S S E N Z IM M E R
V O R P L AT Z M I T T O U R I S M U S -I N F O - PAV IL L O N
BAHNHOF SCHLADERN
3 1 ABB.1 Der Biergarten mit
einem traumhaften Blick auf den Siegwasserfall bleibt erhalten. Auf dem Vorplatz entsteht als privates Invest darüber hinaus eine Eisdiele.
ABB.2 Das Bürger- und
Kulturzentrum vor dem Umbau. 208 Hier während des Studenten-Workshops im Juni 2007.
ABB.3 Blick von Norden auf das Gesamtgelände: unten links der Bahnhof Schladern, unterhalb des Wasserfalls die ehemalige Versandhalle mit dem Rohbau des Tourismus-InfoPavillons auf dem Vorplatz.
BÜ R G E R- U N D K U LT U R Z E N T R U M
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge der Industrialisierung in Windeck-Schladern einige Voraussetzungen für das heutige Erscheinungsbild der Landschaft geschaffen, die heute nicht mehr als solche erkennbar sind, sondern vielmehr als wichtige Faktoren eines attraktiven Landschaftsbildes gelten. So wurden im Zuge des Eisenbahnbaus auf der Strecke Köln – Gießen große Felsmassen gesprengt, wodurch die Sieg verkürzt über einen Wasserfall abfließen konnte und hinter dem neuen Bahndamm ein Altarm entstanden ist, der heute unter Naturschutz steht. Das Potential des Wasserfalls für die Energiegewinnung war Voraussetzung für die Ansiedlung der englischen Metallwarenfabrik Elmores an beiden Ufern der Sieg im Jahre 1894. Nachdem die Produktion 1995 endgültig eingestellt worden war, erwarb eine private Eigentümergemeinschaft im Jahre 2004 Teile des Geländes. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, an diesem einmaligen Standort ein Kultur- und Veranstaltungszentrum für die lokale bzw. regionale „Szene“ aufzubauen. JUNI 2007 Studentenworkshop
Abbildung 10: Teil des Projektblatts zur Sanierung des Kabelmetall-Geländes in Windeck im Rahmen der Regionale 2010 Köln/Bonn (Regionale 2010 Agentur GmbH, 2012, S. 209)
23.10.2007
Positiver Beiratsbeschluss des Programms „Initiative ergreifen“ 2008
Wettbewerb für die städtebauliche Einbindung 27.10.2008
Mit Unterstützung durch das Landesprogramm „Initiative ergreifen“ und der Einbindung der Kommune sowie der neu gegründeten Bürger- und Kulturstiftung
gewährleistet eine optimale Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und bietet darüber hinaus interessante Blickbeziehungen in Richtung des neuen Bürger- und Kulturzentrums. Betrieben wird das Zentrum von einer ei-
Verleihung des A-Stempels durch den Ausschuss der Regionale 2010 für das Gesamtprojekt „Natur und Kultur quer zur Sieg“ DEZ 2010
Förderbescheid i. H. v. 3,118 Mio. Euro DEZ 2011
Förderbescheid i. H. v.
einem traumhaft auf den Siegwas bleibt erhalten. A Vorplatz entsteh tes Invest darübe eine Eisdiele.
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
3
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DER GEBRAUCH VON LANDSCHAFT IM MITTELPUNKT Spiel- und Freiraumkonzepte, Vorarlberg
3.1 Projektbeschrieb Im Jahr 2009 wurde das Spielraumgesetz vom Vorarlberger Landtag beschlossen. Ziel des Gesetzes ist es «Kindern verstärkt zu ermöglichen, über das Spielen im Freien ihre körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten zu erproben und zu entwickeln» (Gesetz über öffentliche Kinderspielplätze und naturnahe Freiräume, 2009/13.10.2020, § 1). Das Gesetz fordert die Gemeinden dazu auf Spiel- und Freiräume in der Gemeinde zu erhalten und deren Situation in der Gemeinde über Spiel- und Freiraumkonzepte zu verbessern. Die Erstellung dieser Konzepte wird vom Land Vorarlberg mit 70 % der anfallenden Kosten gefördert. Die Förderung ist an eine angemessene Beteiligung der Bevölkerung und insbesondere von Kindern und Jugendlichen gekoppelt (ebenda, § 3), um deren Gebrauch der Landschaft in die Konzepte zu integrieren. Des Weiteren haben die Gemeinden bei der Ausarbeitung der Konzepte «gemeindeweit den Bestand und das Potenzial an Flächen zu erheben, die für Kinder und Jugendliche bedeutsam sind bzw. bedeutsam sein könnten, spielräumliche Versorgungsdefizite sowie Entwicklungspotenziale zu identifizieren sowie bedarfsgerechte Ziel- und Maßnahmenplanungen auszuarbeiten.» Nach Erstellung der Konzepte wird auch der Bau von Spielplätzen vom Land gefördert (Förderung von Spielraumkonzepten nach § 3 Spielraumgesetz, Investitionen in öffentliche Spielräume und Grundbeschaffungskosten, 2018/10.12.2018).
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
30
3.2 Anlass und Ziele Auch Vorarlberg ist seit den 1960er Jahren von einer starken Zersiedlung und einem damit in Zusammenhang stehenden Verlust von natur- und siedlungsnahen Frei- und Spielräumen geprägt. Schon 1976 stellte das Land Vorarlberg solche Tendenzen offiziell fest, was unter anderem in der Ausarbeitung und Verordnung der Landesgrünzone zur Sicherung der zusammenhängenden Grün- und Freiräume in Rheintal und Walgau mündete (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 1996, S. 11). Dennoch zeigte sich durch die weiterhin steigende Zunahme der Siedlungsfläche und des Drucks auf das bestehende Bauland innerhalb der urbanen Landschaft, dass zunehmend auch innerörtliche Freiräume verloren gehen, die jedoch wesentlich für die Lebensqualität in den Städten und Dörfern sind (siehe dazu u.A. Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2018a). Um dieser problematischen Entwicklung Herr zu werden, wurden in Vorarlberg in den vergangenen Jahren zahlreiche Reformen im Planungssystem durchgeführt. Neben der Novellierung des Raumplanungs- und Grundverkehrsgesetzes wurden auch neue Förderrichtlinien verabschiedet und das Raumbild 2030 vom Vorarlberger Landtag beschlossen. All diese Instrumente zielen unter anderem auf die Sicherung von natur- und siedlungsnahen Freiräumen ab. Spiel- und Freiraumkonzepte sind demgegenüber aber noch expliziter auf den Erhalt und die Entwicklung von Freiräumen mit einem spezifischen Gebrauch fokussiert. Sie haben zudem den Vorteil, dass sie durch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auch Bevölkerungsgruppen miteinbeziehen, die in herkömmlichen Planungsprozessen kaum zu Wort kommen. Ein explizites Ziel der Spiel- und Freiraumkonzepte ist es daher, verschiedene landschaftliche Gebrauchsweisen wie etwa das Erobern, Mitgestalten und Imaginieren im Kindes- und Jugendalter zu fördern. 3.3 Prozess und Vorgehen Die Erstellungsprozesse sowie die Endprodukte der Spiel- und Freiraumkonzepte sind heterogen und spiegeln einerseits die Bedürfnisse vor Ort wider, hängen aber auch stark vom Planungsteam ab. Hierbei gilt es hervorzuheben, dass neben Raum- und Landschaftsplanern auch Fachpersonen aus der sozialen Arbeit sowie der Kinder- und Jugendbeteiligung entweder in Form von Auftragnehmerinnen oder innerhalb einer Begleitgruppe der Gemeinde in die Prozesse involviert sind. In den Begleitgruppen finden sich vielfach auch Vertreterinnen von Vereinen und anderen Verbänden der Kinder- und Jugendarbeit (Förderung von Spielraumkonzepten nach § 3 Spielraumgesetz,
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
Abbildung 11: Mehrgenerationenpark in der Marktgemeinde Frastanz (Quelle: Christopher Walser in Amt der Vorarlberger Landesregierung 2018a, S.42)
31
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
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Investitionen in öffentliche Spielräume und Grundbeschaffungskosten, 2018/10.12.2018; Gemeinde Mellau, 2017). Durch diese Zusammensetzung ergibt sich eine stärker ausgeprägte interdisziplinäre Sicht- und Herangehensweise als dies in üblichen Planungsprozessen der Fall ist. Die Spiel- und Freiraumkonzepte beginnen üblicherweise mit einer Erhebung des Bestandes an öffentlichen Spiel- und Freiräumen sowohl in der naturnahen als auch in der siedlungsnahen Landschaft. Neben den «offensichtlichen» Spielräumen werden über die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen auch oftmals den Erwachsenen unbekannte Plätze (siehe dazu z.B. Gemeinde Mellau, 2017) identifiziert. Damit rücken die Spiel- und Freiraumkonzepte die Gebrauchslandschaft in den Mittelpunkt des Planungsprozesses. Noch wichtiger ist aber, dass Differenzen in der Raumaneignung von Mädchen und Jungen sowie von Kindern mit migrantischem Familienhintergrund erkannt und thematisiert werden (Stadt Bludenz, 2013). Aus den genannten Erfahrungen wird ersichtlich, dass Spiel- und Freiräume nicht nur dort sind, wo die Planung sie vorsieht, sondern dort, wo die Kinder und Jugendlichen diese erobern. Des Weiteren werden auch Vor- und Nachteile sowie Gefahrenquellen (z.B. Wege) der zahlreichen Spiel- und Freiräume zusammen mit den Kindern und Jugendlichen erörtert und analysiert. Aus diesen Analysen werden dann den Gemeinden bzw. Ortsteilen angepasste Ziele und Massnahmen für die Sicherung und Entwicklung der Spiel- und Freiräume abgeleitet. 3.4 Wirkung und Verankerung Das Spiel- und Freiraumkonzept gehört neben dem räumlichen Entwicklungsplan und dem Strassen- und Wegekonzept zu den strategischen Instrumenten der örtlichen Raumplanung in Vorarlberg und muss von der Gemeindevertretung beschlossen werden (Amt der Vorarlberger Landesregierung, 2018a, S. 42). Damit erlangt es auch Rechtsverbindlichkeit und die darin enthaltenen Ziele und Massnahmen sind von der Gemeinde in den kommenden Jahren umzusetzen. Neben dem Bau von Spielplätzen und klassischen raumplanerischen Massnahmen wie der Flächensicherung sind auch verkehrs- (Reduktion von Gefahrenquellen) und landschaftsplanerische (Gestaltung von Plätzen, naturnahen Freiräumen) Massnahmen in fast allen Konzepten enthalten. Daneben können, wie dies im Spiel- und Freiraumkonzept Bludenz sichtbar wird, auch «softe» Massnahmen wie etwa Konfliktmediationen oder sozialarbeiterische Massnahmen Teil der Umsetzung der Konzepte sein. Schon im Jahr 2015, also nur sechs Jahre nach Rechtswerdung des Spielraumgesetzes hatten schon beinahe die Hälfte aller Vorarlberger Gemeinden ein 12 13
https://kommunal.at/lebensraeume-kindergerecht-gestalten [abgerufen am 9.4.2021] vhttp://www.ruethi.ch/de/freizeitkultur/spielraumkonzept/ [abgerufen am 9.4.2021]
33
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
Spiel- und Freiraumkonzept beschlossen.12 In vielen der ersten Gemeinden steht nun, fast zehn Jahre nach den erstem Spiel- und Freiraumkonzept, eine Aufarbeitung und Erneuerung der Konzepte an. Inspiriert von den Vorarlberger Spiel- und Freiraumkonzepten haben auch die beiden Schweizer Rheintalgemeinden Rüthi und Oberriet ein Spiel- und Freiraumkonzept entwickelt.13
5. Zusammenfassung und Ausblick 5.1.
Zusammenfassung der Maßnahmen, Prioritäten und Zeithorizonte
Bereich
Maßnahmen
Priorität*
Zeithorizont, (Umsetzungsjahr)*
1) "Dorfplatz neu"
Dorfplatz mit Nutzungsvielfalt innen / Spiel- u. Ruhebereiche auf Teilflächen
19 Punkte
Kurzfristig; (2018)
2) Fußballplatz
Jugendplätzle, Aufenthaltsbereich mit Sitzvariationen & Liegen, Beachvolleyballplatz, Hartballplatz / evtl. Natureislauffläche im Winter
18 Punkte
Kurzfristig; (2017, 2018)
3a) Freifächen um FF-Haus provisorscher Spielplatz
bereits realisiert
bereits realisiert
bereits realisiert
3b) Freiflächen um FF-Haus längerfristige Nutzungen
Spielmöglichkeiten für größere Kinder, Aufenthaltsbereiche (auch für Erwachsene) an den Rändern;
4 Punkte
Mittelfristig; (2018+2019)
4) Spielerische Verbindung Mellenbach
Spiel- und Aufenthaltspunkte entlang Bach;
11 Punkte
(mittelfristig); (2019)
5) Dorfzentrum, Dorfstraße
Reduktion von Durchfahrtsgeschwindigkeiten; längerfristig Begegnungszone mit Straßenraumgestaltung;
9 Punkte
Kurzfristig reale Geschwindigkeitsreduktion/ längerfristig Gestaltung; (2022)
6) Freibad
sukzessive weitere Ergänzungen der Spiel- und Sporteinrichtungen
15 Punkte
teils kurzfristig / teils mittelfristig; (2018, 2019)
7 Talstation Bergbahn
Spiel- und Aufenthaltspunkt; Abenteuerspiel- und Umweltbildungs-Angebot (auch touristisch) in Kooperationen entwickeln
10 Punkte
Mittelfristig; (2019) (für Platz bei Talstation)
8) Gebar
Regelmäßige Revisionen finden statt Kommunikation über Sicherheit an die AnrainerInnen
9) Klausbach-Wasserfall
hohes Gefahrenpotenzial (Felssturz) (weiterhin) SperrHinweise; Andere Maßnahmen: Spielerische Schulung der Kinder zum Thema Naturgefahren (v.a. Natur- und Umweltbildungsangebote im Tourismus)
für Sicherheitsmaßnahmen hohe Priorität
für Sicherheitsmaßnahmen kurzfristig!
10) Gebiets- und Ressortverschiedene; siehe Bericht übergreifende Maßnahmen * Die Prioritäten und Zeithorizonte wurden von der Arbeitsgruppe im Abschlussworkshop abgestimmt und konkretisiert. Für die Priorität bekamen die TeilnehmerInnen ein Budget von Punkten, die nach eigener Einschätzung der Wichtigkeit auf die Maßnahmen verteilt werden konnten („Gemeindebudget“). Dadurch ergab sich ein klares Ergebnis, das weitgehend mit der planerischen Einschätzung übereinstimmt und diese konkretisiert. Bei Zeithorizonten zeigte sich eine fast vollständige Deckung der einzelnen Aussagen (Varianz lediglich im Bereich eines Jahres). Die Umsetzungsmöglichkeiten sind freilich noch mit dem Gemeindehaushalt abzustimmen.
Abbildung 12: Massnahmenplan aus dem SRK Mellau (Gemeinde Mellau, 2017, S. 26)
26
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
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4 PARADIGMEN WECHSEL DURCH SPAZIEREN GEHEN Perspektivplan Freiburg 2030
4.1 Projektbeschrieb Der Perspektivplan Freiburg ist eine Vision für die räumliche Entwicklung der Stadt Freiburg und zeitlich auf 10 bis 15 Jahren angelegt. «Der Perspektivplan hat Leitbildcharakter und liefert wertvolle Impulse für die Stadtentwicklung» (Stadt Freiburg, 2017, S. 1), dadurch ist er selbst nicht rechtsverbindlich, aber von Politik und Verwaltung zu berücksichtigen. Er wird insbesondere bei der konkreten planerischen Umsetzung in der Bauleitplanung wirksam.14 Außerdem bietet er einen Instrumentenkoffer mit sieben Werkzeugen, die als Leitfaden für die Freiraum- und Siedlungsentwicklung dienen (Beschlussvorlage - Perspektivplan Freiburg, 2017/26.04.2017, S. 4). Für Freiburg selbst war der Perspektivplan ein Paradigmenwechsel: Der Fokus der Planung rückte weg von der Entwicklung von städtebaulich gedachten Nachbarschaften wie Vauban, hin zu einem gesamthaften Blick auf die urbane Landschaft Freiburgs. Diesem Paradigmenwechsel ging ein partizipativer Prozess voraus, der den Gebrauch und die Dynamik der urbanen Landschaft in den Vordergrund rückte (Schultz, 2016b, S. 181–183). 4.2 Anlass und Ziele Freiburg im Breisgau ist eine dynamisch wachsende Mittelstadt, in der seit 2009 jedes Jahr in etwa 1000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Dieser Wachstumsdruck geht einher mit einer schon lange auf Nachhaltigkeit aus https://www.buergerverein-wiehre.de/das-neue-raeumliche-leitbild-fuer-die-stadt-perspektivplan-freiburg-2030/ [abgerufen am 9.4.2021] 14
35
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
gerichteten Stadtplanung (Schultz, 2016b, S. 181). Mit dem Perspektivplan Freiburg hat die Stadt ein neues Planungsinstrumentarium geschaffen, das einerseits den Wachstumsdruck in geeignete Bahnen lenken und anderseits eine gesamtheitlich angelegte Vision mit einem Blick auf die urbane Landschaft Freiburgs schaffen soll. Der Perspektivplan mit seinem Instrumentenkoffer bettet Einzelprojekte dadurch in diese Vision ein (Schultz, 2016a, S. 58; Stadt Freiburg, 2017, S. 1).
Der Charakter eines Vorhabens wird ent-
1
gefüge beeinflusst: Ist im Zusammenhang
AN DT
Querverbindungen
Parkverbindungen
scheidend durch dessen Lage im Gesamt-
mit einem Projekt beispielsweise eine
Der offene Landschaftsraum des Flugplatzes mit Wolfsbuck
2
Der Seepark
3
Der Sportpark
1
2
3
Flussverbindung zu berücksichtigen,
Flussverbindungen
Die gekaperten Alleen – Besançonallee und Paduaallee
1
Die grüne Radwegverbindung entlang der Güterbahnstrecke Die neue Wegachse entlang der Rheintalbahn
2
spielen Aspekte des Natur- und Hochwas3
serschutzes sowie die Zugänglichkeit der
dann als ange-
Uferpartien eine Rolle. Flächen entlang
sie bei guter
der Verkehrsinfrastrukturen müssen sich
lspiel aus beleb-
intensiv mit dem Thema Lärm auseinan-
higen und weiten
dersetzen.
rplan definiert
Und wenn der Planungsbereich an einem
der Stadt als Ori-
großen Park liegt, ist ein Dichtezuwachs
städtebauliche
Dreisam mit Mühlbach Hölderlebach, Haslacher Dorfbach, Dietenbach, Kronenmühlebach Dorfbach St. Georgen, Mühlenbach, Hexenbach, Kretzbach Altbach, Glasbach, Roßgäßlebach und Zähringer Dorfbach
1 2
möglicherweise die richtige Antwort.
m Detail sichtbar,
dt bebaut und wie 1
kturplan mit dem
ee starker Fluss-,
ngen, so zeigt 1
er Stadt. Entlang
2
3
einerseits Frei-
n zur intensiven
wickelt werden,
ch die bauliche
es kann sich
wirken – von der
flächen und der
hbarkeit über den
gsam-Mobilität
3
iersergänzungen
2
ekten. 3
Bauliche Dichte
◂ hoch
gering ▸ 15
Abbildung 13: Räumliche Leitidee (Stadt Freiburg, 2017, S. 14)
FORSCHUNG Alles ist Landschaft
36
Aus dem Planungsprozesses gingen drei Grundsätze dieser Vision hervor, die die landschaftlich integrative Sichtweise der Perspektivplans operationalisieren (Stadt Freiburg, 2017, S. 2): • «Wohnungen und Freiräume müssen zusammen gedacht werden.» Neue Wohnungen sollen nur dort entstehen, wo auch ein ausreichender Freiraumbezug gegeben ist. • «Bauliche Dichte soll die Stadt lebendig und kommunikativ machen.» Dieses Ziel basiert auf der Erkenntnis, dass bauliche Dichte nur dann als positiv empfunden wird, wenn sie Lebendigkeit und Kontaktmöglichkeiten mit sich bringt. • «Entlang von Leitstrukturen soll sich Freiburg räumlich entwickeln.» Die Orientierung und Erfassbarkeit der Struktur der urbanen Landschaft soll durch diesen Grundsatz gestärkt werden. 4.3 Prozess und Vorgehen Die räumliche Leitidee des «3 x 3» soll die räumliche Entwicklung der urbanen Landschaft Freiburgs entlang von jeweils drei Fluss-, Quer-, und Parkverbindungen lenken (Stadt Freiburg, 2017, S. 4). Markant ist, dass diese Leitidee gänzlich ohne eine Orientierung an Gebäudestrukturen auskommt, aber umso mehr versucht wurde den alltäglichen Gebrauch der urbanen Landschaft in den Perspektivplan zu integrieren. Dazu können zwei Herangehensweisen als wesentlich betrachtet werden. Der Planungsprozess war partizipativ angelegt und «im Rahmen von Dialogveranstaltungen, Workshops und anderen Beteiligungsformen ist die aktuelle Situation in Freiburg analysiert worden» (Stadt Freiburg, 2017, S. 2). Aus diesem Beteiligungsprozess gingen neben der räumlichen Leitidee auch sieben Freiburger Identitäten und Talente hervor. Diese Identitäten und Talente sind ebenfalls stark gebrauchsorientiert, da sie neben dem Selbstbild der Bürgerinnen auch Potenziale herauszeichnen «an denen die räumliche Entwicklung ansetzen kann» (Stadt Freiburg, 2017, S. 2). Neben dem partizipativen Planungsprozess folgt auch die fachliche Analyse stark dem Gebrauch der urbanen Landschaft Freiburgs. Neben den üblichen quantitativen und morphologischen Analysen wurden auch die Methoden des Wanderns und Spaziergehens für die räumliche Analyse eingesetzt. Während einer explorativen, dreimonatigen Phase wurde das Planungsgebiet intensiv von den Planern durchwandert und Orte mit ihren spezifischen räumlichen Elementen und Atmosphären aufgenommen. Dadurch wandelte sich auch der Blick auf das bestehende räumliche Gefüge Freiburgs und Unhinterfragtes, wie etwa die Dominanz von großen Transitachsen, wurde diskutiert.
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Auch informelle öffentliche und halböffentliche Räume wurden entdeckt, die in den üblichen Plänen und Karten fehlten. Nur durch die Methode des Wanderns war es möglich, auch innerhalb des engen Kreises der Planerinnen den Paradigmenwechsel von der Planung von einzelnen Nachbarschaften hin zu einer dynamischen und integrativen urbanen Landschaft zu vollziehen (Schultz, 2016a, S. 59–63). 4.4 Wirkung und Verankerung Der Perspektivplan Freiburg 2030 wurde am 26. April 2017 vom Freiburger Gemeinderat als städtebauliche Rahmenplanung beschlossen. «Gleichwohl ist der Perspektivplan kein formelles Planungsinstrument. Er zeigt Wege und Möglichkeiten auf und entwickelt Ideen und konzeptionelle Vorschläge, die auf nachfolgenden Planungsebenen vertieft und planungsrechtlich verankert werden müssen» (Beschlussvorlage - Perspektivplan Freiburg, 2017/26.04.2017, S. 3). Der Perspektivplan wird also nicht selbst direkt rechtswirksam, sondern dient einerseits der Verwaltung als Bewertungsgrundlage für Einzelprojekte und ist andererseits ein wesentliches Fundament zukünftiger Flächennutzungs- und Bebauungspläne (Stadt Freiburg, 2017, S. 1). In diesem Zusammenhang sind neben den Grundsätzen auch das Raumbild mit den 3 x 3 Fluss-, Quer-, und Parkverbindungen Teil des Beschlusses des Gemeinderats, wodurch öffentliche und private Bauprojektträger dazu aufgefordert werden, ihre «Einzelvorhaben in den Dienst der gemeinsamen Leitidee zu stellen» (Stadt Freiburg, 2017, S. 4). Als transparente Entscheidungsgrundlage für die Bewertung von Bau- und Freiraumprojekten wurden mit dem Perspektivplan sieben Werkzeuge verabschiedet (Stadt Freiburg, 2017, S. 4). «Anhand dieser Werkzeuge können Projekte der Freiraum- und Siedlungsentwicklung initiiert, bewertet und im Sinne des Perspektivplans im gesamtstädtischen Interesse gesteuert werden. Durch die einheitliche Datenbasis und die Anwendung der Werkzeuge entsteht eine Vergleichbarkeit städtebaulicher Vorhaben untereinander» (Beschlussvorlage - Perspektivplan Freiburg, 2017/26.04.2017, S. 4). Die sieben Werkzeuge und die jeweils leitenden Fragestellungen sind in Abbildung 14 sequenziell dargestellt.
DER SIEBEN WERKZEUGE ist Landschaft FORSCHUNG AllesANWENDUNG
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Idee für ein Projekt
Datenbasierte Werkzeuge Was sind die aktuellen städtebaulichen und freiraumplanerischen Bedingungen für das Vorhaben?
ATLAS
Entwurfsorientierte Werkzeuge
Welche Strategien passen für das Vorhaben? Gibt es Referenzprojekte in Freiburg oder anderswo?
Baudichte Freiraumversorgung Einwohnerdichte
Orientierung
→ Seite 7
In welchem Gebietstyp liegt das Vorhaben? Was sind die Handlungsempfehlungen?
GEBIETS TYPOLOGIE
STRATEGISCHE BAUSTEINE Inspiration
→ Seite 8
Passt das Vorhaben in die zukünftige Stadtstruktur? Wie kann es zur gewünschten Entwicklung beitragen?
Inspiration
→ Seite 7
STRUKTURPLAN Argumente
→ Seite 14
Welche Dichte-Zielwerte können als grobe Orientierung dienen?
FREIBURGER DICHTEN Referenzen
→ Seite 7
Liegt das Vorhaben in einem Entwicklungsbereich? Welche Empfehlungen gibt es? Muss das Projekt mit anderen Planungen abgestimmt werden?
ENTWICKLUNGS BEREICHE
Wie stellt sich das Vorhaben im GIS-Modell dar?
Kooperationen
GISMODELL Prüfung
→ Seite 16
Detaillie → Seite 7
Projektanreicherung und -qualifizierung im Sinne der Gesamtvision einer räumlichen Entwicklung
Abbildung 14: Sieben Werkzeuge des Perspektivplan Freiburg (Stadt Freiburg, 2017, S. 4)
Stadt Fr Stadtpla
Fehrenb 79106 F stadtpla www.fr
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5 MIT METAPHERN DER RÄUMLICHEN ENTWICKLUNG EINE VISION GEBEN Regionalplan Südregion Luxemburg 5.1 Projektbeschrieb Zu Beginn der 2000er Jahre wurde die Kommunal- und Landesplanung im Fürstentum Luxemburg neu organisiert. Zum einen wurde die urbane Landschaft als eigenständiger räumlicher Typus erkannt (Stein & Schultz, 2005, S. 11) und zum anderen mussten die Gemeinden nun gemeinsam mit den Ministerien einen Regionalplan erarbeiten (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008). Insbesondere im ehemals von der Montanindustrie geprägten Süden des Landes stand man vor einer komplexen, nur schwer lesbaren urbanen Landschaft. Mit der wirtschaftlichen Transformation hin zu einem Dienstleistungsstandort hatten sich die Rahmenbedingungen der Siedlungs- und Landschaftsentwicklung komplett geändert (Schultz & Stein, 2012, S. 60; Stein & Schultz, 2005, S. 11). Durch einen Planungsprozess, der sich in der Analysephase stark an den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten und dem Gebrauch dieser urbanen Landschaft orientierte, konnten Metaphern entwickelt werden, die zu einem gemeinsamen Bild über die zukünftige Entwicklung der Region führten. 5.2 Anlass und Ziele Die räumliche Entwicklung des Südens des Fürstentums Luxemburg orientierte sich über mehrere Epochen hinweg ausschliesslich an den Erfordernissen des Erzabbaus und der Erzverarbeitung. Dies führte schon sehr früh zum Ent-
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stehen einer urbanen Landschaft, die sich komplett von der landwirtschaftlichen Nutzung der Region entkoppelte. Mit der Transformation Luxemburgs zu einem Finanz- und Dienstleistungsstandort und der Nachnutzung von Industriearealen durch die Universität Luxemburg sowie Banken und andere Dienstleister änderten sich aber auch die Ansprüche an diese Landschaft. Was früher primär als Aushubmaterial und auszubeutende physische Ressource gesehen wurde, war plötzlich ein wichtiger Faktor für die Ansiedlung von Unternehmen und Arbeitskräften. Lebensqualität und Standortattraktivität dieser urbanen Landschaft spielten plötzlich eine wichtige Rolle, wodurch auch die Frage der Ästhetik in den Vordergrund rückte (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 39; Schultz & Stein, 2012, S. 60). «Der Begriff VISION kommt von SEHEN und so ist die Raumvision als ein neuer Blick auf die Region zu verstehen. Sie gibt eine Antwort auf die Frage, woran sich in der postindustriellen Epoche die Entwicklung von Siedlungen und Freiräumen orientieren könnte» (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 39). Dieser Wechsel hin zu einem an sinnlichen Werten orientierten Landschaftsverständnis findet sich dadurch in den Zielsetzungen der luxemburgischen Landesplanung in Bezug auf die Raumvision wider (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 4): • «Sie trainiert das räumliche Denken aller Beteiligten. • Sie hilft, ein gemeinsames, gemeindeübergreifendes räumliches Verständnis zu entwickeln. • Sie trägt dazu bei, unterschiedliche räumliche Qualitäten als Orientierungsgrundlage für die Regionalplanung zu identifizieren. • Die Schärfung des Profils der Gemeinden innerhalb der Region und ihres jeweiligen Beitrags zum Gesamtbild wird vorbereitet.» Die Orientierung an den sinnlichen Qualitäten der Gebrauchslandschaft führte in der Raumvision zur Entwicklung von so genannten Stadtlandschaftscharakteren. Dabei handelt es sich um Bestandteile der urbanen Landschaft, die jeweils spezifische Qualitäten in Bezug auf Werte wie Orientierung, Sichtbarkeit, Geschichte und Topografie aufweisen. 5.3 Prozess und Vorgehen Der Planungsprozess startete im Jahr 2007 und basierte auf einer interkommunalen und kooperativen Arbeitsweise (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008), die die ästhetischen Qualitäten der urbanen Landschaft zu heben vermag. Dazu arbeitete das Planungsteam mit Metaphern in Wort und Bild. Die Metaphern sind dabei ein Werkzeug, mit dem
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versucht wird, «sich mittels Sprache und Bild über komplexe Fragen der Regionsentwicklung zu verständigen und damit die Ideenfindung in stadtregionalen Landschaften voranzubringen» (Schultz & Stein, 2012, S. 59). Die Metapher schafft dabei eine gemeinsame Sprache für die sehr heterogenen Gruppen, die in den Planungsprozess involviert waren. Die Metaphern orientierten sich an der Landschaftsgeschichte der Region und nahmen dabei Bezug auf das Meer. «Schon die traditionelle Bezeichnung der Südregion als ‚Bassin Minier‘, als Bergbau-Becken, zeigte eine Affinität zu maritimen Bildern. Außerdem war vor Jahrmillionen die im Volksmund ‚Küste‘ genannte Doggerstufe tatsächlich eine Küste. Dies wird im Bild der Raumvision parallel zu den allgemein gängigen Begriffen räumlicher Entwicklung durchgespielt: das ‚Meer‘ mit Tiefen und offener Weite trifft auf die ‚rote Küste‘. Häfen, Meerengen, Buchten und Strände sind Metaphern für den Charakter und die Entwicklung der Orte mit ihren spezifischen Mischungen von Siedlung und Freiraum und mit der einzigartigen topographischen Situation» (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 6). Die Entwicklung der Metaphern erfolgte über einen Planungsprozess, der aktiv in der urbanen Landschaft des luxemburgischen Südens stattfand, um die jeweils spezifischen Atmosphären wahrzunehmen. Gemeinsame Fahrradtouren, Exkursionen in andere Regionen und künstlerisch geführter Wanderungen schufen dabei neuartige Diskussionsformen, mit denen die bisweilen als bekannt und vertraut erscheinende urbane Landschaft unter einem neuen Blickwinkel gesehen wurde. Die Formate waren jeweils so konzipiert, dass verschiedene Teile der urbanen Landschaft miteinander verknüpft werden konnten und so ein ganzheitlicher Blick entstand (Schultz & Stein, 2012, S. 62–64). Die aus diesem Analyseprozess abgeleiteten Stadtlandschaftscharaktere wurden schliesslich mit bildlichen und textlichen Metaphern unterlegt. Nach anfänglichem Zögern wurden die im Prozess entwickelten und aus der Alltagssprache kommenden Metaphern aber von allen Involvierten genutzt und schafften Sicherheit und Augenhöhe in der Kommunikation zwischen Fachexpertinnen und Laien (Schultz & Stein, 2012, S. 64–67). 5.4 Wirkung und Verankerung Die Raumvision besteht aus drei Teilen und soll die räumlichen Qualitäten der Region hervorheben. Dies geschieht erstens über das räumliche Gesamtbild. «Das Gesamtbild stellt die räumlichen Qualitäten dar, die sich aus dem Zusammenspiel von Siedlungsräumen und der (…) Topographie der Doggerstufe (einer prägnanten geologisch-topographischen Formation im Süden der Re-
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gion) sowie den Gewässersystemen ergeben» (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 5). Die zweite Ebene wird von den thematischen Layern gebildet, die sich schliesslich zum Gesamtbild überlagern. Die thematischen Layer sind etwa der Wald, die Siedlung, spezifische Höhenlinien sowie Orientierungspunkt und Sichtachsen und verfügen über funktionale und ästhetische Qualitäten. Die Stadtlandschaftscharaktere sind schliesslich die einzelnen Teilbereiche der urbanen Landschaft und weisen spezifische Qualitäten in Bezug auf Ästhetik und Gebrauch auf und werden mit bildlichen und textlichen Metaphern umschrieben. Ein Beispiel für einer solchen Stadtlandschaftscharakter findet sich mit der (metaphorischen) Meerenge Kayl/ Tétange/Rumelange auf der folgenden Seite. (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 5–36). Die Raumvision stellte die erste Phase der Erstellung des Regionalplans für den luxemburgischen Süden dar. Im luxemburgischen Planungsrecht stecken die Regionalpläne die kommunalen Handlungsspielräume in den Bereichen Siedlung, Freiraum und Infrastruktur ab. Die Raumvision nimmt im dreistufigen Schema der luxemburgischen Regionalpläne eine nicht rechtsverbindliche Rolle ein und kann als bildhafte Entwicklungsvorstellung angesehen werden, die in weiterer Folge durch eine in Text und Plan rechtsverbindliche Verordnung ergänzt wird. Der dritte Teil wird von der Umsetzungsebene gebildet, in der zu entwickelnde Konzepte und Projekte mit Raumbezug festgehalten werden. «Das Drei-Ebenen-Modell bietet damit nicht nur die Möglichkeit, bildhafte und gestaltende Methoden in eine Regionalplanung mit interkommunalem Akzent einzubringen. Es ermöglicht insbesondere bei der Erarbeitung der Raumvision und bei den Entwicklungsprojekten auch, das Spektrum der einbezogenen Akteure in zivilgesellschaftliche Gruppen und die Wirtschaft hinein zu erweitern» (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 4).
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Meerenge Kayl/Tétange/Rumelange
Vitale Täler mit viel Freiraum Die Talengen mit den Stadtbereichen von Kayl, Tétange und Rumelange profitieren auch in Zukunft von den unbebauten flachen Hängen und ihren aufgelockerten Siedlungsbereichen, die die Talengen besonders für Familien mit Kindern attraktiv machen. Alles ordnet sich entlang der Talsohle an. Die Reihen werden regelmäßig durch attraktive Freiräume unterbrochen – viel Platz für Jung und Alt. Im Bereich Rumelange wird die Industrie-Geschichte vielerorts erlebbar. Die Meerenge ist geprägt von der allgegenwärtigen Doggerstufe: aus einer Vielzahl an Wohngebieten hat man einen unmittelbaren Sichtbezug und Zugang zu den grünen Höhen mit zahlreichen Naherholungsangeboten. Die Haard ist in hier das grüne Bindeglied zum Hafen Dudelange. Die Meerenge leistet mit ihren grünen Hängen und Höhen einen einen wichtigen Beitrag zur Freiraumqualität der Region. Lineare Siedlungsstrukturen in der Talsohle mit Freiraumzäsuren Wohnen für Familien mit Kindern, Sportangebote in der Landschaft
Abbildung 15: Stadtlandschaftscharakter Meerenge Kayl/Tétange/Rumelange in der Raumvision (Ministère de l‘Intérieur et de l‘Aménagement du Territoire, 2008, S. 36)
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6 CONCLUSIO
Mit der konsequenten und notwendigen Verfolgung des raumplanerischen Ziels der Siedlungsentwicklung nach Innen steigt der Druck unbebaute Freiflächen innerhalb der urbanen Landschaft möglichst Kosten-Nutzen-maximierend zu bebauen. Dieser quantitativen, effizienzorientierten Sichtweise begegnen wir mit der Forderung «Alles ist Landschaft». «Alles ist Landschaft» meint, das Leitbild der Siedlungsentwicklung nach Innen hin zu einem Leitbild der landschaftsorientierten Siedlungsentwicklung nach Innen weiterzuentwickeln und dabei den (planerischen) Blick auch auf jene banalen und (un)gestalteten Situationen zu lenken, die sich einer gewinnorientierten Verwertungs- und Wachstumslogik entziehen. Auf die Qualitäten dieser Räume sollte verstärkt hingewiesen werden, da diese Qualitäten mit persönlichen und kollektiven Erfahrungen, mit den Gebrauchsweisen der Bewohnerinnen und Bewohner urbaner Landschaften verknüpft sind. Siedlungsentwicklung nach Innen kann unserer Ansicht nach nur gelingen, wenn das implizite Wissen der Menschen, die die urbane Landschaft tagtäglich gebrauchen, aufgegriffen und auch scheinbar planerisch wertlosen Flächen mit ästhetischer Aufmerksamkeit und Fürsorge begegnet wird. «Alles ist Landschaft» ist somit auch eine Haltung, welche die Sichtweisen der Bevölkerung auf ihre Umgebung in Planungs- und Gestaltungsprozesse miteinbezieht. Dieser doppelte Perspektivwechsel – Siedlungsentwicklung nach Innen von
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der Landschaft aus zu entwickeln sowie das Erfahrungswissen der Bewohnerinnen und Bewohner anzuerkennen und in Planungsprozesse zu integrieren – wird in verschiedenen Ecken Mitteleuropas (und wahrscheinlich auch darüber hinaus) in der Planungspraxis gelebt und umgesetzt. Wo und wie dies geschieht, zeigten wir anhand von vier Fallbeispielen exemplarisch auf. Die vier analysierten Fallbeispiele zeigen jedoch, dass dies bisher primär auf Initiative engagierter Politiker, Planerinnen oder Akteuren aus der Zivilgesellschaft geschieht. Diesen Praktiken wollen mir mit «Alles ist Landschaft» eine konzeptionelle und normative Klammer bieten. Allen vier Beispielen ist gemein, dass sie diesen Perspektivenwechsel nicht nur abstrakt über Visionen und Leitbilder verschriftlichen, sondern dass konkrete Umsetzungsschritte gesetzt werden. Die Regionalen Limmattal und Köln/Bonn arbeiten mit grossformatigen Ausstellungen, die Vorarlberger Spiel- und Freiraumkonzepte müssen mit Massnahmenplänen von der Gemeindevertretung beschlossen werden. In Freiburg werden aufbauend auf den Perspektivplan sieben Werkzeuge zur Bewertung von Bauprojekten eingesetzt und in der Südregion Luxemburgs wird die Raumvision über verordnete Pläne und Programme konkretisiert. Die Beispiele zeigen auch, dass nicht im stillen Kämmerchen Expertinnenplanung betrieben wird, sondern dass Planer mit offenen Augen und Gespür für alltägliches Handeln Quartiere, Städte oder ganze Regionen «distanzlos» erkunden. Dem Instrument des Spaziergangs bzw. der Wanderung kommt dabei besondere Bedeutung zu: als Beteiligungs- oder Diskussionsinstrument wie auch als Instrument der Wahrnehmungssensibilisierung und Wissensgenerierung für Akteure der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft, der Planungspolitik und -praxis gleichermassen. Was Landschaft ist, liegt also nicht allein im Auge des (professionellen) Betrachters, sondern auch unter den Füssen des erkundenden Wanderers und vor allem in den Taten der alltäglichen Nutzerinnen. Aus dieser als Forderung gestellten Lesart ergibt sich eine Notwendigkeit neuer Instrumente im Umgang mit Landschaft, von denen die oben genannten gerade erst den Anfang darstellen.
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This work is licensed under the Creative Commons Namensnennung 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Brandl, Anne; Herburger, Johannes; Hilti, Luis (2021): Alles ist Landschaft. Eine praxisorientierte Publikationsreihe der Professur für Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein. Vaduz (Landschaft vom Gebrauch her denken, 1). Wir verzichten in unseren Texten auf Binnen-I und Gendersternchen, fühlen uns aber trotzdem einer gendergerechten Sprache verpflichtet. Daher wechseln wir im Text immer zwischen der weiblichen und männlichen Form von personenbezogenen Nomen.
Impressum Herausgeberin Universität Liechtenstein Institut für Architektur und Raumentwicklung Fürst-Franz-Josef-Strasse 9490 Vaduz, Liechtenstein Verantwortlich für den Inhalt dieses Booklets Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti Mitarbeit Forschungsprojekt Anne Brandl, Johannes Herburger, Luis Hilti, Martin Mackowitz, Clarissa Rhomberg Konzeption & Gestaltung Michèle Steffen Grafik Est. Satz Luis Hilti Fotos siehe Bildunterschriften Druck Wolf Druck Auflage 250 Stk.
Warum?
Landschaft ist Prozess und Produkt, Analyse und Intuition, Distanz und Erleben gleichermassen. Wie?
Den Gebrauch von Landschaft in Stadtforschung und Planungspraxis integrieren.
UNI.LI
Was?
Siedlungsentwicklung nach Innen von der Landschaft und dem Gebrauch der Landschaft her (re)konzeptionalisieren