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OHNE ENDE KEIN ANFANG Warum Verlernen gesellschaftlichen Fortschritt bedeuten kann
Unsere Gesellschaft steht vor grossen sozialen und ökologischen Herausforderungen. Die Ausschöpfung von nicht-erneuerbaren, natürlichen Ressourcen schreitet immer weiter voran.
Produktlebenszyklen werden immer kürzer. Ökonomische Messgrössen wie zum Beispiel Profitwachstum dominieren unsere Lebensweise und sind in unserer Kultur verankert. Doch sind diese Messgrössen nachhaltig? Gibt es sinnvollere Indikatoren? Um profunde Veränderungen herbeizuführen, bedarf es oft grosser Anstrengung. Und vielleicht wird Lernen alleine nicht genügen, um diese Herausforderungen zu überwinden. Erkenntnisse aus der Organisationsforschung zeigen, dass tiefgreifendes Umdenken durch «Verlernen» möglich ist.1,2
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In Kontrast zum Lernen, welches die Aneignung von Wissen beschreibt, zielt das Verlernen darauf ab, nicht mehr zielführende Gedankenmuster und Praktiken bewusst und proaktiv zu verwerfen, um Platz für Neues zu schaffen. Verlernen ist essenziell, um sich neuen Situationen anzupassen – besonders, wenn existierende Weltbilder und Routinen neuen Ideen entgegenstehen. Oft haben Menschen Mühe damit, Bestehendes loszulassen. Nicht umsonst heisst es, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. Dies ist zu einem gewissen Grad verständlich, da Individuen viel Zeit, Energie und teilweise auch Emotionen aufbringen, um Dinge zu erlernen. Wenn neu Gelerntes schlussendlich zur Routine gemacht wird, bietet dies Stabilität und Sicherheit (z.B. Auto fahren). Dadurch können Menschen ohne dauerhaft erhöhte kognitive Anstrengungen ihren Alltag komfortabler bestreiten.
Um aus festgefahrenen Routinen auszubrechen, würden sich Grundsätze des Verlernens anbieten. Die Forschung zeigt einige Mechanismen auf, die genutzt werden können, um nicht mehr zielführende, veraltete oder sogar schädliche Gedankenmuster und Routinen proaktiv loszulassen.3
Verlernen ist für gewöhnlich ein problemgetriebenes Phänomen. Menschen sind vielfach erst gewillt Bestehendes loszulassen, wenn der Leidensdruck hoch ist. Um Verlernen proaktiv zu gestalten, sollte in einem ersten Schritt eine gezielte Aufmerksamkeit geschaffen werden. Durch diese kann bestehendes Wissen nochmals überprüft und mit internen und externen Anforderungen abgeglichen werden. Bestehendes zu reflektieren und neu zu evaluieren, kann jedoch sehr zeitintensiv sein. Sobald veraltete oder nicht mehr zielführende Gedankenmuster und Routinen als solche identifiziert sind, können diese bewusst verworfen werden. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, denn diese sind mitunter in Weltbildern, Werten und Normen verankert, welche nicht sichtbar sind. Häufig muss man sich daher an Symbolen und Artefakten orientieren, welche diese kulturellen Aspekte verkörpern.4
Das Ausbrechen aus alten Mustern erlaubt es, Platz für neue Ideen zu generieren. Hierbei ist es auch wichtig, Zeit und Raum zu schaffen, um mit neuen und innovativen Herangehensweisen zu experimentieren. Denn viele Lösungen entstehen durch multiples Scheitern und Probieren. Damit einhergehend ist es immens bedeutend, eine hohe Fehlertoleranz an den Tag zu legen. Verlernen kann grundsätzlich zwei Formen annehmen. Zum einen beschreibt das zielorientierte Verlernen Situationen, in denen neue, schon bekannte Lösungen implementiert werden sollen, diese aber mit bestehenden Gedankenmustern und Praktiken inkompatibel sind. Zum anderen charakterisiert das ergebnisoffene Verlernen Zustände, in denen existierende Wissensstrukturen zwar verworfen werden, doch die neue Lösung oder das Ziel noch ungewiss ist.5
Obwohl sich diese Verlernformen im Zweck unterscheiden, besteht bei Beiden die Schwierigkeit darin, nicht mehr in alte Muster zurückzufallen. Um dies zu unterbinden, ist konstantes Feedback und Selbstreflexion wichtig. Dieses (Selbst-) Feedback sollte sich darauf beziehen, warum alte Gedankenmuster und Praktiken nicht mehr angewendet werden sollen. Wenn möglich sollten auch die positiven Aspekte der neuen Ideen und Lösungen immer wieder hervorgehoben werden, bis diese in die Routinen des Alltags übergegangen sind.
Wenn wir als Gesellschaft der Verantwortung zur nachhaltigen Entwicklung nachkommen wollen, genügt Lernen alleine vermutlich nicht. Wir müssen uns zuerst von unserem nicht-nachhaltigen Teil des Denkens und Handelns, welcher fest in unseren Köpfen verankert ist, lösen. Schon Gebhard Wölfle hat im Jahr 1902 die Wichtigkeit der Vereinbarkeit von Alt und Neu erkannt: «Meor ehrod das Ault, meor grüozod das Nü» (hochd.: «Wir ehren das Alte, wir grüssen das Neue»).6 Das Zusammenspiel von Verlernen und Lernen kann zu erhöhter Flexibilität, Offenheit und Anpassungsfähigkeit führen. Dies wiederum erlaubt es uns, nicht mehr zielführende Gedankenmuster und Praktiken loszulassen – auch in Bezug auf die Entwicklung einer nachhaltigeren Lebensweise, welche schlussendlich den nächsten Generationen und der Natur zugutekommen würde.
Dr. Adrian Klammer, Assistenzprofessor, Lehrstuhl für Entrepreneurship und Strategisches Management, Institut für Entrepreneurship
Quellen
1 Klammer, A. (2021). Embracing organizational unlearning as a facilitator of business model innovation. International Journal of Innovation
Management, 25(6), 2150061. 2 Klammer, A., Grisold, T., & Güldenberg, S. (2019). Introducing a
‹stop-doing› culture: How to free your organization from rigidity. Business
Horizons, 62(4), 451–458. 3 Klammer, A., & Güldenberg, S. (2020). Honor the old, welcome the new: an account of unlearning and forgetting in NPD teams. European Journal of
Innovation Management, 23(4), 581–603. 4 Govindarajan, V., Srivastava, A., Grisold, T., & Klammer, A. (2021, May 11). Resist Old Routines When Returning to the Office. Harvard Business
Review. https://hbr.org/2021/05/resist-old-routines-when-returning-tothe-office 5 Grisold, T., Klammer, A., & Kragulj, F. (2020). Two forms of organizational unlearning: Insights from engaged scholarship research with change consultants. Management Learning, 51(5), 598–619. 6 Wölfle, G. (1979). Zum Volksfest in Egg 1902. In Gedichte und Schwänke in
Bregenzerwälder Mundart (2. Auflage). Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt.