Der kleine Regentropfen

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Bernd Nemack

Der kleine Regentropfen »Die Lehre vom Genießen des Augenblicks«

mit Illustrationen von Sonja Vandrei



Bernd Nemack

Der kleine Regentropfen »Die Lehre vom Genießen des Augenblicks«

mit Illustrationen von Sonja Vandrei


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Ängstlich und zornig zugleich klammerte sich der kleine Regentropfen an die watteweiche Wolke, die von der warmen, untergehenden Sonne mit einem kräftigen, rosafarbenen Schimmer überzogen wurde. Die Farbe war die Farbe des Ausklangs eines warmen Frühlingstags, kündete aber auch zugleich eine kühle Nacht an.


Vor einigen Tagen war der wasserscheue Regentropfen durch die Kraft der Sonne aus dem Meer gerissen worden. Er hatte viele seiner Freunde zurückgelassen. Alles kämpfen hatte nichts geholfen. Er hatte sich verzweifelt von den Blättern einer großen, rötlichen und durchaus freundlichen, aber sehr schweigsamen Alge fallen lassen, um von der schon warmen, aber gefährlichen Wasseroberfläche wegzukommen, denn er fühlte das unerbittliche Zerren der Sonne. Untertauchen in der kalten, aber sicheren Masse wollte er. Das Ziel hatte er schon vor Augen, er spürte, wie die Sonne jede Macht verlor und lachte vor Freude darüber, wieder ein unauffälliges Nichts zu sein.


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Und dann passierte das, wovor er immer wieder gewarnt worden war: »Gehe im Frühjahr nicht an die Wasseroberfläche, in der trockenen, durstigen Welt erwacht das Leben und es werden Wassertropfen wie wir gebraucht, um Leben zu bringen, auch wenn wir dabei sterben müssen!« Er war unaufmerksam geworden und an den Schuppen eines riesigen Fisches hängen geblieben, der auf dem Weg zur Wasseroberfläche war.


Die rasend schnelle Fahrt genoß er mit Angst, die ganz tief in seinem Inneren saß. Aber gleichzeitig spürte er eine unbändige Freude über das, was mit ihm geschah, was er erlebte. Der Fisch war voller Leben, er spürte den Frühling und damit auch das Erwachen des neuen Lebens nach dem langen und kalten Winter. Und er ließ den Regentropfen vorbehaltlos und ehrlich an seiner Freude teilhaben. Doch als der Fisch aus dem Wasser sprang, um den Frühling auf seine Weise zu begrüßen, packte ihn die Sonne und zog ihn unerbittlich in die Höhe, alles wehren half nichts. Sanft, aber bestimmt wurde er auf einer Wolke abgesetzt, die immer größer wurde.


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Froh dem warmen, aber unnachgiebigen Griff der Sonne entronnen zu sein, machte er sich auf den Weg an den Rand der Wolke und wollte gerade springen, als er wahr nahm, wie weit das vertraute Meer unter ihm lag und langsam und unerbittlich in der Ferne verschwand.

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Das kalte und kräftige Blau wurde immer blasser. Stattdessen wurde das Meer hell und grünblau. Er brauchte einfach nur zu springen und würde wieder im Meer verschwinden, endlich wieder ein Tropfen unter vielen. Aber die Angst zu springen war genauso groß, wie die Angst vor dem, was ihn hier auf dieser Wolke erwartete. Lange kämpfte er mit sich. Er wog das Bekannte gegen das Unbekannte ab und konnte keine Entscheidung treffen.


Unter ihm sprangen die Fische aus dem Meer, um die Sonne und das Leben zu begrüßen. Die Möwen schrieen um die Wette und spielten ihre Spiele, mit denen sie in jedem Jahr den Frühling willkommen hießen, oder sie ließen sich genießerisch vom Wind treiben damit die immer stärker werdende Sonne die Federn wärmen konnte.

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Auch die anderen Wassertropfen auf der Wolke waren aufgeregt. Sie genossen die Reise und schwatzten 端ber das, was sie vielleicht sehen w端rden. Man sah ihnen die Freude an. Nur er stand am Rand und f端rchtete sich.

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Fürchtete sich davor, wieder im Meer zu versinken. Er wäre an einem Ort, den er kennen würde, aber nur einer unter vielen. Bedeutungslos. Zu nichts weiter nütze, als von den Wellen umher geworfen zu werden und stets die gleichen Nachrichten zu hören. Fürchtete sich davor, zu springen, denn es war ja ungewiß, wo er wirklich landen würde. Vielleicht war das Fallen ja mit Schmerzen verbunden? Wer wußte das schon genau?


Er wollte nicht von der Wolke ausgeschüttelt werden, um dann irgendwo auf die harte Erde zu prallen, wo er sich elendig und langsam auflösen würde. Vielleicht würde er die Wolke auch niemals wieder verlassen können und für immer vom Wind hin und her getrieben werden. Nichts von dem, was geschehen konnte, war ihm recht.


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Völlig in seine ängstliche Gedanken versunken, nahm er das fröhliche Treiben um sich herum gar nicht war. Er suchte immer noch nach einer Lösung. Es musste doch einen Weg geben, diese Wolke zu verlassen. Dabei durfte er natürlich nicht allzu tief fallen. Er durfte auf keinen Fall auf die Erde fallen. Er musste ins Meer fallen. Das kannte er, da war er sicher. Falls das nicht ginge, dann musste er sich entweder in einen Fluss fallen lassen. Oder warten, bis sie wieder über dem Meer waren. Aber was wäre, wenn es nicht das Meer wäre, aus dem ihn die Sonne gerissen hatte? Er seufzte tief auf. Wenn er doch diesen einen, winzigen Moment nicht unachtsam gewesen wäre. Seine Gedanken umgaben ihn wie einen schwarzen Nebel.


Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er beobachtet wurde. Ein älterer Regentropfen saß in seiner unmittelbaren Nähe. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon nicht mehr alleine war.


Es war ihm auch nicht unangenehm, aber auf eine unerkl채rliche Weise sch채mte er sich seiner Angst. Er konnte es nicht in Worte fassen. Es schien nur einfach irgendwie nicht richtig zu sein.

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»Wovor hast Du Angst? Gefällt es Dir hier oben bei uns nicht?«, fragte der Regentropfen mit einer ruhigen, interessierten Stimme. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich in dem Meer so wohl gefühlt. Ich kannte alles. Und jetzt ist alles so neu. Weißt Du, ich habe Angst vor dem, was mich erwartet.«, antwortete der kleine Regentropfen.

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»Ist es wirklich wichtig zu wissen, was Dich erwartet? Weißt Du denn nicht, dass die ganze Welt auf uns wartet? Wenn es uns nicht mehr geben würde, dann gäbe es nichts mehr auf dieser Welt, was sich darauf freuen könnte, noch den nächsten Frühling zu erleben. Wir sterben, damit andere leben.«



»Warum soll ich für andere sterben? Wenn es mich nicht mehr gibt, dann ist es mir auch egal, was mit den anderen geschieht!«, sagte der kleine Regentropfen trotzig. »Wir werden alle hier sterben, jeder einzelne gibt sein Leben.«, antwortete der ältere Regentropfen. »Und was haben wir davon? Wie viele von uns sterben jeden Tag?» Der kleine Regentropfen war jetzt ganz verwirrt und unsicher. »Wir bringen Leben.« »Und was ist, wenn der Letzte von uns sein Leben gegeben hat? Ich finde, wir sollten am Leben bleiben, denn alle anderen müssen früher oder später doch sterben.«

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Beide schwiegen einen Moment und hingen ihren Gedanken nach. »Hat es Dir im Meer gefallen?«, fragte der ältere Regentropfen interessiert, um den kleinen Regentropfen auf andere Gedanken zu bringen. »Es war wunderschön, die vielen verschiedenen Algen, die Muscheln. Und der Fisch, der mich zu Oberfläche getragen hat. Auch wenn er mich auf diese Wolke gebracht hat. Diese Fahrt würde ich gerne noch einmal machen.«, sagte der kleine Regentropfen voller Begeisterung und das Leuchten war in seinen Augen zu sehen. »Du hättest dies nie erlebt, wenn nicht schon andere Wassertropfen vor Dir ihr Leben gelassen hätten«, entgegnete ihm der ältere Regentropfen.

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»Und um diese Chance auch anderen zu geben, musst Du diese Wolke verlassen. Sieh Dich um, wir werden immer mehr. Bald sind wir zu viele hier oben. Wir haben gar nicht die Wahl, ob wir bleiben wollen oder nicht. So wie Du Dich nicht gegen die Sonne wehren konntest, als sie Dich hier herauf getragen hat, wirst Du Dich nicht dagegen wehren können, diese Wolke zu verlassen. Sie wird sich öffnen und uns fallen lassen. Und dabei wird sie selber sehr geschwächt werden. Vielleicht stirbt sie sogar. Und sie klagt nicht. Es ist ihre Aufgabe.«

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»Ich habe immer noch Angst. Es erschreckt mich, nicht zu wissen, was mit mir geschieht. Werden wir Schmerzen empfinden? Sterben wir langsam oder schnell? Gibt es vielleicht doch eine Möglichkeit zu überleben?« Der kleine Regentropfen wurde immer unruhiger und man sah, die Angst in seinen Augen. »Das wird Dir hier niemand sagen können. Aber ich habe mich mit einigen anderen Regentropfen unterhalten. Sie behaupten, dass wir nicht wirklich sterben werden. Sie konnten zwar auch nicht genau sagen, was mit uns passiert, aber wenn man dem glauben kann, was sie sagen, dann können wir uns ohne Sorge fallen lassen. Die Erde wartet auf uns. Sie wird uns aufnehmen und dorthin fließen lassen, wo wir gebraucht werden.«

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»Siehst Du die grünen Flecken unter uns? Anders als die Pflanzen, die Du aus dem Meer kennst, haben sie nicht ständig Wasser um sich. Wir müssen zu ihnen kommen, damit sie leben können. Sie nehmen uns auf, wir sind in ihnen und wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben, dann dürfen wir für eine Weile auf ihren Blättern sitzen, bevor die Sonne uns wieder abholt.« „Und was geschieht dann mit uns?“, wollte der kleine Regentropfen wissen.

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»Wer weiß das schon. Vielleicht kommt ein anderer Baum, oder eine kleine Blume, oder Du wirst in einer Frucht eingeschlossen und siehst, wie sie langsam heranwächst oder der Baum lässt Dich nicht auf seine Blätter, weil er Dich woanders braucht. Glaubst Du wirklich, Du hast eine Wahl, was mit Dir geschieht? Du kannst nur zwischen zwei Dingen wählen: Den Augenblick genießen oder dein ganzes Leben damit verbringen Dich zu fragen: Was wäre, wenn? , bevor das geschieht, was sowieso geschehen wird.«

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Dem kleinen Regentropfen gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Es könnte so vieles geschehen. Es könnte schön sein, es könnte schmerzhaft sein, es könnte langweilig oder auch interessant sein. Es könnte aber auch, ja es konnte sein, das es ein Fall in das Nichts war. Und er hatte im Moment wirklich nur eines: Diesen Augenblick auf dieser Wolke. Er war unter seines gleichen, er war nicht alleine. Langsam merkte der kleine Regentropfen, wie die Angst, die er die ganze Zeit empfunden hatte, verschwand. Es war nicht wichtig zu wissen, was in der Zukunft mit ihm passieren würde. Er würde das Jetzt und Hier genießen.

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Der ältere Regentropfen lächelte ihn wohlwollend und zuversichtlich an, nahm seine Hand und gemeinsam gingen sie zu den anderen. Was aus dem kleinen Regentropfen geworden ist? Vielleicht winkt er Dir vom nächsten Blatt zu oder streichelt Deine Haut, wenn Du das nächste Mal im See baden gehst. Wer weiß …

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Illustration, Satz und Layout Sonja Vandrei




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